Alternative Musik in Kairo: Aufbruch & Verwirrung - Norient

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Alternative Musik in Kairo: Aufbruch & Verwirrung | norient.com   7 Jun 2022 16:36:34

    Alternative Musik in Kairo:
    Aufbruch & Verwirrung
    by Thomas Burkhalter

    Die alternativen Musikszenen in Kairo sind in den letzten
    Jahren stark gewachsen. Metal, Indie Rock, Punk, Rap,
    Elektronika, Mahragan – es sollen rund 600 Bands, Kollektive
    und DJs sein. Die Musikerinnen und Künstler erzählen, wie sie
    künstlerisch auf die politischen Umstürze in Ägypten
    reagieren und wo sie Chancen und Hürden für ihre Zukunft
    sehen. Der Artikel blickt zudem zurück in die Geschichte der
    alternativen Musik in Kairo: auf 1944, wo Halim El-Daph die
    Musique Concrète erfand; und auf die 1990er Jahre, in denen
    Metal-Musiker als Satanisten gebrandmarkt wurden.

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    Vor der Revolution: Eine kurze Geschichte alternativer und
    experimenteller Musik in Kairo

              «Ein Blick in die Musikgeschichte zeigt es: Mit die
              spannendste Musik ist in turbulenten Zeiten entstanden,
              etwa in Italien im 19. Jahrhundert.»

    Mohammed Antar , 8.3.2013

    1944 schleichen sich Halim El-Daph (*1921) und sein Freund Kamal Iskander
    in Frauenkleidern in eine Zar-Zeremonie, die traditionellerweise Frauen für
    Frauen ausführen. El-Daph nimmt das Heilungsritual mit einem modernen
    Drahtrekorder auf, manipuliert die Klänge im Studio und bringt sie in einer
    Galerie in Kairo zur Uraufführung. «The Expression of Zaar» ist nicht bloss für
    Kairo revolutionär, sondern gilt heute als erstes Tondokument der Musique
    Concrète weltweit.

    24 Jahre später, 1968, schreibt sich ein weiterer Ägypter auf die
    internationale Landkarte der modernen Musik ein. Der ägyptische
    Schlagzeuger Salah Eldin Ahmad Ragab (1935–2008), Major der
    Militärmusik, gründet die Cairo Jazz Band. Er experimentiert zwischen
    Eigenkompositionen und Free Jazz und musiziert unter anderem mit dem
    stilbildenden US-amerikanischen Sun Ra Arkestra.

    Zur selben Zeit covert die ägyptische Band Wrong Notes den
    psychedelischen Rock- und Garagen-Sound aus den USA und England –
    nachzuhören auf den LPs Waking Up Scheherazade – und The Mass, The
    Black Coats und Les Petits Chats verarbeiten Riffs und Sounds des frühen

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    Heavy Metal. Led Zeppelin nehmen in den Studios von Hany Mehanna in Giza
    auf, und Ritchie Blackmore von Deep Purple jammt mit lokalen Bands. Die
    Kairoer Szene wächst und wird vielfältiger. Anfang der 1990er-Jahre füllen
    Bands wie Terra, Andromeda, Steel Edge und Sidewinder Stadien. Sie werden
    von ägyptischen und multinationalen Firmen gesponsert, und sind Insidern in
    Europa und den USA bekannt. Fathy Salama mischt derweil arabische
    Musikstile, Jazz, Funk und Pop. Er nimmt 1991 sein Album «Camel Dance»
    beim Schweizer Label Face Music auf und tourt mit der Genfer Rockgruppe
    The Maniacs.

    Die grosse Wende kommt 1997. Die ägyptische Regierung brandmarkt Metal-
    Bands und -Fans als Satanisten und lässt Hunderte von ihnen verhaften
    (Norient Link: Podcast «Wir sind keine Satanisten» und Artikel «Metal in
    Egypt»). Die Regierung ist unter grossem Druck von islamistischen
    Gruppierungen und will sie mit dieser Aktion wohl gnädig stimmen. Die
    Falschanklage trifft die Szene hart. Erst heute wächst sie langsam wieder zu
    ihrer damaligen Größe an.

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              «1996 spielten wir in Bars, auf Schiffen, ja sogar Open
              Airs. Wir kleideten uns wild und schmierten Make-up ins
              Gesicht. Die Regierung bekam Angst, sie sah die
              Bewegung grösser werden, sah, dass Drogen im Spiel
              waren, sah den Status Quo gefährdet. Viele Musiker
              wurden verhaftet. Das war der Tod unserer Musikszene.»

    Mahmoud Refat, 2003

    2003, mein erster Besuch in Kairo (Norient Link: «Leise Musiker in einer
    lauten Stadt»). Der pan-arabische Pop ist omnipräsent. Videoclips von
    Popstars wie Amr Diab flimmern Tag und Nacht über die Bildschirme saudi-
    arabischer Satellitensender. Der ägyptische Präsident «Gamal Abdel-Nasser
    [1918-1970] wollte die Bevölkerung auf der Strasse, die Saudis wollen die
    Bevölkerung auf dem Sofa», schreibt der Journalist Andrew Hammond über
    die Satelliten-TV-Revolution und die Privatisierung der Medien in den 1990er-
    Jahren.

    Der senegalische Trommler Mouhamadou Gaye, die Elektronika-Künstler
    Hassan Khan und Omar Kamel, die alternative Popband Wust el Balad und der
    armenische Fusion-Jazz-Musiker George Kazazian, sie alle klagen in meinen
    Interviews über zu wenige Auftrittsorte, die Zensur, fehlende Absatzkanäle
    und das Desinteresse der Medien. Fathy Salama hat soeben ein Jahr lang
    Anträge an das Kulturministerium und den Staatssicherheitsdienst gestellt
    und 10.000 ägyptische Pfund – rund 2.000 Euro – bezahlt: für die Lizenz
    zum Publizieren von Musik.

