Die Branche Detailhandel - Analyse, Ziele und Forderungen der Unia
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Vorwort Der Detailhandel ist mit über 320 000 Beschäftigten die zweitgrösste Branche der Schweiz. Zudem bildet sie rund 26 000 Lehrlinge aus und ist damit die grösste Lehrlingsausbildnerin. Die Arbeitsbedingungen im Detailhandel jedoch sind ungenügend: Die Arbeitszeiten sind lang, die Löhne tief und prekäre Arbeitsbedingungen weit verbreitet. Jede zehnte beschäf tigte Person verdient für ein Vollzeitpensum weniger als 3673 Franken im Monat. Weder Ausbildung noch Berufserfahrung werden genügend honoriert. Die Produktivität pro Arbeits kraft dagegen ist im Detailhandel zwischen 2000 und 2009 um ganze 23 Prozent gestiegen. Das bedeutet: Weniger Beschäftigte leisten immer mehr und müssen erst noch längere Öffnungszeiten abdecken. Dies führt für die Beschäftigten zu mehr Stress und gefährdet ihre Gesundheit. Angesichts der schwierigen Arbeitsbedingungen im Detailhandel wäre eine branchenweite sozialpartnerschaftliche Regulierung bzw. ein effektiver Schutz der Arbeit nehmenden besonders wichtig. Doch genau dieser fehlt: Ein nationaler branchenweiter Ge samtarbeitsvertrag, wie er für diese wichtige Branche eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, existiert nicht. Mit 13 500 Mitgliedern ist die Gewerkschaft Unia die grösste Gewerkschaft im Detailhandel. Als Vertragspartner des Gesamtarbeitsvertrages Coop – aber auch aller bestehenden allge meinverbindlichen kantonalen und lokalen Branchen-Gesamtarbeitsverträge – setzt sich die Unia für bessere Arbeitsbedingungen ein. Mit rund 200 000 Mitgliedern ist die interprofes sionelle Unia die grösste Gewerkschaft in der Schweiz. Die Unia ist auf dem Terrain präsent und verfügt darüber hinaus über ein breites Netz von rund 90 lokalen Sekretariaten in der ganzen Schweiz und ist so nahe bei den Anliegen des Personals im Detailhandel. In der vorliegenden Broschüre liefern wir eine Analyse der eingangs skizzierten Punkte. In einem Grundlagenteil werden die wirtschaftliche Entwicklung der Branche und ihr Stellen wert erörtert. Besonders analysiert werden der Strukturwandel der letzten Jahre und die fortschreitende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. In den Anhängen werden zudem Steckbriefe der wichtigsten Player der Branche zusammengetragen (sowohl in der Sparte Nahrungsmittel als auch in den verschiedenen Subbranchen). Diese Analysen zeigen, dass der Detailhandel grosses Potential hat, um gute Arbeitsbedin gungen zu bieten. Im Perspektiventeil definiert die Gewerkschaft Unia deshalb zusammen mit den Mitgliedern des Detailhandels Ziele für die Branche. Die von der Branchenkonferenz Detailhandel diskutierten und verabschiedeten Ziele sind drei: Aufwertung des Verkaufsbe rufes; gute Arbeitsplätze mit verantwortlicher Arbeitszeitpolitik; Stärkung des gesetzlichen, sozialpartnerschaftlichen und vertraglichen Rahmens für eine nachhaltige Stärkung der Branche. Dabei werden die Problemfelder eruiert und Vorschläge bzw. Forderungen formu liert, wie die Ziele zu erreichen sind und das Potential zu nutzen ist. Vania Alleva Leiterin Sektor Tertiär und Mitglied der Geschäftsleitung Unia
Impressum Herausgeberin: Gewerkschaft Unia | Redaktion: José Corpataux, SGB; Eva Geel, Unia; Vania Alleva, Unia; Anne Rubin, Unia | Grafik: Carole Lonati, Esther Wickli | Druck: Unia, Bern | Auflage: 350 Exemplare | Zu beziehen bei: Unia Zentralsekretariat, Postfach 272, CH-3000 Bern 15 | Bern, Juni 2012 4
