Behandlung ohne Heilung. Zur sozialen Konstruktion des Behandlungserfolgs bei Tuberkulose im frühen 20. Jahr-hundert1

 
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Behandlung ohne Heilung. Zur sozialen Konstruktion des
                                                                                     Behandlungserfolgs bei Tuberkulose im frühen 20. Jahr-
                                                                                     hundert1
                                                                                     Flurin Condrau

                                                                                     Summary
                                                                                     Concepts of Success in the Treatment of Tuberculosis in the Early 20th Century
                                                                                     This paper deals with the social construction of medical success in various therapies used
                                                                                     to treat tuberculosis during the first half of the 20th Century. The three main therapies dis-
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                                                                                     cussed - Tuberculin treatment, sanatorium therapy and chest surgery - show distinctly
                                                                                     different success patterns. For example, the success of sanatorium treatment was evaluated
                                                                                     differently during and after treatment: during treatment, quantifiable data such as weight
                                                                                     and body temperature were seen as indicators of health. After discharge, however, success
                                                                                     was defined as long-term survival. On the other hand, when chest surgery was used, suc-
                                                                                     cess meant simply that patient was able to survive the surgery itself - long-term effects and
                                                                                     patient’s survival after discharge were not addressed. Such comparisons illustrate that the
                                                                                     definition of medical success rested as much on the dismissal of negative data as on posi-
                                                                                     tive empirical results.

                                                                                     Einleitung
                                                                                     Galt die Tuberkulose bis vor 10 Jahren als relativ leicht heilbar, sind die
                                                                                     Überlebenschancen der Patienten in letzter Zeit in Folge der sich rasch aus-
                                                                                     breitenden Antibiotika-Resistenz der Erreger dramatisch gesunken. Zu-
                                                                                     nächst waren es vor allem die Ausmaße der neuen Tuberkulose-Pandemie
                                                                                     in den Ländern der Dritten Welt und in einigen Großstädten Nordamerikas
                                                                                     und Europas, die für Aufsehen sorgten.2 In jüngster Vergangenheit stellen
                                                                                     allerdings die hoch virulenten und mit üblichen Antibiotika nicht mehr
                                                                                     kontrollierbaren Erregerstämme den medizinischen Erfolg bei der Behand-
                                                                                     lung der Tuberkulose grundsätzlich in Frage und unterstreichen die Bedeu-
                                                                                     tung der Epidemiologie dieser Krankheit zur Erklärung ihrer Ausbreitung.3
                                                                                     Nicht nur die Kosten der Behandlung nehmen exorbitant zu, immer öfter
                                                                                     können auch alle Anstrengungen der behandelnden Ärzte den Tod des Pa-
                                                                                     tienten nicht verhindern, was auf einen fundamentalen Wandel in der me-
                                                                                     dizinischen Einschätzung der Tuberkulose hinweist. Die Suche nach thera-
                                                                                     peutischen Alternativen bringt die Medizin sogar zur vergessen geglaubten
                                                                                     Lungenchirurgie zurück, und selbst der Rückgriff auf die Ideen der An-
                                                                                     staltsbehandlung der Tuberkulose, denen seit den Erfolgen der Antibiotika

                                                                                     1    Ich danke Hans Rieder, Barbara Schmucki, Reinhard Spree, Michael Worboys sowie
                                                                                          den Teilnehmern der Sektion am 42. Deutschen Historikertag in Frankfurt/Main für
                                                                                          wertvolle Hinweise.
                                                                                     2    Sudre/Dam/Köchli (1992); Bloom/Murray (1992).
                                                                                     3    Rieder (1999).

                                                                                     MedGG 19  2000, S. 71-94
                                                                                      Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart

                                                                                                                                Franz Steiner Verlag
72                                                                      Flurin Condrau

                                                                                     nur noch anekdotischer Wert zugeschrieben wurde, ist angesichts der jünge-
                                                                                     ren Entwicklungen nicht mehr fern.4
                                                                                     Die Geschichte der Tuberkulosetherapie des 20. Jahrhunderts stand bisher
                                                                                     ganz im Zeichen der klassischen Erfolgsdarstellung der nach dem Zweiten
                                                                                     Weltkrieg eingeführten Antibiotika.5 Seit dem Nachweis der rasch mögli-
                                                                                     chen Behandlungserfolge durch diese neuen Therapeutika wurde die Hoch-
                                                                                     phase der pharmakologischen Krankheitsbehandlung eingeläutet, und die
                                                                                     Tuberkulose geriet – zumindest in den westlichen Industrienationen – rasch
                                                                                     in Vergessenheit. Die Erinnerungen wichtiger Protagonisten der bakteriolo-
                                                                                     gischen Forschung stellten den Einsatz der modernen medikamentösen Be-
                                                                                     handlung als einzigartigen Erfolg der modernen Medizin dar und sprachen
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                                                                                     sogar vom »Sieg über die Tuberkulose«.6 Der aus gegenwärtiger Sicht kurz-
                                                                                     fristige Erfolg der Tuberkulosebekämpfung führte zwar zwischen 1960 und
                                                                                     1985 zum nahezu vollständigen Verschwinden der Tuberkulose aus den
                                                                                     westlichen Industrienationen, wurde aber um den Preis der aktuellen Prob-
                                                                                     leme erkauft. Damit stellt der Zusammenhang von Antibiotika-Therapie
                                                                                     und der nichtintendierten Entstehung resistenter Erregerstämme ein perfek-
                                                                                     tes Beispiel für reflexive Modernisierung im Bereich der Medizin dar, denn
                                                                                     die Definition des Behandlungserfolgs dachte die langfristigen Folgen der
                                                                                     Behandlung nicht mit.7
                                                                                     Die Frage nach dem Behandlungserfolg medizinischer Maßnahmen ist
                                                                                     schwierig zu beantworten, weil nicht leicht zu bestimmen ist, wer diesen
                                                                                     Erfolg zu beurteilen hat. Bekanntlich führt die asymmetrische Information
                                                                                     zwischen Arzt und Patient dazu, daß der Arzt seinen Erfolg letztlich selbst
                                                                                     beurteilt.8 Schwieriger wird es darüber hinaus bei der Frage, wie lange die
                                                                                     Heilung anhält, weil es für den einzelnen Arzt unmöglich ist, den Erfolg
                                                                                     über einen längeren Zeitraum zu überprüfen. Tatsächlich lehrt gerade die
                                                                                     Geschichte, daß ärztliches Handeln einen experimentellen Charakter auf-
                                                                                     weist, zumal zwischen dem oft formulierten Heilanspruch und dem tatsäch-
                                                                                     lich realisierten Heilvermögen der Ärzte in Vergangenheit und Gegenwart
                                                                                     oft ein erheblicher Widerspruch besteht. Die Grundthese des vorliegenden

                                                                                     4    Zur Lungenchirurgie vgl. Belkin (1999); die Anstaltsbehandlung der Tuberkulose wird
                                                                                          vor allem aufgrund der fehlenden »Medikamentendisziplin« wieder diskutiert, denn
                                                                                          vorzeitig abgebrochene Antibiotika-Kuren gelten als Haupterklärung für die Entste-
                                                                                          hung und Verbreitung multipel resistenter Erregerstämme. Vgl. dazu Miller (1999);
                                                                                          Lerner (1993).
                                                                                     5    Wie marktgängig und gleichzeitig unreflektiert die wissenschaftliche Erforschung der
                                                                                          Antibiotika noch bis vor kurzem dargestellt werden konnte, zeigt ein Werk des wis-
                                                                                          senschaftlichen Bestsellerautors Ryan (1992).
                                                                                     6    Waksman (1964); Myers (1977).
                                                                                     7    Vgl. zur Definition des Begriffs Beck (1993), S. 36f.; der von der DFG geförderte Son-
                                                                                          derforschungsbereich Nr. 536 »Reflexive Modernisierung« enthält leider kein medizi-
                                                                                          nisches oder medizinhistorisches Teilprojekt.
                                                                                     8    Arrow (1963); Phelps (1992), S. 281-286.