    Auf der Nilinsel Manial el-Roda besuche ich auch Mahmoud Refat. Er
    experimentiert mit selbstgebauten Mikrofonen, nimmt Geräusche in der
    Stadt und auf dem Land auf, manipuliert sie und schafft neue Hörbilder –
    ähnlich wie Halim El-Daph fünfzig Jahre vor ihm. Mir gefällt sein sorgfältiger
    und gleichzeitig unkonventioneller Umgang mit Sound. Ich schlage ihn bei der
    Schweizerischen Kulturstiftung Pro Helvetia – ich sass damals im
    Stiftungsrat – für ein Residenzprogramm in der Schweiz vor. Dort arbeitet
    Refat mit dem Berner Klangkünstler Zimoun am Label-Projekt «Leerraum»,
    und kurz danach gründet er in Kairo 100Copies: Das Label steht heute im
    Zentrum der alternativen Musikszene (Norient Link: «100 Copies from
    Cairo»).

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    2013 – Alternative Musik boomt wieder

    März 2013. Zehn Jahre später recherchiere ich wieder zum Thema alternative
    Musik in Kairo – nachdem ich im April 2011 für Podcasts zum Thema Musik
    und Islam hier war. (Norient Link: «Islam und Musik in Kairo») Der Tahrir,
    Hauptschauplatz der ägyptischen Revolution von 2011, ist für den Verkehr
    geschlossen. Die Auswirkungen scheinen in der ganzen Stadt spürbar. Meine
    Planung war utopisch, denke ich bei einer der langen Taxifahrten. Vier bis fünf
    Musikerinnen und Musiker wollte ich pro Tag treffen, denn die alternative
    Musikszene ist explodiert. Metal, Indie Rock, Punk, Rap, Elektronika und
    vieles mehr, findet sich im Internet; es sollen rund 600 Bands sein, erzählt mir
    ein Musiker. Grösse und Vielfalt ähneln derjenigen in Beirut. Die Beiruter
    Musiker sehen ihre Stadt als Zentrum der alternative Musikkultur in der
    arabischen Welt, die Kairoer Musiker beanspruchen dasselbe für ihre Stadt –
    das merke ich sehr bald. Mein Eindruck: Beirut hat mehr Labels, Festivals und
    Clubs, Kairo das grössere Publikums- und Marktpotenzial (Buch-Tipp: «Local
    Music Scenes and Globalization – Transnational Platforms in Beirut»)

    4. März 2013. Im Goethe-Institut treffe ich Tamer Abu Ghazaleh, einen sehr
    aktiven Musiker und Netzwerker. Spätestens seit Beginn der ägyptischen
    Revolution, sagt er, seien viele Ägypter auf die alternativen Musikszenen
    aufmerksam geworden. Das will er ausnützen:

              «Der ägyptische Mainstream hat sich bis jetzt keinen
              Deut um neue Musik geschert. Es waren vorwiegend
              europäische Kulturförderinstitutionen und NGO, die uns
              unterstützten. Jetzt wollen wir zu einem grossen Teil

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              selbstragend werden. 2007 haben wir das EKA3 Label
              gegründet. Bald waren wir auch Vertrieb und
              Konzertagentur, und heute lizenzieren wir unsere Musik
              für Filme und Werbung. Wir sind regional tätig, in Kairo,
              Beirut, Amman und Palästina.»

    Tamer Abu Ghazaleh , 4.3.2013

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    Die Künstler, Musiker, DJs und Kulturinstitutionen arbeiten mit Vorliebe in
    der Innenstadt – und setzen so einen Kontrapunkt zur Stadtentwicklung;
    denn die Eliten ziehen gerne weg in die teuren Außenbezirke Heliopolis und
    Nasr City, oder in die neuen Satellitenstädte Madinet Sitta Oktobar und
    Madinet es-Sadat. Mahmoud Refat lebt jetzt in der Innenstadt. Nicht weit von
    seiner neuen Wohnung hat er den 100Copies Music Space eröffnet,
    Aufnahmestudio, Proberaum und Konzertclub in einem, dreihundert Meter
    vom Tahrir-Platz entfernt.

    7. März 2013, ReTune Studio, 100Copies Music Space. Die fünf jungen
    Musikerinnen und Musiker der Band Egyptian Aliens proben mit drei Laptops,
    Keyboard, Schlagzeug und Schellenring. Bald soll die Musik prägnant genug
    klingen und dann auf Schallplatte veröffentlicht werden – die neue Vinyl-
    Schneidemaschine von 100Copies macht’s möglich, erzählt die Musikerin und
    Künstlerin Yara Mekawei:

              «Seit fünfzehn Jahren wird in Ägypten kein Vinyl mehr
              produziert. Wir wollen diese Tradition jetzt neu beleben.»

    Yara Mekawei, 7.3.2013

    5. März 2013. Sound-Art-Performance in einem heruntergekommenen
    Wohnblock in der Innenstadt, im zehnten Stock. Ein rot-gelber Zwirbel dreht
    endlos auf der Leinwand. Ola Saad sitzt davor, starrt in ihren Laptop und
    entlockt ihm Geräusche und Klänge. Die meisten Zuhörer sind ostafrikanische
    Familien, die im Haus leben. Väter, Mütter und Kinder, denen diese Sounds
    und Bilder eher fremd erscheinen. Sie bleiben aber sitzen, diskutieren, lachen,
    sind vielleicht froh, dass etwas läuft. Nach der Performance rede ich mit Ola
    Saad über ihr Interesse an experimentellen Klängen und über die gewachsene

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    Szene. Sie verweist auf Ahmed Basiony als Hauptinitiator. Er hatte seit 2006
    an der Helwan-Universität, im Department for Art Education Workshops zu
    Sound Art durchgeführt. Sie und viele andere – die Egyptian Aliens etwa –
    hätten daran teilgenommen:

              «Zum ersten Mal habe ich dank ihm mit Sound gearbeitet.
              Sound ist Kunst und Politik, das hat er uns gelehrt. Mit
              meinen Sound-Art-Performances will ich immer auch ihm
              gedenken.»

