Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet Homosexualität (AT) - Thomas Hieke - Bibelwissenschaft

Die Seite wird erstellt Arvid Fleischmann
 
WEITER LESEN
Das wissenschaftliche Bibellexikon im
             Internet
                         (WiBiLex)

        Homosexualität (AT)

                    Thomas Hieke

                    erstellt: Oktober 2021

                Permanenter Link zum Artikel:
       http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/21490/
Homosexualität (AT)

                                Thomas Hieke

1. Einleitung
Der Begri „Homosexualität“ wurde 1869 durch Karl Maria Kertbeny (vor 1847:
Karl Maria Benkert) geprägt. Für diesen Begri – ebenso wie für „Sexualität“,
„sexuelle Orientierung“, „sexuelle Identität“ oder andere Termini aus diesem
Wortfeld – gab es davor in keiner Sprache Äquivalente. Eine direkte Anwendung
des Begri s Homosexualität auf Texte der Bibel ist insofern ein Anachronismus.
Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich dadurch, dass das humanwissenschaftliche
Wissen über dieses Thema (bzw. die Frage der sexuellen Orientierung des
Menschen) in den letzten Jahrzehnten (Ende 20. Jh., Anfang 21. Jh.) erhebliche
Veränderungen erfahren hat. Nach heutigem Stand ist Homosexualität eine
Normvariante menschlichen Verhaltens im sexuellen wie im partnerschaftlichen
Bereich. Die gleichgeschlechtliche sexuelle Ausrichtung wird im Laufe der
Persönlichkeitsentwicklung vom Individuum entdeckt und bedarf wie jede
andere sexuelle Ausrichtung auch der Integration in ein stimmiges
Lebenskonzept. Zur Homosexualität im heutigen Verständnis gehören somit –
wie bei Heterosexualität auch – Fragen der Partnerschaft, der Verantwortung für
die/den Andere/n und für die Gemeinschaft (Familie, Gruppe, Gesellschaft), der
Verlässlichkeit, der Emotionalität, der Rücksichtnahme und vieles mehr. Wird
dagegen der Begri „Homosexualität“ auf den bloßen gleichgeschlechtlichen Akt
unter Männern reduziert, wird das Wort bewusst in Anführungszeichen gesetzt
und sollte eigentlich nicht verwendet werden, vielmehr sollte man von genitalem
Analverkehr unter Männern sprechen. Für diesen bzw. für dessen Verbot kann es
viele Gründe geben (vgl. Nissinen 1998, 1-17; zu den humanwissenschaftlichen
Erkenntnissen vgl. Bosinski in Goertz 2015, 91-130; zu Hermeneutik und
Hintergrund vgl. auch Leuenberger, 206-208).

2. Das Umfeld Israels
Die gesamte Antike kannte weder dem Begri             noch der Sache nach
Homosexualität     als   ein    Sexualität   und    Identität  integrierendes
Persönlichkeitskonzept für gleichberechtigte Partner auf Augenhöhe. Sexuelle
Akte wurden nach ihrer sozialen Dimension, nicht nach der Handlung an sich
beurteilt. Die Penetration als gleichgeschlechtlicher genitaler Analverkehr
zwischen Männern wurde insofern nicht als Ausdruck einer Liebesbeziehung

WiBiLex | Homosexualität (AT)                                                1
angesehen,    sondern als eine bisweilen mit Gewalt verbundene
Machtdemonstration des „überlegenen“ penetrierenden Mannes gegenüber dem
„unterlegenen“, die geschlechterstereotype Rolle der Frau einnehmenden
penetrierten Mannes. Die festen Rollenerwartungen bezüglich der „sozialen“
Geschlechter, was also die „natürliche Rolle“ des Mannes bzw. der Frau sei,
bestimmen die Sichtweise der Antike auf das Phänomen → Sexualität.

2.1. Gri ech en l an d

Das antike Griechenland kannte eine besondere Form gleichgeschlechtlicher
Liebe unter Männern, die gesellschaftlich anerkannt war: die umfassende
freundschaftliche, erotische und sexuelle Handlungen einschließende Liebe
zwischen einem erwachsenen „Liebhaber“ (erastēs) und einem heranwachsenden
„Geliebten“ in der Pubertät (erōmenos). Diese vor allem in Athen und Sparta, aber
auch auf Kreta auftretende „Knabenliebe“ (paiderastia) entsprach ähnlichen
Beziehungen in der griechischen Götterwelt (Mythologie: Zeus und Ganymed,
Herakles und Iolaos) und diente der Initiation in die Männerwelt des Krieges und
der Politik. Der ältere Part galt als Vorbild und Lehrer, der jüngere bedankte sich
in Form von Zuneigung und (auch sexueller) Dienstbereitschaft. Bei Platon wird
diese Form der Liebe spiritualisiert und zum Idealfall menschlicher Beziehungen
stilisiert, wobei dann die konkreten sexuellen Handlungen weg elen (sublimiert
wurden). Es konnte sich aus solchen Beziehungen eine lebenslange
Männerfreundschaft entwickeln. In der Regel heirateten die heranwachsenden
Männer standesgemäße Frauen, um Nachkommenschaft zu zeugen. Insofern
geht es hier nicht um Homosexualität im heute verstandenen Sinne als
Lebenskonzept, sondern um ein institutionalisiertes bisexuelles Verhalten mit
sozialer, pädagogischer und ethischer Zielsetzung. Dies ist vor dem Hintergrund
zu verstehen, dass im antiken Griechenland die Welt der Männer und der Frauen
strikt geschieden war; Beziehungen zu Frauen dienten zur Fortführung der
Familie oder zum Ausleben heterosexueller Lust (reiche Männer konnten Hetären
und Konkubinen nanzieren). Echte spirituelle freundschaftliche Liebe, so nahm
man an, könne es nur zwischen Gleichgestellten, also freien Männern geben. Die
paiderastia war keine Beziehung zwischen gleichberechtigten Partnern zur
gegenseitigen Befriedigung: Sexuelle Freude war dem aktiven Teil, dem älteren
erastēs, vorbehalten, der jüngere Teil sollte lernen, sich zurückzuhalten und
dienstbar zu sein, einen Gefallen zu tun – er sollte nicht die Rolle einer „Frau“
übernehmen. Daher wurde Analverkehr vermieden und stattdessen der
„Schenkelverkehr“ praktiziert; das eigentliche Ideal war aber die Enthaltsamkeit.
Man sprach auch nicht über die sexuelle Komponente. Keinesfalls durfte eine
  nanzielle Belohnung erfolgen; vielmehr bestand der Anteil des Jüngeren darin,
sozial abgesichert zu sein und das vom Erwachsenen erwartete Verhalten u.a.m.
zu lernen. Es ist festzuhalten, dass paiderastia keineswegs überall akzeptiert und
praktiziert wurde, auch dürften Ideal (in den schriftlichen und bildlichen Quellen
bezeugt) und Wirklichkeit sich nicht immer gedeckt haben (s. dazu Nissinen 1998,

2                                                        WiBiLex | Homosexualität (AT)
57-69 mit Belegen).

Homoerotische Beziehungen unter Frauen hat es sicher gegeben, doch sind sie in
den (allermeist von Männern geschriebenen) Quellen nicht thematisiert. Nur in
den Gedichten der Poetin Sappho (7./6. Jh. v. Chr., Lesbos) sind Spuren
homoerotischer Liebe zwischen Frauen zu nden. Da das Thema mit einem
gesellschaftlichen Tabu belegt war, ist die Quellenlage sehr dürftig und eine
adäquate Rekonstruktion der Verhältnisse, Au assungen und Praktiken nicht
möglich. In späterer römischer Literatur wird lesbische Liebe verurteilt oder
verspottet, da sie (v.a. von Männern) als unheimlich oder unnormal angesehen
wurde (Belege bei Nissinen 1998, 74-79).

