BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG

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BULLETIN
                               DER
                         BUNDESREGIERUNG
                           Nr. 02-1 vom 6. Januar 2023

Rede der Bundesministerin des Auswärtigen,
Annalena Baerbock,

bei der portugiesischen Botschafterkonferenz
am 4. Januar 2023 in Lissabon:

Es bedeutet mir sehr viel, dass mich meine erste Reise im neuen Jahr nach Portugal
führt, auch persönlich, denn hier in Portugal habe ich als kleines Kind im Alter von
eineinhalb Jahren laufen gelernt. Meine Eltern haben mich nach der Nelkenrevolution
in Ihr wunderschönes Land mitgenommen. Hierher zurückzukehren, privat, aber auch
in meiner neuen Position als Außenministerin, ist immer ein besonderes Gefühl – zum
Beispiel an Orte wie Ihre wunderbaren Leuchttürme in Sagres oder Cabo da Roca.
Das ist der westlichste Punkt Europas. Er wird auch „fim da Europa“ genannt – das
Ende Europas. Auf einer Landkarte stimmt das natürlich, aber wir alle wissen, dass
Portugal ganz im Herzen Europas liegt.

Ich glaube, die wunderbare Sängerin Mariza hat wohl nicht an die Europäische Union
gedacht, als sie ihren Fado „A nossa voz“ schrieb. Aber diese Stimme, von der sie
singt, könnte gut unsere europäische Stimme sein. Der Liedtext lautet: „Und aus einem
werden wir tausend Herzen sein. Und aus tausend eine einzige Stimme.“

Ich hoffe, ich spreche das richtig aus: „uma só voz“. Letztes Jahr war diese gemein­
same Stimme, diese Einheit nötiger denn je. Und diese Einigkeit haben wir bewiesen.
Für Europa war 2022 eines der bittersten Jahre in unserer Nachkriegsgeschichte. Aber
die optimistische Lektion, die wir gelernt haben, lautet, dass Europa zusammenhält,
wenn es darauf ankommt. Uma só voz.

Wenn ich über das vor uns liegende Jahr nachdenke, geben mir drei Dinge Anlass zur
Hoffnung.
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Zuallererst starke Freundschaften wie die zwischen unseren beiden Ländern. Darüber
haben wir bereits gestern gesprochen, lieber João: Wir wollen diese Freundschaft
noch weiter vertiefen. Wir haben deshalb vereinbart, regelmäßig Konsultationen zu
Kernthemen abzuhalten, die für die kommenden Jahre von entscheidender Bedeutung
sein werden: zu europäischen Angelegenheiten, zu unserer Zusammenarbeit mit por­
tugiesischsprachigen Ländern in Afrika und Lateinamerika, zu unseren Beziehungen
mit China und zur Bewältigung der Klimakrise. Unser Ziel ist es, diese Themen stärker
strategisch anzugehen. Am meisten aber wünschen wir uns, dass unsere Partner­
schaft konkrete Projekte hervorbringt, die sich spürbar auf das Leben der Menschen
in unseren beiden Ländern auswirken, denn bei Außenpolitik geht es nicht nur um
ministerielle Tagungen und diplomatischen Meinungsaustausch. Bei Außenpolitik geht
es um Menschen. Und deshalb bringen wir beim diesjährigen Deutsch-Portugiesi­
schen Forum führende Köpfe aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zusammen –
ältere wie jüngere –, um voneinander zu lernen und das digitale Gesundheitswesen
oder den Finanzierungsmechanismus für Start-ups zu verbessern.

Ein weiteres Beispiel für Bereiche, in denen wir neue Projekte auf den Weg bringen
wollen, ist die Hochseefischerei. Dazu zählt auch das Projekt „Seatraces“, bei dem
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz Europa an Methoden zur Bestim­
mung der Herkunft von Fischen und Meeresfrüchten forschen werden, damit Verbrau­
cherinnen und Verbraucher wissen, woher der Fisch, der auf ihrem Teller landet, ei­
gentlich kommt. Dabei geht es nicht nur um Verbraucherschutz, sondern auch um die
Bekämpfung des illegalen Fischfangs. Und es geht um die Förderung kleiner örtlicher
Fischereibetriebe, die sich auf nachhaltigen Fischfang konzentrieren.