    Ola Saad , 5.3.2013

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    2011: Musizieren auf dem Tahrir-Platz

              «I have a lot of hope if we stay like this. Riot police beat
              me a lot. Nevertheless I will go down again tomorrow. If
              they want war, we want peace. I am just trying to regain
              some of my nation’s dignity.»

    Ahmed Basiony, via Facebook, 26. Januar 2011, 22 h

    Ahmed Basiony starb am 28. Januar 2011 an der Folge von
    Schussverletzungen, zugefügt von Scharfschützen der ägyptischen
    Polizeieinheiten auf dem Tahrir-Platz.

    24. Januar bis 11. Februar 2011. Die Ägyptische Revolution auf dem Tahrir-
    Platz verfolgte ich via Internet und Fernsehen – und heute, nachwirkend,
    kann ich mir die vielen Dokumentarfilme anschauen, die produziert worden
    sind. Eine ziemlich neue Situation: hautnah dabei, aber ohne Angst um das
    eigene Leben. Im Netz erscheint der Tahrir-Platz als akustischer Jahrmarkt
    unterschiedlichster Geschmäcker (Norient Link: «Im Rhythmus der
    Revolution»): Muslime und koptische Christen halten ihre Gottesdienste ab.
    Männer und Frauen trommeln, klatschen und erfinden spontan Lieder – oft
    über den noch immer amtierenden Staatspräsidenten Husni Mubarak:

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    Wer sind wir, und wer ist er? Wir sind Arbeiter und Bauern,
    und er ist der Dieb Ägyptens. Wer sind wir, und wer ist er? Er
    trägt die neueste Mode, und wir leben zu zehnt in einem
    Raum.
    Medial entflammt ein Wettbewerb für die musikalische Hymne der
    Revolution. Die Band Eskenderella spielt Stücke von Sayed Darwish, dem
    1923 verstorbenen Urvater des ägyptischen Protestliedes: «Um Ya Masri»
    (Erhebe Dich, Ägypter), oder die von ihm geschriebene Nationalhymne
    «Biladi, Biladi» (Mein Land, Mein Land). El-Tanbura aus Port Said erinnert an
    den anti-imperialistischen Widerstand im Suez-Krieg von 1956. Die Folk-Rock
    Gruppe Black Theama wirbt für die Kultur der Nubier, und die alternative
    Popband Wust el-Balad tritt wohl vor so vielen Zuschauern auf wie nie zuvor.

              «Die Tage auf dem Tahrir-Platz waren die besten Tage
              meines Lebens. Auch wenn Menschen gestorben sind. Wir
              durchlebten die ganze Palette menschlicher Emotionen:
              weinen, lachen, in Panik wegrennen, keinen Schlaf finden,
              den Leuten helfen, feiern. Tag und Nacht waren wir da. Du
              triffst diese Gruppe, dann die nächste. Du siehst
              spannende Graffiti, freust Dich über eine Musik.»

    Dina El-Gharib, 10.3.2013

    10. März 2013. Ich treffe die Künstlerin und DJane Dina El-Gharib in ihrer
    Wohnung in Heliopolis. El-Gharib tritt seit vielen Jahren einmal pro Woche im
    After Eight auf, einem Club in der Innenstadt, den es schon 2003 gab. Im
    Januar und Februar 2011 sei sie hin und her gerannt, zwischen diesem Club
    und dem Tahrir:

              «Ich legte alte und neue Revolutionslieder auf, und viele
              Musiker spielten ihre neuen Lieder auf der Bühne. Ich
              hatte immer gedacht, unsere Jugend interessiere sich
              nicht für Ägypten und wolle möglichst das Land
              verlassen. Und plötzlich waren sie alle da: Rapper,
              Liedermacher und Musiker. Alle kämpften mit ihren
              Liedern für unsere Freiheit. Sie sangen Lieder von Sheikh
              Imam und Sayed Darwish, aber auch von Umm Kulthum,
              Mohammed Abdel Wahab oder Abdel Halim Hafez. Ich
              war einfach nur glücklich, dass die jungen Leute diese
              alten Lieder noch kannten.»

    Dina El-Gharib, 10.3.2013

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    Oh (Tahrir) Platz, dank Dir hört uns die ganze Welt, Du
    brachtest Nachbarn zusammen. Oh Tahrir, wo warst Du so
    lange.
    (Cairokee, «Ya Al Midan»)

    Im patriotischen Port Said hat der Widerstand der Jugend
    die Besetzungsarmeen zurückgeschlagen. Gratuliere, Oh
    Gamal

    (El Tanbura , «Patriotic Port Said»)

    Das Schicksal unseres Landes ist nicht in unseren Händen.
    Ägypten, Mutter der Wunder. Reichen wir uns die Hände und
    kämpfen
    (Sayed Darwish , «Ahu Da Illi Sar»)

    Ramy Essam: aus dem Nichts zum Weltstar

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    5. März 2013. Ramy Essam besucht mich im Goethe-Institut, gleich neben
    dem Tahrir. Er hätte einen allfälligen Preis für die Revolutionshymne
    schlechthin wohl gewonnen. Mit seiner Gitarre war er aus Mansoura, einer
    Stadt im Nil-Delta, angereist und hatte auf dem Tahrir-Platz spontan sein
    Lied «Irhal» (Hau ab) erfunden. Schnell skandierten viele Protester mit:

    Das Volk will den Sturz des Regimes. Wir werden nicht
    gehen, er soll gehen. Wir sind eine Hand und wollen eine
    Sache: Hau ab!
    (Ramy Essam , Irhal)

    Mark Levine, Autor des Buches Heavy Metal Islam schickte die YouTube-
    Aufnahme des Liedes dem befreundeten Produzenten und multiplen
    Grammy-Gewinner Anton Pukshansky in Los Angeles. Der produzierte ein
    paar Beats und schickte das Audiofile zurück nach Kairo. Ramy Essam nahm
    Stimme und Gitarre in einem Studio neu auf, und seither ist er ziemlich
    berühmt. Die dänische NGO Freemuse («Free Musical Expression») ehrte ihn
    mit dem Freemuse-Award, und Time Out setzte «Irhal» auf die Liste der zehn
    wichtigsten politischen Songs aller Zeiten – nach Public Enemy («Fight the
    Power»), aber noch vor Sam Cooke («A Change is Gonna Come»), John
    Lennon («Imagine») oder den Sex Pistols («God Save the Queen»).

              «Mein Leben hat sich extrem schnell verändert. Ein
              Traum ist wahrgeworden. Ich fühle heute eine grosse
              Verantwortung den Demonstranten gegenüber. Sie
              wollen, dass ich ihre Anliegen mit meinen Liedern

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              kommentiere. Das ist nicht einfach. Und die plötzliche Flut
              von Medienanfragen und Angeboten von internationalen
              Produzenten, die war kaum zu bewältigen.»

    Ramy Essam , 5.3.2013

    Ramy Essam lässt sich heute von einer Freundin managen. Ein Freund ist
    zuständig für den Webauftritt. Diesen beiden vertraut er:

              «Viele sahen bloss noch das Produkt Ramy Essam. Sie
              wollten Profit schlagen und hätten mich wohl bald
              aufgefordert, nicht immer alle Leute vor den Kopf zu
              stossen. Ich will aber meinen eigenen Weg gehen. Meine
              Lieder beschreiben die Demonstranten und die Leute von
              der Strasse. Die reden und denken so. Ich werde das nie
              ändern. Irgendwann will ich eine Metal-Band gründen.»

    Ramy Essam , 5.3.2013

    Darf man die Revolution vertonen?

              «Ich kann mich nicht konzentrieren, mein Denken nicht
              abschalten. Normalerweise übersetze ich Erfahrungen
              aus meinem Alltag in meine Lieder, im Moment kann ich
              das aber nicht. Ich bin wie gelähmt. Meine Rolle als

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              Musikerin war vor der Revolution sehr viel wichtiger. Ich
              habe provoziert und Fragen gestellt, die man nicht stellen
              durfte. Das war viel interessanter als heute.»

    Maryam Saleh , 4.3.2013

    Lasst uns die Heimat des Chaos verehren. So wenn wir
    ausgebeutet sind, dann brauchen wir nicht zu protestieren.
    Maryam Saleh , «Watan El 3ak»

    Die Sängerin und Musikerin Maryam Saleh spricht für viele: Wie kann eine
    Künstlerin ein derart grosses, einschneidendes Ereignis künstlerisch
    verarbeiten? Nach der Revolution sind genau darüber heftige Diskussionen
    entbrannt. Die Positionen sind dabei so unklar wie die politische Lage und
    Zukunft des Landes.

    Maryam Saleh, Hussein El-Sherbini vom Elektronika-Kollektiv Wetrobots,
    Mahmoud Refat, Dina El-Gharib und Ramy Essam: Hier einige ihrer
    Antworten als Sammelkatalog:

              «Ich singe von menschlichen Erfahrungen, nicht direkt von
              der Politik. Ich würde nicht versuchen, die Revolution zu
              dokumentieren, vor allem jetzt nicht, wo sie nicht zu Ende
              ist. Ich will sie ja nicht falsch dokumentieren. Ich bin heute
              vor allem Bürgerin Ägyptens.»

    Maryam Saleh , 4.3.2013

              «Nur weil ich Künstler bin, muss ich nicht die Revolution
              besingen. Ein Künstler sollte Künstler sein. Er sollte eine
              künstlerische Welt schaffen – ohne Richtlinien.»

    Hussein El-Sherbini, 6.3.2013

              «Das war die emotionalste Zeit meines Lebens. Diese
              Erfahrungen künstlerisch zu verarbeiten, habe ich schlicht
              nicht gewagt. Sie waren heilig, irgendwie, da kannst du
              nicht einfach einen Track draus machen. Mein
              Aufnahmegerät hatte ich auf dem Tahrir aber meistens
              mit dabei. Vielleicht werde ich die Aufnahmen irgendwann
              verarbeiten, ich weiss es nicht.»

    Mahmoud Refat, 7.3.2013

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              «Viele Lieder wurden ad hoc erfunden und sind nicht für
              die Ewigkeit gedacht. Es ging um Redefreiheit und freien
              Ausdruck. Und darum waren diese Lieder wichtig.»

    Dina El-Gharib, 10.3.2013

              «Die Musik spielte auf dem Tahrir-Platz eine
              entscheidende Rolle. Sie half uns, durchzuhalten, uns zu
              motivieren, unsere Ängste zu besänftigen, uns überleben
              zu lassen.»