                                                                                                                         Franz Steiner Verlag
Behandlung ohne Heilung                                                    73

                                                                                     Beitrages lautet deshalb, daß die ärztliche Behandlung der Tuberkulose
                                                                                     nicht zu einem objektiv vorher bestimmten Erfolg führte, sondern daß me-
                                                                                     dizinischer Erfolg erst nach der Formulierung historisch durchaus wandel-
                                                                                     barer Kriterien bestimmbar wurde.
                                                                                     Der Begriff des ärztlichen Kunstfehlers, der sich seit einiger Zeit verbreitet
                                                                                     hat, trägt nicht zur Klärung des Sachverhaltes bei, weil er an der Fiktion des
                                                                                     eigentlich möglichen perfekten ärztlichen Handelns festhält.9 Vielmehr ist
                                                                                     bei aller Rationalität der Diagnose- und Behandlungsmethoden die Unsi-
                                                                                     cherheit über den eintretenden Behandlungserfolg eine strukturelle Kompo-
                                                                                     nente der Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Begriff der sozialen
                                                                                     Konstruktion des Erfolgs bezieht sich damit auf einen zentralen Bestandteil
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                                                                                     moderner ärztlicher Tätigkeit, die nicht nur erhebliche Unsicherheiten und
                                                                                     Informationsprobleme aufweist, sondern darüber hinaus von einem kom-
                                                                                     munikativen Prozeß geprägt wird, in dessen Verlauf erst definiert wird, was
                                                                                     genau als Erfolg einer jeweiligen Behandlung anzusehen ist.10 Kompliziert
                                                                                     wird die Analyse dieses Vorgangs, weil die Erlangung der professionellen
                                                                                     Autonomie auch und gerade hinsichtlich des Diagnose- und Behandlungs-
                                                                                     erfolgs einen zentralen Bestandteil des ärztlichen Professionalisierungspro-
                                                                                     zesses im 19. und frühen 20. Jahrhundert darstellte.11 Die (Sozial-)Ge-
                                                                                     schichte der Medizin hat sich bisher allerdings selten mit dem ärztlichen
                                                                                     Erfolg in der Tuberkulosebekämpfung auseinandergesetzt. Diejenigen Bei-
                                                                                     träge, die das Hauptmotiv des ärztlichen Tuns bis zur Einführung der An-
                                                                                     tibiotika primär in der Disziplinierung sehen und die Tuberkulose während
                                                                                     des Untersuchungszeitraums für unheilbar halten, übersehen ex negativo
                                                                                     die historische Gebundenheit des Erfolgsbegriffs.12 Das gilt ebenso für die
                                                                                     Autoren, die an der Vorstellung des linear verlaufenden Fortschritts in der
                                                                                     Medizin festhalten.13
                                                                                     Ausgangspunkt der Beschäftigung mit der relativen Bedeutung des ärztli-
                                                                                     chen Erfolgs waren die Arbeiten von Thomas McKeown. Er argumentierte,
                                                                                     daß der englische Sterblichkeitsrückgang des 18. und 19. Jahrhunderts nicht
                                                                                     auf medizinischen Erfolg zurückzuführen sei, da erfolgreiche medizinische
                                                                                     Therapien der wichtigsten Krankheiten historisch kaum nachweisbar sei-
                                                                                     en.14 Gegenargumente, wie sie etwa von Simon Szreter formuliert wurden,
                                                                                     haben sich immer auf das entstehende öffentliche Gesundheitswesen ge-
                                                                                     stützt und die Frage des Erfolgs einzelner ärztlicher Maßnahmen und Be-

                                                                                     9   Krähe (1984).
                                                                                     10 Vgl. dazu Jordanova (1995).
                                                                                     11 Spree: Impact (1980); Huerkamp (1985).
                                                                                     12 Gorsboth/Wagner (1988); Worboys (1992).
                                                                                     13 Koelbing (1985); Wilson (1990).
                                                                                     14 McKeown/Brown (1955); McKeown/Record (1962).

                                                                                                                          Franz Steiner Verlag
74                                                                 Flurin Condrau

                                                                                     handlungen weitgehend ausgeklammert.15 Die meßbaren Auswirkungen des
                                                                                     entstehenden Gesundheitswesens auf die Volksgesundheit wurden von
                                                                                     Reinhard Spree jedenfalls als vergleichsweise bescheiden geschätzt.16 Evi-
                                                                                     dent ist hingegen, daß die ärztlichen Konzepte des Gesundheitswesens des
                                                                                     19. Jahrhunderts, etwa in der Seuchenbekämpfung und der Stadthygiene,
                                                                                     stark zeitgeprägt waren.17 Ähnliche Züge weist auch die Tuberkulosebe-
                                                                                     kämpfung des frühen 20. Jahrhunderts auf, die mittlerweile für Deutsch-
                                                                                     land, Frankreich, Großbritannien und andere Länder untersucht wurde.18
                                                                                     Zwar liegen auch erste Beiträge zur Entwicklung der Diagnose sowie einzel-
                                                                                     ne Fallstudien, etwa zum Debakel um Kochs Tuberkulin, vor. Untersu-
                                                                                     chungen über die historische Bedingtheit des ärztlichen Handelns stellen
                                                                                     jedoch nach wie vor ein Desiderat der Forschung dar.19
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                                                                                     Als wichtigste Todesursache des Erwachsenenalters war die Tuberkulose die
                                                                                     »skandalisierte« Krankheit (Alfons Labisch) der Hochindustrialisierungs-
                                                                                     phase. Gleichzeitig galt sie aber als praktisch unheilbar, was dazu führte,
                                                                                     daß relativ wenig wissenschaftlich begründete, dafür um so mehr praktisch
                                                                                     fundierte Therapieversuche unternommen wurden. Die Tuberkulose stellt
                                                                                     demnach auch ein Beispiel für den Gegensatz zwischen akademisch-
                                                                                     wissenschaftlichen Wissensbeständen und empirisch erreichtem Erfah-
                                                                                     rungswissen in der Medizin dar. Die Beschäftigung mit relativ wirkungslo-
                                                                                     sen Verfahren verdeutlicht die verschiedenen Stadien der Erfolgskontrolle,
                                                                                     mit denen Ärzte und die Gesundheitspolitik immer wieder versuchten, be-
                                                                                     stimmte Therapien zu begründen oder zu verwerfen. Denn gerade da, wo
                                                                                     die Krankheit nicht geheilt wurde, haben die Ärzte die verschiedensten
                                                                                     Ausweichmanöver vorgenommen, um sich und anderen die ärztliche
                                                                                     Hilflosigkeit gegenüber der Tuberkulose nicht eingestehen zu müssen. Im
                                                                                     folgenden werden deshalb anhand der wichtigsten Formen der Behandlung
                                                                                     der Tuberkulose während des frühen 20. Jahrhunderts die zugehörigen Er-
                                                                                     folgsbegriffe analysiert, die jeweils in engem Zusammenhang zum gewähl-
                                                                                     ten Behandlungsverfahren definiert wurden. Die Ausführungen sollen zei-
                                                                                     gen, daß medizinischer Erfolg keine historisch feststehende Größe war,
                                                                                     sondern nur im historischen Kontext der Behandlungsverfahren und der
                                                                                     beteiligten sozialen Gruppen verstanden werden kann.

                                                                                     15 Szreter (1988).
                                                                                     16 Spree: Zur Bedeutung des Gesundheitswesens (1980).
                                                                                     17 Witzler (1995); Labisch/Vögele (1997).
                                                                                     18 Condrau (2000).
                                                                                     19 Lachmund (1997); Pasveer (1992); Lerner (1992); Elkeles (1990); Opitz/Horn (1984);
                                                                                        Gradmann (1999); Burke (1993).

                                                                                                                       Franz Steiner Verlag
Behandlung ohne Heilung                                                         75

                                                                                     Heilanspruch und Heilerfolg der Behandlung
                                                                                     Die systematische Behandlung breiter Volksschichten durch akademisch
                                                                                     ausgebildete Ärzte setzte sich in Deutschland und den übrigen Industrielän-
                                                                                     dern im Laufe des 19. Jahrhunderts durch und löste ein komplexes System
                                                                                     von Laien- und Erfahrungsmedizin ab. Kennzeichnend für diesen Prozeß
                                                                                     war die Tatsache, daß sich die Krankenhausmedizin zunächst den nicht
                                                                                     lebensbedrohenden Bagatellkrankheiten zugewandt hat.20 Sieht man von
                                                                                     der Entdeckung und Verbreitung der Pockenschutzimpfung sowie den hy-
                                                                                     gienischen Verbesserungen der chirurgischen Behandlungsmethoden ein-
                                                                                     mal ab, setzte die systematische Behandlung der schwerwiegenderen
                                                                                     Krankheiten erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein, was auch für die
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                                                                                     Tuberkulose und ihre Behandlung zutrifft.
                                                                                     Die lange Zurückhaltung der Medizin hinsichtlich der Tuberkulose findet
                                                                                     im System der medizinischen Versorgung ihre Begründung, das sich im
                                                                                     ambulanten Bereich auf Patienten der Mittel- und Oberschichten kon-
                                                                                     zentrierte und sich im modernen Krankenhaus vorwiegend mit heilbaren
                                                                                     Krankheiten auseinandersetzte.21 Als chronische und primär in den sozialen
                                                                                     Unterschichten auftretende Krankheit war die Tuberkulose die Haupttodes-
                                                                                     ursache des Erwachsenenalters und damit ein entscheidender Faktor für die
                                                                                     Sterblichkeitsentwicklung. Allerdings blieb die Tuberkulose für die Medizin
                                                                                     des 19. Jahrhunderts ein schwieriges und letztlich unattraktives Feld, denn
                                                                                     der oft mehrere Jahre dauernden Behandlungsdauer standen geringe Heiler-
                                                                                     folgschancen gegenüber.22 Folgerichtig bezogen sich die wichtigsten Ent-
                                                                                     wicklungen der Tuberkulosemedizin zunächst auf die Krankheitserklärung.
                                                                                     Leopold Auenbruggers Begründung der klinischen Diagnostik sowie die
                                                                                     Erfindung des Stethoskops durch René Théophile Hyacinthe Laennec um
                                                                                     1820 begründeten bis in die 1920er Jahre das einzige, für den Allgemein-
                                                                                     praktiker ohne weitere technische Hilfsmittel durchführbare Diagnosever-
                                                                                     fahren und blieben bis in die jüngste Vergangenheit von herausragender
                                                                                     Bedeutung.23 Ferner leitete Jean-Antoine Villemin mit seinen Experimenten
                                                                                     zur Übertragbarkeit der Tuberkulose in den 1860er Jahren die bakteriologi-
                                                                                     sche Wende ein, deren Höhepunkt mit der Entdeckung des Mycobacterium
                                                                                     Tuberculosis durch Robert Koch im Jahre 1882 erreicht wurde.24 Wie be-
                                                                                     deutsam diese Errungenschaften für die Wissenschaftsgeschichte der Tuber-
                                                                                     kulose auch sein mögen, sie spitzten die mißliche Lage der praktizierenden
                                                                                     Ärzte weiter zu. Denn es öffnete sich dadurch eine Schere zwischen Diagno-
                                                                                     se und Therapie, die seither für viele Bereiche der modernen Medizin cha-