    Ein Beispiel ist Martials Epigramm 7,67 (Text gr. und lat. Autoren), in dem er
    Philaenis als „Tribade“ (ein abwertender Begri für weibliche homoerotische
    Praktiken) porträtiert: „Knaben schändet Philänis, die Tribade, / Und von
    wilderer Lust ent ammt, als Männer, / Schlingt elf Mädchen sie auf an einem
    Tage.“ Philaenis betreibt u.a. den Männersport des Ringens und des
    unmäßigen Weintrinkens. Das Epigramm endet mit der Beschreibung der
    sexuellen Praxis, dass sie „verschlinget der Mädchen Mitte völlig“. Was damit
    gemeint ist, zeigt die letzte Zeile explizit über Philaenis: „Der als männlich es
    gilt, die Scham zu lecken“ (Übersetzung: Berg 1865, 255-256). Martial
    durchkreuzt hier pornographisch-voyeuristisch die konventionellen
    Erwartungshaltungen zu „männlich“ und „weiblich“ seines (männlichen?)
    Publikums, um Aufmerksamkeit und mehr zu wecken. Bei Martial wie bei
    aller von Männern dazu geschriebener Literatur gilt weibliche Homoerotik,
    bei der mindestens ein Part den aktiven, also „männlichen“ Teil übernimmt,
    als „grave transgression of established gender role boundaries“ (Nissinen
    1998, 79).

In der Antike war „Männlichkeit“ (einschließlich der Selbstkontrolle und des
adäquaten Gebrauchs des Genusses) ein hohes moralisches Gut, das nicht durch
Geburt, sondern durch Lernen und entsprechendes Verhalten erworben wurde
und auch wieder verloren gehen konnte. Homoerotische Beziehungen waren
daher eine heikle Sache, wurden nicht einfach toleriert, sondern waren einem
strengen Moral- und Ehren-Kodex unterworfen, wurden auch kritisiert (z.B. schon
von Aristoteles) und aufgrund missbräuchlicher Praktiken (Prostitution, Gewalt)
schließlich verpönt. Insgesamt tendiert die Quellenlage dazu, dass in der
griechisch-römischen Welt um die Zeitenwende sexuelle Akte unter Männern
negativ konnotiert waren; das moralische Problem bestand vor allem darin, dass
der passive Partner als „verweiblicht“ angesehen wurde und seine „Männlichkeit“
verkauft habe (Details bei Nissinen 1998, 79-88). Diese Form der Ablehnung
gleichgeschlechtlicher Beziehungen unter Männern beruht letztlich auf einem
negativen Frauenbild, das Frauen nur als Objekte sexueller Lust oder Mittel zur

WiBiLex | Homosexualität (AT)                                                      3
Fortpflanzung sah, nicht aber als gleichberechtigte Partner auf Augenhöhe.

2.2. Al ter Ori en t

2.2.1. Kleinasien

Aus dem hethitischen Kulturkreis ( 2. Jt. v. Chr.) könnten zwei Belege in Betracht
gezogen werden.

(1) Anniwiyani ist Autorin zweier Ritualtexte auf einer Tafel (Catalog der Texte der
Hethiter [CTH] 393) und beschreibt ein Ritual für den Fall, dass ein Mann den
passiven Part in einer homoerotischen sexuellen Begegnung „erlitten“ hatte.
Damit sollte die „Männlichkeit“ des penetrierten Mannes wiederhergestellt und
die Fruchtbarkeit (insbesondere das Zeugen von männlichem Nachwuchs)
sichergestellt werden. Wenn die Interpretation des Ritus so richtig ist, dann ist
männlicher Analverkehr kein homosexueller Akt im heutigen Verständnis,
sondern ein Vorgang mit dem Ziel, den penetrierten Mann als „unterlegen“ zu
demütigen.      Wenn     seine    Gemeinschaft      davon      erfährt,   ist   eine
Satisfaktionsleistung mittels des genannten Rituals nötig, um den ursprünglichen
sozialen Status des Mannes wiederherzustellen und die Gemeinschaft von
diesem „Angri “ zu reinigen. Die Hethiterinnen und Hethiter äußern sich zu
gleichgeschlechtlichem Verkehr nicht in Rechtstexten und sehen nur die
Notwendigkeit, für ein solches „unnormales Verhalten“ einen Reinigungsritus (für
den penetrierten Mann) zu etablieren (Peled, 76-77). Die Passivität des
penetrierten Mannes läuft seiner sozialen Rolle als aktiver Krieger zuwider: Er
handelt wie eine Frau, die im Krieg zu Hause bleibt, während der aktiv
penetrierende Mann das tut, was man von einem Krieger erwartet. Es geht somit
zuerst um einen sozialen Rollenkonflikt.

(2) Das Ritual der Paskuwatti (Catalog der Texte der Hethiter [CTH] 406) zielt auf
eine Art „Heilung“ der passiven Neigung des „Patienten“, gleichgeschlechtliche
sexuelle Akte an sich zuzulassen. Der Vorgang, durch männliche Penetration in
die Rolle der „Frau“ getreten zu sein, müsse rückgängig gemacht werden, damit
der Betro ene wieder als aktiv-aggressiver, dominanter Mann gelten könne.
Neben der „gestörten“ sozialen Rollenverteilung liegt ein weiterer Hauptgrund
dafür, warum gleichgeschlechtliches Sexualverhalten tabuisiert wird und „geheilt“
werden muss, darin, dass es keine Nachkommenschaft hervorbringt (Miller, 85-
87). Diese Deutung des Ritualtextes ist nur ein Vorschlag; eine größere
Gewissheit über die gesellschaftlichen Hintergründe kann nicht erreicht werden.

2.2.2. Mesopotamien

In der mesopotamischen Literatur diskutiert die Forschung die Beziehung
zwischen → Gilgamesch und Enkidu: Ist es eine „homosexuelle“ Beziehung oder
das Idealbild einer intensiven „Männerfreundschaft“ (Cooper, 73-85; Nissinen
1998, 20-24)? Insgesamt scheint gleichgeschlechtlicher Sexualverkehr kein

4                                                         WiBiLex | Homosexualität (AT)
wirkliches Thema oder Problem in Mesopotamien gewesen zu sein. Unter den
mesopotamischen Omen-Texten aus dem 1. Jt. v. Chr., šumma ālu genannt,
  nden sich auf den Tafeln 103 und 104 Omina, die sich mit menschlicher
Sexualität befassen (→ Divination [Alter Orient]). Im Vordersatz (Protasis)
beschreiben sie jeweils ein bestimmtes Verhalten, im Nachsatz (Apodosis) ein
folgendes Ergehen. Dabei geht es um eine „Naturbeobachtung“, aus der man
Hinweise auf die Zukunft erho te. Ein Omen lautet: „Wenn ein Mann analen
Geschlechtsverkehr mit einem ihm Gleichgestellten hat – dieser Mann wird zum
Vornehmsten unter seinen Brüdern und Gefährten“ (Guinan, 189). Die
Paradoxität ist typisch: Der, der den Gleichgestellten von hinten penetriert, wird
in der sozialen Ordnung nach vorne gestellt. Gleichgeschlechtlicher Verkehr unter
Männern auf der gleichen sozialen Ebene wird als Zeichen besonderer
Durchsetzungskraft gesehen (Cooper, 82).

In den Mittelassy rischen Gesetzen gibt es zwei Vorschriften (MAL A 19 und
MAL A 20), die sich mit gleichgeschlechtlichem Verkehr unter (sozial
gleichgestellten!) Männern befassen, jedoch geht es in 19 um eine falsche
Anschuldigung (ein Partner wird fälschlich als „Prostituierter“ beschimpft), in 20
um Vergewaltigung. Das Problem besteht hier ebenso wie im griechischen
Denken dieser Zeit darin, dass nur eine bestimmte Art des gleichgeschlechtlichen
Verkehrs unter Männern inkriminiert wird: Während aktiver „homosexueller“
Analverkehr mit männlichen Prostituierten oder Sklaven kein Problem darstellte,
ächtete die Gesellschaft den Fall, wenn ein Mann einen ihm gleichgestellten
Bürger gegen dessen Einverständnis (!) aktiv anal penetrierte und damit bewusst
einen Akt der Demütigung setzte (Nissinen 1998, 25-27). Damit wird das
komplexe soziale Gefüge der Gesellschaft in ihren wechselseitigen Beziehungen
gefährdet. Wer diesen Akt wiederum passiv ohne Widerstand an sich geschehen
ließ, gab damit seine Bürgerrechte auf (Cooper, 84; Nissinen 1998, 57-69; →
Homosexualität [NT], 3.2.).

