CORAktuell - gewaltfrei-zuhause-in-mv.de

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CORAktuell
                                       Fachinformationsdienst zur Bekämpfung häuslicher und sexualisierter Gewalt in M-V

                                                                       JULI 2020 | 50. AUSGABE

                                                  Lehren
fotoART by Thommy Weiss / pixelio.de

                                                  aus der
                                                  Corona-Krise
        Digitale Beratung –                                     Frauenhaus und                   Polizeilicher Opferschutz
        Chancen und Hürden                                      Quarantäne                       in Zeiten der Krise
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Editorial

                                      Liebe
                                       Leser*innen,                                             Inhalt
                                        kaum ein Thema hat unsere Gesell-                        Digitale Beratung –
                                        schaft in den letzten Monaten so
                                                                                                 Chancen und Hürden .  .  .  .  .  .  .  . 03
                                        geprägt, wie der Schutz vor dem
                                       Corona-Virus bzw. der Krankheit CO-
                                      VID-19. Da auch die Hilfesysteme in                        Digitale Beratung –
                                    ihrer systemrelevanten Arbeit in be-                         Ideen für den
                                 sonderem Maße von Corona-bedingten                              praktischen Einsatz  .  .  .  .  .  .  .  . 06
                               Umstellungen betroffen waren, erschien es
                        uns nur folgerichtig die 50. Ausgabe der CORAktu-
              ell dem Thema „Lehren aus der Corona-Krise“ zu widmen –                            Interview:
              auch wenn sich wahrscheinlich niemand eine „zweite Welle“                          Frauenhaus und Quarantäne  .  .  .  07
              mit Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen wünscht. Des-
              halb wollten wir in dieser Ausgabe unserer Fachzeitschrift                         Maske 19 –
              bewusst den Schwerpunkt auf die Erfahrungen des Hilfe-                             Hilfe per Codewort .  .  .  .  .  .  .  .  . 08
              systems bei häuslicher und sexualisierter Gewalt „im Krisen-
              modus“ legen. Andreas Wimmer, von der Onlineplattform
              Beranet, berichtet über die Chancen und Hürden der digita-                         Interview:
              len Beratung. Wiebke Bache ergänzt dies in ihrem Artikel um                        Polizeilicher Opferschutz
              praktische Ideen für die Online-Beratung aus Sicht einer Be-                       in Zeiten der Krise  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 10
              raterin. Zudem stand uns Jacqueline Garske als Leiterin des
              Frauenschutzhauses Güstrow für ein Interview zum Thema
              „Frauenhaus und Quarantäne“ zur Verfügung. Über das Pro                            Zwischen-Fazit
              und Kontra zum Projekt „Maske 19“, bei dem sich Betroffene                         eines Mutausbruchs  .  .  .  .  .  .  .  .  12
              von häuslicher Gewalt mittels Codewort in Apotheken Schutz
              holen können, schreibt Sarah Kesselberg in ihrem Beitrag. Im                       Infoteil .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  13
              Interview mit Achim Segebarth, dem Leiter der Polizeiinspek-
              tion Rostock, erfahren Sie Wissenswertes zum polizeilichen
              Opferschutz in Zeiten der Corona-Krise. Der Infoteil wiederum                      Termine  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 15
              enthält fachspezifische Neuigkeiten aus Bund und Ländern.
              „Im Portrait“ lernen Sie diesmal Anne Haerting von der MISS.                       Im Portrait .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  16
              Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt Stralsund ken-
              nen, die im Landkreis Vorpommern-Rügen als Psychosoziale                           Impressum . . . . . . . . . . . . . . 16
              Prozessbegleiterin arbeitet. Wir wünschen Ihnen eine schöne
              Sommerzeit und dass Sie gesund bleiben!

    In eigener Sache
    Die langjährige Herausgeberin der CORAktuell und Trägerverein der Landeskoordinierungsstelle CORA, Frauen helfen Frauen e.V.
    Rostock, hat am 12. Juni sein 30-jähriges Jubiläum gefeiert. Seit 30 Jahren macht sich der Verein in Mecklenburg-Vorpommern für ein
    gewaltfreies, selbstbestimmtes Leben stark und heißt nun auch so - STARK MACHEN e.V.. In einer Pressemitteilung erklärt der Verein
    am 12.6.2020: „Wenn gleich noch immer Frauen den weitaus größten Teil der Betroffenen ausmachen, beraten wir doch mittlerweile
    auch viele Kinder, Jugendliche, Männer und Transpersonen. Sie alle sollen sich angesprochen fühlen. Wir sind mächtig stolz auf unsere
    Geschichte und der Blick zurück erfüllt uns mit Freude.
    All das wurde nur möglich, weil wir eng vernetzt sind
    mit anderen Einrichtungen und Professionen, vor Ort,
    landes- und bundesweit. An dieser Stelle möchten wir
    all unseren Kooperationspartner*innen Danke sagen
    für diese erfolgreichen 30 Jahre. Darauf lässt sich für
    die Zukunft bauen.“ Wir haben die Angaben in unserem
    Impressum entsprechend angepasst.

2
Digitale Beratung – Chancen und Hürden

Digitale Beratung – Chancen und Hürden
Andreas Wimmer ist der Gründer und Geschäftsführer der digitalen Beratungslösun-
gen „assisto“ und „beranet“. Er entwickelt Konzepte für die Online-Beratung mit seiner
Agentur zone35 in Berlin und hat für die CORAktuell einen Text über digitale Beratung
– auch vor dem Hintergrund der Corona-Krise – beigesteuert.

Einstieg in die Online-Beratung in einer          cherstellen zu können. Jedoch haben Berufs-
Krisenzeit                                        gruppen, welche in der sozialen, therapeuti-
                                                  schen oder psychischen Beratung tätig sind,
Als am 24. Februar 2020 in Bayern die ersten      in den letzten 25 Jahren, seit Einführung der
Fälle von Corona diagnostiziert wurden, war       Online-Beratung, noch nicht alle Widerstän-
vielen noch nicht klar, welche gesellschaftli-    de abgebaut und stehen solchen Angeboten
chen Herausforderungen solche Krisen mit sich
bringen. Angehalten zu „Social Distancing“,
hat sich das soziale Leben massiv durch Aus-
gangsbeschränkungen und Kontaktverbote
verändert. Digitale Kommunikationsangebote
waren die Mittel erster Wahl, um die Selbst­
isolation zu bewältigen und mit Bezugsperso-
nen, Freund*innen und der Familie in Kontakt
zu bleiben. Noch bleibt abzuwarten, wie sich
die Kontaktbeschränkungen auf die häusliche
Situation auswirken. Manche Fachleute be-
fürchten jedoch, dass nach dem Ende der Kon-
taktbeschränkungen die Zahl der Opfer von
häuslicher Gewalt erheblich ansteigen wird.
Eine Umfrage unter Jugendämtern, initiali-
siert durch die Süddeutsche Zeitung und den
WDR, ergab, dass von den 231 Rückmeldungen
ca. 43 % der Befragten angaben, dass die Zahl
der Gefährdungsmeldungen rückläufig oder
stark rückläufig ist. Der Druck in den Familien
steigt zwar, aber die Situation rund um Corona    oftmals noch sehr verhalten gegenüber. Fra-                  Quelle:
                                                  gen rund um Anschaffungskosten, fehlende           adel / pixelio.de
und der Mangel an sozialen Kontakten, wirkt
sich auf die Sichtbarkeit der Fälle aus. Daher    Fortbildungskonzepte, die Scheu im Umgang
ist aktuell schwer einzuschätzen, welche Aus-     mit neuer Technologie, Unsicherheit bei der
wirkungen dies auf die Beratungsangebote          Entwicklung eines Online-Beratungskonzep-
und deren Zulauf haben wird. Umso wichti-         tes halten viele Berater*innen, aber auch die
ger ist es neue digitale Versorgungsangebote      Entscheider*innen auf Führungsebene, davon
zu schaffen, die einen niedrigschwelligen und     ab, diesen Schritt konsequent zu gehen. Die
vor allem mobilen Zugang, wie beispielsweise      explodierenden Nutzungsraten von Videosoft-
über das Smartphone, ermöglichen. So können       warelösungen wie ZOOM, Skype Business oder
Berater*innen auch in dieser schwierigen und      GoToMeeting offenbaren, dass die Corona Kri-
vor allem neuen Situation auf vielfältige Weise   se auch eine große Chance bietet, um den Pro-
mit Klient*innen in Kontakt stehen, Beratun-      zess der Digitalisierung voranzutreiben. Viele
gen fortführen und neue aufnehmen.                Settings wurden, aus Ermangelung an Alter-
                                                  nativen, auf diese Kanäle verlegt. Ob Schule,
                                                  Teammeetings oder Einzelgespräche – plötz-
Hürden überwinden & Zielgruppen                   lich ist alles denkbar. Nicht nur auf Seiten der
erreichen                                         Klient*innen ist die Nutzung solcher Kommu-
                                                  nikationskanäle enorm angestiegen, auch viele
Gerade im Kontext der psycho-sozialen Bera-       Berater*innen haben sich damit angefreundet
tung ist die Online-Beratung eine Möglichkeit,    und nutzen Messangerdienste, Videochats und
ein flächendeckendes Versorgungsangebot si-       Apps zum Austausch mit Gruppen. Die Auf-