                                                                                     20 Labisch/Spree (1997).
                                                                                     21 Spree (1996).
                                                                                     22 Koelbing (1985), S. 147.
                                                                                     23 Auenbrugger [1761] (1922); Laennec (1822).
                                                                                     24 Singer/Underwood (1962), 396f.; Villemin (1868); vgl. auch Waksman (1964); Myers
                                                                                        (1977).

                                                                                                                        Franz Steiner Verlag
76                                                                    Flurin Condrau

                                                                                     rakteristisch geworden ist. Während nun die Tuberkulose immer öfter und
                                                                                     auch genauer diagnostiziert werden konnte, war damit kein Durchbruch in
                                                                                     der Behandlungsfähigkeit der Krankheit verbunden.25

                                                                                     Das Scheitern der bakteriologischen Wende
                                                                                     So paradox der Befund zunächst klingen mag, aber die bakteriologische
                                                                                     Wende in der Medizin beschränkte sich seit den Entdeckungen Louis Pas-
                                                                                     teurs und Robert Kochs auf Diagnostik und Ätiologie, ohne daß daraus bis
                                                                                     zum Zweiten Weltkrieg sichtbar nützliche Folgen für die Therapie der Tu-
                                                                                     berkulose erwuchsen. Tatsächlich blieben die aufwendigen Forschungsar-
                                                                                     beiten im Kampf gegen die Tuberkulose für den Patienten weitgehend wir-
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                                                                                     kungslos, denn sie dienten vor allem der wissenschaftlichen Begründung
                                                                                     der Infektionsprophylaxe, die zum Grundkonzept der Tuberkulosebekämp-
                                                                                     fung wurde, was aber dem Kranken erst einmal nichts nützte.26 Auch die
                                                                                     BCG-Schutzimpfung gegen Tuberkulose, die von den französischen Ärzten
                                                                                     Albert Calmette und Camille Guérin zwischen 1908 und 1915/16 entwi-
                                                                                     ckelt wurde, setzte sich außerhalb Frankreichs nicht flächendeckend
                                                                                     durch.27 Das wichtigste Moment des Scheiterns der bakteriologischen Wen-
                                                                                     de war aber das Heilmittel, das von Koch in einem an Andeutungen und
                                                                                     Vermutungen reichen Vortrag »Über bakteriologische Forschung« vorge-
                                                                                     stellt wurde, das Tuberkulin. An ihm läßt sich die Wirkungslosigkeit der
                                                                                     kausalen Therapieversuche im späten 19. Jahrhundert sowie die ganze
                                                                                     Problematik nichtintendierter Handlungsfolgen medizinischer Behandlun-
                                                                                     gen zeigen.
                                                                                     Pilgerscharen von Tuberkulosekranken strömten damals nach Berlin, um
                                                                                     sich von Koch und den wenigen von ihm auserwählten Ärzten mit dem
                                                                                     neuen Heilmittel behandeln zu lassen. Reiche Tuberkulosepatienten aus
                                                                                     aller Welt boten enorme Summen in der Hoffnung auf Heilung durch Tu-
                                                                                     berkulin, und Koch selbst führte harte Auseinandersetzungen in der Ver-
                                                                                     marktung des Mittels.28 Kritiker warfen ihm und den behandelnden Ärzten
                                                                                     jedoch bald vor, die Patienten zu »Spritznummern« zu degradieren. Nicht
                                                                                     wenige sollen an den Folgen des Tuberkulins sogar gestorben sein, da das
                                                                                     Mittel den Krankheitsverlauf der Tuberkulose auch beschleunigen konnte.
                                                                                     Die enormen Erwartungen und die kurz darauf folgende Enttäuschung, die
                                                                                     das Tuberkulin erzeugt hatte, waren aufgrund des großen Prestiges von
                                                                                     Koch und der auch nationalistische Züge tragenden Heilserwartung gegen-
                                                                                     über der Bakteriologie von neuer Qualität. Nach dem Siegeszug der innova-
                                                                                     tiven medizinischen Wissenschaft erwartete die Öffentlichkeit allgemein

                                                                                     25 Zur Entwicklung der Diagnose und ihrer Zuverlässigkeit vgl. Hardy (1994).
                                                                                     26 Göckenjahn (1985), S. 49-59.
                                                                                     27 Bryder (1999); Feldberg (1995), S. 125-137; Guillaume (1986), S. 117-119.
                                                                                     28 Vgl. die in Anmerkung 20 angegebene Literatur sowie: Gradmann (o. J.); Brompton
                                                                                        Hospital (1891).

                                                                                                                        Franz Steiner Verlag
Behandlung ohne Heilung                                                             77

                                                                                     auch einen Durchbruch in der bakteriologischen Therapie der Tuberkulose
                                                                                     und neigte dazu, Kochs Ankündigungen zu überschätzen. Allerdings man-
                                                                                     gelte es offensichtlich an der empirischen Überprüfung der Wirkung des
                                                                                     Tuberkulins, denn Koch hatte seine Präsentationen auf einige wenige Tier-
                                                                                     versuche gestützt. Die erste Welle der praktischen Behandlung fand sodann
                                                                                     ohne vorhergehende klinische Prüfung statt. Nach den frühen euphorischen
                                                                                     Reaktionen auf das Geheimmittel, dessen Zusammensetzung Koch nicht
                                                                                     verraten wollte, wurde die bald einsetzende klinische Überprüfung zum
                                                                                     Prototyp für den modernen Umgang mit neuen Heilmitteln. Entscheidend
                                                                                     für die umfangreichen empirischen Studien in verschiedenen Kliniken des
                                                                                     In- und Auslands war dabei, daß der Krankheitsverlauf in den ohne Tuber-
                                                                                     kulin behandelten Kontrollgruppen keinesfalls schlechter war, was nebst
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                                                                                     den zahlreichen Komplikationen der mit Tuberkulin behandelten Patienten
                                                                                     die therapeutische Nutzlosigkeit und auch die Gefahren des vermeintlichen
                                                                                     Heilmittels hinreichend nachwies.29 Koch, späterer Nobelpreisträger und
                                                                                     damaliger Star der deutschen Bakteriologie, war allerdings zeitlebens nicht
                                                                                     von der Wirkungslosigkeit seines Mittels zu überzeugen. Gleichwohl stellte
                                                                                     die überwiegende Mehrheit der deutschen Experten – aus Rücksichtnahme
                                                                                     üblicherweise rhetorisch verklausuliert – fest, daß in ihren Kliniken und an
                                                                                     ihrem »Patientenmaterial« das Tuberkulin nichts brachte.30 Zum Glück für
                                                                                     Koch und seinen Ruf konnte alsbald wenigstens verkündet werden, daß mit
                                                                                     dem Tuberkulin ein bahnbrechendes bakteriologisches Diagnoseinstrument
                                                                                     zur Verfügung stand. Tatsächlich machte der in der Folgezeit eingeführte
                                                                                     Tuberkulintest im Gegensatz zur alten klinischen Diagnose durch Perkussi-
                                                                                     on und Auskultation schnelle, einfache und kostengünstige Untersuchungen
                                                                                     einer Vielzahl von Fällen möglich.31
                                                                                     Übrigens hielt der schließlich nachgewiesene Mißerfolg des Tuberkulins
                                                                                     manche Ärzte nicht davon ab, das Mittel dennoch in der Behandlung ein-
                                                                                     zusetzen. Bekannt geworden ist hierbei vor allem der in London tätige Arzt
                                                                                     Camac Wilkinson, der 1910 eine private Wohlfahrtsorganisation gründete,
                                                                                     die spezielle Fürsorgestellen zur ambulanten Vergabe von Tuberkulin auf-
                                                                                     baute. Er hielt im Gegensatz zur englischen Schulmedizin die Tuberkulin-
                                                                                     therapie für die rationellste Behandlungsmethode für die Arbeiterklasse,
                                                                                     weil die Sanatoriumstherapie auch keine besseren Erfolge hätte, aber doch
                                                                                     entschieden mehr kosten würde.32 Dieses Detail der Tuberkulin-Geschichte
                                                                                     zeigt, wie sehr sich die Ärzteschaft ein Heilmittel gegen diese Krankheit

                                                                                     29 Guttstadt (Hg.) (1891).
                                                                                     30 Vgl. die gelegentlich etwas hämische Berichterstattung bei: Dettweiler (1891).
                                                                                     31 Edwards/Edwards (1960).
                                                                                     32 Wilkinson (1911). Natürlich war das unter englischen Ärzten äußerst umstritten. Die
                                                                                        National Association for the Prevention of Tuberculosis und mit ihr die führenden
                                                                                        Tuberkuloseärzte des Landes lehnten jedenfalls Wilkinson und seine Liga rigoros ab.