Mit Homosexualität im heutigen Sinne hat das alles nichts zu tun. Als wichtigstes
Ergebnis seiner Studien hält M. Nissinen fest, dass es keinen Sinn mache,
angebliche Spuren von Homosexualität in der antiken Literatur herauszupressen,
um herauszu nden, wie das moderne Konzept der Homosexualität in Texten
funktioniert, deren Autoren das ganze Konzept unbekannt war (Nissinen 2010,
76; zu einem ikonographischen Beleg aus Mesopotamien vgl. Leuenberger, 209-
212).

2.3. Äg yp ten

Nur wenige textliche Quellen aus dem pharaonischen Ägypten bezeugen
gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen von Männern (zum Folgenden s. v.a.
Klug in Hieke 2015, 28-34). Eine einschlägige Episode aus dem Machtkampf der
Götter → Horus und → Seth um die Thronnachfolge des → Osiris erzählt, wie Seth
den jungen Horus penetriert und dieser wiederum mit Hilfe der Magie seiner

WiBiLex | Homosexualität (AT)                                                   5
Mutter → Isis seinen Samen in Seth platziert (s. Papyrus Chester Beatty I, ca. 1140
v. Chr., Junge 1995, 930-950). Eine ältere Variante dazu ndet sich im Papyrus
Kahun VI, ca. 1800 v. Chr. (Röpke, 239-290; Parkinson, 70-71). Im frühesten
Beleg aus den → Pyramidentexten, PT 1036, ca. 2300 v. Chr., ist von einer
wechselseitigen Penetration, die jeweils Abscheu erregt, die Rede (Röpke, 262-
264; Parkinson, 65). In diesem Mythos geht es somit stets um Macht und
Männlichkeit, nicht um gleichgeschlechtliche Liebe.

Sehr fragmentarisch erhalten ist die literarische Darstellung der Liebesa äre
zwischen dem König Neferkare und seinem General Sasenet (Papyrus Chassinat I,
um 700 v. Chr.; Kammerzell, 965-969), die sich beide heimlich des Nachts
tre en. Textlich nicht überliefert sind Hintergründe und Bewertung des
Geschehens. Die Heimlichkeiten könnten darauf abzielen, den König zu
diskreditieren (Parkinson, 72-73); auch könnte der Text eine Parodie auf die
nächtliche Vereinigung des Sonnengottes Re (König) mit dem Totengott Osiris
(General) in der Unterwelt sein (van Dijk, 387-393).

Im negativen Sündenbekenntnis des ägyptischen → Totenbuchs (um 1500 v. Chr.)
betont der Verstorbene vor dem Totengericht, was er alles an schlechten Taten
nicht begangen habe. Ein Satz bezieht sich auf die Penetration von „Buhlknaben“
(?) (Tb 125b), ein Verhalten, das somit nicht dem Ideal des Lebens nach der
Weltordnung      (→ Maat) entspricht (Parkinson, 61-62). Eine nicht leicht
einzuordnende Wendung in den älteren → Sargtexten lautet: „Atem has no power
over N. / N. nks his backside (‘rt)“ (Spruch 635; CT VI, 258f-g; um 2000 v. Chr.;
Parkinson, 64). Vielleicht geht es hier um eine anale Penetration als
Machtdemonstration, jedenfalls nicht um gleichgeschlechtliche Liebe.

Eine Wendung in der 32. Maxime der Lehre des Ptahhotep (um 2000 v. Chr.) wird
bisweilen als grundsätzliche Ablehnung einer homosexuellen Beziehung gedeutet
(Parkinson, 68). Nach neuerer Sicht könnte die Maxime aber darauf zielen, in
jedweder sexuellen Beziehung Empathie walten zu lassen und es zu respektieren
bzw. sich zurückzunehmen, wenn das Gegenüber nonverbal signalisiert, dass es
mit dem Geschlechtsverkehr emotional nicht einverstanden ist (Junge 2003, 62).

Aus den Rechtstexten ist eine Klage gegen
einen Mann belegt, der einen anderen Mann
„geschändet“ habe (Papyrus Turin 1887, ca.
1140 v. Chr., Parkinson, 66). Weitere
Rechtstexte,    die   man    dem    Thema
„Homosexualität“ zurechnen könnte, sind
nicht überliefert. Auch fehlen Quellen zur
weiblichen        „Homosexualität“.    Ein
ikonographischer     Beleg   einer   engen
Männerbeziehung ist die intime Umarmung
von Nianchchnum und Chnumhotep (ca. 2400

6                                                        WiBiLex | Homosexualität (AT)
v. Chr.; vgl. Abb. 1). Da jedoch ihre Ehefrauen
bezeugt sind, deutet die Körperhaltung der
Männer vielleicht an, dass sie Zwillinge waren
(Parkinson, 62; Büma / Fitzenreiter, 19-42).
Zur Diskussion weiterer Quellen und Belege
sei auf die Literatur verwiesen (Parkinson;
Amenta, 7-21; Schukraft, 297-331).

Angesichts der Fülle von Bildern und Texten
aus dem alten Ägypten befassen sich au ällig
wenige     Quellen     mit    dem     Thema
„Homosexualität“, und sie meinen damit auch
nicht das heutige Phänomen. Vielmehr geht es      Abb.    1     Nianchchnum        und
um gleichgeschlechtlichen Genitalverkehr          Chnumhotep als Paar (Grab in
unter männlich konnotierten Wesen (Götter         Saqqara; 5. Dyn.; ca. 2350 v. Chr.).
wie Menschen), allermeist zur Unterdrückung
der unterlegenen Figur. Eine allgemeine
Bewertung gleichgeschlechtlicher Beziehungen ergibt sich daraus nicht.

3. Die Verbote in Lev 18,22 und 20,13
3.1. Hi n fü h ru n g : kei n e Sexu al moral

Homosexualität im heutigen Verständnis ist in der Hebräischen Bibel als
Dokument aus der Antike kein explizites Konzept. Die biblische und
außerbiblische Quellenlage erlaubt kaum Rückschlüsse auf das Phänomen
gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens im alten Israel (Nissinen 1998, 37;
Himbaza / Schenker / Edart, 5). Gleichgeschlechtlicher Analverkehr unter
Männern wird nur an zwei Stellen im gleichen Kontext des Buches Levitikus,
näherhin des → Heiligkeitsgesetzes, angesprochen (Leuenberger, 223-224). Die
Vorschriften in Levitikus 18 und Levitikus 20 behandeln kein umfassendes
Konzept der sexuellen Orientierung von Menschen und re ektieren keine
Sexualmoral. Vielmehr ächten sie unter bestimmten geschichtlichen, sozialen
und kulturellen Verhältnissen einzelne Akte. Teilweise werden sie mit Sanktionen
versehen, deren Durchführbarkeit möglicherweise bewusst im Dunkeln bleibt.
Nähere Begründungen werden nicht explizit gegeben, sind aber aus der
Anordnung der Bestimmungen und damit aus dem Kontext zu erschließen (Hieke
2014, 645-697, 770-813; Römer, 214-218).

3.2. Gru n d satz b esti mmu n g : Lev 18, 22

Lev 18,22 lautet: „Und bei einem Mann sollst du nicht liegen, wie man bei einer
Frau liegt. Es wäre ein Gräuel“ (zur Kommentierung s. Hieke 2014, 688-690). Zur
Interpretation der Formulierung von Lev 18,22 gibt es eine breite Diskussion (s.

WiBiLex | Homosexualität (AT)                                                       7
Leuenberger, 227, mit weiteren Hinweisen).