    Ramy Essam , 5.3.2013

    Von Märtyrer-Pop zu Elektro-Sha’abi
    Kaum zu Wort meldeten sich während der Revolution die Stars der
    kommerziellen panarabischen Pop-Musik – das überrascht nicht. Wer im vor-
    revolutionären Ägypten ein Star sein wollte, musste sich mit den Herrschern
    gutstellen – auch die grosse ägyptische Sängerin Umm Kulthum war eng
    verbunden mit Präsident Gamal Abdel Nasser, was ihr in den 1960er-Jahren
    Kritik einbrachte. Tamer Hosny wagte sich als einer von wenigen Popstars auf
    den Tahrir-Platz. Er sprach sich für Präsident Husni Mubarak aus, musste
    dann aber vor den wütenden Massen fliehen. Später entschuldigte er sich im
    ägyptischen Fernsehen – er wollte wohl seine Karriere retten. Amr Diab, der
    grösste Pop-Star Ägyptens, flüchtete im Privatjet nach England. Er galt als
    Gefolgsmann Mubaraks und hatte ihm Lieder gewidmet:

    Er, der sich für sein Land aufgeopfert hat, um uns Licht zu
    bringen. (...) Seine Träume sind unsere. Der Nil fliesst in
    seinem Blut. Er ist einer von uns.
    Amr Diab, «Wahed Mnenna»

    Nach der Revolution waren Amr Diab und viele Popstars auf
    Widergutmachung aus. Sie veröffentlichten, was Daniel Gilman «Märtyrer-
    Pop» nennt (Norient Link: «Martyr Pop - Made in Egypt» ). In ihren Videoclips
    besingen sie die Gefallenen der Revolution – die Demonstranten, aber auch
    die Polizisten und Soldaten. Der gesamte ägyptische Markt soll
    zurückgewonnen werden.

    Das scheint nur bedingt zu gelingen. Der neue Massensound heißt Mahragan
    (Festival Musik) – manchmal auch Techno-Sha’abi oder Electro-Sha’abi
    genannt (Norient Links: «Electro Sha’abi: Autotune-Rebels in Cairo»,
    «Missverständnisse erwünscht» und «On the occidental perception of
    Sha3byton»). Mahragan ist die digitale Variante des Sha’abi-Strassenpops.
    Sha’abi wird von den gebildeten Eliten gelegentlich als unkultiviert kritisiert,

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    ist aber doch in der ganzen Bevölkerung beliebt. Einige Sha’abi-Sänger –
    etwa Hakim, Sha‘ban ‘Abd al-Rahim, oder Ahmad ‘Adawiyya – sind denn auch
    längst Mainstream-Stars. Sha’abi Lieder wurden auch auf dem Tahrir-Platz
    laut gesungen:

    Das Leben ist wie eine Schaukel, mal rauf, mal runter. Einige
    Menschen leben gemütlich, andere gehören nicht zu den
    oberen Schichten.
    Amro El Saeed

    Ich rauchte Hasch, Hasch, Hasch. Ich glaube, ich verlor mein
    Gleichgewicht. Ich wankte in der Gasse und liess die Wäsche
    tropfen. Die Strasse, die hinter mir war, liegt jetzt mir
    gegenüber.
    Mahmoud El Husseiny

    Ich rauchte Schischa Kohle. Oh je, oh je, oh je. Das werde ich
    nie wiederholen. (...) Ich ging hinunter auf die Strasse, bin
    durcheinander, weiß nicht mehr, wer rauf und wer
    runtergeht.
    Hoba

    Mahragan basiert auf den Rhythmen des Sha’abi, speist dazu aber Effekte der
    elektronischen Musik ein und manipuliert die Stimmen der Sänger mit
    Autotune-Effekten. Die Stimmen werden in die Höhe gepitcht, wiederholt,
    hart geschnitten, sind mal musikalischer Effekt, mal Träger provokativer oder
    ironischer Botschaften. Mahragan greift den teuer und sauber produzierten
    pan-arabischen Pop an allen Fronten an. Gleichzeitig bedient sich die Musik
    einer Ästhetik, die international im Trend liegt: im Juke, Jersey Club und
    Ballroom House in den USA, Shangaan Electro in Südafrika, oder im New
    Wave Dabké des Syrers Omar Souleyman, der mittlerweile auch in der Musik
    des isländischen Popstars Björk Platz gefunden hat (Norient Link:
    «Weltmusik 2.0: Zwischen Spass und Protestkultur» ). Während die Massen
    auf dem Tahrir-Platz gerne nostalgisch Lieder aus dem vergangenen
    Jahrhundert sangen, setzen die Mahragan-Sänger auf Geringschätzung,
    Humor und Sarkasmus. Sie besingen nicht – wie in ägyptischen Liedern
    üblich – Liebe, Sehnsucht, Schmerz und Verlust in poetischen Worten,
    sondern sie fluchen, werfen unvermittelt Slogans wie «Nieder mit dem
    Militär» ein, um im nächsten Atemzug ironisch von den wahren Problemen
    der Leute zu singen:

    Die Leute wollen fünf Pfund Telefon-Kredit

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    DJ Amr Haha, DJ Figo , «Al-Sha‘b Yurid Khamsa Ginay Rasid»

    Scheiße, ich habe meine Schuhe verloren. Scheisse, das
    waren doch Badelatschen. Scheisse, die waren doch noch
    neu. (...) Wie gehe ich jetzt in den Club?
    DJ Amr Haha, «Aha al-Shibshib Da‘»

    «Morsico Systems» von Ahmad Samih legt eine Rede des neuen Präsidenten
    Mohammed Mursi auf einen Sha’abi-Rhythmus und spielt mit seiner Stimme.
    Wenn Mursi behauptet, es gebe viel Unterstützung für sein Regime, wird er
    abrupt abgeschnitten. Eine Autotune-Stimme schreit: «Da ist ein Elefant!» –
    ziemlich skurril.

    Die Texte entstehen oft spontan. In einem YouTube-Live-Video setzt
    Mahragan-Sänger Sadat urplötzlich zu einer Kritik gegen die Fälle sexueller
    Belästigung an Frauen auf dem Tahrir-Platz an, von denen immer häufiger
    berichtet wird: «Wo ist Deine Männlichkeit? Du solltest die Frauen verteidigen
    und beschützen.»