                                                                                                                   3
Digitale Beratung – Chancen und Hürden

                      bruchstimmung gilt es zu nutzen, um quali-      muss die zeitversetzte Beratung, wie E-Mail
                      tätsorientierte Beratungskonzepte zu etablie-   Beratung und die Echtzeitberatung, unabhän-
                      ren.                                            gig ob vor Ort, via Telefon, im Textchat oder als
                                                                      Videochat für Berater*innen, in einem System
                                                                      zur Verfügung stehen und nutzbar sein. Der
                      20 Jahre Erfahrungen in der Online-             gesamte Beratungsprozess muss dokumen-
                      Beratung                                        tierbar und revisions- und datensicher abbild-
                                                                      bar sein. Dieser Herausforderung stellten wir
                      zone35 ist als Projektagentur seit 20 Jahren    uns bereits 2018 im Rahmen unterschiedlicher
                      mit der Online-Beratungsplattform beranet       Projekte.
                      der meist genutzte Systemanbieter für psy-
                      cho-soziale Online-Beratung. Die mittlerwei-    Eine große Herausforderung war es, die fach-
                      le klassischen Beratungsangebote wie E-Mail     lichen und gesetzlichen Anforderungen an die
                      Beratung, Einzelchat- und Gruppenchat sowie     Online-Beratung abbilden zu können. Dies be-
                      Online Foren wurden vielfach umgesetzt und      trifft sowohl die datenschutz-rechtlichen (Ein-
                      erprobt. Mit über 300 bundesweit tätigen Be-    haltung der DSGVO) als auch die berufs-recht-
                      ratungsangeboten wurden sowohl vorhande-        lichen (Lösch- und Aufbewahrungsfristen)
                      ne Beratungsstrukturen virtualisiert als auch   Kriterien. Ferner muss sichergestellt werden,
                      neue Formen der digitalen Zusammenarbeit        dass die Lösung auch in den Berufsalltag gut
                      geschaffen. Diese Erfahrungswerte veran-        integrierbar ist. Somit konnte nur ein ganzheit-
                      lassten zone35 dazu, bereits im Jahr 2018 mit   liches Konzept diese Anforderungen erfüllen.
                      neuen Methoden von digitalen Beratungsan-
                      geboten im Rahmen von Pilotprojekten erste
                      Erfahrungen zu sammeln. Neben den klassi-
                                                                      Modulare Online-Beratungskonzepte
                      schen Online-Beratungsangeboten, welche
                                                                      Mit assisto ist es nicht nur möglich, die
                      über den Internet Browser verfügbar sind, hat
                                                                      Klient*innenverwaltung, das gesamte Termin-
                      sich besonders das Smartphone und Tablet als
                                                                      management, alle Beratungskanäle und die
                      Kommunikationsmedium etabliert. Die Ver-
                                                                      klassische E-Mail Beratung abzubilden, son-
                      wendung von Apps führt in der Mediennutzung
                                                                      dern auch das Angebot als Webseite oder App
                      zu einem neuen Anwenderverhalten: Singulä-
                                                                      umzusetzen. Daher wurden drei unterschiedli-
                      re Services mit optimaler Benutzerführung via
                                                                      che Kernangebote entwickelt:

                                                                      • assisto Web: Eine klassische virtuelle Bera-
                                                                        tungsstelle mit einer komfortablen Termin-
                                                                        verwaltung, den Beratungskanälen vor Ort,
                                                                        Telefon, Textchat und Videochat, aber auch
                                                                        einer erweiterbaren Oberfläche, welche E-
                                                                        Mail Beratung als zeitversetzte Komponen-
                                                                        te berücksichtigt. Eine sichere Dokumen-
                                                                        tenbox ermöglicht zudem den Austausch
                                                                        von sensiblen Informationen.

                                                                      • assisto Messenger: Ein als modularer Bau-
                                                                        kasten entworfenes App Konzept, mit
                                                                        dem vergleichbar wie „WhatsApp“ schnell
                                                                        und einfach kommuniziert werden kann.
                                                                        Mittels Push-Benachrichtigungen können
                                                                        Klient*innen informiert und aktiviert wer-
            Quelle:   App stehen im Gegensatz zu den Angeboten          den. Die komfortable Auswahl ermöglicht
    Rainer Sturm /    einer umfangreichen Webseite. Besonders di-       zudem die Zuordnung nach Beratungskom-
         pixelio.de                                                     petenzen oder Regionen.
                      gitale Beratungsangebote müssen durch Ihre
                      Niedrigschwelligkeit im Zugang überzeugen
                      und den Anforderungen der Anwender*innen        • assisto Groups: Eine Baukasten-App, mit
                      entsprechen. Daher entstand ein komplett neu      der Peer-to-Peer Netzwerke aufgebaut und
                      gedachtes Online-Beratungsprodukt: assisto.       die Vernetzung von speziellen Betroffenen-
                      So wie beranet bisher vorhandene Kanäle er-       gruppen oder Netzwerken einfach realisiert
                      gänzte, soll assisto nun den gesamten Bera-       werden kann. Mit offenen und geschlosse-
                      tungsprozess digitalisieren, unabhängig davon     nen Gruppen können Personen gesucht und
                      welcher Beratungskanal verwendet wird. So         die Gruppenbildung gefördert werden.

4
Digitale Beratung – Chancen und Hürden

Zum eigenen Beratungsangebot
Die Etablierung eines Online-Beratungsange-
botes für eigene Einrichtungen oder Träger ist
nun eine Anforderung, welche an viele Füh-
rungskräfte herangetragen oder von diesen
aufgrund der Krise angegangen wird. Hierbei
gilt immer der Grundsatz, dass bestehende An-
gebote digitalisiert und wenn möglich Prozesse
vereinfacht werden sollen. Mitarbeiter*innen
müssen Sorgen genommen werden und es
sollten bewährte Konzepte zum Einsatz kom-
men. Entscheidend für die Akzeptanz bei
Kolleg*innen ist die nahtlose Integration in
die bestehende Arbeitsumgebung, Erfüllung
aller Arbeitsschutzverordnungen, Abbildung
des bestehenden Datenschutzkonzeptes, eine
gute Einführung der Software und ein mögli-
cher Ausbau der Kommunikationskanäle. Es
sollte berücksichtigt werden, dass E-Mail Be-
ratung, digitale Echtzeitberatung in Form von
Text- und Videochat aber auch die bestehende
Telefon- und vor Ort Beratung mit der Software
abgebildet werden kann. Idealerweise kann die
Software auch die Dokumentationspflichten
und erforderliche Jahresstatistiken generieren
und mit den Anforderungen mitwachsen. Eine
große Herausforderung ist es, interdisziplinäre
Teams abzubilden und die fachübergreifende
Beratung der Klient*innen sicherzustellen.