Inhaltsverzeichnis Grundlagen 6 1. Überblick 6 2. Zweitgrösste Branche der Schweiz, dominiert von Coop und Migros 8 2.1 Entwicklung seit 2000: Beschäftigung geht zurück, Produktivität steigt 8 2.2 Migros und Coop dominieren 11 3. Charakter der Branche: hoher Frauenanteil und tiefe Löhne 13 3.1 Frauen- und Teilzeitarbeit 13 3.2 Migranten und Migrantinnen 16 3.3 Lehrlinge, Aus- und Weiterbildung 18 3.4 Löhne 21 4. Detailhandel – eine Branche im permanenten Strukturwandel 28 4.1 Konzentrations- und Rationalisierungsprozess 28 4.2 Harddiscounter, Tankstellen- und Convenienceshops 30 4.3 Starker Filialisierungstrend, unabhängige Detaillisten verschwinden 32 4.4 Scheinselbständigkeit durch Franchising 35 5. Verschlechterung der Arbeitsbedingungen 36 5.1 Arbeitszeiten, Stress und Gesundheit 38 5.2 Organisationen der Arbeitgeber 42 5.3 Organisationen der Arbeitnehmenden 44 5.4 Gesamtarbeitsverträge im Detailhandel 45 Perspektiven – Ziele und Vorschläge der Unia 48 6. Handlungsperspektiven 48 6.1 Ziel 1: Aufwertung des Verkaufsberufes 48 6.2 Ziel 2: Gute Arbeitsplätze mit verantwortlicher Arbeitszeitpolitik 50 6.3 Ziel 3: Stärkung des gesetzlichen, sozialpartnerschaftlichen und vertraglichen Rahmens 53 für eine nachhaltige Stärkung der Branche Anhänge 54 Anhang A: Die wichtigsten Markteilnehmer in der Sparte Nahrungsmittel 54 Anhang B: Die wichtigsten Teilnehmer in verschiedenen Subbranchen 62 5
Grundlagen – Überblick 1. Überblick Der Detailhandel ist für die Schweizer Wirtschaft von zentraler Wichtigkeit. Die Branche erwirtschaftet knapp 5 Prozent der natio- nalen Wertschöpfung und beschäftigte im Jahr 2011 über 321 000 Personen. Das sind 7,4 Prozent aller Beschäftigten in der Schweiz. Damit ist der arbeitsintensive Detailhandel der zweitgrösste Ar- beitgeber der Schweiz. 6
Die Branche weist spezifische Eigenschaften auf: So sind grösstenteils Frauen im Detailhan del beschäftigt, und sie arbeiten meist Teilzeit. Obwohl der Detailhandel von allen Branchen die meisten Ausbildungsplätze anbietet, sind die Aufstiegsmöglichkeiten sehr gering. Ein überwiegender Teil der Angestellten hat denn auch keine Führungsfunktion inne; ein Phä nomen, das unter den weiblichen Beschäftigten noch ausgeprägter ist. Dazu kommt, dass die Löhne im Vergleich zu anderen Branchen sehr niedrig sind. Klare Markführer sind die beiden einheimischen Detailhandelsriesen Migros und Coop, die ihre Vormachtstellung in den letzten Jahren trotz zunehmender internationaler Konkurrenz ausbauen konnten. Allerdings ist auch festzuhalten, dass der Detailhandel zahlreichen strukturellen Veränderungen unterworfen war und immer noch ist. Dazu gehören: n Konkurrenzkampf und Konzentration: Die grossen Marktteilnehmer haben zahlreiche Unternehmen aufgekauft. Mit dem Markteintritt der Harddiscounter aus Deutschland verstärkt sich der Konkurrenzkampf in der Schweiz weiter. n Filialisierung und neue Formate: Die Anzahl der Tankstellen- und Convenience-Shops hat in einer Dekade beinahe um das Doppelte zugenommen. Diese neuen Formate werden häufig in Franchise eines grossen Detailhandelsunternehmens geführt. Generell ist die Branche gekennzeichnet durch eine starke und wachsende Filialisierung. n Rationalisierungsprozesse und Personalabbau haben die Produktivität der Angestellten erheblich erhöht, die Umsätze und Gewinne in der Branche sind entsprechend gestiegen. Der erbitterte Kampf um Marktanteile hat fatale Folgen für das Verkaufspersonal: n Rationalisierungs- und Sparmassnahmen verschlechtern die Arbeitsbedingungen. n Der Stress am Arbeitsplatz ist in den letzten Jahren durch die permanente Verlängerung der Ladenöffnungszeiten und den Personalabbau massiv gestiegen. Kapitel 6 zeigt die gewerkschaftlichen Handlungsperspektiven hinsichtlich dieser proble matischen Entwicklung auf. 7