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    Ich treffe MC Sadat in der Satellitenstadt Madinet Sitta Oktobar. Er trägt
    eingeflochtene Rasta-Haare, kotzt beim Interview einmal über den Balkon, ist
    aber ein netter Typ:

              «Wir singen von Sex, Drogen und Politik. Wir singen über
              die Revolution, die Armee, über alles, was so passiert
              hier.»

    Sadat, 8.3.2013

    Mahragan wird seit 2007 an Hochzeiten und Festen gespielt, meistens in
    ärmeren Vierteln. Langsam wurde die Musik von der alternativen
    Künstlerszene entdeckt – etwa von Hassan Khan und Maurice Louca, die seit
    einiger Zeit mit Mahragan-Sounds experimentieren. 2012 war Mahragan dann
    im Programm des Downtown Contemporary Arts Festival (D-CAF), und
    seither sind Amr Haha (auch 7a7a), DJ Figo und Sadat, und auch Oka Wi
    Ortega alias Tamanya Fil Meya (Acht Prozent) regelmäßig live in der
    Innenstadt zu bewundern – zum Beispiel im After Eight. Die Jungstars
    produzieren heute Werbespots für grosse Firmen, und sie generieren
    Millionen von Klicks auf YouTube.

    MC Amin, ein Urgestein des Rap in Kairo, will Mahragan jetzt mit Rap
    zusammenbringen. Ich treffe ihn bei Sadat in Madinet Sitta Oktobar:

              «Ich rappe schon lange über die Schattenseiten
              Ägyptens, und die Mahragan-Künstler sprechen die
              Sprache der Strasse. Sie produzieren den Sound des

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              neuen Ägyptens, und sie haben eine riesige Fangemeinde.
              Rap und Mahragan zusammen gibt eine explosive
              Mischung.»

    MC Amin, 8.3.2013

    Die Revolution findet weiterhin statt, ohne Waffenstillstand.
    Ich sage es Euch direkt und klar: FUCK!! ... Er regiert weiter,
    auch wenn wir ihn gestürzt haben.
    MC Amin, «El Wad3 Lazem Yet3’ayar»

    Auch internationale Blogger, Produzenten und Festivals bekommen langsam
    Wind vom Mahragan-Trend.

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    Musikerstrategien 2013

              «Es geht darum, mit wem möchtest du als Künstler
              arbeiten, und mit wem nicht. Ich würde im Moment nicht
              mit staatlichen ägyptischen Institutionen
              zusammenarbeiten. Das kann sich aber in wenigen
              Monaten wieder ändern. Es geht auch darum, was für ein
              Image du von dir als Künstler aufbaust und wofür du
              stehen willst.»

    Hassan Khan

    7. März 2013, ReTune Studio, 100Copies Music Space. «Alle sprühen derzeit
    vor Ideen», sagt Maurice Louca bei einer Probe der experimentellen
    Rockgruppe Bikya. Mahmoud Refat, der in der Band den Korg-R3-
    Synthesizer bedient, stimmt seinem Freund zu:

              «Wir haben heute eine ungeheure Dynamik und Energie in
              Ägypten. Ich bin sehr glücklich über diesen Reflex. Lasst
              uns keine neuen Songs über die Revolution machen – wir
              haben genug davon. Aber lasst uns diese Energie nützen:
              Wir müssen arbeiten, spielen, aufnehmen, vorwärts
              gehen. Es gilt ein leeres Feld nach unseren Regeln neu zu
              gestalten. Jetzt oder nie! Alle warten sie auf neue Inhalte:
              TV-Stationen, Firmen – und die Ägypter. Alles soll neu und
              frisch sein.»

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    Mahmoud Refat, 7.3.2013

    Seinen Enthusiasmus teilen nicht alle. Einige schwärmen von grossen
    Werbeaufträgen und dem internationalen Interesse, andere klagen: Konzerte
    würden abgesagt und gerade für Livemusiker sei es schwierig, Geld zu
    verdienen. Bei einem Essen in der Wohnung von Mahmoud Refat rufen die
    eingeladenen Musikerinnen und Kulturförderer in den frühen Morgenstunden
    wild und uneinig durcheinander, nachdem ich vom Enthusiasmus einiger
    Musikerinnen und Musiker berichtet habe.

    4. März 2013, Café Picasso, auf der Nilinsel Zamalek. Amro Salah,
    Jazzmusiker und Organisator des Cairo Jazz Festival, ist glücklich, aber
    gestresst. Das Festival findet trotz den politischen Unruhen statt – aber
    bereits in einer Woche. Salah musste vielen internationalen Geldgebern
    absagen, erzählt er – zu viel Fördergeld, ein Novum für mich.

              «Im privaten Sektor passiert im Moment sehr viel, in der
              Regierung nichts – aber das sind wir gewohnt. Unser
              Festival findet pünktlich statt, mit internationalen
              Künstlern. Es macht keinen Sinn, eine Revolution zu
              machen und dann die Party wegzulassen. Das Cairo Jazz
              Festival soll so wichtig werden wie dasjenige von
              Montreal. Wir wollen die grosse Geschichte des Jazz in
              Ägypten aufleben lassen. Miles Davis, Duke Ellington und
              Louis Armstrong haben hier gespielt! Viele Ausländer und
              Ägypter vermissen den Kulturplatz Kairo, wie er einmal
              war. Wir arbeiten daran!»

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    Amro Salah, 4.3.2013

    Eine Stunde später treffe ich den populären Rapper Takki MTM, im selben
    Café. Ihm ist zum Klagen zumute.