Um solche Projekte zu organisieren, bedarf es Ihrer aller Unterstützung, sehr geehrte
Botschafterinnen und Botschafter, sehr geehrte Generalkonsuln und Generalkonsulin­
nen. Und deshalb bin ich überaus dankbar, dass Sie mich heute hierher eingeladen
haben. Denn Ihr Fachwissen, Ihr Engagement und Ihre Initiative sind es, die unsere
Beziehung so dynamisch machen.

Der zweite Grund, der mich zu Beginn des neuen Jahres hoffnungsfroh stimmt, ist
etwas, für das sich Portugal schon seit Jahren engagiert: die europäische Einheit. Uma
só voz. In den vergangenen elf Monaten haben wir als Europäerinnen und Europäer
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entschlossen auf den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine reagiert. Obwohl Lissa­
bon mehr als 3.000 Kilometer von Kiew entfernt ist, hat Portugal die Ukraine von An­
fang an gemeinsam mit seinen Partnern und Freunden unterstützt. Sie haben gezeigt,
dass Einheit und Solidarität nichts mit geografischer Entfernung zu tun haben. Und ich
weiß, dass du, lieber João, dabei persönlich eine besondere Rolle gespielt hast. Dafür
möchte ich dir aufrichtig danken. Dein Land hat wie viele andere in Europa deutlich
gemacht, dass Neutralität keine Option ist. Denn wenn man in einer Situation neutral
bleibt, in der es um Gerechtigkeit versus Ungerechtigkeit geht, unterstützt man nicht
das Opfer, sondern ergreift Partei für den Aggressor.

Ich denke, wir alle wünschen uns für 2023 nichts sehnlicher als Frieden. Doch leider
ist die Welt nicht so, dass man sich einfach eine bessere Zukunft herbeiwünschen
kann. Man muss eine bessere Zukunft aufbauen. Die Ukraine wird gezielt angegriffen,
mit Bomben, Raketen und Drohnen – an Heiligabend, an Silvester. Krankenhäuser,
Stromnetze, Kraftwerke. Familien, Kinder, Seniorinnen und Senioren. Dies ist ein An­
griff auf die Menschlichkeit. Und deshalb müssen wir den Ukrainerinnen und Ukrainern
so lange zur Seite stehen, wie sie uns brauchen. Wir müssen auf der Seite der Opfer
und der Gerechtigkeit stehen.

Unsere eigene Geschichte in Deutschland lehrt uns, dass wir in solchen Situationen
sehr vorsichtig sein müssen. Aber wenn wir mit dieser Entscheidung konfrontiert sind,
haben wir gesagt, dass wir nicht nur auf der Seite der Ukraine stehen müssen, sondern
auch auf der Seite des Völkerrechts und der Charta der Vereinten Nationen (VN).

Wir in Deutschland mussten erkennen, dass unsere europäische Friedensordnung
nicht in Stein gemeißelt ist. Seit ich hier in Portugal laufen lernte, hatte ich bis heute,
über vierzig Jahre später, immer das Glück, in einem friedlichen Europa und – die
meiste Zeit meines Lebens – im wiedervereinigten Deutschland zu leben, im Herzen
Europas. Doch offenkundig ist diese europäische Friedensordnung nicht unumstöß­
lich, und wir dürfen unsere Sicherheit nicht für selbstverständlich halten.

Wir erarbeiten derzeit eine Nationale Sicherheitsstrategie. Damit wir die Fehler der
Vergangenheit nicht wiederholen, auch mit Blick auf unsere früheren Beziehungen zu
Russland.
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Das bedeutet, dass wir uns alle Aspekte unserer Sicherheit im Rahmen eines soge­
nannten integrierten Sicherheitsansatzes anschauen. Denn Sicherheit ist ein zentrales
Thema in so gut wie allen Politikbereichen, ob in unserer Verteidigung, unserer Ener­
gieversorgung, im Handel oder in Sachen Lieferketten und Cyberspace.