Kosten und Planungszeit
                                                                                                          Quelle:
                                                                                                   Alexandra H. /
In den vielen Jahren, in denen wir uns mit der                                                         pixelio.de
Online-Beratung beschäftigen, hat es sich be-     Ausblick
währt, oftmals einen einfachen Einstieg zu
empfehlen, da dieser Hemmschwellen senkt          Die nun schnell voranschreitende Digitalisie-
und die Komplexität des Projektes reduziert.      rung erfordert ein neues Bewusstsein, um die
Sobald die ersten Erfahrungen gemacht sind,       Zielgruppen auch künftig erreichen zu können.
kann im Team das weitere Anforderungsprofil       Besonders das Smartphone kann in einer so
erarbeitet und die Software erweitert werden.     schwierigen Zeit ein starkes Bindeglied zwi-
Die Entscheidung, welche Beratungskanäle          schen Klient*innen und Berater*innen sein.
und welche Digitalformate genutzt werden          Die sich hieraus ergebenden neuen Beratungs-
sollen und wie das Team online interagiert, ist   formate sollten sich jedoch immer dem Bera-          Das Team
als Prozess zu verstehen und kann mit assisto     tungszweck unterordnen. Die Online-Beratung        E-Beratung
                                                                                                     von zone35
wachsen. So ist mit beranet ein Einstieg unter    wird in den kommenden Jahren deutlich an-               (v.l.n.r.
1000 Euro möglich, bei assisto ist mit mindes-    wachsen und Beratungsangebote ohne digi-          Luis Ziegler,
tens 1.500 Euro an einmaligen Kosten zu pla-      tale Kommunikationskanäle werden sich nur       Maximilian Ort,
nen. Allerdings bietet assisto standardmäßig      schwer behaupten können.                          Canan Bulut
auch die Integration von Videochats sowie eine                                                     und Chris-Ella
                                                                                                     Kosobutzki)
umfangreiche Terminverwaltung mit möglicher
Outlookanbindung, welche den Arbeitsprozess
gut begleiten kann. Durch die umfangreichen
Dokumentationsfunktionalitäten ist es mög-          ANDREAS WIMMER
lich, die Entwicklung der Online-Beratung an-       zone35 GmbH & Co. KG
hand von validen Kriterien zu bewerten und          Wilhelmstraße 118, 10963 Berlin
weiter zu entwickeln. Für komplexere Online-        Tel.: 030 4401360
Beratungsprojekte empfehlen wir die Durch-          info@beranet.de
führung von Konzeptionsworkshops und eine           www.assisto.de / www.beranet.de
begleitende Betreuung.
                                                                                                                5
Digitale Beratung – Ideen für den praktischen Einsatz

    Digitale Beratung –
    Ideen für den praktischen Einsatz
    Wiebke Bache ist Mitarbeiterin in der Beratungsstelle für Betroffene von häuslicher Ge-
    walt in Kröpelin, deren Träger der Internationale Bund e.V. ist. Sie berät Betroffene von
    häuslicher Gewalt im Landkreis Rostock. Für die CORAktuell hat sie einen Artikel über
    den praktischen Einsatz digitaler Beratung aus Sicht einer Beraterin geschrieben.

      Der Gedanke, Online-Beratung – im Sinne von Chat-       effekt). Auch wenn es um reine Informationsan-
      und Mailberatung - als zusätzliches Angebot bei         fragen geht, bietet sich die Online-Beratung an.
      der IB-Beratungsstelle anzubieten, reift seit 2018      Weiter positiv ist, dass Ratsuchende ihre Anlie-
      und wird derzeit aktiv vorangetrieben. Sprich, es       gen bspw. bei der Mailberatung rund um die Uhr
      werden die technischen Voraussetzungen (Hard-           „loswerden“ können und durch das Verschriftli-
      und Software), die Finanzierung und die Zusatz-         chen ihrer Gedanken und Sorgen sich schon erste
      qualifikationen geschaffen, geklärt und erlangt,        Lösungswege selbstständig entwickeln können.
      bevor die Online-Beratung beim Internationalen          Online-Beratung kann für Ratsuchende also zeit-
      Bund e.V. (IB) an den Start gehen kann. Es gibt         lich flexibler sein und überwindet dabei mühelos
      derzeit beim IB noch keine Praxiserfahrungen mit        räumliche Distanzen.
      der Online-Beratung. Die Chancen und Risiken
      dieser Beratungsform sind jedoch abgewogen
                    und auch die Umsetzung ist schon
                    klar definiert. Ein Austausch zu be-
                    reits praktizierenden Beratungs-
                    stellen, wie der Opferhilfe M-V und                              Quelle: Tony Hegewald / pixelio.de
                    Sachsen, half hierbei.
      Bislang ist die Beratung in den Köpfen vieler pro-      Für die Berater*in ist es ebenso von Vorteil, dass
      fessioneller Helfer*innen stark am persönlichen         sich vor allem bei der Mailberatung mehr Zeit für
      Gespräch orientiert. Wenn aber die Kommunikati-         eine wohlüberlegte Antwort genommen werden
      on dabei in den Fokus gerückt wird, dann ergeben        kann. Im virtuellen Raum ist es für die Berater*in
      sich viele neue Spielräume für das Beratungsset-        dadurch auch einfacher, sich nicht in „Neben-
      ting mit verschiedensten Vorteilen für Ratsu-           schauplätzen“ der Hilfesuchenden zu verfangen,
      chende und die Berater*innen. Klient*innen, die         sondern sich auf das wesentliche Problem zu kon-
      von häuslicher Gewalt betroffen waren oder sind,        zentrieren. Und hier liegt eine der Schwierigkei-
      schämen sich oftmals sehr stark für das Erlebte.        ten von Online-Beratung versteckt. Abgesehen
      Es kann für Hilfesuchende unglaublich erleich-          von den Ratsuchenden, die gewisse (intellektu-
      ternd sein, wenn sie bei der Suche nach Unter-          elle) Fähigkeiten in der schriftlichen Kommunika-
      stützung im virtuellen Raum weder Name, Alter,          tion besitzen müssen, verlangt Online-Beratung
      Geschlecht, Wohnort, Stimme oder IP-Adresse             - Mimik und Gestik als unterstützende Kommuni-
      Preis geben müssen und komplett anonym blei-            kationskanäle fallen ja komplett weg - vor allem
      ben können (bei Nutzung von datenschutzsiche-           von den Berater*innen große Fertigkeiten ab.
      rer Software). Durch die Anonymität im virtuel-         Denn das schriftliche Wort birgt einige Gefahren,
      len Raum und die Reduzierung auf die schriftliche       Fallstricke und Missverständnisse in sich, wel-
      Kommunikation kann es für Betroffene einfacher          ches unbedacht einigen Schaden bei den Ratsu-
      sein, offen und aufrichtig über die schambesetz-        chenden anrichten kann. Eine Zusatzqualifikation
      ten Themen zu schreiben (Online-Enthemmungs-            zur*zum Online-Berater*in ist dementsprechend
                                                              mehr als empfehlenswert für eine qualitativ
                                   WIEBKE BACHE               hochwertige Online-Beratung. Neben den Kosten
                                                              für Hard- und Software, ist dies ein weiterer Kos-
                           Beratungsstelle für Betroffene     tenpunkt, den die Einrichtung bei der Umsetzung
                                     von häuslicher Gewalt    von Online-Beratung jedoch bedenken muss.
                   Internationaler Bund - Freier Träger der
                                                              Kurz um: Auch mit all seinen Vorteilen soll und
                   Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit e.V
                                                              kann Online-Beratung die persönliche Beratung
                        Am Wasserwerk 1, 18236 Kröpelin
                                      Tel.: 038292 8267816    nicht ersetzen, sondern als erweitertes Angebot
                         beratungsstelle-kroepelin@ib.de      für Betroffene – im Sinne von Blended Counceling
                                            www.ib-nord.de    - dienen, die bisher durch das Hilfenetz noch nicht
                                                              erreicht wurden.
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Interview: Frauenhaus und Quarantäne

Interview: Frauenhaus und Quarantäne
Das Frauenschutzhaus Güstrow wird vom Trägerverein Arche e.V. – für Frau und Familie
geführt und besteht seit 1992. Es ist das einzige Frauenhaus im Landkreis Rostock und
seit jeher eine wichtige Anlaufstelle für Frauen und Kinder, die sich in einer Notsituation
befinden und Schutz vor Gewalt benötigen. Für unser Interview stand uns die Leiterin
Jacqueline Garske (nachfolgend J.G.) zur Verfügung.