Grundlagen – Zweitgrösste Branche 2. Zweitgrösste Branche der Schweiz, dominiert von Coop und Migros 2.1 Entwicklung seit 2000: Beschäftigung geht zurück, Produktivität steigt Der Detailhandel ist eine der grössten Branchen der Schweiz, auch wenn die Beschäfti gung stark zurückgegangen ist und seit 2006 stagniert. Aktuell zählt der Detailhandel über 321 000 Arbeitsplätze. Umgerechnet auf 100 %-Pensen ergibt das 253 500 Arbeitsstellen, was rund 7,4 % des gesamten Schweizer Arbeitsmarktes ausmacht (Grafik 2.1.1). Grafik 2.1.1: Beschäftigungsanteil der Branchen in Prozent an der Gesamtwirtschaft, 2011* 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 Baugewerbe Gesundheitswesen Grosshandel Erziehung und Unterricht Öffentliche Verwaltung Erbringung von Finanzdienstleistungen Sozialmedizinische Einrichtungen Gastgewerbe/ Beherbergung Sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen Herstellung von Datenver- arbeitungsgeräten und Uhren Herstellung von Metallerzeugnissen Architektur und Ingenieurwesen Güterverkehr auf dem Landweg und Rohrleitungen Maschinenbau Detailhandel *ohne Landwirtschaft Quelle: BFS (Bundesamt für Statistik) 8
Im Vergleich zu den vier Nachbarländern Österreich, Deutschland, Frankreich und Italien klassiert sich der Schweizer Detailhandel mit seinem Beschäftigungsanteil von 7,4 % in der Mitte. In Österreich und Deutschland arbeiten – gemessen an der Gesamtbeschäftigung – mehr Menschen im Detailhandel, in Italien und Frankreich weniger (Grafik 2.1.2). Gleichzei tig ist aber die Wertschöpfung der schweizerischen Detailhandelsbranche vergleichsweise hoch. 2009 lag sie bei 4,7 Prozent. Nur Österreich lag höher mit 4,8 Prozent. In Deutschland machte dieser Anteil im Jahr 2009 nur gerade 3,6 Prozent aus. Grafik 2.1.2: Anteil des Detailhandels an der Wertschöpfung und der Beschäftigung in diversen Ländern, 2009 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 Anteil (in %) an der Wertschöpfung 0 Anteil (in %) an der Gesamtbeschäftigung Österreich Deutschland Schweiz Italien Frankreich Quelle: Eurostat, mit Ausnahme der Wertschöpfung in der Schweiz (Quellen: BFS/Seco) 9
Grundlagen – Zweitgrösste Branche Die Arbeitsproduktivität1 ist in den letzten Jahren enorm gestiegen – zwischen 2000 und 2009 um gute 23 Prozent (Grafik 2.1.3). Das heisst, ein Angestellter/eine Angestellte pro duziert im Detailhandel heute weit mehr als früher. Zurückzuführen ist dies auf effizientere und rationellere Arbeitsabläufe, aber auch auf den Personalabbau und den vermehrten Druck auf das Personal (siehe Kapitel 5). Zum Vergleich: Im selben Zeitraum stieg die reale Arbeitsproduktivität in der gesamten Schweizer Wirtschaft nur gerade um 5 %. Auch die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008–2009 hat der schweizerische Detailhandel bisher vergleichsweise gut überstanden, da die Migrationsbevölkerung wächst und den Geschäftsgang im Detailhandel durch