                                                                                                                           Franz Steiner Verlag
78                                                                     Flurin Condrau

                                                                                     wünschte. Dabei war nicht entscheidend, ob sich langfristig ein Erfolg ein-
                                                                                     stellte, sondern daß kurzfristig überhaupt etwas getan werden konnte.

                                                                                     Anstaltsbehandlung der Tuberkulose
                                                                                     Der Mißerfolg des Tuberkulins führte zu einer grundsätzlichen Neuorientie-
                                                                                     rung in der Tuberkulosemedizin, weil klar wurde, daß so bald nicht mit
                                                                                     einem kausal wirkenden Heilmittel zu rechnen sei. Für die Vertreter der
                                                                                     Anstaltstherapie bei Tuberkulose wie Hermann Brehmer oder Peter Dett-
                                                                                     weiler stellte der Mißerfolg des Tuberkulins letztlich einen Glücksfall dar.
                                                                                     Tatsächlich hatte die Bekanntgabe Kochs sämtliche Bemühungen um Aus-
                                                                                     weitung der bereits seit den 1850er Jahren bekannten Lungenheilanstalten
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                                                                                     sofort auf Eis gelegt. Durch den ebenso überraschenden Mißerfolg war man
                                                                                     aber auf der Suche nach einer erfolgversprechenden Behandlung bald wie-
                                                                                     der bei der unspezifischen Anstaltsbehandlung angekommen, denn bereits
                                                                                     in den 1850er Jahren hatte der wissenschaftliche Außenseiter Brehmer in
                                                                                     seiner kaum zur Kenntnis genommenen Dissertation im Anschluß an den
                                                                                     Wiener Pathologen Karl von Rokitansky die generelle Heilbarkeit der Tu-
                                                                                     berkulose in einem frühen Stadium postuliert.33 Ein Chronist der Heilstät-
                                                                                     tenbewegung konnte kurz nach dem Tuberkulin-Skandal bilanzieren: »Gar
                                                                                     bald finden wir die alten Vorkämpfer wieder in eifriger Tätigkeit, und hier
                                                                                     und dort erwachsen der Heilstättensache neue Anhänger.«34 Dettweiler
                                                                                     selbst, der erfolgreichste deutsche Pionier der Frischluftliegekur gegen Tu-
                                                                                     berkulose, beteiligte sich in seiner Anstalt an den ausführlichen Tests des
                                                                                     Tuberkulins und stellte daraufhin fest:
                                                                                          Leider erscheint mir persönlich die Aussicht, daß die bacilläre Lungenschwindsucht,
                                                                                          diese complexeste aller Krankheiten, jemals durch ein bestimmtes Mittel geheilt wird,
                                                                                          als eine geringe!35
                                                                                     Erst der Mißerfolg der spezifischen Behandlung machte die folgende bei-
                                                                                     spiellose Entwicklung möglich, die in Deutschland und anderswo die un-
                                                                                     spezifische Behandlung in den Lungenheilanstalten mit der innovativen
                                                                                     Bereitstellung von Mitteln aus den Sozialversicherungssystemen zur Be-
                                                                                     handlung der Tuberkulose verband.36 Die Behandlung basierte in Deutsch-
                                                                                     land auf dem Prinzip der Selbstheilung durch kräftigende Nahrung und
                                                                                     möglichst häufigen Aufenthalt in frischer Luft, während beispielsweise die
                                                                                     Engländer von »Auto-Inoculation« (Selbstimpfung) sprachen und dabei an
                                                                                     eine stufenweise Abhärtung des Körpers durch gezielte Arbeitstherapie
                                                                                     dachten.37 Verbindendes Element der Anstaltsbehandlungen nach deut-

                                                                                     33 Koelbing (1985), S. 147.
                                                                                     34 Hamel (1904), S. 6.
                                                                                     35 Dettweiler (1891).
                                                                                     36 Vgl. nebst der bereits genannten Literatur auch Teleky (1926).
                                                                                     37 Vgl. dazu die Schriften des Begründers dieser »bakteriologischen« Version der An-
                                                                                        staltsbehandlung Paterson (1911).

                                                                                                                         Franz Steiner Verlag
Behandlung ohne Heilung                                                             79

                                                                                     schem oder englischem Muster war die Koexistenz diätetischer Behand-
                                                                                     lungsformen und moderner medizinischer Institutionen. Im Unterschied
                                                                                     zur Praxis der Behandlungsmethoden in verschiedenen Luftkurorten wie
                                                                                     etwa Davos, reklamierten die deutschen und englischen Ärzte die Notwen-
                                                                                     digkeit einer Heilanstalt modernen Zuschnitts zur ärztlichen Kontrolle der
                                                                                     Patienten. In einem oft zitierten Passus stellte Dettweiler fest:
                                                                                         [Der Arzt] muss die ganze Lebensführung desselben beherrschen, muss sich verant-
                                                                                         wortlich fühlen für die stricteste Ausführung aller seiner Anordnungen, er muss die
                                                                                         Macht und Mittel hierzu unbeschränkt in der Hand haben, mit einem Worte, er muss
                                                                                         Herr und Leiter in einer, blos für die speciellen Zwecke wohleingerichteten Anstalt
                                                                                         sein.38
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                                                                                     Die mehrere Monate dauernde Behandlung zielte nicht auf klinische Hei-
                                                                                     lung, sondern auf die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit durch Stär-
                                                                                     kung des Körpers im Kampf gegen die Tuberkulose ab. Neben dieses Pri-
                                                                                     märziel trat mit der Zeit immer stärker die pädagogische Funktion der
                                                                                     Heilanstalten. Bei einer letztlich unklaren Zielvorgabe, worin der Heilerfolg
                                                                                     bei unspezifischen Behandlungen genau bestünde, war die Frage der Er-
                                                                                     folgskontrolle der Anstaltsbehandlung zunächst nicht von Bedeutung.
                                                                                     Brehmer, der in den 1850er Jahren die erste Anstalt in Görbersdorf eröffnet
                                                                                     hatte, folgte einer umstrittenen Theorie und sprach von immunen Orten
                                                                                     (weil dort die Tuberkulose kaum oder gar nicht verbreitet sei) und einem
                                                                                     Problem der Organgröße von Herz und Lunge (weil die Lunge durch ein
                                                                                     besonders großes Herz zusammengedrückt werde).39 Brehmer, Dettweiler
                                                                                     und die übrigen Pioniere der Anstaltsbehandlung versuchten trotz allem
                                                                                     nachzuweisen, daß ihre Methode in der Praxis gute Erfolge aufwies. Typi-
                                                                                     scherweise legten die behandelnden Ärzte dazu Veröffentlichungen vor, in
                                                                                     denen sie die Anamnese ausgewählter Einzelfälle besprachen und gleichzei-
                                                                                     tig behaupteten, daß es sich dabei um exemplarische Krankengeschichten
                                                                                     handelte.40 Die fachliche Aufmerksamkeit blieb ihnen allerdings zunächst
                                                                                     verwehrt, denn im Zeitalter der bakteriologischen Wende war mit hygie-
                                                                                     nisch-diätetischer Behandlung von chronisch Kranken kein Prestige zu ge-
                                                                                     winnen.
                                                                                     Erst der vollständige Mißerfolg der bakteriologischen Therapieversuche
                                                                                     machte zu Beginn der 1890er Jahre klar, daß zwar keine spezifische Heil-
                                                                                     wirkung der Frischluftliegekur nachweisbar war, sie aber dennoch im Ver-
                                                                                     gleich zum Tuberkulin die wesentlich besseren Heilchancen bot. Die
                                                                                     Durchsetzung der Frischluftliegekur auf dem Höhepunkt der Begeisterung
                                                                                     für die Bakteriologie veränderte dann auch die Frage des Heilerfolgs, denn
                                                                                     die Lungenärzte gaben nun das theoretische Interesse an Brehmers Postulat
                                                                                     der immunen Orte zur Begründung der Therapie auf. Ohne diese kausale

                                                                                     38 Dettweiler (1880), S. 18-23.
                                                                                     39 Wolff (1926).
                                                                                     40 Dettweiler (1886).