CORA: Hat die Corona-Pandemie zu Veränderun-                 Frauen, Kindern und ihren Bezugsbetreuerinnen
gen eurer Arbeit im Frauenhaus geführt? Wenn ja,             ist im Haus selbst kein so genannter „Lagerkoller“
zu welchen?                                                  entstanden.
J.G.: Die Corona-Pandemie hat alles beeinflusst und
so natürlich auch unsere Arbeit im Frauenschutz-             CORA: Was war besonders herausfordernd für euch
haus. Dabei geht es aber nicht um die Zusammen-              Mitarbeiterinnen, aber auch für die Bewohnerinnen
arbeit mit den Frauen und ihren Kindern und die              und deren Kinder?
täglichen Arbeitsabläufe im Haus, sondern eher um            J.G.: Die Arbeit in unserem Haus ist jeden Tag eine
die strukturellen und institutionellen Einschrän-            Herausforderung und wir nehmen sie immer wie-
kungen, Anforderungen bzw. Veränderungen. Wir                der gern an. Aber anders war die zusätzliche Angst
hatten jeden Tag unsere üblichen Tätigkeiten und             und Sorge der Frauen. Die
Anforderungen zu erledigen. „Nebenbei“ war es                Frauen leben ja nicht ohne
da eine große Herausforderung für uns schnellst-             Grund bei uns und kennen
möglich alle nötigen Schutzvorkehrungen zu tref-             Furcht haben ganz genau.
fen bzw. ausreichend Schutzartikel zu bekommen,              Aber nun kam Angst bei
sich immer wieder aktuell zu informieren, einen              dem Gedanken an CORO-
Pandemieplan und auch Quarantäneplan für unser               NA dazu und sie machten
Haus samt Mitarbeiterinnen zu entwerfen - mit                sich große Sorgen, dass
den dazugehörigen Vorbereitungen wie z.B. Ein-               ihre Kinder sich anstecken
käufe, Schaffen von zusätzlichen Räumlichkeiten,             könnten. Ebenso der gan-
Absprachen mit Kooperationspartnern.                         ze Schulausfall war immer
Zusätzlich kam dazu, dass ja die Frauen nichts               wieder ein wichtiges Thema. Die meisten unserer
mehr selbständig erledigen konnten. Persönliche              Kinder im Haus waren noch nicht an Schulen an-
Termine bei Ämtern und anderen Einrichtungen                 gemeldet und bekamen so natürlich auch keine
wurden abgesagt. Alle nötigen Kontakte bzw. An-              Aufgaben für zu Hause. Die Mütter waren traurig.
forderungen zu den verschiedensten Institutionen             Die Schulbildung ihrer Kinder ist ihnen wichtig und
mussten nun in dieser Zeit über Telefon, Mail bzw.           sie hatten Bedenken, was passiert, wenn die Kin-
Fax erledigt werden und natürlich benötigten die             der so viel verpassen. Auch hier versuchten wir mit
Frauen dazu unsere Hilfe. Der Zeitaufwand war                Aufgaben und einem kleinen Ersatzunterricht zu
enorm und eine Mehrbelastung. Dennoch konnten                helfen.
wir hier auch etwas Positives mitnehmen. Durch               Für uns war es zusätzlich herausfordernd die stän-
die vielen persönlichen Kontakte und dadurch auch            digen Veränderungen von Vorschriften umzuset-
zusätzlichen intensiven Gesprächen zwischen den              zen bzw. in der ersten Zeit ohne klare Vorgaben
                                                             und Mittel Schutzvorkehrungen zu treffen. Täglich
                                                             mussten schnelle individuelle Lösungen gefunden
                                                             werden, wie z. B. Umzüge innerhalb des Hauses,
                                                             finanziell nicht eingeplante Möbelbeschaffung,
                                                             oder auch eine Desinfektionsmittelvergabe ohne
                                                             Spender. Natürlich haben wir gemeinsam mit den
                                                             Frauen immer wieder Lösungen gefunden, aber es
                                                             war natürlich auch kräftezehrend.
                                                             Vergessen werden wir nie den Fall der körperlich
                                                             eingeschränkten Frau, die wir zu Beginn dieser Zeit
                                                             aufgenommen hatten. Die nicht begutachtet wer-
                                                             den konnte, obwohl sie einen Pflegedienst brauch-
                                                             te und keine finanziellen Mittel sowie keine Kran-
                                                             kenversicherung hatte. Die Mühlen der Bürokratie
                                                             in dieser Zeit zu überwinden wirkte aussichtslos
                         Quelle: Jernej Furman / Flickr.de   und benötigte täglich eine Personalstelle.
                                                                                                                   7
Interview: Frauenhaus und Quarantäne

     CORA: Wie habt ihr euch auf die Quarantäne des          der Frauenhauskoordinierung Berlin sehr hilfreich
     Frauenhauses vorbereitet, falls eine Bewohnerin         und haben diese für unseren Arbeitsalltag immer
     oder Mitarbeiterin an COVID-19 erkrankt wäre?           wieder genutzt.
     J.G.: Da war die Lösung sehr schnell gefunden. Ge-      Die wöchentliche Telefonkonferenz mit der Leit-
     meinschaftlich mit Frauen und Mitarbeiterinnen          stelle Frauen und Gleichstellung/Frauen in Krisen-
     wurde entschieden, bei einem Vorfall zusammen           situationen war ebenso wichtig und informativ, da
     in Hausquarantäne zu gehen. Es wurde ein kleiner        wir auf diesem Weg aktuelle Schwierigkeiten an-
     Lebensmittelvorrat angelegt, die Gemeinschafts-         sprechen konnten und Neuigkeiten unseres Bun-
     räume so umstrukturiert, dass sie den Mitarbeite-       deslandes erfahren haben.
     rinnen als Schlafplatz hätten dienen können und         Gefreut haben wir uns sehr darüber, dass auch
     eine separate Küche vorbereitet. Die Frauen sind        die Gleichstellungsbeauftragte des Landkreises
     innerhalb des Hauses so umgezogen, dass wir für         Rostock, Frau Starck, und die Leiterin des Schul-
     eine eventuell betroffene Frau eine Extra-Woh-          verwaltungs- und Sozialamtes der Stadt Güstrow,
     nung gehabt hätten. Wir haben nur zwei Wasch-           Frau Mater, immer mit uns in Verbindung standen,
     maschinen und die stehen in Wohnungen von               Hilfe angeboten und auch gegeben haben.
     Bewohnerinnen. Somit wurde eine Wohnung mit
     Waschmaschine geräumt und die anderen Frauen            CORA: Wenn ihr auf eure Erfahrungen der letzten
     hätten sich dann eine Waschmaschine geteilt.            Wochen zurückblickt – was nehmt ihr für die Zu-
                                                             kunft daraus mit?
     CORA: Was war unterstützend und hilfreich in der        J.G.: Was nehmen wir mit aus dieser Zeit!? Erstens,
     Zeit der Pandemie?                                      dass ein gutes Team alles schaffen kann und dass
     J.G.: Wir fanden die stetigen Mails mit aktuellen       es besonders wertvoll ist, dies auch anzuerkennen
     Informationen, Vorgaben und Arbeitsanregungen           und zu pflegen. Zweitens, dass Frauen zusammen
                                                             stark sind und auch in einem Haus wie unserem
                                                             mit Demokratie, Zusammenhalt und Offenheit
                         JACQUELINE GARSKE                   schwierigste Situationen einfach meistern und
                                                             jeden Tag nach vorne gucken. Und drittens, dass
                             Frauenschutzhaus Güstrow        wir noch so viel planen und uns auf alles Mögliche
                         Arche e.V. - für Frau und Familie
                                                             vorbereiten können, Flexibilität und unsere Ein-
                                  PF 1120, 18261 Güstrow
                                       Tel.: 03843 683186
                                                             stellung, diese Arbeit meistern zu wollen, sind das
                                          archeev@web.de     Wichtigste.
                                        www.arche-ev.de
                                                             CORA: Vielen Dank für das Interview.

    Maske 19 – Hilfe per Codewort
     Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leo­-         somit weniger Gelegenheit gibt Hilfe zu rufen. Eine
     poldina veröffentlichte am 13. April 2020 die           der wenigen Gelegenheiten, in Zeiten von Aus-
     Empfehlung „Coronavirus-Pandemie – Die Krise            gangs- und Kontaktbeschränkungen, ist der Gang
     nachhaltig überwinden“. In dieser Veröffentlichung      zum Supermarkt oder zur Apotheke. In Frankreich
     werden, neben vielen anderen Bereichen des ge-          und Spanien sollte die Direkthilfe in Apotheken ge-
     sellschaftlichen Lebens, der Stellenwert und die        schehen. Mit dem Codewort „Maske19“ können Be-
     potenzielle Belastung für Frauen in der Krise the-      troffene auf ihre Situation aufmerksam machen.
     matisiert. Als Empfehlung wird auf Seite 10 be-         Apotheker*innen sind angehalten, in dem Fall über
     schrieben, dass die „…in Frankreich getroffenen         den Notruf die Polizei zu kontaktieren. Zusam-
     Maßnahmen wie Anlaufstellen für häusliche Ge-           menfassend wurde hier ein kompensatorisches
     walt und andere familiäre Notsituationen in Su-         Angebot geschaffen, welches niedrigschwellig Hil-
     permärkten und Apotheken erwogen…“ werden               fe bei häuslicher Gewalt ermöglichen soll.
     sollten. Die Leopoldina bezieht sich hierbei auf        In der Zeit einer weltweiten Pandemie, deren Aus-
     das Projekt „Maske 19“, welches von Spanien und         wirkungen unsere Gesellschaft massiv betrifft und
     Frankreich umgesetzt wurde.                             vielschichtige Probleme aufzeigt, ist es strategisch
     Dieses Projekt beruht auf der Vorstellung, dass die     hilfreich voneinander zu lernen. Aufgrund der zeit-
     gewaltausübende Tatperson in Zeiten von Maß-            lichen Abfolge haben verschiedene Länder zu un-
     nahmen wie Quarantäne oder Ausgangssperre die           terschiedlichen Zeitpunkten Erfahrungswerte, die
     Wohnung weniger verlässt und es für Betroffene          andere nutzen können.
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Maske 19 - Hilfe per Codewort

                                                       Die Handlungsfähigkeit der Apotheker*innen
Quelle: Ivan Radic
         / Flickr.de

                                                       nimmt in der Umsetzung eine signifikante Rolle
                                                       ein. Aufgaben, die nicht ihrem beruflichen Hand-
                                                       lungsfeld entsprechen, müssen standardisiert
                                                       und kommuniziert werden. Sie müssen grundle-
                                                       gende Kenntnisse über häusliche Gewalt haben
                                                       und wissen, welche Schritte sie einleiten müssen,
                                                       wenn sich Betroffene an sie wenden. Darüber hi-
                                                       naus ist stets ihre Rolle als Lots*innen zu verste-
                                                       hen und nicht als Parallelstruktur zu bestehenden
                                                       Angeboten.
An dieser Stelle sollen Vorüberlegungen getrof-
fen werden, ob und wie ein solches Projekt in
Deutschland umgesetzt werden könnte – hin zu
einer Strategie, die auch nach der Pandemie einen
Bedarf zielgerichtet deckt.