ihren Konsum stützt. Grafik 2.1.3: Entwicklung von Produktivität und Beschäftigung in Detailhandel und Gesamtwirtschaft, 2000–2009, in % 25 20 15 10 5 0 Detailhandel Schweizer Wirtschaft -5 (ohne Landwirtschaft) Reale Arbeitsproduktivität Entwicklung pro Vollzeitstelle, in % der Beschäftigung, in % Quelle: Seco/BFS, eigene Berechnungen 1 Die Arbeitsproduktivität misst den Zusammenhang zwischen den produzierten Waren oder Dienstleistungen und den Arbeitsstunden, die dafür verwendet wurden. Wenn also die Arbeitsproduktivität pro Person zunimmt, heisst dies, dass die Beschäftigten in einem gewissen Zeitraum mehr Waren oder Dienstleistungen produziert haben. 10
2.2 Migros und Coop dominieren Die Detailhandelsbranche verfügt über eine beinahe duopolistisch geprägte Struktur. Ein Blick auf die Umsatzzahlen der zehn grössten Schweizer Detailhändler zeigt, dass Migros und Coop den Markt klar dominieren (Tabelle 2.2.1). Sie registrierten 2010 einen Umsatz von 19,6 Milliarden respektive 16,9 Milliarden Franken und übertrafen damit die anderen Marktteilnehmer bei weitem. Manor zum Beispiel nähert sich als drittgrösstes Unternehmen knapp der 3-Milliarden-Marke. Tabelle 2.2.1: Die 10 grössten Schweizer Detailhändler gemäss Umsatzzahlen im Jahr 2010 Detailhändler Umsatz 2010 Rechtsform Beschäftigte in Millionen CHF3 Migros1 19’613 Genossenschaft ca. 86’000 Coop2 16’925 Genossenschaft knapp 53’000 (ohne Transgourmet) Manor 2’988 Aktiengesellschaft, im Besitz der Maus 11’799 Frères Holding in Genf Aldi Suisse 1’410 Aktiengesellschaft, im Besitz der über 2’000 Aldi Süd AG (Mühlheim an der Ruhr/D) Volg Gruppe4 1’295 AG ca. 3’000 (ohne Visavis und Tankstellenshops) Landi4 1’100 AG ca. 300 Media Markt Schweiz 1’038 AG, im Besitz der Media Saturn Holding, ca. 1’160 die sich wiederum im Besitz der Metro- Gruppe befindet (beide in Ingolstadt/D) Ikea 987 AG, im Besitz der Ingka-Stiftung ca 3’000 (Leiden/NL) Valora 974 AG 5’801 Dosenbach-Ochsner 949 AG, im Besitz der Deichmann-Gruppe 3’896 (Essen/D) Quelle: Detailhandel Schweiz 2011, GFK Switzerland, Sites der diversen Unternehmen 1 Mit Denner und anderen Tochtergesellschaften 2 Mit Interdiscount, Fust und anderen Tochtergesellschaften 3 Diese Zahlen beinhalten nur die Geschäftstätigkeiten in der Schweiz. Die Migros und die Coop-Gruppe sind je doch nicht nur im Schweizer Detailhandel tätig. Daher ergibt sich zwischen den oben erwähnten Zahlen und den in den Geschäftsbericht publizierten Zahlen teilweise eine Differenz. 4 Volg und Landi sind Unternehmen der Fenaco (Volg betreibt u.a. eigene Läden, die Landi ist ein Vertriebs- und Dienstleistungsunternehmen). 11
Grundlagen – Zweitgrösste Branche Die gesamte Detailhandelsbranche erwirtschaftete 2010 einen Umsatz von 97,8 Milliarden Franken. Die Subbranche «Nahrungsmittel» bildet dabei den grössten Bereich und verbucht mit einem Umsatz von 48.3 Milliarden beinahe 50 Prozent. Die Grafik 2.2.2 zeigt die Bedeu tung der Sektoren punkto Beschäftigung (siehe auch Anhänge). Tabelle 2.2.2 Beschäftigung nach Sparten, in % 40 37 35 30 25 20 16 15 12 10 7 7 5 5 5 4 3 2 2 0 Nahrungs- und Genussmittel Textilien, Bekleidung und Schuhe Consumer Electronics Warenhäuser, div. Printmedien Möbel, Wohnungseinrichtung Do-it-yourself Körperpflege Apotheken nicht-stationärer Detailhandel Sonstiger Detailhandel Quelle: Die Volkswirtschaft 12/2007 Das Wichtigste in Kürze: n Der Detailhandel ist einer der grössten Arbeitgeber der Schweiz. n Im letzten Jahrzehnt hat die Arbeitsproduktivität pro Mitarbeitender im Vergleich zur Ge samtwirtschaft stark zugenommen. Die Produktivität im schweizerischen Detailhandel ist auch höher als im benachbarten Ausland. n Die Branche wird klar dominiert von Migros und Coop. 12