Unsere Verwundbarkeit beschränkt sich nicht auf militärische Angelegenheiten. Wenn
große Krankenhäuser oder Zugverbindungen infolge von Cyberangriffen ausfallen, ist
das auch eine Sicherheitsfrage. Wenn wir keine Medikamente für unsere Kinder be­
sorgen können, wie zum Beispiel aktuell gegen Fieber in Deutschland, weil die Liefer­
ketten gestört sind, dann ist das auch eine Sicherheitsfrage. Wenn Klimaereignisse
wie Überschwemmungen und Dürren unsere Wälder, unsere Dörfer und unsere Le­
bensgrundlagen zerstören, ist das offenkundig eine der gefährlichsten Sicherheitsfra­
gen unserer Zeit. Und im schlimmsten Fall überlagern sich diese Ereignisse noch.

Deshalb arbeiten wir an einem integrierten Ansatz für unsere Sicherheit. Wir müssen
innere und äußere Sicherheitsaspekte zusammendenken, denn wir können sehen –
und zwar nicht nur bei Russlands Krieg, sondern auch davor –, dass mehr als eine
Grauzone dazwischenliegt. Beides lässt sich nicht trennen. Dies sind einige der zent­
ralen Themen, die wir uns bei der Erarbeitung unserer Nationalen Sicherheitsstrategie
anschauen.

Mit Blick auf Russlands grausamen Krieg ist uns klar, dass unsere stärkste Antwort in
unserer Einheit als Partner und Verbündete liegt. Das haben wir in den vergangenen
Monaten unter Beweis gestellt, so wie wir es auch weiterhin tun werden, nicht nur
durch Unterstützung für unsere ukrainischen Partner, sondern auch, indem wir Part­
nern in anderen Teilen der Welt dabei helfen, die negativen Folgen dieses Kriegs für
ihre Bevölkerung und für ihre Wirtschaft zu bewältigen.

Lassen Sie uns als europäische Diplomatinnen und Diplomaten in jedem bilateralen
Gespräch, bei jeder öffentlichen Veranstaltung, bei jeder Verhandlung deutlich ma­
chen: Ein Angriffskrieg ist kein isoliertes Ereignis. In einer eng vernetzten Welt betrifft
er jede und jeden. Doch wenn wir in einer eng vernetzten Welt zusammenhalten, kön­
nen wir stärker sein als dieser Krieg. Das ist für mich die wichtigste Botschaft für das
neue Jahr.
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Und damit uns das gelingt, müssen wir imstande sein, wirksam und schnell zu handeln.
Ich bin überzeugt, dass wir bei unseren Entscheidungen in der Europäischen Union
schneller werden müssen, insbesondere in außenpolitischen Belangen. Meiner An­
sicht nach können wir es uns nicht länger leisten, dass Entscheidungen von einzelnen
Mitgliedstaaten aus innenpolitischen Gründen blockiert werden, weil vielleicht regio­
nale Wahlen anstehen oder in einem nationalen Kabinett Streit herrscht. Deshalb bin
ich der Meinung, dass eine Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit für uns alle zu
besseren und wirksameren Ergebnissen führen kann.

An dieser Stelle muss ich sagen, dass ich mich auch deswegen jeden Monat auf Sit­
zungen in Brüssel freue, weil ich immer neben meinem portugiesischen Amtskollegen
sitze. Und wir haben uns viel über dieses Thema ausgetauscht, denn wie Sie wissen
steht es auch in unserem Koalitionsvertrag, dass wir über Einstimmigkeit und Be­
schlussfassung mit qualifizierter Mehrheit in der Außenpolitik sprechen müssen.

Und ich habe Ihre Bedenken, aber auch die Bedenken anderer hinsichtlich einer Be­
schlussfassung mit qualifizierter Mehrheit in außen- und sicherheitspolitischen Ange­
legenheiten vernommen. Ich würde hier gern meine Gedanken dazu darlegen, denn
ich glaube, das könnte einige Denkanstöße bieten, vielleicht für Ihr Gespräch im An­
schluss. Denn natürlich haben Sie Recht, dass es mit Blick auf die Frage der Sicher­
heit, wenn es ein Land berührt – denn unsere Länder sind verschieden, auch wenn wir
eine Union bilden –, Momente geben kann, in denen nationale Bedenken bestehen,
die andere nicht teilen. Und ich weiß, dass es nicht sehr angenehm ist, bei qualifizier­
ten Mehrheitsbeschlüssen überstimmt zu werden. Deutschland selbst hat das bei­
spielsweise unlängst vor Weihnachten bei der Abstimmung über die nachhaltige Ver­
wendung von Pflanzenschutzmitteln zu spüren bekommen.