Maske19 zentriert den Bedarf der niedrigschwel-
ligen kompensatorischen Unterstützung durch
Dritte: Betroffene, die sich keine Hilfe rufen kön-     Quelle: Last Hero / Flickr.de
nen oder nicht über soziale Unterstützung verfü-
gen, dies für sie zu leisten, können situativ Hilfe
erfahren. Der Bedarf ist essentiell und wird auch
                                                       Tatsächliche Niedrigschwelligkeit
nach der Pandemie nicht an Relevanz verlieren.
                                                       Abschließend ist es relevant, das Alleinstellungs-
Maske19 bedarf in seiner Umsetzung gewisser Vo-
                                                       merkmal für ein solches Projekt zu bedenken. Es
raussetzungen, die unabdingbar für ein nachhalti-
                                                       ist wenig nutzbringend Parallelstrukturen zu er-
ges Angebot sind. Folgende Aspekte sind denkbar:
                                                       öffnen, die keinen tatsächlichen Nutzen für die
                                                       Betroffenen haben. Der Kerngedanke scheint der
Bewusstsein und öffentliche Verantwortung!
                                                       geebnete Zugang zu Unterstützungs- und Hilfs-
Häusliche Gewalt ist ein enormes gesellschaftli-
                                                       angeboten für Betroffene zu sein. Selbstver-
ches Problem, welches eines Paradigmenwechsels
                                                       ständlich kann es genauso hürdenreich für Betrof-
im gesellschaftlichen Bewusstsein bedarf - weg
                                                       fene sein, ein Codewort zu verwenden, als wenn
von einer „privaten Familienangelegenheit“ hin
                                                       sie selbst die Polizei oder das Beratungs- und
zu einem achtsamen solidarischen Verständnis.
                                                       Hilfenetz kontaktieren. Wahrscheinlich ist dieser
Dieser Paradigmenwechsel hin zur bewussten
                                                       Zugang nicht passend für jede*n Betroffene*n,
gesamtgesellschaftlichen Verantwortung ist an-
                                                       dennoch stellt es einen weiteren Weg bereit, sich
zustreben. Wenn, wie im Projekt Maske 19, hand-
                                                       Hilfe einzufordern. Wichtig ist es, erste Schritte
lungsfeldferne Akteur*innen der Gesundheitsver-
                                                       zu gehen.
sorgung Aufgaben der Kommunikation für von
häuslicher Gewalt Betroffene übernehmen, kann
                                                       Zusammenfassend wirft dieses Projekt, initiiert
dies nur gelingen, wenn diese Mitarbeiter*innen es
                                                       im Moment einer Krise, den Blick auf Menschen,
nicht als „zusätzliche arbeitsferne Mehrbelastung“
                                                       die ein gewaltvolles und fremdbestimmtes Leben
verstehen, sondern dies als selbstverständlich
                                                       führen. Unabhängig der Pandemie gibt es Bedarfe,
anerkennen.
                                                       ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein für ge-
                                                       schlechtsspezifische Gewalt zu entwickeln. Unab-
Solidarität statt nach unten gesteuerter
                                                       hängig davon, ob ein solches Projekt in Deutsch-
 Arbeitsaufträge!
                                                       land in der Zeit der Pandemie so umgesetzt wird,
Um dies umzusetzen, ist die Freiwilligkeit der
                                                       ist die Reflexion der Bedarfe und Zugänge von
Apotheker*innen essentiell. Mitarbeiter*innen
                                                       Betroffenen von häuslicher Gewalt zu Hilfsange-
sollten sich dieser Aufgabe solidarisch und freiwil-
                                                       boten wichtig. Ein Gedankenspiel, welches fortge-
lig annehmen und nicht verpflichtet werden. Diese
                                                       setzt werden sollte…
solidarische Verantwortungsübernahme zielt da-
rauf ab, sich der Handlungsaufgabe bewusst zu
widmen und eine intrinsische Verpflichtung hin-          SARAH KESSELBERG
sichtlich von häuslicher Gewalt betroffenen Men-
schen einzunehmen. Dies bedeutet nicht, dass             Landeskoordinierungsstelle CORA
                                                         STARK MACHEN e.V.
die strukturelle Leitung nicht von Dachverbänden
                                                         Heiligengeisthof 3, 18055 Rostock
oder den Unternehmen übernommen werden soll-             Tel.: 0381 4010229
te. Vielmehr ist hier die Selbstbestimmung und           cora@stark-machen.de
der Einbezug der Mitarbeiter*innen oder einzelner        www.stark-machen.de
Apotheken oder Unternehmen wichtig.
                                                                                                             9
Interview: Polizeilicher Opferschutz in Zeiten der Krise

     Interview: Polizeilicher Opferschutz
     in Zeiten der Krise
     Achim Segebarth ist Polizeidirektor und seit August 2019 Leiter der Polizeiinspektion
     Rostock. Zuvor war er mehrere Jahre u.a. in der Kriminalitätsbekämpfung und der po-
     lizeilichen Präventionsarbeit tätig – hierbei auch im Bereich der Prävention von häusli-
     cher Gewalt. Ihn verbindet eine langjährige und gute Zusammenarbeit mit der Interven-
     tionsstelle Rostock. Wir freuen uns, dass Herr Segebarth (nachfolgend A.S.) uns für die
     CORAktuell zu einem Interview bereitstand.

       CORA: Zunächst einmal grundsätzlich – ist ein        Betroffene hoch, die Gewalt in den eigenen vier
       Trend in der Zu- oder Abnahme von Polizeieinsät-     Wänden überhaupt anzuzeigen. Wir gehen wei-
       zen zu häuslicher Gewalt in den letzten Jahren in    terhin von einer hohen Dunkelziffer aus, was sich
       M-V erkennbar?                                       auch in den Dunkelfeldstudien des Landeskrimi-
       A.S.: Anhand der Kriminalitätsstatistik, die jedes   nalamtes so abzeichnet.
       Jahr veröffentlicht wird, können wir als Polizei
       erkennen, in welchem Bereich sich Tendenzen          CORA: Wie müssen sich die Leser*innen einen Po-
       entwickeln. Sind solche Tendenzen erkennbar,         lizeieinsatz zu häuslicher Gewalt vorstellen? Gibt
       setzen wir gezielt polizeiliche Maßnahmen ein.       es überhaupt so etwas wie „DEN“ Polizeieinsatz
       Betrachtet man das monatliche Jahresmittel der       im Bereich der (Ex-/)Partnerschaftsgewalt?
       Fälle von häuslicher Gewalt, ist im Verlauf der      A.S.: Für unsere Einsatzkräfte ist jeder Fall, bei
       vergangenen Jahre seit 2016 im Bereich Rostock       dem ein Mensch Opfer von häuslicher Gewalt wird,
       eine steigende Tendenz zu erkennen. Einen Be-        individuell. Der Erstkontakt erfolgt häufig am Te-
       zug zu einer Region der Stadt, in der die Fälle am   lefon, nämlich dann, wenn die Betroffenen in ei-
       häufigsten auftreten, können wir nicht herstel-      ner Notfallsituation die 110 wählen. Dann fahren
       len. Aus dem Vergleich der Fallzahlen des ersten     die Kollegen zum Einsatzort und sorgen zunächst
       Quartals 2020 mit denen der vorherigen Jahre         für die Beendigung einer akuten Gefahrensitua-
       lässt sich kein eindeutiger Aufwärts- oder Ab-       tion. Danach schließt sich meist die Befragung
       wärtstrend ableiten. Da die Täter aus dem famili-    der geschädigten Person und die Aufnahme einer
       ären Umfeld kommen, ist die Hemmschwelle für         Strafanzeige an. Auch kommt es vor, dass die Be-