    Diskutiert wird vor allem die Wendung ‫שּ ׁה‬           ְׁ ‫ מ‬miškəvê ’iššāh , die oben
                                              ָ ‫שכ ְ ּבֵי א‬
    mit „wie man bei einer Frau liegt“ übersetzt ist. So meinen einige, das Verbot
    sei nur auf den „empfangenden“ Teilnehmer und nicht auf den
    penetrierenden Part bezogen (Walsh, 201-209; Hollenback, 529-537). –
    Andere nehmen an, das Verbot beziehe sich nur auf gleichgeschlechtliche
    Sexualakte unter blutsverwandten Männern (Milgrom, 1569; vgl. auch
    Dershowitz, 510-520, der ein generelles Verbot gleichgeschlechtlicher Akte
    unter Männern erst einer späteren Redaktionsschicht zuweist). – Nach einem
    weiteren Vorschlag sei die Wendung miškəvê ’iššāh in Lev 18,22 als der
    „sexuelle Zuständigkeitsbereich einer Frau“ zu verstehen, so dass daraus zu
    schließen sei, dass sich das Verbot auf Männer beziehe, die zum
    Zuständigkeitsbereich einer Frau gehören (also v.a. verheiratete Männer):
    „Sex with married men, therefore, would be forbidden as well as sex with any
    males who are under the guardianship of a woman within the community“
    (Wells, 158). Auch nach dieser Interpretation hat Lev 18,22 nichts mit dem
    heutigen Konzept von Homosexualität zu tun. – Töyräänvuori, 236-267,
    macht den Vorschlag, dass sich das Verbot und die Wendung miškəvê ’iššāh
    darauf beziehen, dass zwei Männer gleichzeitig das Lager einer Frau
    aufsuchen (also eine ménage à trois). Da in diesem Fall nicht sicher gesagt
    werden könne, wer der Vater des eventuellen Kindes sei, sei diese Form einer
    „Dreierbeziehung“ verboten, da sie erbrechtliche Kon ikte hervorrufe (→ Erbe
    / Erbrecht). Auch wenn diese Argumentation schlüssig und plausibel ist, so
    besteht doch das Problem, dass „Dreierbeziehungen“ ohnehin schon durch
    das Verbot, mit der Frau seines Mitbürgers Geschlechtsverkehr zu haben (Lev
    18,20), ausgeschlossen sind. Selbst wenn alle drei (zwei Männer und eine
    Frau) unverheiratet wären, wären doch die Frau und derjenige Mann, mit
    dem sie zuerst vaginal verkehrt hat, in diesem Moment „verheiratet“ und der
    folgende Akt mit dem anderen Mann verboten. – Die Versuche, Lev 18,22
    anders denn als Verbot eines gleichgeschlechtlichen Aktes unter Männern zu
    verstehen, sind wichtig, um alle möglichen Bedeutungen auszuloten; das
    Problem daran ist nur, dass sie häu g sehr komplexe Argumentationen und
    Annahmen benötigen.

Nach Abwägen vieler Möglichkeiten erscheint die Annahme am plausibelsten,
dass hier gleichgeschlechtlicher Analverkehr unter Männern mit Samenerguss
des penetrierenden Mannes umschrieben wird (so auch Leuenberger, 227),
wobei einer der Partner die (im doppelten Wortsinne!) „unterlegene“ Rolle der
Frau einnimmt, das heißt, auch diese Ausdrucksweise folgt den „klassischen“
Gender-Rollenstereotypen, bei denen die männliche Rolle als aktiv, die weibliche
als passiv gilt. Im Grunde wurde der Akt verurteilt, nicht das gleichgeschlechtliche
Begehren, dessen Existenz nicht re ektiert wurde (vgl. Nissinen 1998, 44). Eine

8                                                            WiBiLex | Homosexualität (AT)
kategorische Ablehnung gleichgeschlechtlicher männlicher Geschlechtsakte ist
vor dem skizzierten altorientalischen Hintergrund außergewöhnlich und neu
(Milgrom, 1566). Möglicherweise geht sie auf persischen Ein uss (Avesta) zurück
(Dershowitz, 523-525; Römer, 217). Allerdings wirkt die Ablehnung nur dann
„kategorisch“, wenn der Satz Lev 18,22 aus seinem Kontext gelöst wird. Eine
Vernachlässigung des literarischen Zusammenhangs ist aber aus allgemeinen
bibelhermeneutischen Grundsätzen heraus nicht möglich und für das
angemessene literarische Verstehen des Textes abträglich. Der Kontext liefert den
Schlüssel für das Verstehen und damit die Geltungsbreite des Verbots von Lev
18,22.

Im Vers davor (Lev 18,21) geht es um das Verbot, einen von den eigenen
Nachkommen „für den Molech hinübergehen zu lassen“. Die rätselhafte
Wendung wird meist als Verbot kultischer Kinderopfer (→ Menschenopfer)
gelesen. Dem Kontext und der sozialgeschichtlichen Situation der Nachexilszeit
(Perserherrschaft in Juda / Jerusalem) als Entstehungshorizont des Textes
angemessener erscheint eine Alternative: Das „Molech“-Verbot ist eine Chi re für
das Verbot, eigene Kinder für die fremde Besatzungsmacht (den persischen
König, hebr. melekh ) zur Verfügung zu stellen. Damit wird von den priesterlichen
Verfassern des Levitikus-Textes eine Form der lukrativen Kollaboration mit den
Besatzern verboten, die aus Sicht der Autoren den Verlust eines jungen Mitglieds
der eigenen Religionsgemeinschaft zur Folge hatte: Wer sein Kind „für den
Moloch hinübergehen ließ“, also den persischen Beamten zur Verfügung stellte,
gab es preis, so dass es die fremde Religion lernte und annahm und damit für die
eigene Gruppe verloren war (Hieke 2014, 679-688; Hieke 2011, 147-167). Im
folgenden Vers (Lev 18,23) wird Geschlechtsverkehr mit Tieren verboten
(Männern und Frauen).

Der gemeinsame Nenner der drei Verse Lev 18,21-23 besteht darin, den Verlust
von Nachkommenschaft für die eigene Religionsgemeinschaft zu verhindern, sei
es durch Kinderopfer (weniger wahrscheinlich) oder durch Übergabe von Kindern
an die fremde Besatzungsmacht (wahrscheinlicher), sei es durch (ausschließlich)
gleichgeschlechtlichen    Analverkehr     unter     Männern,  sei    es    durch
(ausschließlichen) Geschlechtsverkehr mit Tieren. Hinzu kommt noch im gleichen
Sinne das Verbot, mit einer menstruierenden Frau Geschlechtsverkehr zu haben
(Lev 18,19); auch hier kommt es nicht zur Fortp anzung. Ziel der Verbote ist eine
Stärkung der eigenen Gemeinschaft durch möglichst große Nachkommenschaft
( → Nachkommen). Für die sehr kleine Gemeinschaft der JHWH-Gläubigen in
Jerusalem und der persischen Provinz Jehud war dies in der geschichtlichen
Epoche, in der diese Texte entstanden sind, eine Überlebensfrage. Für jemanden,
der sich der Reproduktion entzog und keine Nachkommen zeugte und großzog,
war da kein Platz. Im Gesamtkontext des Kapitels sowie in der speziellen
sozialgeschichtlichen Situation zur Entstehungszeit ergaben diese Verse einen
plausiblen Sinn. Zur Steigerung der Stabilität des Gemeinwesens spricht die Bibel

WiBiLex | Homosexualität (AT)                                                  9
in einer als komplex erfahrenen Welt klare Verbote aus (Himbaza / Schenker /
Edart, 134-135). Weder sollen durch eine ungeordnete sexuelle Betätigung
zwischen Männern Spannungen aufkommen (Caron, 34), noch soll die männliche
Sexualität unfruchtbar sein (Himbaza / Schenker / Edart, 69-71). Eine
unmittelbare Übertragung in heutige Lebensverhältnisse im wörtlichen Sinne ist
nicht möglich (Sklar). Damit ist auch eine kategorische Ächtung homosexueller
Praktiken oder gar Neigungen mit diesem Bibelvers (und seinem Pendant in Lev
20,13, s.u.) nicht möglich (Hieke 2014, 690).