                                                                                                                         Franz Steiner Verlag
80                                                                     Flurin Condrau

                                                                                     Erklärung, warum die gute Ernährung und frische Luft im Einzelfall helfen
                                                                                     sollten, verlor die Darstellung ausgewählter Krankengeschichten jedoch
                                                                                     ihren Sinn. Während die Ärzte anfangs noch an dem unbedingten Erfolg
                                                                                     der Anstaltsbehandlung festhielten, oder genauer, diesen nicht in Frage stell-
                                                                                     ten, traten unter Führung Hermann Gebhardts, dem Direktor der Landes-
                                                                                     versicherungsanstalt der Hansestädte, die Träger der Invalidenversicherung
                                                                                     als neue Protagonisten in der Diskussion des medizinischen Erfolgs der
                                                                                     Heilstätten auf. Gebhardt erkannte die finanzielle Belastung der Invaliden-
                                                                                     versicherung durch Tuberkulose, die als Ursache für knapp 50 % der Ver-
                                                                                     rentungen von 20-40jährigen Versicherten verantwortlich war.41 Deshalb
                                                                                     kam die Idee auf, finanzielle Ressourcen der Invalidenversicherung für die
                                                                                     Behandlung der Tuberkulose einzusetzen, eine Praxis, die ab 1894 vom
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                                                                                     Reichsversicherungsamt genehmigt wurde. Die gesetzlichen Grundlagen
                                                                                     wurden allerdings erst im Invalidenversicherungsgesetz von 1899 geschaf-
                                                                                     fen.42 Die erklärte Absicht dieses Vorgehens bestand darin, die unspezifi-
                                                                                     sche Therapieleistung der Heilbehandlungen zu nutzen, um bei möglichst
                                                                                     vielen lungenkranken Versicherten den Zeitpunkt der Verrentung hinauszu-
                                                                                     zögern.43 An Stelle des klinischen Heilbegriffs, der noch für die Überprü-
                                                                                     fung des Tuberkulins von Bedeutung war, trat demnach ein neuartiges
                                                                                     Konzept der sozio-ökonomischen Heilung, denn das Ziel bestand in der
                                                                                     zeitlichen Verzögerung des Krankheitsprozesses und der damit verbunde-
                                                                                     nen Verlängerung der Arbeitsfähigkeit der Kranken, nicht jedoch in einer
                                                                                     kausalen und auf Dauer erreichten Heilung.44 Die sozialpolitischen Ent-
                                                                                     scheidungsträger und die behandelnden Ärzte vollzogen einen für die Tu-
                                                                                     berkulosebehandlung wegweisenden Paradigmenwechsel in der Evaluierung
                                                                                     des Behandlungserfolgs, indem beide Seiten erkannten, daß bei einer unspe-
                                                                                     zifischen Behandlungsweise nicht der einzelne Erfolg oder Mißerfolg inte-
                                                                                     ressierte, sondern die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwartende güns-
                                                                                     tige Beeinflussung des Krankheitsverlaufs. Damit war für die Ärzte (und
                                                                                     natürlich auch für die Patienten) ein interessantes Dilemma verbunden.
                                                                                     Denn nach Dettweiler bestand der ganze Sinn der Frischluftliegekur in der
                                                                                     individualisierenden Behandlung der Tuberkulose, während gleichzeitig der
                                                                                     Erfolg dieser am Einzelfall orientierten Therapie lediglich durch statistische
                                                                                     Durchschnittswerte zu erfassen war. Dieses Problem äußerte sich in einer
                                                                                     Koexistenz zweier Erfolgsbegriffe. Während nach der Heilbehandlung die
                                                                                     Dauer der Arbeitsfähigkeit entscheidend war, galten in den Heilstätten bei-
                                                                                     spielsweise die Gewichtszunahme und die Fieberfreiheit als Indikatoren für
                                                                                     eine Verbesserung des Gesundheitszustandes.45 Dieser Widerspruch war

                                                                                     41 Gebhardt (1899); Gottstein (1931), S. 95.
                                                                                     42 Vgl. Tennstedt (1976); Condrau (2000), S. 86f.; Teleky (1926), S. 209f.
                                                                                     43 Tennstedt (1976), S. 453.
                                                                                     44 Köhler: Begriff (1908).
                                                                                     45 Martin (1997).

                                                                                                                         Franz Steiner Verlag
Behandlung ohne Heilung                                                              81

                                                                                     auch für die betroffenen Patienten deutlich sichtbar. Moritz William Theo-
                                                                                     dor Bromme, der in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts in einer Lun-
                                                                                     genheilanstalt behandelt wurde, brachte das Problem in seinen Erinnerun-
                                                                                     gen auf den Punkt, indem er feststellte:
                                                                                         […] seine Statistik hat mir durchaus nicht gefallen. Danach sollen von allen in Lun-
                                                                                         genheilstätten behandelten Patienten nach 10 Jahren nur noch 7 Prozent am Leben
                                                                                         sein! Es sollte mich freuen, wenn ich mich verhört hätte; denn wenn man sich sagen
                                                                                         muß, daß nach 10 Jahren von hundert Anwesenden nur noch 7 am Leben sind, so ist
                                                                                         das tief niederschlagend.46
                                                                                     Tatsächlich konnte die Evaluierung des langfristigen Erfolgs der Heilbe-
                                                                                     handlungen nur mit statistischen Methoden und auf Basis möglichst großer
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                                                                                     Fallzahlen geschehen, was teure empirische Projekte notwendig machte.
                                                                                     Diese waren in Deutschland möglich, weil die Finanzierung und die Durch-
                                                                                     führung der Datenerhebungen weitgehend von einzelnen Landesversiche-
                                                                                     rungsanstalten und dem Reichsversicherungsamt übernommen werden
                                                                                     konnten. Diese Untersuchungen stellten damals eine Spezialität der deut-
                                                                                     schen Versicherungsträger dar und wurden auch im Ausland viel beach-
                                                                                     tet.47 In direktem Zusammenhang zu den großangelegten Datensammlun-
                                                                                     gen beschäftigte sich ein reiches zeitgenössisches Schrifttum mit den Er-
                                                                                     folgsdaten verschiedenster Heilstätten.48 Während damit für Deutschland
                                                                                     umfangreiche Datensammlungen über die Erfolgskontrolle der Heilstätten-
                                                                                     behandlung vorliegen, ist die Quellenlage für vergleichbare Länder sehr viel
                                                                                     schwieriger. Obwohl beispielsweise in England/Wales bis 1914 ähnlich
                                                                                     viele Heilanstalten gebaut und Kuren durchgeführt wurden wie in Deutsch-
                                                                                     land, liegen Studien zur Erfolgskontrolle nur für einige wenige Sanatorien,
                                                                                     nicht jedoch für das gesamte Heilstättensystem, vor. Dabei waren es vor
                                                                                     allem die beiden »Vorzeigeinstitutionen«, das King Edward VI. Sanatorium
                                                                                     in Midhurst und das Brompton Hospital Sanatorium in Frimley, deren Da-
                                                                                     ten vom Medical Research Council bearbeitet und veröffentlicht wurden.49
                                                                                     Ferner liegen einige weitere Spezialuntersuchungen vor, die amerikanische
                                                                                     und englische Daten vergleichend untersuchten.50 Eigenheiten der engli-
                                                                                     schen Gesetzgebung behinderten die konkrete Erfassung der Leistungen
                                                                                     sowie die Überprüfung des Behandlungserfolgs der Tuberkuloseanstalten,

                                                                                     46 Bromme (1905), S. 310.
                                                                                     47 Vgl. Statistik der Heilbehandlungen; vgl. auch das Großprojekt der Leipziger Orts-
                                                                                        krankenkasse (1910).
                                                                                     48 Exemplarisch genannt seien: Liebermeister (1925); Köhler: Dauererfolge (1908); Wei-
                                                                                        cker (1903); Friedrich (1901).
                                                                                     49 Medical Research Council (1919); Medical Research Council (1924); siehe auch Hor-
                                                                                        ton-Smith Hartley et al. (Hg.) (1935).
                                                                                     50 Exemplarisch genannt seien: Elderton/Perry (1910); dies. (1913).