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Interview: Polizeilicher Opferschutz in Zeiten der Krise

troffenen sich nach der Gewalttat vertrauensvoll     CORA: Wohin gehen gewalttätige und übergriffi-
an unsere Kollegen wenden und ihre Situation im      ge Personen, die der Wohnung verwiesen werden?
persönlichen Gespräch schildern. In beiden Fällen    A.S.: Ausschlaggebend für eine Wegweisung
verlangt es ein besonderes Einfühlungsvermö-         ist, ob die Beamten vor Ort eine erhöhte Gefahr
gen unserer Kollegen, denn nicht selten sind die     erneuter Gewalttätigkeiten feststellen. Grund-
Opfer traumatisiert und tragen langfristige kör-     sätzlich hat sich die weggewiesene Person selbst
perliche und psychische Schäden davon. Bis zur       um eine alternative Unterkunft zu kümmern. In-
ersten Anzeige können mitunter Jahre vergehen.       nerhalb der Zeit der Wegweisung wohnen diese
Deshalb raten wir Betroffenen, sich an die Polizei   dann meist bei Freunden oder Bekannten oder
oder spezialisierte Beratungsstellen und Hilfsein-   anderen Familienmitgliedern. Sofern dies nicht
             richtungen zu wenden. Dort besteht      möglich ist, können neben Hotels und Pensionen
                      auch die Möglichkeit, sich     auch gesonderte Unterkünfte der Stadt genutzt
                        anonym Hilfe zu suchen.      werden.
                        Je nach Sachlage ergrei-
                              fen die Polizisten     CORA: Gibt es Erfahrungswerte bei der Polizei, ob
                               die   notwendigen     sich dies im Rahmen der Corona-Pandemie ver-
                               Maßnahmen zum         ändert hat?
                                Schutz der Betrof-   A.S.: Während der Kontaktbeschränkungen
                                  fenen und spre-    konnten wir feststellen, dass sich die Bürger ins-
                                  chen z.B. eine     gesamt verstärkt zu Hause aufgehalten haben.
                                  Wegweisung an      Mit Blick auf das tägliche Einsatzgeschehen der
                                 die verursachen-    Polizei können wir aber nicht bestätigen, dass
                                 de Person aus. In   sich hier Veränderungen in Bezug auf das Weg-
                                 einem Zeitraum      weisen gewalttätiger Personen aus dem häusli-
                                 von bis zu zwei     chen Umfeld ergeben haben.
                               Wochen darf die-
                          se die Wohnung dann        CORA: Hat die Corona-Krise zu neuen Erkenntnis-
                          nicht mehr betreten. Der   sen im Bereich der Prävention häuslicher Gewalt
                        Wohnungsschlüssel wird       geführt – für den Fall einer nächsten Epidemie
            ebenso sichergestellt. Den Betrof-       bzw. Infektionswelle?
fenen wird so ermöglicht, sich über die eigenen      A.S.: Prinzipiell ist unser Anliegen, die Bürger
weiteren Schritte klar zu werden und beim Ge-        unabhängig von Krisenzeiten für das Thema der
richt einen Antrag auf Wohnungszuweisung zu          häuslichen Gewalt zu sensibilisieren und im fa-
stellen oder gegebenenfalls eine neue Unter-         miliären Umfeld oder in der Nachbarschaft auf-
kunft aufzusuchen. Hier arbeiten wir eng mit den     merksam zu sein. Opfern häuslicher Gewalt raten
städtischen Frauenhäusern zusammen.                  wir immer, spezialisierte Beratungsstellen aufzu-
                                                     suchen oder sich auch anderweitig Hilfe zu holen.
                                                     Daneben zeigt sich aber auch, wie wichtig es ist,
CORA: Hat die Corona-Pandemie zu einem An-           im Alltag eine verlässliche Kinderbetreuung und
stieg der Einsätze geführt?                          neben der Schulzeit auch erreichbare Freizeitan-
A.S.: Aktuell gibt es in Rostock eine Erhöhung       gebote für Jugendliche und Erwachsene verfüg-
der Einsatzzahlen. Jedoch muss hierbei berück-       bar zu haben. Diese schaffen Möglichkeiten zur
sichtigt werden, dass es auch schon zu früheren      Reduzierung von psychischen Belastungen und
Zeiten Monate mit vergleichbaren Zahlen gege-        auch Ausweichmöglichkeiten bei bestehenden
ben hat. Eine eindeutige Verbindung zur Pande-       Konflikten.
miesituation lässt sich daher noch nicht sicher
ableiten.                                            CORA: Vielen Dank für das Interview.

CORA: Mussten die polizeilichen Schutzmaßnah-
men, wie z.B. die Wegweisung gewalttätiger Per-
sonen aus einer Wohnung, aufgrund von Quaran-
tänemaßnahmen und Kontaktbeschränkungen
angepasst werden?                                      ACHIM SEGEBARTH
A.S.: Praktische Probleme gab es hier bisher auf-      Polizeidirektor
grund der wenigen Infizierten nicht. Allerdings        Polizeipräsidium Rostock,
haben wir im Zusammenwirken mit der Stadt-             Polizeiinspektion Rostock
verwaltung Vorkehrungen geschaffen, um z.B.            Ulmenstraße 54, 18057 Rostock
auch Wegweisungen von Personen, die zugleich           Tel.: 0381 4916 3000
unter Quarantäneanordnungen stehen, umset-             pi.rostock@polmv.de
zen zu können.

                                                                                                          11
Zwischen-Fazit eines Mutausbruchs

     Zwischen-Fazit eines Mutausbruchs
     „Mutausbruch“, so bezeichnet das Team der Landeskoordinierungsstelle CORA rückbli-
     ckend das, was die Kolleg*innen im Hilfenetz gegen häusliche und sexualisierte Gewalt
     M-V in den letzten Wochen alles hoch engagiert geleistet haben, um den Kontakt zu den
     gewaltbetroffenen Klient*innen nicht zu verlieren. Hier lesen Sie das Resümee.

       Seit März 2020 waren wir durch die Corona-          lich sind. Die vertrauensvolle Beziehungsebene
       Pandemie plötzlich konfrontiert mit einem Ar-       zur Berater*in und das geschützte Gefühl kann
       beits- und Lebensalltag, der geprägt war von        per Video oder Telefon ggf. nicht so hergestellt
       wechselnden politischen Entscheidungen und          werden oder braucht vorab einen persönlichen
       Maßnahmen, von Unsicherheiten und von Ein-          Erstkontakt.
       schränkungen - insbesondere im Kontakt mit
       Menschen. In den Momenten des fast schon wie-       Doch bringt die Online-Beratung als neue Ent-
       der routinierten Alltages heute vergessen wir da-   wicklung natürlich auch Vorteile mit sich, bei-
       bei zu leicht, dass wir uns gerade einen Weg und    spielsweise die der nicht zu beschreitenden Wege
       neue Routinen in einem weltweiten Ausnahme-         über Land oder die kurzfristige Erreichbarkeit im
       zustand gesucht haben.                              Krisenfall. Die Nutzung der digitalen Medien ist
                                                                                  somit Chance und Heraus-
                                                                                  forderung zugleich und ist
                                                                                  als (erstmal) neue Arbeits-
                                                                                  welt anzuerkennen.