In Lev 18,22 wird der gleichgeschlechtliche Analverkehr als „Gräuel“ bezeichnet.
Damit werden innerbiblisch (→ Deuteronomium, → Buch der Sprichwörter) die
Verehrung fremder Götter, → Magie, der Gebrauch falscher → Gewichte und
ähnliche soziale und kultische Vergehen verurteilt (vgl. Dtn 7,25-26; Dtn 12,31;
Dtn 14,3; Dtn 17,1.4; Dtn 18,9; Dtn 20,18; Dtn 22,5; Dtn 25,13-16; Dtn 27,15;
Dtn 32,16). Dieses Verhalten löst Gottes Zorn aus und ist deshalb zu unterlassen.
Damit ist keine menschliche Gerichtsinstanz im Blick, denn es bleibt Gott
überlassen, wie er seinen Zorn umsetzt (Caron, 36). Allein diese Nuance des
Textes macht deutlich, dass man mit der Bibel keinesfalls eine strafrechtliche
Verfolgung von Homosexuellen rechtfertigen kann.

3.3. Strafb esti mmu n g : Lev 20, 13

In Lev 20 werden fast alle Verbote aus Lev 18 – die meisten davon betre en
inzestuöse sexuelle Verbindungen – mit Strafen verbunden. Lev 20,13 greift Lev
18,22 auf: „Und ein Mann, der bei einem Mann liegt, wie man bei einer Frau liegt
– ein Gräuel haben die beiden begangen. Sie werden gewiss getötet werden. Ihr
Blut ist auf ihnen.“ Dabei darf die Wendung „sie werden gewiss getötet werden“
nicht einfach mit einer „Todesstrafe“ gleichgesetzt werden (Hieke 2004, 349-374).
Von der Begri ichkeit in Lev 18,22 („Gräuel“) her ist an eine Gottesstrafe zu
denken, nicht an eine menschliche Gerichtsbarkeit (Leuenberger, 226). Eine
Untersuchung der hebräischen Wendung ‫מת‬       ַ ּ ‫ מות יו‬môt jûmat, die mit „er wird
gewiss getötet werden“ zu übersetzen ist (und auch im Plural vorkommt), hat
ergeben, dass für alle Belege nie von einer Todesstrafe im heutigen Sinn
ausgegangen werden kann. Liegt der Fall einer Tötung eines Menschen durch
einen Menschen vor (Totschlag oder Mord), so greift das Rechtsinstitut der →
Blutrache: Der nächste Verwandte des Erschlagenen oder Ermordeten muss den
Totschläger oder Mörder töten. Er bleibt dann selbst stra rei, da das Blut des
getöteten Täters auf diesem selbst liegt (und keine Sühne mehr erfordert),
während das vergossene Blut des Opfers gesühnt ist (→ Sühne). In allen anderen
Fällen drückt die Wendung keine strafrechtliche Bestimmung aus, sondern ist auf
der Ebene der → Paränese, der dringenden Ermahnung, angesiedelt (s. auch
Nissinen 1998, 37). Hinter dem Passiv steckt Gott selbst (passivum divinum). Im
Sinne einer Gottesstrafe wird Gott selbst den oder die Täter zur Rechenschaft
ziehen und für dessen oder deren Tod sorgen – wodurch auch immer (z.B. durch

10                                                        WiBiLex | Homosexualität (AT)
ausbleibende Nachkommenschaft). Auch im Fall von Lev 20,13 handelt es sich
um eine dringende Mahnung, nicht um eine Strafrechtsbestimmung (Himbaza /
Schenker / Edart, 63; Leuenberger, 226).

3.4. Hermen eu ti sch e Üb erl eg u n g en z u Lev 18, 22 u n d Lev 20, 13

Das in Lev 18,22 als „Gräuel“ (Missfallen Gottes) geächtete Verhalten wird in Lev
20,13 unter die Gottesstrafe gestellt und so mit der größtmöglichen Dringlichkeit
(wie übrigens viele andere Tatbestände auch) als absolut zu vermeiden
präsentiert. Allerdings heißt der Umstand, dass wir (bis) heute viele Inzest-
Bestimmungen aus Lev 18 und Lev 20 teilen und in unserer Kultur ähnlich sehen,
nicht, dass man die Verse ohne jede hermeneutische Vermittlung „wörtlich“
nehmen könnte (→ Bibelauslegung). Vielmehr ist an die Lebensumstände zur
Entstehungszeit der Texte zu denken: Eine kleine, unter Fremdherrschaft
stehende und in ihrer Identität gefährdete religiöse Gemeinschaft, die dringend
auf Nachkommen angewiesen war, ringt unter der Anleitung ihrer
Priestertheologen um die rechte Lebensweise, um Stabilität und Ordnung. Die
Lebensumstände heute sind dagegen völlig andere. In Lev 18,22 und Lev 20,13
ist nicht von Homosexualität im heutigen Verständnis die Rede, sondern nur von
gleichgeschlechtlichem Analverkehr mit Samenerguss, und das in einem Kontext,
der vom Grundsatz beherrscht ist, dass die Gemeinschaft Nachkommen braucht
(Leuenberger, 228). Die Hebräische Bibel kennt, wie die gesamte Antike, nicht das
heutige Konzept von Homosexualität und behandelt nicht die Frage sexueller
Identität oder Orientierung. Damit verurteilt das Alte Testament auch nicht
Homosexualität. Was verurteilt wird, sind Formen sexuellen Verhaltens, die die
eigene Lustbefriedigung über das Wohl der Gemeinschaft stellen bzw. die soziale
Dimension der menschlichen Sexualität geringschätzen (Pola, 218-230; Caron,
37-39; Dufault-Hunter, 726-727; Mathias, 17-40) und dazu führen könnten, dass
die gesellschaftlich de nierten Männerrollen durchbrochen, aufgegeben bzw. mit
Frauenrollen vertauscht werden (Leuenberger, 228-229).

4. Gewalt und Schande: Sodom (Gen 19) und
Gibea (Ri 19); Ham und Noah (Gen 9)
Drei erzählende Passagen in der Hebräischen Bibel werden in der
Auslegungsgeschichte oftmals mit gleichgeschlechtlicher Sexualität unter
Männern in Verbindung gebracht. Mit Homosexualität im heutigen Sinne haben
sie nichts zu tun: Die Geschichten in Gen 19 und Ri 19 prangern die gewalttätigen
Absichten der Bewohner von → Sodom und → Gibea an, während
Homosexualität in der heutigen Welt im Kontext des gegenseitigen
Einverständnisses gesehen wird. Genau zu diesem Punkt haben die Geschichten
nichts zu sagen (vgl. Himbaza / Schenker / Edart, 42). In Gen 9 geht es um den
Respekt vor dem Älteren, nicht um Sexualität.

WiBiLex | Homosexualität (AT)                                                 11
4.1. Gen esi s 19: Di e M än n er von Sod om

Lange Zeit wurde der Analverkehr unter Männern mit dem Begri „Sodomie“ (→
Sodom und Gomorra) belegt. Heute steht der Begri umgangssprachlich nur
noch für sexuelle Handlungen mit Tieren (Zoophilie). Die Verbindung von
„homosexuellen“ Handlungen mit der „Sünde von Sodom“ hat keinen
Anhaltspunkt im Bibeltext, hat aber dennoch dazu geführt, dass über viele
Jahrhunderte die Sündhaftigkeit der Homosexualität behauptet wurde und
Homosexuelle entsprechend verfolgt wurden (Nissinen 1998, 45-46; Römer,
218). Dies geschah in willkürlicher und ober ächlicher Anlehnung an die in Gen
19 erzählte Geschichte: Der in der Stadt Sodom als → Fremder lebende → Lot hat
die zwei Boten (→ Engel), die von Gott geschickt wurden, um ihn vor der
Vernichtung der Stadt zu warnen, in sein Haus aufgenommen. Am Abend fordern
alle Männer von Sodom Lot auf: „Bring sie [Lots Gäste] heraus, wir wollen sie
erkennen “ (Gen 19,5). Das hebräische Verb ‫ ידע‬jd‘, „erkennen“, kann auch
Geschlechtsverkehr bedeuten (die Ausdrucksweise im griechischen Text der →
Septuaginta ist analog). Es geht jedoch den Männern von Sodom nicht in erster
Linie um sexuelle Befriedigung, denn als Lot anstelle der Gäste seine noch
jungfräulichen Töchter als Sexualobjekte anbietet, macht das die Meute noch
aggressiver: Die Männer wollen sich nun gewaltsam Zugang zu den Gästen Lots
verscha en, die Töchter interessieren sie nicht. Da nicht anzunehmen ist, dass
alle Männer Sodoms homosexuell gewesen seien, ist das eigentliche Ziel nicht
gleichgeschlechtlicher Sexualverkehr, sondern die gewaltsame Demütigung des
Fremden Lot und seiner Gäste. Der komplementäre Text Ri 19 unterstreicht dies,
da dort die Nebenfrau (→ Ehe) des Gastes vergewaltigt wird (s.u.) – es geht also
um den Bezug des Sexualobjekts zum Gast, der gedemütigt werden soll. Daher
ist es sinnlos, dass Lot seine Töchter anbietet, die gerade diesen Bezug zur zu
demütigenden Person nicht haben. Mit ihnen würden die Männer von Sodom ihr
Ziel der Demütigung der Fremden nicht erreichen; anders dagegen die Männer
von Gibea, die mit der Nebenfrau den Gast selbst angreifen können. Im Sinne der
oben skizzierten altorientalischen Parallelen dient in Gen 19 die anale
Penetration zur Erniedrigung; das Thema ist nicht Lustgewinn und Befriedigung
des Sexualtriebs, sondern gewaltsame Unterdrückung von Fremden. Die Sünde
der Männer von Sodom ist nicht ihre vermeintliche Homosexualität, sondern der
versuchte, gewaltsame Bruch des Gastrechts (→ Gast / Gastfreundschaft). Die
übernatürlichen Kräfte der Engel verhindern das Schlimmste.