                                                                                                                          Franz Steiner Verlag
82                                                         Flurin Condrau

                                                                                     denn der 1911 verabschiedete National Insurance Act basierte auf dezentra-
                                                                                     ler Verwaltung und sah generell keine zentrale Registratur vor.51
                                                                                     Wichtige Hinweise für die Beurteilung der einzelnen Datensammlungen
                                                                                     ergeben sich aus dem sozialpolitischen Kontext, denn während die engli-
                                                                                     schen Anstalten den Heilbegriff bei allen zeitlichen Einschränkungen den-
                                                                                     noch im Sinne einer echten Heilung verstanden, orientierten sich die deut-
                                                                                     schen Versicherungsanstalten an der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit.52
                                                                                     Schon den Zeitgenossen war damit klar, daß ein internationaler Vergleich
                                                                                     englischer und deutscher Daten dadurch erheblich erschwert wurde. Her-
                                                                                     mann Gebhardt äußerte sich noch aufgrund seiner eigenen Erfahrungen in
                                                                                     der Landesversicherungsanstalt der Hansestädte begeistert über das Potenti-
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                                                                                     al der Heilbehandlungen für Tuberkulose. Ab Ende des Jahres 1896 wur-
                                                                                     den die ersten Datensammlungen präsentiert, die die Grundlage für eine
                                                                                     Vielzahl von Analysen über den Wert der Behandlungen darstellten. Ein
                                                                                     Problem wurde dabei rasch erkannt, denn es machte keinen Sinn, Daten
                                                                                     aus verschiedenen Heilstätten zu bearbeiten, die nicht vergleichbare Krank-
                                                                                     heitsfälle beherbergten. Tatsächlich war die dezentrale Diagnose das Kern-
                                                                                     problem der großen Standardisierungsdebatte der ärztlichen Diagnose,
                                                                                     denn zur Erfolgskontrolle sollte sichergestellt werden, daß die Ärzte der
                                                                                     verschiedenen Anstalten ihre Ein- und Ausgangsdiagnosen nach den glei-
                                                                                     chen Prinzipien vornahmen, was bei der bis zum Ersten Weltkrieg vorherr-
                                                                                     schenden klinischen Diagnostik durch Perkussion und Auskultation denk-
                                                                                     bar schwierig war. Die Frage der Stadieneinteilung der Tuberkulose wurde
                                                                                     ab der Jahrhundertwende heftig diskutiert, denn sie war von zentraler Be-
                                                                                     deutung, um mit einfachen Mitteln Eingangs- und Ausgangsdiagnose ange-
                                                                                     ben und damit die Veränderung während der Behandlung sichtbar machen
                                                                                     zu können. Ein internationaler Standard wurde mit der berühmten Turban-
                                                                                     Gerhardtschen Einteilung in drei Stadien erreicht, die Karl Turban und
                                                                                     Hermann Gerhardt auf dem Wiener Tuberkulosekongreß von 1907 vor-
                                                                                     stellten.53
                                                                                     Allerdings fokussierte die Stadieneinteilung lediglich die Ausbreitung der
                                                                                     Krankheit in der Lunge. Nach allgemeiner Auffassung bestand zwar ein
                                                                                     Zusammenhang zur Schwere der Erkrankung, weniger klar war jedoch die
                                                                                     Beziehung zwischen Krankheitsstadium und der bereits erreichten Krank-
                                                                                     heitsdauer. Deshalb wurde parallel zur Stadieneinteilung eine zweite Kate-
                                                                                     gorie zur Unterscheidung früher und fortgeschrittener Krankheitsfälle ver-
                                                                                     wendet.54 Erste Erfahrungen hatten gezeigt, daß die frühen Fälle die besten
                                                                                     Aussichten auf Erfolg boten. Das führte zur allgemeinen Praxis, nicht nur
                                                                                     kranke Patienten zur Behandlung in der Lungenheilanstalt aufzunehmen,

                                                                                     51 Worboys (1992), S. 47-71.
                                                                                     52 Walters (1909), S. 303-316; Bardswell (1910).
                                                                                     53 Vgl. dazu Turban (1899).
                                                                                     54 Teleky (1926), S. 214f.

                                                                                                                        Franz Steiner Verlag
Behandlung ohne Heilung                                                                 83

                                                                                     sondern auch Rekonvaleszente und sogenannte Tuberkulose-Gefährdete.55
                                                                                     Tatsächlich war die Diagnose Lungentuberkulose vor dem Ersten Weltkrieg
                                                                                     eine Catch-All Diagnose, indem sich die Ärzte bei manchen unklaren
                                                                                     Krankheitsbildern letztlich auf diese Diagnose einigten. Gerade im Sinne
                                                                                     der Erfolgskontrolle erwies sich die Präferenz für frühe Fälle als äußerst
                                                                                     günstig, denn bei Patienten, die nur eine Gefährdung für Tuberkulose auf-
                                                                                     wiesen, stellte sich der Behandlungserfolg mehr oder weniger automatisch
                                                                                     ein, wobei dieses Vorgehen aufgrund des in den Anstalten gegebenen Risi-
                                                                                     kos der Crossinfektionen nicht ungefährlich war.
                                                                                     Zusammen mit der Tendenz, sich auf die Behandlung möglichst früher Fäl-
                                                                                     le zu konzentrieren, wurde die hygienische Erziehung als ein weiterer Be-
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                                                                                     standteil des medizinischen Erfolgs in den Heilanstalten immer wichtiger.
                                                                                     Der Arzt sollte dabei durch sein großes Wissen und seine modernen, urba-
                                                                                     nen Lebens- und Umgangsformen zu einer moralischen Instanz für die Pa-
                                                                                     tienten werden: »[…] so kann es nicht fehlen, daß die Mehrzahl seiner stets
                                                                                     um ihn geschaarten Clientel zum bildsamen Wachs in seiner Hand wird.«56
                                                                                     Hier konkurrierte die Heilanstalt mit den zu Beginn des 20. Jahrhunderts
                                                                                     erfolgreich eingeführten kommunalen Tuberkulosefürsorgestellen. In den
                                                                                     Heilanstalten gelang es den Ärzten jedoch, die tägliche Hygiene und auch
                                                                                     die Besonderheiten der wirksamen Infektionsprophylaxe buchstäblich zu
                                                                                     inkorporieren:
                                                                                         Die Arbeit, die auf diesem Gebiete geleistet wird, ist keine geringe und wird dadurch
                                                                                         unterstützt, daß jeder Patient sie in dem ganzen Anstaltsregime am eigenen Körper er-
                                                                                         fährt.57
                                                                                     Damit war neben dem schwierig nachzuweisenden Behandlungserfolg im
                                                                                     Sinne der Verlängerung der Arbeitsfähigkeit die ebenso problematische
                                                                                     hygienische Erziehungsleistung zu einem Markenzeichen der Heilanstalten
                                                                                     geworden. Diese Verbindung zweier Zielsetzungen wurde nicht nur für die
                                                                                     Behandlung in den Heilanstalten charakteristisch, sondern beeinflußte fort-
                                                                                     an auch die Auswahl der darin überhaupt zu versorgenden Patienten. Ein
                                                                                     Arzt forderte:
                                                                                         daß in erster Linie die Landesversicherungsanstalten die Auslese der Kranken für die
                                                                                         Heilstätte nicht allein nach medizinischen, sondern gleichzeitig auch nach morali-
                                                                                         schen Gesichtspunkten treffen, sollen die Heilstätten ihr pädagogisches Ziel erreichen,
                                                                                         daß ihre Pfleglinge als Apostel einer gesundheitsgemässen Lebensweise in Familie und
                                                                                         Beruf zurückkehren.58
                                                                                     Es ist naheliegend, daß die Auswahl der Patienten nach moralischen Krite-
                                                                                     rien wiederum für die Erfolgskontrolle der Heilanstalten bedeutsam wurde,

                                                                                     55 Teleky (1926), S. 219.
                                                                                     56 Dettweiler (1880), S. 34.
                                                                                     57 Roepke (1904).
                                                                                     58 Roepke (1904).