              «Vor der Revolution sind Musiker, Produzenten und
              Musikliebhaber aus der ganzen arabischen Welt
              angereist, um bei uns Songtexte und Kompositionen
              einzukaufen oder ganze Lieder zu produzieren. Dieser
              Musiktourismus bleibt jetzt aus, und das trifft viele
              Texter, Komponisten und Produzenten. Auf eine
              Musikerkariere kannst du im Moment nicht setzen. Ich
              war König, sass zuhause und liess die Leute zu mir
              kommen. Jetzt arbeite ich in einer Werbefirma und muss
              schon am Morgen aus dem Haus! Andere benutzen mein
              Können, um ihre Produkte zu verkaufen.»

    Takki, 4.3.2013

    6. März 2013. Ismael Hosny und Hussein El-Sherbini vom Elektronika-
    Kollektiv Wetrobots haben ihr eigenes Epic 101 Studio im Stadtteil Doqqi
    aufgebaut (Norient Link: «Die Anthithese zur Revolutionsmusik»). Sie werden
    mit Aufträgen überschwemmt: Aufnahmen für andere Musiker und
    Sängerinnen, und viele Werbespots für Radiostationen:

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              «Wir haben gerade Musik produziert für eine
              Kochsendung, für Toyota, und für einen Dokumentarfilm
              über Autorennen.»

    Hussein

              «Vieles auch für die Pharmaindustrie.»

    Ismail

              «Genau, für die Schweizer Multis Novartis, Pfizer und
              Sanofi. Wir finanzieren mit diesem Geld unser Studio und
              unseren Lebensunterhalt. Manchmal hasse ich es, für
              diese grossen Firmen zu arbeiten, es ist aber besser als
              irgendein anderer Job.»

    Hussein, Wetrobots, 6.3.2013

    Internationale Plattformen

              «Als Revolutionskünstler wäre es wohl einfacher. Wir
              müssten nur auf den Tahrir-Platz, dort mit unseren
              Laptops Musik machen, die Aufnahmen auf YouTube
              veröffentlichen, als Tags ‹Revolution›, ‹Tahrir› und
              ‹Egypt› angeben, und die ganze Welt würde sich für uns
              interessieren.»

    Hussein El-Sherbini, 6.3.2013

    Die Wetrobots sehen sich nicht als Revolutionskünstler. Sie wollen einfach
    gute Musik machen und möglichst viel auftreten, im In- und im Ausland.
    Hussein hofft, dass die Szene in Kairo weiter wächst:

              «Manchmal fühlen wir uns hier wie Außerirdische. Im
              Cairo Jazz Club rannte der Veranstalter kürzlich auf die
              Bühne und schrie, wir sollten sofort mit diesem Krach
              stoppen, die Leute würde den Club verlassen. Ein paar
              Wochen später spielten wir dasselbe Set vier Mal in der
              Schweiz: Die Leute tanzten ekstatisch!»

    Hussein El-Sherbini, 6.3.2013

    Im Ausland ist das Interesse an Musik aus Kairo derzeit gross. Das Mahragan-
    Rap-Projekt um Sadat und MC Amin wird im April 2013 beim Internationalen
    Festival Babel Med in Marseille auftreten und dabei vielleicht die europäische

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    Weltmusik-Szene für sich einnehmen. Mahmoud Refat und Hassan Khan sind
    zu Solokonzerten beim renommierten Festival MärzMusik in Berlin eingeladen
    – sie kommen damit endgültig im illustren internationalen Kreis der aktuellen
    Musik an. Und gleich zwei Bands werden ans grosse Festival South by
    Southwest nach Austin in die USA reisen: das Elektro-Rap-Duo Quit Together
    der Sängerin Bosaina und des Produzenten Zuli, und die Rockband Massive
    Scar Era, mit ihrer Frontsängerin Sherine Amr.

    Die neuen Metal-Bands und die Muslimbrüder

    8 März 2013. Sherine Amr treffe ich im Vibe Studio in Doqqi. Sie ist Teil der
    wieder angewachsenen Metal-Szene, mit Bands wie Worm, Mascara, Scarab,
    Dark Philosophy, Stigma oder Ahl Sina. Massive Scar Era ist eine reine
    Frauenband, das sei aber mehr Zufall als Absicht. Sherine freut sich, macht
    doch die Metal-Szene heute auch international wieder auf sich aufmerksam:

              «Seit der Revolution ist Ägypten im Fokus der
              internationalen Medien. Musik ist besonders spannend,
              weil die Muslimbrüder sie verbieten wollen. Metal
              fasziniert die Leute dabei ganz besonders, und wenn sie
              dann noch von einer Frauenband kommt ... Wenn du
              Metal und Ägypten googelst, so kommt unsere Band sehr
              weit oben. Das ist unser Glück. Wir geben viele Interviews
              und spielen immer öfter im Ausland.»

    Sherine Amr, 8.3.2013

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    Seit den ersten Wahlen sind in Ägypten die Muslimbrüder an der Macht.
    Immer wieder machen sich Gerüchte breit, sie möchten Musik verbieten –
    eine alte Geschichte: Seit den Anfängen des Islam im siebten Jahrhundert
    streiten Rechtsgelehrte und Theologen über Musik. Musik stehe im
    Widerspruch zu islamischen Prinzipien von Bescheidenheit und Sittsamkeit,
    behaupten ihre Kritiker: sie verlocke zu leichtem Zeitvertrieb, unmoralischem
    Tanzen, Trinkgelagen, verbotenen physischen Beziehungen und Prostitution,
    und sie halte die Gläubigen von ihren religiösen Pflichten ab. Das ist
    kompletter Unsinn, finden alle Musikerinnen und Musiker in Kairo, die ich
    treffe. Angst vor den Muslimbrüdern haben höchstens die Veranstalter, die
    Musiker aber nicht. Flötist Mohammad Antar, der sich seit Jahren mit
    islamischer Musik beschäftigt, spricht Klartext:

              «Die Muslimbrüder kümmern uns Musiker nicht. Sie sind
              nichts. Sie haben mit den Muskeln gespielt, aber jetzt sind
              sie nur schwach. Sie können nicht einmal sich selber
              kontrollieren.»