Obwohl ich weiß, dass diese Situation für größere und kleinere Staaten unterschiedlich
sein kann, bin ich fest überzeugt, dass jetzt kein guter Zeitpunkt für theoretische Dis­
kussionen ist, wo manche sagen: „Ich bin zu 100 Prozent für eine Beschlussfassung
mit qualifizierter Mehrheit in außenpolitischen Fragen“, und andere erklären: „Ich bin
zu 100 Prozent dagegen“, und wir lange Abhandlungen über beide Standpunkte ver­
fassen können. Ich glaube, jetzt ist die Zeit reif, um uns gemeinsam hinzusetzen und
zu schauen, wie wir die Probleme lösen können. Wir haben manchmal Situationen, in
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denen wir als EU handeln wollen, aber leider nicht einmal imstande sind, eine Presse­
mitteilung zu formulieren, weil wir uns nicht auf den gesamten Wortlaut einigen kön­
nen. Deshalb schlage ich vor, dass wir die Möglichkeiten, die die EU-Verträge heute
schon bieten, besser nutzen.

Ein Beispiel dazu: Vor kurzem haben wir eine Ausbildungsmission für ukrainische
Streitkräfte ins Leben gerufen, mit einer Entscheidung, die Einstimmigkeit erforderte.
Nach langer Debatte hat Ungarn beschlossen, sich „konstruktiv zu enthalten“, und da­
mit den anderen ermöglicht, voranzugehen.

Wir wollen an solche pragmatischen Lösungen anknüpfen, sodass wir als EU unserer
Verantwortung als starker globaler Akteur gerecht werden können – ob durch diese
Form der konstruktiven Enthaltung oder die Passerelle-Klausel, die bereits in den Ver­
trägen enthalten ist, oder durch eine Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit in
besonderen, spezifisch festgelegten Politikbereichen wie klimabezogenen Fragen,
Sanktionen oder Menschenrechten.

Und damit komme ich zum dritten Grund, der mich für das neue Jahr hoffnungsvoll
stimmt: unsere starken Partnerschaften in aller Welt, jenseits von Europa. Denn wir
haben in den letzten elf Monaten bewiesen – nicht nur, wenn wir als die EU 27 geeint
auftraten –, dass wir in der Tat etwas bewirken können, auch für andere Länder. Wenn
wir nicht sagen mussten: Tja, warten Sie die nächste Tagung des Außenrates ab, dann
können wir Ihnen vielleicht antworten, sondern unseren internationalen Partnern un­
mittelbar eine Antwort geben konnten. Wir müssen uns klarmachen, wie wichtig diese
starke europäische Partnerschaft mit anderen Teilen der Welt ist. Was wir meiner Mei­
nung nach jetzt tun müssen, ist, Partnerschaften anzubieten, die im Interesse beider
Seiten liegen.

Denn das alte Narrativ, demzufolge hier der Westen ist, die EU und die Vereinigten
Staaten, und dort gewissermaßen der Rest oder der sogenannte Globale Süden, bildet
nicht mehr die Realität ab, in der wir leben. Nicht, wenn man sich die verschiedenen
Länder oder die Stärken verschiedener Länder auf verschiedenen Kontinenten an­
sieht. Aber auch nicht, wenn man sich die Menschen überall auf der Welt ansieht.
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Wenn man 23-jährige Studentinnen und Studenten fragt – sei es in Berlin oder in Lis­
sabon oder in Libyen oder Äthiopien –, wie sie sich selbst sehen. Dann wird man,
denke ich, keinesfalls die Antwort bekommen: „Ich sehe mich als Person aus dem
Globalen Süden.“ Vielleicht wäre die Antwort: „Ich sehe mich als Äthiopierin“ oder „als
23-jähriger Student“. Und in Europa sehen sich hoffentlich viele als Europäerinnen und
Europäer und nicht in erster Linie als Deutsche oder Portugiesinnen.