                                                                                                                           Franz Steiner Verlag
84                                                                     Flurin Condrau

                                                                                     denn die quantitativen Überprüfungen der Behandlungserfolge verloren da-
                                                                                     durch erheblich an Bedeutung. Während Kritiker wie Alfred Grotjahn und
                                                                                     andere auf die ungünstigen Erfolgschancen der Heilstätten hinwiesen, paß-
                                                                                     ten die flexibel denkenden Anstaltsärzte ihren Erfolgsbegriff offenbar ein-
                                                                                     fach an die jeweiligen Begebenheiten an.59

                                                                                     Behandlung durch Lungenchirurgie
                                                                                     Neben dem Tuberkulin und der Frischluftliegekur stellte die Lungenchirur-
                                                                                     gie seit dem Ersten Weltkrieg eine dritte, eigenständige Behandlungsform
                                                                                     der Tuberkulose dar.60 Die Chirurgie gehörte bekanntlich zu den »erfolg-
                                                                                     reichsten« medizinischen Spezialdisziplinen der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 06.06.2022 um 04:12 Uhr

                                                                                     hunderts, denn mit Hilfe der Anästhesie sowie der Entwicklung von Anti-
                                                                                     sepsis/Asepsis hatte sie immer bessere Operationsergebnisse vorzuweisen.61
                                                                                     Es war klar, daß sich diese erfolgreiche Disziplin früher oder später auch
                                                                                     der Behandlung der Tuberkulose zuwenden würde. Erstmals wurde der
                                                                                     artifizielle Pneumothorax (A.P.), der künstliche Lungenkollaps, zwischen
                                                                                     1888 und 1894 von dem italienischen Chirurgen Carlo Forlanini erfolg-
                                                                                     reich durchgeführt.62 Dieser Eingriff strebte die künstlich hervorgerufene
                                                                                     Ruhigstellung der erkrankten Lunge an, was im günstigsten Fall die Selbst-
                                                                                     heilung des Organs erreichen, aber wenigstens doch den fortschreitenden
                                                                                     Zerfall der Lunge verhindern sollte. Die dazu notwendige Operation wurde
                                                                                     bald zur Routinemaßnahme und basierte auf der Zerstörung des die Lunge
                                                                                     umgebenden Vakuums durch Gas, das durch eine Nadel, die durch den
                                                                                     Brustkorb geführt wurde, in den Pleuraspalt gelangte. Um das Wiederent-
                                                                                     stehen des Vakuums durch die Resorption des Gases zu verhindern, mußte
                                                                                     in relativ kurzen Abständen in wiederholten Eingriffen Gas in den Hohl-
                                                                                     raum nachgefüllt werden, um den Unterdruck einigermaßen konstant zu
                                                                                     halten.63 Am Beispiel der Lungenchirurgie läßt sich der oft lange dauernde
                                                                                     Prozeß der technischen Innovation gut zeigen, denn während Technologie
                                                                                     und Operationsmethode seit dem späten 19. Jahrhundert bekannt waren,
                                                                                     erfolgte die breite Anwendung der Lungenchirurgie in Deutschland erst
                                                                                     nach dem Ersten Weltkrieg.64 Neben dem ärztlichen Fachwissen stellte die
                                                                                     technische Ausstattung die wichtigste Voraussetzung für die Eingriffe der
                                                                                     sogenannten »kleinen Lungenchirurgie« dar. Die Chirurgie formulierte ge-
                                                                                     meinsam mit der Sozialen Hygiene und der Bakteriologie die fundamentale
                                                                                     Kritik der Frischluftliegekur. Dabei spielte der in Marburg lehrende Chirurg

                                                                                     59 Grotjahn: Krisis (1907); ders.: Lungenheilstättenbewegung (1907).
                                                                                     60 Brunner (1966).
                                                                                     61 Bouchet [1978] (1992).
                                                                                     62 Sakula (1983).
                                                                                     63 Naef (1990).
                                                                                     64 Condrau (2000), S. 131f.

                                                                                                                        Franz Steiner Verlag
Behandlung ohne Heilung                                                                 85

                                                                                     Ludolph Brauer eine herausragende Rolle, weil er mit der von ihm in
                                                                                     Deutschland eingeführten Lungenchirurgie als einziger Kritiker der Heilan-
                                                                                     stalten eine therapeutische Alternative anbot.65 Hierin ist sicherlich ein zent-
                                                                                     raler Grund dafür zu sehen, daß sich gerade unter den nicht in den Heilan-
                                                                                     stalten beschäftigten Ärzten das Interesse für die Möglichkeiten lungenchi-
                                                                                     rurgischer Eingriffe rasch verbreitete. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte
                                                                                     Gustav Baer, damaliger Leiter der Tuberkulosefürsorgestelle Münchens,
                                                                                     feststellen: »Der Wert des künstlichen Pneumothorax bei der Behandlung
                                                                                     der Lungentuberkulose kann heutzutage als unbestritten gelten.«66
                                                                                     Worin aber bestand dieser Wert? Zunächst war der Erste Weltkrieg für die
                                                                                     Chirurgie sicherlich von großer Bedeutung, weil die vielen Schußverletzun-
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                                                                                     gen nicht nur zur praktischen Aus- und Weiterbildung der Ärzte führten,
                                                                                     sondern auch die Entwicklung und Verbreitung der dazu notwendigen
                                                                                     technischen Geräte wie zum Beispiel der Röntgentechnik förderten.67 Vor
                                                                                     dem Krieg sah man lungenchirurgische Eingriffe noch als experimentelle
                                                                                     und problematische Eingriffe an, ab 1918 fand diese Behandlungsmethode
                                                                                     aber rasche Verbreitung. Die Verbreitung der Lungenchirurgie ist im ein-
                                                                                     zelnen schwer nachzuweisen und wird lediglich im Rahmen einer noch zu
                                                                                     schreibenden Spezialuntersuchung zu klären sein.68 Sie hing zweifellos von
                                                                                     nationalen Faktoren ab; so wies Deutschland einen deutlichen Vorsprung
                                                                                     in der Anwendung der Lungenchirurgie etwa gegenüber England auf, wäh-
                                                                                     rend sie wiederum in den USA sehr angesehen war.69 Aufgrund der Ver-
                                                                                     breitung der technischen Infrastruktur in deutschen Lungenheilanstalten
                                                                                     und mit Hilfe von Behandlungszahlen aus der Heilanstalt Charlottenhöhe
                                                                                     bei Stuttgart läßt sich der Anteil der lungenchirurgisch behandelten Patien-
                                                                                     ten während der 1920er Jahre auf ca. 20-25 % schätzen.70 Tatsächlich galt
                                                                                     die Lungenchirurgie in den 1920er Jahren in Deutschland als das kommen-
                                                                                     de Verfahren, von dem man sich erstmals Heilerfolge auch bei schwereren
                                                                                     Tuberkulosefällen versprach. Dabei wurden die einfacheren Eingriffe wie
                                                                                     der künstliche Pneumothorax vermehrt in die herkömmliche Frischluftlie-
                                                                                     gekur eingebaut, die mehr und mehr Züge der Rekonvaleszentenpflege auf-
                                                                                     wies. Für den Erfolg der chirurgischen Maßnahmen war die gegenüber der
                                                                                     herkömmlichen Heilbehandlung noch einmal verschärfte Selektion der
                                                                                     überhaupt behandlungsfähigen Fälle von großer Bedeutung.
                                                                                         Auffallend ist, daß alle Autoren über immer bessere Resultate verfügen, je mehr Fälle
                                                                                         sie operiert haben. Es ist dies nicht nur etwa auf eine fortschreitende Übung zurückzu-

                                                                                     65 Brauer (1904).
                                                                                     66 Baer (1918).
                                                                                     67 Tröhler (1993).
                                                                                     68 Hier wird deutlich, wie wenig bisher die medizinische Praxis auch und gerade im
                                                                                        Bereich der Tuberkulose von der Medizingeschichte untersucht worden ist.
                                                                                     69 Bryder (1988), S. 182.
                                                                                     70 Condrau (2000), S. 133f.

                                                                                                                           Franz Steiner Verlag
86                                                                       Flurin Condrau

                                                                                          führen […] Es ist unverkennbar, daß je früher operiert wird, […] um so mehr eine
                                                                                          Besserung dieser Zahlen eintreten wird. Abgesehen von der Rettung des einzelnen In-
                                                                                          dividuums, das ohne chirurgischen Eingriff in absehbarer Zeit rettungslos verloren ist,
                                                                                          hat sie eine sehr große Bedeutung dadurch, daß sie […] viele offenen Tuberkulosen in
                                                                                          geschlossene zu verwandeln mag und so dazu beitragen kann, der weiteren Verbrei-
                                                                                          tung der Tuberkulose, namentlich der Infektion in Familien und an Arbeitsstätten, ei-
                                                                                          nen Riegel vorzuschieben.71
                                                                                     Interessanterweise listet der Autor dieser Zeilen, Professor Friedrich Jessen,
                                                                                     den viele für das Vorbild des Hofrat Behrens im »Zauberberg« halten, wie-
                                                                                     der all jene Faktoren auf, die bereits in der Frischluftliegekur von Bedeutung
                                                                                     waren.72 Namentlich der günstige Einfluß der praktischen Operationserfah-
                                                                                     rung des behandelnden Arztes, die Bevorzugung möglichst früher Operati-
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                                                                                     onen sowie die Leistungen der Chirurgie bei der Infektionsprophylaxe (sic!)
                                                                                     würden bemerkenswerte Kontinuitäten medizinischer Leistungskriterien
                                                                                     darstellen. Während die behandelnden Ärzte sich grundsätzlich positiv zu
                                                                                     den Erfolgschancen der Lungenchirurgie äußerten, blieben Untersuchungen
                                                                                     über die langfristigen Behandlungserfolge äußerst selten. Die angesehene
                                                                                     englische Fachzeitschrift für Lungenchirurgie, das »Journal of Thoracic
                                                                                     Surgery«, veröffentlichte 1941 eine Untersuchung, in der nachgewiesen
                                                                                     wurde, daß sich lediglich rund vier Prozent von über 2.000 ausgewerteten
                                                                                     Fachpublikationen mit dem langfristigen Erfolg der Behandlung auseinan-
                                                                                     dersetzten.73 Die beteiligten Ärzte waren offenbar von der Technik sehr be-
                                                                                     geistert und beschäftigten sich oft und intensiv mit der bestmöglichen Ope-
                                                                                     rationstechnik (z. B. »Schnittechnik« versus »Stichtechnik«) sowie der für
                                                                                     notwendig erachteten technischen Gerätschaften wie etwa der Röntgentech-
                                                                                     nik, die buchstäblich zum »Auge des Arztes« wurde.74 Letztlich reduzierte
                                                                                     jedoch die Beschäftigung mit chirurgischen Methoden den Erfolgsbegriff
                                                                                     der beteiligten Ärzte auf ein Minimum und bedeutete fortan, daß der Pati-
                                                                                     ent nicht an den direkten Folgen der Operationen starb und sich keine
                                                                                     massiven Komplikationen einstellten.75
                                                                                     Aus historischer Sicht war die Verbreitung der Röntgentechnologie sowie
                                                                                     die Anwendung der Lungenchirurgie von großer Bedeutung für den Wan-
                                                                                     del der klassischen Lungenheilstätten zu vollfunktionsfähigen Spezialkran-
                                                                                     kenhäusern. Andererseits unterstützte die Lungenchirurgie die Entwicklung
                                                                                     der Liegekuren, die sich immer stärker zur sogenannten »Kadaverruhe«
                                                                                     entwickelte, denn die erfolgreichen Fälle der chirurgischen Praxis wurden
                                                                                     typischerweise in eine Lungenheilanstalt zur Frischluftliegekur überwiesen,
                                                                                     wo sich der Patient von den Folgen der Chirurgie erholen konnte.76 Über-