    Mohammad Antar , 8.3.2013

    Auch Yara Mekawei von den Egyptian Aliens mag nichts hören von den
    Drohgebärden:

              «Ich bin Muslimin und trage Hijab. Die Muslimbrüder
              wollen unsere Gedanken verdrehen. Im Islam geht es um
              die Verbindung von deinem Herzen mit Gott. Keiner hat
              dazwischen etwas zu suchen.»

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    Yara Mekawei, 7.3.2013

    Exit-VISA, fehlende Pässe und Künstlerlizenzen
    Musikerinnen und Musiker brauchen bis heute Künstlerlizenzen von
    offiziellen Künstlersyndikaten, wenn sie auf einer öffentlichen Bühne oder in
    den Medien auftreten wollen. Tun sie das ohne Lizenz, kann ihnen ein
    Bussgeld auferlegt werden. Viele gehen dieses Risiko ein – für Rapper und
    Metal-Sänger mit ihrem typischen Growling-Stil gibt es die passende
    Lizenzkategorie sowieso nicht. Rapper bekommen dieselbe Lizenz wie
    Komiker: «Ich bin jetzt offiziell Komiker», erzählt Takki MTM. Sherine Amr
    will keine Lizenz beantragen: «Stell Dir vor, ich würde vor der Lizenzbehörde
    meine Metal-Stimme auspacken!» lacht sie.

              «Brauche ich eine staatliche Erlaubnis, um singen zu
              dürfen? Sie wollen uns kontrollieren, denn spätestens seit
              der Revolution haben sie Panik vor Liedermachern,
              Rappern und Rockbands.»

              «Hast Du manchmal Angst?»

              «Nein, sicher nicht. Ägypten hat größere Probleme als
              mich, die ohne Lizenz singt und dabei kein Geld verdient.»

    Sherine Amr, 8.3.2013

    Kummer bereiten Sherine Amr, Mahmoud Refat und anderen Musikern
    hingegen vor allem die Bestimmungen für Ausreisevisa. Die seien, finden sie,
    verschärft worden. Ob das wirklich stimmt, wissen sie nicht. So wie sie vieles
    nicht einschätzen können, was im Moment in Ägypten passiert. Klar ist der
    Fall beim Protestsänger Ramy Essam:

              «In Ägypten brauchst du die Erlaubnis des Militärs, um
              auszureisen. Das Militär ist aber gar nicht gut auf mich zu
              sprechen. In den letzten zwei Jahren hätte ich dreißig
              Auslandtourneen organisieren können; das Land
              verlassen durfte ich aber bloss drei Mal. Und das nächste
              Problem kommt bald. Wenn ich in zwei Jahren mein
              Studium beende, muss ich zum Militär. Das wird der
              größte Albtraum meines Lebens.»

    Ramy Essam , 5.3.2013

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Alternative Musik in Kairo: Aufbruch & Verwirrung | norient.com           7 Jun 2022 16:36:34

    10. März 2013, 18 Uhr. Im Markez-Nachtclub treffe ich den Keyboarder Islam
    Chipsy. Die Bauchtänzerinnen und Animierdamen trinken noch Kaffee. Wir
    ziehen uns zum Interview in die Garderobe zurück. Islam Chipsy hat
    international via YouTube und TV-Kurzportraits – etwa auf ARTE – für
    Aufsehen gesorgt. Er spielt auf seinem Keyboard Sha’abi, Mahragan,
    panarabischen Pop und arabische Kunstmusik. Er tut das aber mit rasender
    Geschwindigkeit, größter Virtuosität, radikal queeren Sounds und
    extravaganter Gestik. «Jeden zweiten Monat überrasche ich die Leute mit
    einer neuen Spieltechnik», erzählt er, und muss selber schmunzeln. Der Spass
    hört allerdings schnell auf: Islam Chipsy hat keinen offiziellen Pass. Er ist
    gefangen im eigenen Land. Auch er hätte in Europa und den USA auftreten
    können. Ein Japaner hätte ihn sogar eingeladen, mit seiner Frau in Japan zu
    leben. Was denn sein grösster Traum sei, frage ich ihn:

              «Mein Traum ist ein Pass. Ich will reisen, meine Musik
              zeigen und weiterentwickeln. Ich lebe für meine Musik.»

    Islam Chipsy, 10.3.2013

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Alternative Musik in Kairo: Aufbruch & Verwirrung | norient.com                   7 Jun 2022 16:36:34

    Diese Reportage ist erschienen im Buch «Zeitgenössische Künstler aus der
    Arabischen Welt - Positionen 7», herausgegeben vom Goethe Institut Kairo und
    dem Steidl Verlag.

    → Published on January 12, 2014

    → Last updated on July 27, 2020

    Thomas Burkhalter is an anthropologist/ethnomusicologist (PhD), AV-artist, and
    writer from Bern (Switzerland). He is the founder and director of Norient, the Norient
    Space (Norient.com), and the founder and strategic director of the Norient Film
    Festival (NFF). He co-directed documentary films (e.g. “Contradict”, Berner
    Filmpreis 2020 + Al-Jazeera Witness) and AV/theatre/dance performances, is the
    author and co-editor of several books, teaches regularly at universities, and runs
    workshops for arts institutions. His experimental radio feature, «Gqom Edits – A
    Durban Visit», was nominated for Prix Europa in 2017. Currently, he is working on a
    new music project, and on the experimental podcast series’ Timezones and South
    Asian Sound Stories with musicians from the UK, Bangladesh, India, and Pakistan.

    → Topics

               Activism
            Counter-Culture
               Protest
                 War
                Youth

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Alternative Musik in Kairo: Aufbruch & Verwirrung | norient.com   7 Jun 2022 16:36:34

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    → Special
    Cities: Cairo

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