Auch in der frühen Rezeption der Geschichte geht es nicht um Homosexualität.
„Sodom“ steht für ein sündiges Verhalten im Allgemeinen (z.B. Ausnutzung der
Armen, Gewalt, etc., z.B. Ez 16,49; Nissinen 1998, 46-47). Flavius Josephus
dagegen bringt vor seinem hellenistischen Hintergrund das Begehren der Männer
von Sodom in die Nähe von Päderastie: „Als nun die Sodomiter sahen, dass so
schöne Jünglinge bei Lot einkehrten, wollten sie ihnen sogleich Schande und
Gewalt antun“ (Antiquitates 1,200; Text gr. und lat. Autoren [Übersetzung: H.

12                                                     WiBiLex | Homosexualität (AT)
Clementz]; Nissinen 1998, 93: Josephus übergeht bei der Nacherzählung der
Parallelgeschichte in Ri 19 den „homosexuellen“ Angri der Benjaminiten). In
Contra Apionem 2,199 (Text gr. und lat. Autoren) sieht Josephus den
gleichgeschlechtlichen Sexualverkehr unter Männern als ein Laster der anderen
Völker an, mit dem das jüdische Volk nichts zu tun habe, vielmehr stehe darauf
die Todessanktion. Den gleichgeschlechtlichen Analverkehr unter Männern sieht
Josephus als para physin („gegen die Natur“) an (Contra Apionem 2,273; Text gr.
und lat. Autoren). Auch → Philo von Alexandrien (Nissinen 1998, 94-95; Loader,
134) zählt zu den Lastern der Sodomiter den gleichgeschlechtlichen Verkehr
unter Männern, die Verweiblichung und den Verfall an das Schwelgen im Luxus.
Damit stellen sich Josephus und Philo insbesondere gegen die in ihrer
hellenistischen und römischen Umwelt akzeptierte Päderastie (s.o., 2.1.
Griechenland; Loader, 132-140). Vor allem bei Philo geht es aber nicht um die
vernünftige Wahrnehmung ihrer sexuellen Orientierung durch Erwachsene,
sondern stets um die (meist auch durch alkoholische Getränke wie den Wein
beim Symposium geförderte) zügellose Sucht der Leidenschaft nach sexueller
Befriedigung, also um den völligen Kontrollverlust. Philo zeigt keinerlei
Anzeichen dafür, dass er darüber nachdenkt, dass Menschen in nüchternem
Realitätssinn eine gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung aufweisen. Er geht
wie alle jüdischen Autoren seiner Zeit davon aus, dass es zwei Geschlechter gebe
(Gen 1,27) und jede Abweichung von heterosexuellen Praktiken eine bewusste
Verleugnung und Pervertierung dieser „Realität“ sei.

4.2. R i ch ter 19: Di e M än n er von Gi b ea

In der gleichen Weise wie die Sodomiter verfahren „nichtsnutzige Männer“
(Zürcher Bibel), „übles Gesindel“ (Einheitsübersetzung) in der benjaminitischen
Stadt → Gibea (Ri 19,22): Sie fordern, dass ein Gast zu ihnen herausgebracht
wird, damit sie ihn „erkennen“ können. Auch hier ist die sexuelle Komponente
gemeint, aber es geht nicht um Homosexualität: Die Männer wollen den Gast
(und damit auch seinen Gastgeber) durch Analpenetration erniedrigen (Himbaza /
Schenker / Edart, 18). Diesmal gibt der Gast seine Nebenfrau heraus und die
Meute ist damit zufrieden, sie die ganze Nacht zu vergewaltigen. Das überlebt die
Frau nicht. Der Erzähltext verurteilt diese grauenvolle Schandtat der
Benjaminiten aufs Äußerste (Ri 19,30). In ihrer Folge kommt es zu einem blutigen
Bürgerkrieg (Ri 20-21). Die Erzählkonstellation ist etwas anders als in Gen 19,
aber für das Thema Homosexualität ist aus beiden Narrativen nichts zu erheben,
was über die schon skizzierte altorientalisch-antike Sichtweise hinausgeht
(Nissinen 1998, 49-52; Siker, 371; Römer, 218-221). Gerade eine komplementäre
Lektüre von Ri 19 und Gen 19 zeigt, dass es jeweils um einen Angri auf den
schutzlosen Gast geht und somit Sexualität als Machtmittel eingesetzt und
missbraucht wird. Dieser Aspekt wird von beiden Geschichten abgelehnt, und
hier ist eine hermeneutische Brücke in heutige Diskurse um Sexualität und Macht
zu gewinnen, das heißt, auch heute ist willkürliche Machtausübung in Form

WiBiLex | Homosexualität (AT)                                                 13
sexueller Übergri e zu verurteilen. Umgekehrt wird aber auch deutlich: Man darf
in diese Geschichten nicht das Konzept von Homosexualität hineinlesen, wie es
heute verstanden wird. Dies wäre eine menschenverachtende Kriminalisierung
von gleichberechtigten Partnern, die sich liebevoll auf Augenhöhe begegnen und
Verantwortung füreinander übernehmen. In den biblischen Texten geht es nicht
um Personen, deren sexuelle Orientierung auf Angehörige des gleichen
Geschlechts gerichtet ist. Wie schon betont wurde, können nicht alle Bewohner
von Sodom als Homosexuelle bezeichnet werden. Auch die „nichtsnutzigen
Männer“ von Gibea kann man nicht als Homosexuelle bezeichnen, da sie eine
Frau vergewaltigt haben. In diesen Texten sind geschlechtliche bzw.
gleichgeschlechtliche Handlungen auf eine einmalige Episode beschränkt. Sie
werden nicht als ein Verlangen oder als ein konstitutives Merkmal der Psyche
verstanden (vgl. Himbaza / Schenker / Edart, 22).

4.3. Gen esi s 9: K ei n e Sexu al i tät

In der Begebenheit zwischen → Ham und seinem Vater → Noah (Gen 9,20-27)
wird Nacktheit, aber nicht Sexualität thematisiert: Ham sieht, wie sein Vater Noah
nach dem Genuss des ersten Weines betrunken und nackt vor seinem Zelt liegt.
Statt ihn zu bedecken, erzählt Ham die Sache seinen Brüdern, die ihn dann mit
abgewandtem Gesicht verhüllen. Der „Frevel Hams“ besteht nicht in sexuellen
Handlungen Hams, sondern darin, dass „Ham den für den Zusammenhalt der
Gesellschaft notwendigen Respekt des Jüngeren gegenüber dem Älteren nicht
erbracht hat“ (Hieke 2003, 95). Es geht dabei auch und vor allem um „Ehre und
Schande“ (honor and shame), also um den leiblichen Status Noahs: Durch seine
Trunkenheit und Selbstentblößung ist Noahs Ehre und sein sozialer Status
gefährdet (→ Scham / Schande). Aufgabe der Söhne wäre es, diese Ehre
wiederherzustellen. Ham verweigert diesen Respekt, die anderen beiden Söhne
handeln dagegen richtig (Bauks, 385).