                                                                                  Elementar ist hierbei
                                                                                  selbst­verständlich die Ar-
                                                                                  beitsgrundlage: sowohl die
                                                                                  Hardware (Serverzugänge,
                                                                                  PCs, Headsets oder trag-
                                                                                  fähige Internetverbindun-
                                                                                  gen) als auch „Software“,
                                                                                  unsererseits interpretiert
                                                                                  als Handlungskompetenz
                                                                                  der Berater*innen, muss
                                                                                  nachgerüstet und entwi-
                                                                                  ckelt werden. Beratung
                                                                                  per Video stellt auf vielen
                                                                                  Ebenen neue Herausfor-
                                                                                  derungen und Kompetenz-
                                                                                  bedarfe dar, die in Wei-
                                                                                  terbildungen angemessen
                                                                                  entwickelt werden müs-
       Gerade weil persönliche Kontakte eingeschränkt      sen. Die Umsetzung und Sicherheit im Umgang
       bis kaum möglich waren, bestand die Sorge, dass     mit der Digitalisierung in der sozialen Arbeit kann
       häusliche Gewalt und/oder sexualisierter Miss-      demnach nicht ohne den Einsatz von (zusätzli-
       brauch ansteigt und Betroffene nicht den Weg        chen) Ressourcen ablaufen.
       zu Hilfsangeboten finden. Die Umstände sorgten
       außerdem dafür, dass die Digitalisierung mit ei-    Schließlich gilt es zu würdigen, was viele Men-
       nem Knall Einzug in die psychosoziale Beratung      schen im Opferschutz in den letzten Monaten
       gehalten hat. Denn in dem Moment, als die Maß-      geleistet haben: Den Balanceakt zwischen dem
       nahmen des Kontaktverbotes galten, war der          Gewährleisten individueller Hilfs- und Unter-
       persönliche Kontakt von Berater*in und Betrof-      stützungsangebote - in Zeiten von politischen
       fenen kaum mehr möglich.                            Maßnahmen und Einschränkungen. Die Beglei-
                                                           tung und Beratung von Betroffenen von häusli-
       Beratungs- und Unterstützungsangebote finden        cher und sexualisierter Gewalt in dieser Zeit war
       in der Regel im direkten Face-to-Face Kontakt       hierbei stets geprägt durch eine zentrale und
       statt. Die Vorteile der direkten Beratung sind,     wichtige Botschaft des Hilfenetzes M-V: Wir sind
       dass neben dem gesprochenen Wort auch non-          hier. Wir sind noch da. Und dass wird sich auch
       verbale Kommunikation und Augenkontakt mög-         zukünftig nicht ändern.
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Informationen

         Informationen
         Stärker als Gewalt – Initiative                                                 perliche Gewalt und in 6,5 % der Haushalte wur-
         informiert über Hilfsangebote                                                   den Kinder von einem Haushaltsmitglied körper-
                                                                                         lich bestraft. 3,6 % der Frauen wurden von ihren
         „Stärker als Gewalt“ ist eine Initiative des Bun-                               Partnern vergewaltigt. 3,8 % der Frauen fühlten
         desministeriums für Familie, Senioren, Frauen                                   sich von ihrem Partner bedroht. 2,2 Prozent durf-
         und Jugend und wurde im November 2019 ins                                       ten ihr Haus nicht ohne
         Leben gerufen. Die Initiative will erreichen, dass                              seine Erlaubnis verlassen.
         mehr Menschen im Umfeld von gewaltbetroffe-                                     In 4,6 Prozent der Fälle re-
         nen Personen für häusliche Gewalt sensibilisiert                                gulierte der Partner Kon-        Die Technische Universität Mün-
         sind und ihre Hilfe anbieten. In der Corona-Krise                               takte der Frauen mit an-         chen (TUM) stellt eine Zusammen-
         hat die Initiative darüber hinaus die Aktion „Zu-                               deren Personen, darunter         fassung der Studienergebnisse
         hause nicht sicher?“ gestartet. Die neue Poster-                                auch digitale Kontakte wie       kostenfrei online als PDF unter
         Aktion will Kund*innen im Supermarkt ebenso                                     Messenger-Dienste.               folgendem Link zur Verfügung:
         wie Nachbar*innen in ihren Hausfluren auf Hilfs-
         angebote aufmerksam machen. „Wir alle sind in                                   Die Wissenschaftlerinnen           https://drive.google.com/file/
         dieser Zeit besonders aufgefordert, auf Alarmsi-                                fanden im Rahmen ihrer             d/19Wqpby9nwMNjdgO4_FCqql-
         gnale häuslicher Gewalt in unserer Umgebung zu                                  Untersuchung auch Risi-            fYyLJmBn7y/view
         achten und dagegen aktiv zu werden.“, heißt es                                  kofaktoren für die häus-
         von Seiten der Initiative. Alle weiteren Informa-                               liche Gewalt während der
         tionen sowie kostenfreies Kampagnenmaterial                                     Corona-Pandemie heraus.
         finden Sie auf der Website unter: www.staerker-                                 So war die Zahl der Betroffenen sowohl bei Frau-
         als-gewalt.de                                                                   en als auch Kindern (noch) höher, wenn sich die
                                                                                         Befragten zu Hause in Quarantäne befanden; die
                                                                                         Familie akute finanzielle Sorgen hatte; eine*r der
                                                                                         Partner*innen aufgrund der Pandemie in Kurz-
                                                                                         arbeit war oder den Arbeitsplatz verloren hatte;
                                                                                         eine*r der Partner*innen Angst oder Depressi-

     ZUHAUSE                                                                             onen hatte oder sie in Haushalten mit Kindern
                                                                                         unter 10 Jahren lebten. Hieraus leiten die Wissen-
                                                                                         schaftlerinnen mehrere Empfehlungen für beste-

  NICHT SICHER?                                                                          hende und eventuelle künftige Ausgangs- und
                                                                                         Kontaktbeschränkungen während einer mögli-
                                                                                         chen „zweiten Welle“ der Pandemie ab. In einer
     Sind Sie akut von Gewalt zuhause betroffen oder                                     Pressemitteilung vom 2. Juni 2020 erklärt Janina
         kennen Sie jemanden, der betroffen ist?                                         Steinert: „Es sollten Notbetreuungen für Kinder
Hier finden Sie alle wichtigen Infos dazu, was Sie tun können und wo Sie Hilfe finden:
                                                                                         geschaffen werden, die nicht nur Eltern in sys-
            stärker-als-gewalt.de                                                        temrelevanten Berufen zur Verfügung stehen“
                                                                                         und „Da Depressionen und Angstzustände das
                                                                                         Gewaltpotential erhöhen, sollten psychologische
                                                                                         Beratungen und Therapien auch online angebo-
                                                                                         ten und ohne Hürden genutzt werden können.
         Studie zu Gewalt in Deutschland                                                 Frauenhäuser und andere Stellen, die Hilfen an-
         während der Corona-Pandemie                                                     bieten, müssen systemrelevant bleiben.“

         Janina Steinert, Professorin für Global Health an                               Anfragen beim Hilfetelefon
         der Technischen Universität München (TUM), und                                  „Gewalt gegen Frauen“ gestiegen
         Dr. Cara Ebert vom RWI – Leibniz-Institut für
         Wirtschaftsforschung haben in ihrer Studie zu                                   Das bundesweite Hilfetelefon verzeichnete 2019
         häuslicher Gewalt während der Corona-Pandemie                                   einen Anstieg von Beratungsnachfragen von
         ca. 3.800 Frauen, zwischen 18 und 65 Jahren, on-                                6,5 % im Vergleich zu 2018. Insgesamt hatten
         line nach ihren Erfahrungen befragt. Die Studie                                 sich ca. 44.700 Ratsuchende, Betroffene und
         ist hinsichtlich Alter, Bildungsstand, Einkommen,                               Unterstützer*innen, im vergangenen Jahr an das
         Haushaltsgröße und Wohnort repräsentativ für                                    Beratungsangebot gewandt. Allein zum Thema
         Deutschland. Die Frauen wurden für den Zeitraum                                 häusliche Gewalt haben rund 20.000 Beratungen
         der bis dato strengsten Ausgangs- und Kontakt-                                  stattgefunden. Zweithäufigstes Thema war se-
         beschränkungen befragt. Demnach erlebten 3,1                                    xualisierte Gewalt mit rund 4.400 Beratungen.
         % der Frauen zu Hause mindestens einmal kör-                                    Mit rund 3.500 Beratungen stieg auch die Nach-
                                                                                                                                                             13
Informationen

                    frage nach fremdsprachiger Beratung deutlich an.       Hilfetelefon „Gewalt an Männern“
                    In mehr als 60 Prozent aller Beratungen konnten        gestartet
                    Ratsuchende an Beratungsstellen vor Ort und in
                    ca. 22 Prozent an Frauenhäuser weitervermittelt        Die Bundesländer Bayern und Nordrhein-Westfa-
                    werden. Die Bundesfrauenministerin, Dr. Franzis-       len haben gemeinsam das Hilfetelefon „Gewalt an
                    ka Giffey, erklärte in einer Pressemitteilung am       Männern“ gestartet, bei dem sich gewaltbetrof-
                    5.5.2020 dazu: „Die Zahlen für 2019 zeigen aufs        fene Männer, Angehörige und Fachkräfte unter
                    Neue, wie wichtig diese erste Anlaufstelle für die     der Rufnummer 0800 1239900 oder per E-Mail
                    Betroffenen ist und dass das Hilfetelefon in sei-      unter beratung@maennerhilfetelefon.de über
                    ner Rolle als Vermittler zwischen Ratsuchenden         Beratungsangebote und Unterstützungsstruk-
                    und Beratungseinrichtungen vor Ort ankommt.            turen in den beiden Bundesländern informieren
                                                                           können. Das Hilfetelefon berät zu verschiedenen
                                                                           Gewaltformen wie häusliche Gewalt, sexualisier-
                                                                           te Gewalt, physischen Misshandlungen in der
                                                                           Kindheit, Zwangsverheiratung, Mobbing, Stal-
                                                                           king/Cyberstalking, psychische Gewalt, Gewalt
                                                                           im öffentlichen Raum und Gewalt mit Diskrimi-
                                                                           nierungsbezug (z.B. aufgrund des Alters, einer
                                                                           Behinderung, des Geschlechts oder der sexuellen
                                                                           Orientierung, einer Religionszugehörigkeit oder
                                                                           aus rassistischen Gründen). Die Betreiber*innen
                                                                           des Hilfetelefons hoffen, dass sich weitere Bun-
                                                                           desländer anschließen werden. Weitere Informa-
                                                                           tionen erhalten Sie auf der Website unter www.
                                                                           maennerhilfetelefon.de
                    In der aktuellen Corona-Krise ist die Bedeutung
                    dieses europaweit einzigartigen Beratungsange-
                    bots sogar noch gewachsen. Umso wichtiger ist
                    es, dass die Erreichbarkeit des Hilfetelefons rund
                    um die Uhr auch in diesen schwierigen Zeiten
                    aufrechterhalten werden kann.“