                                                                                     71 Jessen (1923).
                                                                                     72 Virchow (1995); Humphreys (1989).
                                                                                     73 Journal of Thoracic Surgery 10 (1941), S. 310 zit. nach Bryder (1988), S. 177.
                                                                                     74 Bryder (1988), S. 175.
                                                                                     75 Liebe (1921).
                                                                                     76 Carpi (1923).

                                                                                                                          Franz Steiner Verlag
Behandlung ohne Heilung                                                                87

                                                                                     raschend abrupt endete mit den ersten Erfolgen der neuen Antibiotika-
                                                                                     Therapie in den späten 1950er Jahren die Beliebtheit der Lungenchirurgie,
                                                                                     und plötzlich wurden nur noch kritische Beiträge zur chirurgischen Be-
                                                                                     handlung der Tuberkulose veröffentlicht.77 Dieser Meinungsumschwung
                                                                                     verdeutlicht, daß die Tuberkulosebehandlung bestimmten Paradigmen un-
                                                                                     terlag, denn nach einem Paradigmenwechsel wurde die jeweils vorherge-
                                                                                     hende Behandlungsmethode plötzlich hart kritisiert. Gleichzeitig dominierte
                                                                                     aber die aktuelle Therapie das gesamte ärztliche Denken. Das erkannte auch
                                                                                     der zeitgenössische Kritiker der Lungenheilstätten, Hermann von Hayek, als
                                                                                     er 1920 ironisierend schrieb:
                                                                                         Der menschliche Körper hat sich im Kampf gegen die Tuberkulose einfach möglichst
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                                                                                         tot zu stellen, bis die Tuberkelbacillen glauben, daß es sich wirklich nur mehr um ei-
                                                                                         nen Kadaver handelt, und dann auch nicht mehr mittun.78
                                                                                     Obwohl neuerdings wieder an operative Maßnahmen bei der Behandlung
                                                                                     der Tuberkulose gedacht wird, tauchen immer häufiger auch Warnungen
                                                                                     vor den Spätfolgen der chirurgischen Behandlungen der 1930er und 1940er
                                                                                     Jahre auf.79 Damit bestätigt sich gerade anhand der technisch-operativ an-
                                                                                     spruchsvollsten Behandlung der Tuberkulose die in der Einleitung formu-
                                                                                     lierte Feststellung, daß oftmals die Spätfolgen der Medizin für die Patienten
                                                                                     und das Gesundheitswesen Gefahren bergen, die von den behandelnden
                                                                                     Ärzten nur zu leicht übersehen worden sind.80

                                                                                     Bilanz
                                                                                     Das Kochsche Tuberkulin war ein fulminanter Mißerfolg des Heilan-
                                                                                     spruchs der Medizin. Indem es schließlich als Diagnoseinstrument verbrei-
                                                                                     tet wurde, verschärfte es noch den Konflikt zwischen dem immer ausgereif-
                                                                                     teren Diagnosevermögen und dem kaum oder gar nicht einlösbaren Heilan-
                                                                                     spruch. Die Bakteriologie, so läßt sich in Anlehnung an McKeown und auf
                                                                                     Basis der Geschichte der Tuberkulose bilanzieren, hat zur Heilung der Tu-
                                                                                     berkulose bis zum Zweiten Weltkrieg wenig beigetragen.
                                                                                     Gerade aus den Mißerfolgen anderer Behandlungsformen ergab sich die
                                                                                     überraschende Beliebtheit und auch der relative Erfolg der Frischluftliege-
                                                                                     kur. Sie stellte zwar keine Heilung im eigentlichen Sinne in Aussicht, aber
                                                                                     sie füllte ein therapeutisches Vakuum durch eine in vielerlei Hinsicht
                                                                                     durchaus erfolgreiche Behandlung. Natürlich waren die Mittel, die zum
                                                                                     Anstaltsbau und –betrieb ausgegeben wurden, für damalige Zeiten enorm,
                                                                                     aber sie dienten nicht zuletzt der Durchsetzung der Überzeugung, daß ärzt-
                                                                                     liches Handeln auch und gerade im Fall der Tuberkulose durchaus heilsam

                                                                                     77 Bryder (1988), S. 184.
                                                                                     78 Hayek (1920), S. 43.
                                                                                     79 Kniehl et al. (1998).
                                                                                     80 Teschner (1998); Hollaus (1998).

                                                                                                                           Franz Steiner Verlag
88                                                           Flurin Condrau

                                                                                     sein konnte. Die vorhandene Kritik richtete sich denn auch weniger gegen
                                                                                     das konkrete Behandlungsverfahren, sondern vor allem gegen das Behand-
                                                                                     lungsziel. Bekannte Vertreter von medizinischen Spezialdisziplinen, die
                                                                                     nicht in den Tuberkuloseanstalten tätig waren, verfochten statt der Sanato-
                                                                                     riumsbehandlung die anderweitige strikte Isolation der Kranken, um die
                                                                                     Gesellschaft vor den angeblich so gefährlichen Tuberkulösen zu schützen.
                                                                                     Diesen Vorschlag sollte mitbedenken, wer die Behandlungsbemühungen
                                                                                     der Heilstättenärzte vorschnell als reine Arbeiterdisziplinierung verstehen
                                                                                     will.
                                                                                     Die Lungenchirurgie löste sich als modernstes, weil technisches Behand-
                                                                                     lungsverfahren im Zeitraum bis zum Zweiten Weltkrieg nahezu vollständig
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                                                                                     von der Überprüfung ihres Erfolgs. Es drängt sich hier exemplarisch der
                                                                                     Eindruck auf, daß die Erfolgskontrolle in dem Maße vernachlässigt wurde,
                                                                                     wie der technische Aufwand der Behandlung vom relativ einfachen künstli-
                                                                                     chen Pneumothorax zum schwierigen Eingriff im Rahmen der Thorako-
                                                                                     plastik zunahm. Jedenfalls ist die »große« Lungenchirurgie keiner strikten
                                                                                     Nachkontrolle mehr unterworfen worden. Dieses Beispiel zeigt, daß Fort-
                                                                                     schritte in der medizinischen Erfolgskontrolle in einem Paradigmenwechsel
                                                                                     der Therapie wieder verloren gehen können. In der Tat waren die behan-
                                                                                     delnden Ärzte sehr viel faszinierter davon, die Nadel richtig zu führen oder
                                                                                     eine spektakuläre Thorakoplastik erfolgreich abzuschließen, als die Patien-
                                                                                     ten langfristig zu heilen. So verwundert es nicht, daß die langfristigen Fol-
                                                                                     gen der Lungenchirurgie für das Individuum und später der Antibiotika-
                                                                                     Therapie für die Gesellschaft von den behandelnden Ärzten nicht beachtet
                                                                                     wurden. Die spezialisierte und hochtechnisierte Lungenchirurgie schuf oft-
                                                                                     mals neue Probleme (für den Kranken ebenso wie für das Gesundheitswe-
                                                                                     sen) und zeigt, daß Medizin ohne klare (gesellschaftliche) Erfolgskontrolle
                                                                                     leicht zu einem selbstreferenziellen System werden kann, das nur noch der
                                                                                     eigenen Methodik und nicht mehr dem Behandlungsziel der Heilung ver-
                                                                                     pflichtet ist.

                                                                                                                   Franz Steiner Verlag
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