Deshalb bin ich der Meinung, dass wir mit Blick auf die heutige Situation nicht mehr in
den alten Gegensätzen des Kalten Krieges denken sollten, sondern wahrnehmen,
dass wir in eine Zeit zunehmender systemischer Rivalität eintreten. Zwischen denen,
die die internationale Ordnung aufrechterhalten wollen und die Einhaltung des Völker­
rechts befürworten. Und anderen, die sich dieser Ordnung und der VN-Charta entge­
genstellen. Bei den Abstimmungen in der Generalversammlung haben wir festgestellt,
dass dies keine 50:50-Spaltung ist, dass dies auch keine geographische Spaltung ist.
Mehr als zwei Drittel der Länder der Welt haben sich für das Völkerrecht, für die inter­
nationale Ordnung und für die VN-Charta stark gemacht.

Und wir müssen insbesondere die Länder in den Blick nehmen, die so mutig waren,
sich zu positionieren und Haltung zu zeigen, obwohl sie unter Druck gesetzt wurden
oder in Abhängigkeit von Russland oder anderen stehen. Wenn wir Russlands Impe­
rialismus betrachten, so ist dieser nur der sichtbarste Ausdruck einer der VN-Charta
entgegengesetzten Haltung.

Wir beobachten auch, wie andere Akteure ihren Einfluss auszuweiten versuchen, in­
dem sie Geschäfte anbieten, die auf den ersten Blick gut und lukrativ scheinen, aber
langfristige Abhängigkeiten zu schaffen drohen.

China hält nach wie vor aus politischen Gründen seine handelsbezogenen Zwangs­
maßnahmen gegen Litauen aufrecht. In Afrika und Lateinamerika kauft Peking mit bil­
ligen Krediten politischen Einfluss. Im VN-System versucht China, etablierte Men­
schenrechtsnormen auszuhöhlen. Zwar brauchen wir die Zusammenarbeit mit China
in globalen Fragen wie Artenvielfalt und Klimawandel, aber wir erkennen auch eine
immer offenkundiger werdende systemische Rivalität.
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Für mich ist es daher von größter Bedeutung, dass wir unseren globalen Partnern An­
gebote unterbreiten, die gerecht und nachhaltig sind und die die Interessen aller Seiten
widerspiegeln. Genau dieses Ziel verfolgt das Global-Gateway-Programm der Euro­
päischen Union. Die Ideen und Konzepte dafür sind schon vorhanden: von Solarkraft­
werken in Botsuana und Namibia über eine Eisenbahnstrecke in Burkina Faso bis hin
zu einer Windkraftanlage in Ghana.

Jetzt ist die Zeit reif, mit der konkreten Arbeit an solchen Leuchtturmprojekten zu be­
ginnen. Und wie du, lieber João, bereits in deiner Rede gesagt hast, kann Portugal
dabei eine wichtige Rolle spielen – indem es auf seinen starken Partnerschaften mit
portugiesischsprachigen Ländern wie Angola und Mosambik und mit Ländern in La­
teinamerika aufbaut.

Und wie ich in den letzten 24 Stunden gelernt habe, ist die von dir praktizierte globale
Außenpolitik von besonderem Nutzen für die gesamte Europäische Union. Denn sie
zielt nicht – wie in anderen postkolonialen Staaten – mit bescheidenem Erfolg nur auf
bestimmte Regionen ab, sondern Portugal pflegt aufgrund seiner Geschichte enge
Verbindungen zu einer Vielzahl von Regionen. Diese basieren auch auf gemeinsamen
Werten – echte Partnerschaften, auf die Europa, so denke ich, bauen kann.

Ich fand richtig, was du in deiner Rede über den Außenhandel und seine Stärken ge­
sagt hast. Ja, wir müssen uns wieder engagieren, nach außen orientieren und diese
Kooperation für das 21. Jahrhundert aufbauen. Es geht aber nicht nur um Handel.
Weltwirtschaftliche Themen sind eng verzahnt mit geopolitischen Fragen.