                    Sonderinformation zum Coronavirus
                     Die Frauenhauskoordinierung e.V. (FHK) hat am 16.
                     März die erste Sonderinformation zum Coronavi-
                     rus in Frauenhäusern und zur Pandemieplanung
                     in Schutzunterkünften online veröffentlicht. Mit      Fallzahlen aus M-V veröffentlicht
                     Blick auf die aktuellen Entwicklungen hat die FHK
                     anschließend weitere Sonderinformationen ver-         Die Fallzahlen 2019 des Beratungs- und Hilfe-
                     öffentlicht, die wichtige Informationen und Hin-      netzes in M-V für Betroffene von häuslicher
                     weise im Umgang mit dem Coronavirus für Frauen-       und sexualisierter Gewalt, Menschenhandel und
                                              haus-Mitarbeiter*innen       Zwangsverheiratung wurden veröffentlicht. Im
                                              enthalten. Die Arbeits-      Vergleich zum Vorjahr ist ein minimaler Rück-
                                              hilfen sollen die Fachpra-   gang der Fallzahlen zu verzeichnen. Insgesamt
     Die Sonderinformationen finden           xis im Umgang mit der        4.531 Fälle von Gewalt gegen Erwachsene wur-
     Sie zum Nachlesen und kostenfrei-        Ausnahmesituation un-        den 2019 im Beratungs- und Hilfenetz erfasst
     en Download auf der FHK-Website          terstützen. Themen der       (zum Vergleich: 2018: 4.593 / 2017: 4.182). Zudem
     unter:                                   Sonderinformationen wa-      wurden insgesamt 4.153 Kinder und Jugendliche
     www.frauenhauskoordinierung.de/          ren u.a.: Risikoeinschät-    im Beratungs- und Hilfenetz verzeichnet, die
     publikationen/arbeitshilfen              zung bei der Aufnahme in     mit häuslicher Gewalt, sexualisierter Gewalt, mit
                                              ein Frauenhaus, Umgang       Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Aus-
                                              mit Verdachtsfällen und      beutung oder Zwangsverheiratung konfrontiert
                                              Umgang mit nachgewie-        waren (2018: 4.210 / 2017: 3.830). Einen Anstieg
                     senen Corona-Infektionen im Frauenhaus, An-           der Fallzahlen innerhalb des Beratungs- und Hil-
                     onymität des Frauenhauses bei Meldungen an            fenetzes M-V verzeichneten 2019 die Interventi-
                     das Gesundheitsamt, Aufnahmestopps in Frau-           onsstellen gegen häusliche Gewalt und Stalking
                     enhäusern, Kita- und Schul-Notbetreuung für           sowie die Fachberatungsstelle ZORA – gegen
                     Mitarbeiter*innen von Frauenhäusern, uvm.             Zwangsverheiratung und Menschenhandel zum

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Informationen

Zwecke der sexuellen Ausbeutung. Die vollstän-        Mehr Polizeieinsätze in MV während
dige Auswertung und Aufschlüsselung inklusive         Corona-Lockdown
Diagramme finden Sie online unter: www.cora-
mv.de                                                 Laut der Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LIN-
                                                      KE aus dem Landtag M-V vom 19. Juni, „Frauen-
                                                      häuser und Beratungsstellen für Betroffene von
                                                      häuslicher Gewalt im Kontext der Corona-Pan-
                                                      demie“ (Drucksache 7/4979), gab es im Zeitraum
                                                      März bis Mai 2020 einen Anstieg der Polizeiein-
                                                      sätze zu häuslicher Gewalt im Vergleich zum Vor-
                                                      jahr. Während es im April 2019 etwa 145 Einsätze
                                                      in M-V aufgrund häuslicher Gewalt gab, waren es
                                                      im April 2020 - und damit in Zeiten der bis dato
                                                      strengsten Ausgangs- und Kontaktbeschränkun-
                                                      gen – 238 Polizeieinsätze. Unklar bleibt, ob der
                                                      Anstieg gleichbedeutend einer Zunahme häus-
                                                      licher Gewalt ist und/oder Nachbar*innen wäh-
                                                      rend des Lockdowns vielleicht häufiger die Poli-
                                                      zei bei einem Verdacht gerufen haben, weil diese
                                                      häufiger zuhause waren und die Gewalt mehr
„AktenEinsicht. Geschichten von Frau-                 bemerkten.
en und Gewalt“ erschienen
                                                      Die Kleine Anfrage thematisiert auch die Auslas-
Bereits im März 2020 wurde das Buch „Akten-           tung der Frauenhäuser in M-V. Demnach kam es
Einsicht. Geschichten von Frauen und Gewalt“          im März 2020 zu einer Überbelegung von zwei
der Berliner Rechtsanwältin Christina Clemm im        Frauenhäusern im Bundesland. Das Frauen-
Verlag Kunstmann veröffentlicht. Die Autorin,         schutzhaus Schwerin verzeichnete demzufolge
Fachanwältin für Strafrecht und Familienrecht,        zwar eine kurzzeitige Überbelegung, die vorhan-
arbeitet als Strafverteidigerin und als Neben-        denen Räumlichkeiten des Frauenschutzhauses
klagevertreterin von Betroffenen sexualisierter,      waren jedoch ausreichend. Die Schaffung zusätz-
häuslicher und rassistisch motivierter Gewalt.        licher Unterbringungsmöglichkeiten wurde je-
Seit Jahren steht sie an der Seite gewaltbetrof-      doch in der Hansestadt Rostock notwendig. Das
fener Frauen und Kindern, kämpft vor Gericht          dortige Frauenhaus fand in einem ansässigen
um deren Rechte. In ihrem Buch schildert sie          Hostel eine Kooperationspartnerin, in dem seit
exemplarisch Fälle, deren Entwicklung und lässt       Ende März zeitweise vier Frauen und fünf Kinder
die Leser*innen natürlich auch an den Gerichts-       untergebracht waren.
verfahren teilhaben. Parteilich und empowernd
blickt sie hierbei auf die Betroffenen, deren Ge-
schichten berühren und betroffen machen. Sen-
sibilisiert für Intersektionalität sind die betrof-
fenen Frauen im Buch gleichermaßen divers. Die
                                                               Termine
eine ist Mutter, die andere Sexarbeiterin, noch                                •
eine andere geflüchtete Frau. Ihnen allen gemein                     3./4.9.2020, online
ist der Mut, dass sie die Gewalt hinter sich las-           10. Fachforum mit dem Schwerpunkt
                          sen wollten und sich ge-            „Aktuelle Herausforderungen für
                          gen die Täter*innen zur        das Hilfesystem für gewaltbetroffene Frau-
                          Wehr gesetzt haben                          en und ihre Kinder“
                          – auch juristisch, unter-                  von der Frauenhaus-
                          stützt von der engagier-                 koordinierung (FHK) e.V.
                          ten Anwältin Clemm.                www.frauenhauskoordinierung.de
                          Das Buch ist unsere un-
                          bedingte Leseempfeh-                               •
                          lung für all diejenigen,                   15.10.2020, Berlin
                          die einen schonungslo-                 Konferenz “digital und real -
                          sen Einblick in Gerichts­             Unterstützung, Beratung und
                          verfahren in Fällen                Empowerment bei digitaler Gewalt”
                          geschlechtsspezifischer             vom bff: Frauen gegen Gewalt e.V.
                          Gewalt in Deutschland                 www.frauen-gegen-gewalt.de
                          bekommen wollen.

                                                                                                         15
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