     Dagegen nimmt Nissinen 1998, 52-53, an, Ham habe durch einen
     gleichgeschlechtlichen Akt seinen Vater erniedrigen wollen (in Analogie zum
     altägyptischen Mythos von Horus und Seth). Bergsma / Hahn, 39-40,
     vermuten einen heterosexuellen Inzest zwischen Ham und seiner Mutter (also
     Noahs Frau). Aus dieser Verbindung geht als Sohn Kanaan hervor, der
     schließlich auch von Noah ver ucht wird. In keinem Fall ist hier eine
     homosexuelle Neigung Hams in den Text zu lesen.

5. Freundschaft und Liebe: David und Jonatan
(1Sam 18–20; 2Sam 1,26), Rut und Noomi (Rut)
5.1. Davi d u n d Jon atan (1Sam 18–20; 2Sam 1, 26)

14                                                      WiBiLex | Homosexualität (AT)
Auf der Suche nach positiven Äußerungen der Bibel zu homoerotischen
Beziehungen verweist man auf die Freundschaft zwischen → David und →
Jonatan (Harding, 51-121; Fischer, 73-76). Dabei werden auch Ähnlichkeiten zur
Beziehung von → Gilgamesch und Enkidu gesehen (Römer, 221-228).
Insbesondere wird der Satz in Davids Klage um → Saul und Jonatan in 2Sam 1,26
hervorgehoben: „Weh ist mir um dich, mein Bruder Jonatan. Du warst mir sehr
lieb. Wunderbarer war deine Liebe für mich als die Liebe der Frauen“
(Einheitsübersetzung). In diesem Klagegedicht wird in poetischer Weise die tiefe
Freundschaft zwischen David und dem Saul-Sohn Jonatan ausgedrückt (→
Freundschaft), wie sie auch schon in 1Sam 18,1-4 vorgestellt wurde. Hier werden
Zeichen der Zuneigung und Freundschaft, aber auch der politischen Symbolik
gesetzt. Die Wendung „Jonatan liebte David wie sein eigenes Leben“ verwirklicht
sich im weiteren Erzählverlauf wörtlich: Als Jonatans Vater Saul David zu hassen
und zu verfolgen beginnt, hält Jonatan unter Gefahr für sein eigenes Leben an
seiner Freundschaft zu David fest, warnt ihn vor den Plänen seines Vaters und
unterstützt David. Die Begri e „Liebe“ und „Bund“ können gerade in der David-
Jonatan-Geschichte und ihrem Kontext auch theologisch und politisch gemeint
sein (s. u.a. Dietrich, 417-419); schließlich heißt es in 1Sam 18,16: „Ganz Israel
und Juda aber liebte David.“ In einer dramatischen Abschiedsszene küssen sich
David und Jonatan (1Sam 20,41), was kein zwingender Hinweis auf eine
homoerotische Beziehung ist (Dietrich, 547). Vielleicht deutet die Erzählung damit
in Analogie zu 1Sam 10,1 die Einsetzung des künftigen Königs an (Harding, 107).
Saul selbst hat kurz zuvor seinem Sohn Jonatan vorgeworfen, „den Sohn Isais“
(David) „erwählt“ zu haben – zu seiner eigenen Schande und zur Schande des
Schoßes seiner Mutter (1Sam 20,30). Die Erzählung zeigt mit dem Ausbruch
Sauls, dass die innige Freundschaft zwischen David und Jonatan das für
Männerfreundschaften Übliche überschritt – wie David auch in anderen
Bereichen Grenzen und Konventionen überschritt und sich in vielen Dingen als
außergewöhnlich       hervortat.   Die David-Jonatan-Erzählung        will  dieser
Männerbeziehung ein ganz besonderes Gewicht geben und reiht sie in die vielen
„ungewöhnlichen“ Dinge ein, die David getan und geleistet hat. Gerade deshalb
ist es eher unwahrscheinlich, dass die Erzählung eine homosexuelle Beziehung
im heutigen Sinne in den Vordergrund stellen will (Himbaza / Schenker / Edart,
41). Nach einem ausführlichen Exkurs zu den verschiedenen Positionen zu dieser
Frage hält Dietrich (414-417) fest, dass sich die David-Jonatan-Geschichten weder
dazu eignen, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu verfemen, noch dazu, die
Beziehung der beiden als vorbildliche homosexuelle Partnerschaft zu preisen. Bei
David müsste man ohnehin von einer „Bisexualität“ im heutigen Sinne ausgehen,
denn David hatte viele Frauen in seinem Leben. Die Beziehung zur Frau des Urija
(→ Batseba) wird Davids Karriere entscheidend beeinträchtigen. Von Jonatan aber
ist kein zu Davids Äußerung im Klagegebet (2Sam 1,16) vergleichbares Statement
überliefert und es gibt vonseiten Jonatans keinen Hinweis auf eine homosexuelle
Betätigung, also einen sexuellen Akt zwischen David und Jonatan (Nissinen 1998,
55; Josephus erwähnt in seiner Nacherzählung der David-Jonatan-Beziehung

WiBiLex | Homosexualität (AT)                                                  15
keine sexuelle Komponente, Antiquitates 6,206.241.275-276; 7,5.111; Text gr.
und lat. Autoren; s. auch Loader, 135-136). Dass David die Liebe Jonatans lieber
war als Frauenliebe, kann viele Gründe haben, kaum aber sexuelle, denn es ist
nicht erkennbar, dass David mit Frauen weniger sexuelle Freude gehabt hätte. In
der Erzählung kennt die Beziehung zwischen David und Jonatan auch keinen
„aktiven“ und „passiven“ Part (anders als in den klassischen Gender-Stereotypen
der Mann-Frau-Beziehung, wobei aber die „Unterlegenheit“ der Frau in Gen 3,16
als Strafe und Daseinsminderung, nicht aber als ursprünglicher Wille des
Schöpfers gedeutet wird).

5.2. R u t u n d N oomi (R u t); wei b l i ch e Homosexu al i tät

Irmtraud Fischer deutet die Beziehung zwischen → Rut und ihrer
Schwiegermutter Noomi im Buch Rut als eine „erfüllte gleichgeschlechtliche
Liebesbeziehung“ (Fischer, 71-73). Insbesondere die Wendung, dass Rut an
Noomi „hängt“ (Rut 1,14; hebräisch ‫ה‬        ָ ְ‫ ו ְרו ּת ׇד ּב‬wəRût dāvqāh bāh ), wird mit der
                                    ּ ּ ‫קה בׇ‬
gleichen Wurzel dbq ausgedrückt, mit der die Beziehung von → Mann und → Frau
in Gen 2,24 beschrieben wird und mit der die Beziehung zu den Eltern gegenüber
der Partnerbeziehung sekundär wird. Rut geht nicht zu ihren Eltern zurück,
sondern wähle, so Fischer, Noomi als Lebenspartnerin – zu einer Beziehung, die
bis zum Tode gehen soll (Rut 1,16-17: „nur der Tod wird mich von dir scheiden“).
Ruts zukünftiger Ehemann Boas schätzt Ruts Beziehung zu Noomi (Rut 2,11) und
bezieht Noomi in die „Lösung“ mit ein. Die Frauen → Betlehems betonen, dass
Rut Noomi liebt (Rut 4,15). Freilich lässt der Text weitestgehend o en, wie weit
der Grad der sexuellen Komponente bei Rut und Noomi geht.