Wenn wir beispielsweise die Stärkung unserer Zusammenarbeit mit Lateinamerika im
Bereich der Rohstoffe in den Blick nehmen, die wir für unsere Energiewende brauchen,
sind die Zahlen durchaus aufschlussreich. Bei fast allen diesen kritischen Rohstoffen
ist die EU von Importen abhängig – zu 75 bis 100 Prozent.

Insbesondere für den eigenen Bedarf an E‑Auto-Batterien und zum Erreichen von Kli­
maneutralität wird Europa bereits im Jahr 2030 etwa 18‑mal mehr Lithium benötigen
als heute. Der größte Teil des von der EU importierten Lithiums kommt aus Chile und
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Australien. Doch es wird in China verarbeitet. Das ist nicht nur schlecht für unseren
CO2-Fußabdruck, sondern schwächt auch die Lieferkettensicherheit.

Wenn wir also unsere Partnerschaft mit Lateinamerika und anderen Partnern weltweit
intensivieren wollen, müssen wir all diese verschiedenen Aspekte berücksichtigen,
denn die Lieferkettensicherheit ist wichtig. Und deshalb sind gerade die Beziehungen
zu Lateinamerika, zur neuen brasilianischen Regierung – du warst ja gerade dort – so
wichtig.

Wenn wir diese Partnerschaften neu beleben wollen, müssen wir auch erkennen, wel­
ches die wichtigsten Bedürfnisse unserer Partner sind. Und die haben im Moment nicht
viel mit Russland zu tun, sondern mit der Wiederankurbelung ihrer Volkswirtschaften.
Wir müssen uns also in unsere Partner hineinversetzen und verstehen, was für sie die
wichtigsten Probleme sind.

Deshalb glaube ich, dass der Neustart von Projekten wie demjenigen mit Mercosur,
vielleicht mit einem anderen Namen, zu den wichtigsten Themen gehört, mit denen wir
uns beschäftigen müssen, wenn wir auf Lateinamerika zugehen. Wir müssen verste­
hen, dass ihre größte Sicherheitsbedrohung heute nicht Russlands Krieg ist. Es sind
auch nicht die Lieferketten mit China. Es ist vielmehr die Klimakrise. Für die meisten
Länder ist das die wichtigste Sicherheitsfrage. Deshalb bin ich auch sehr froh, dass
wir unter den EU-Außenministerinnen und -ministern eine Gruppe gegründet haben,
die sagt: Wir wollen die Frage der Klimasicherheitspolitik intensiver angehen.

Und ich bin auch sehr froh darüber – das habe ich auch in Spanien und Frankreich
gesagt –, dass Frankreich bereit ist, das enorme Potenzial der iberischen Halbinsel zu
nutzen, um grünen Wasserstoff in das restliche Europa zu transportieren. Es war eine
sehr gute Nachricht, dass Ministerpräsident Costa kürzlich mit seinen Amtskollegen
aus Spanien und Frankreich die Pläne für diese wichtige Pipeline von der Iberischen
Halbinsel nach Marseille vorgestellt hat.

Denn unsere Glaubwürdigkeit im Kampf gegen die Klimakrise ist überaus bedeutend
– wir müssen beweisen, dass wir unsere Emissionen verringern. Und ich sage in aller
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Deutlichkeit: Auch für uns ist das eine sehr wichtige Sicherheitsfrage. Nicht trotz, son­
dern wegen Russlands Angriffskrieg ist unser Ziel, Europa zum ersten klimaneutralen
Kontinent zu machen, wichtiger denn je.

Mit Blick auf 2023 bin ich mir bewusst, dass große Herausforderungen vor uns liegen.
Aber wir haben gute Gründe, das neue Jahr mit Optimismus zu beginnen: Denn die
EU gründet auf Freundschaften wie der unseren. „Aus einem werden wir tausend Her­
zen sein.“ So heißt es in dem Lied von Mariza. Das ist es auch, was die EU ausmacht:
450 Millionen Herzen und eine starke Stimme in der Welt. Uma só voz!

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