Sieht man von Rut und Noomi (und evtl. → Judit und ihrer Dienerin, s. Fischer,
102) ab, fehlen weibliche Perspektiven auf das Thema Homosexualität im Alten
Testament, ebenso weitere LGBTQIA+-Konstellationen (Leuenberger, 223).
Warum dies so ist, kann aus den vorausgehenden Ausführungen zum biblischen
Israel und seiner Umwelt erschlossen werden: Bei weiblicher Homosexualität
geht es weder um Penetration noch um Über- bzw. Unterlegenheit, weder um
„Ehre“ oder „Schande“ noch um Aktivität und kriegerische Kraft, noch um Verlust
von Samen zur Zeugung von Nachkommen. Damit entfallen für Frauen die
wenigen Kontexte, in denen überhaupt von gleichgeschlechtlichen Akten unter
Männern gesprochen wird. Anders gesagt: Es entfällt für etwaige weibliche
Homosexualität die die Gesellschaft bzw. die jeweilige Gemeinschaft
gefährdende Dimension.

5.3. Hermen eu ti sch e Üb erl eg u n g en

Dass eine heutige Leserschaft eine homosexuelle Beziehung zwischen David und
Jonatan (und vielleicht auch zwischen Rut und Noomi bzw. Judit und ihrer
Dienerin) sehen will, liegt in der O enheit des Textes (Harding, 122-273), der die
Phantasie der Rezipierenden kaum beschränkt. Die David-Jonatan-Erzählung

16                                                               WiBiLex | Homosexualität (AT)
sollte aber nicht als eine „biblische Legitimation“ von homoerotischen und
homosexuellen Praktiken (und damit als eine Art Aufhebung von Lev 18,22; Lev
20,13) herangezogen werden, zumal aus erzählenden Texten nicht unmittelbar
gesellschaftliche Normen abgeleitet werden können. Gleichwohl ist das Interesse
mancher Auslegungen greifbar, in der erzählten Beziehung eine homosexuelle zu
sehen, um dies letztlich als „biblischen Beleg“ für die Billigung homosexueller
Praktiken heranzuziehen (vgl. z.B. Harding, 100, und die Zusammenfassung ebd.,
403). So werden aber biblische Texte als „Beweismaterial“ für eigene Interessen
missbraucht. Die gleiche Art von Missbrauch von Texten ndet statt, wenn man
Lev 18,22 und Lev 20,13 aus dem literarischen Kontext und der Sozialgeschichte
löst und als „absolute Wahrheiten“ für eine rigide Sexualmoral auswertet. Die je
unterschiedliche Interpretation der David-Jonatan-Beziehung (sowie der
vermuteten Beziehungen von Frauen) ist ein Teil jenes Prozesses, in dem die
moderne Konzeption von Homosexualität selbst entstand. Es ist heutzutage
geradezu unmöglich, die Texte, die von der Liebe zwischen David und Jonatan
(bzw. Rut und Noomi, Judit und ihrer Dienerin) sprechen, nicht auch mit einem
wenigstens vagen Eindruck einer homoerotischen Beziehung zu lesen (Harding,
403-404).

6. Zur Funktion von Sexualität in Gen 1 und 2
6.1. Gen 1, 27- 28

In der Diskussion um „Homosexualität und Altes Testament“ wird bisweilen Gen
1,27-28 mit den Worten „Als Mann und Frau erschuf er sie“ zitiert. Mit dieser
Übersetzung verbindet sich das Interesse, ein binäres Geschlechterverhältnis
biblisch zu begründen, Sexualität auf Vermehrung engzuführen und die Ehe auf
eine Verbindung von Mann und Frau zu beschränken. Allerdings ist Gen 1,27 mit
„männlich und weiblich“ wiederzugeben (Scoralick, 61-77, bes. 67). Es wird im
hebräischen Text nur festgestellt, dass es beim Menschen Männliches und
Weibliches (im biologisch-sexuellen Sinne) gibt (Leuenberger, 216). Wenn sie sich
paaren, gibt es Nachkommen. Diese Alltagsbeobachtung wird bei Gott als
Schöpfer verankert; dabei „werden alle weiteren gesellschaftlichen (Rollen-) und
Genderkonstruktionen unterlaufen und als nachrangig taxiert: Die Erscha ung
des Menschen als ‚Männchen‘ und ‚Weibchen‘ unterstreicht deren
schöpfungstheologische Gleichrangig- und Gleichwertigkeit; sie insinuiert also
gerade nicht irgendwelche ökonomischen, sozialen, ethnischen oder
genderspezi schen Statusdi erenzen“ (Leuenberger, 217). In sprachlicher
Hinsicht verwendet Gen 1 das Stilmittel des Merismus, das eine Gesamtheit
durch ihre beiden äußeren Pole bezeichnet. Insofern umfassen „Himmel und
Erde“ die ganze Welt, „Meer und Land“ auch das Watt und den Strand, „Licht und
Finsternis“ bzw. „Tag und Nacht“ auch die Dämmerung und die Morgenröte.
Daraus kann geschlossen werden, dass in „männlich und weiblich“ „alle Facetten

WiBiLex | Homosexualität (AT)                                                 17
des Geschlechtlichen im Schöpfungsdesign enthalten“ sind (Fischer, 47;
di erenziert dazu Leuenberger, 217-218). Diese Welt kennt also noch viel mehr
als das, was Gen 1 im Einzelnen aufzählt – z.B. mehr Tier- und P anzenarten
oder Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe. All das hat Gott gemacht, „und
siehe, es war sehr gut“ (Gen 1,31) – auch das, was nicht ausdrücklich erwähnt
wird, aber dennoch vorhanden ist. Wie die Hautfarben liegen auch die
verschiedenen sexuellen Orientierungen nicht in der Entscheidungsfreiheit des
Menschen. Sie sind nach heutiger medizinisch-psychologischer Erkenntnis auch
keine zu heilenden Krankheiten. Damit aber sind sie ein Teil von Gottes guter →
Schöpfung.

6.2. Gen 2, 18- 24

Nach Gen 2,18 dient die Di erenzierung in Geschlechter nicht ausschließlich der
Zeugung von Nachkommenschaft, denn das in diesem Vers festgestellte De zit in
Gottes „sehr guter“ Schöpfung (Gen 1,31) besteht darin, dass es nicht gut ist, dass
der Mensch „allein“ ist. Die zunächst gescha enen Tiere bringen keine Abhilfe.
Mit dem aus dem Menschen entnommenen Baumaterial baut Gott die
„entsprechende, ebenbürtige Hilfe“. Die Frau als neue Kreatur ist damit auf
gleicher Ebene wie der zuerst gescha ene Mensch, der sich dann erst als „Mann“
definiert (Gen 2,23). Sexuelle Vereinigung, in der mythisch-biblischen Bildsprache
als „ein Fleisch werden“ poetisch gefasst, dient damit nicht ausschließlich der
Fortp anzung, sondern vor allem der Abhilfe von Vereinzelung und
Vereinsamung (Fischer, 48-53). Auch hier gilt, was oben zu Gen 1 gesagt wurde:
Der Text beschreibt mit der geschlechtlichen Vereinigung von Mann und Frau
Normalität, aber formuliert keine Normen, die andere Varianten sexueller
Zweisamkeit kategorisch ausschließen würden. Der Kerngedanke, nämlich die
Überwindung des nicht guten Zustands des Alleinseins durch eine
„entsprechende bzw. ebenbürtige Hilfe“ ist „geschlechtsunabhängig konzipiert“
(Leuenberger, 221). Mit anderen Worten: Man kann aus den Genesistexten
schließen, wie Gott menschliche Sexualität will: als fruchtbare Zweisamkeit von
Männlichem und Weiblichem, Mann und Frau als ebenbürtige Partner. Man kann
daraus nicht schließen, dass es gegen Gottes Willen sei, dass Menschen, die ihre
sexuelle Orientierung als auf das gleiche Geschlecht hin ausgerichtet erfahren, in
gleichgeschlechtlicher Vereinigung als ebenbürtige Partner Liebe, Verantwortung
und Erfüllung erleben.

7. Zusammenfassung
Da das Alte Testament das moderne Konzept von Homosexualität nicht kennt,
kann man auch nicht sagen, dass es Homosexualität verurteile. Für die gesamte
Antike gilt, dass (1) das heutige di erenzierte Konzept von Homosexualität als
vieldimensionales Phänomen und integrierter Bestandteil einer Persönlichkeit so
nicht bekannt war und (2) das Thema bei Weitem nicht den Stellenwert hatte, den

18                                                       WiBiLex | Homosexualität (AT)
Sie können auch lesen