3. Charakter der Branche: hoher Frauenanteil und tiefe Löhne 3.1 Frauen- und Teilzeitarbeit Der Detailhandel weist zwei spezifische Eigenschaften auf. Vor allem Frauen arbeiten in der Branche. Dies im Gegensatz zur Gesamtwirtschaft, wo die Frauen mit 43,9 % noch in der Minderheit sind. Im Detailhandel arbeiten über 213 000 Frauen, dies macht bei insgesamt 321 000 Angestellten beinahe 67 Prozent der Beschäftigten aus. Nur gerade 33,6 Prozent der Arbeitsplätze werden durch Männer besetzt, was etwa 108 000 Stellen entspricht (Grafik 3.1.1). Grafik 3.1.1: Beschäftigung nach Geschlecht in %, 2011 Detailhandel 33.6 66.4 Sekundärer und tertiärer Sektor zusammen 56.1 43.9 Männer Frauen 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Quelle: Beschäftigungsstatistik (BESTA), BFS 13
Grundlagen – Branchencharakter Zudem gibt es im Vergleich zur Gesamtwirtschaft sehr viele Teilzeitstellen. Im Jahr 2011 machte die Teilzeitarbeit 31 Prozent aller Stellen im Sekundär- und Tertiärsektor aus. Im Detailhandel lag dieser Anteil wesentlich höher und machte beinahe 41 Prozent aus. n 24 Prozent der Personen im Detailhandel haben eine Stelle, die als «Teilzeit 1» definiert ist. Dies bezeichnet Teilzeitarbeit zwischen 50 und 89 Prozent (gegenüber 19 % in der Schweizer Wirtschaft). n 16,7 Prozent belegen eine «Teilzeit 2»-Stelle. Dies bezeichnet Teilzeitarbeit unter 50 Pro zent (gegenüber 12 % in der Schweizer Wirtschaft). Die Aufschlüsselung nach Geschlechtern zeigt, dass die Teilzeitarbeit in erster Linie Frauen betrifft, und das sowohl in der gesamten Schweizer Wirtschaft als auch im Detailhandel (Grafik 3.1.2). In der Gesamtwirtschaft arbeiten 53,7 Prozent der Frauen Teilzeit, im Detail handel sind es mit 53,2 Prozent praktisch gleich viel. Männer hingegen arbeiten nur gerade zu 15,9 Prozent Teilzeit (in der Gesamtwirtschaft zu 13,2 Prozent). Grafik 3.1.2: Voll- und Teilzeitstellen, Aufteilung nach Geschlecht und Beschäftigungsgrad in %, 2011 Sek. u. Tert. Sektor Frauen 46.3 33.0 20.7 zusammen Männer 86.8 8.0 5.2 Detailhandel Frauen 46.8 31.5 21.7 Männer 84.1 9.2 6.7 Vollzeit Teilzeit 1 Teilzeit 2 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Quelle: Beschäftigungsstatistik (BESTA), BFS 14
Nicht nur, dass Frauen häufig Teilzeit arbeiten – sie verfügen meist auch über niedriger qualifizierte Stellen als Männer. So sind Frauen in Stellen ohne Führungsfunktion über proportional vertreten: 67,7 Prozent der Frauen hatten im Jahr 2000 eine Stelle ohne Führungsfunktion. Demgegenüber arbeiteten nur 42,1 Prozent der Männer in einer Stelle ohne Führungsfunktion (Grafik 3.1.3). Damit ist das Ungleichgewicht noch stärker als in der Gesamtwirtschaft. Dort arbeiteten 65,5 Prozent der Frauen und 45,8 der Männer in Positionen ohne Führungsfunktion. Grafik 3.1.3: Beschäftigungsstatus unterteilt nach Geschlecht in %, 2000 Lernende Angestellte ohne Führungsfunktion Mittleres und niederes Kader Eigentümer der Firma Mitglieder der Geschäftsleitung Mitarbeitende Familienmitglieder Selbständig ohne Angestellte Frauen Selbständig mit Angestellten Männer 0 10 20 30 40 50 60 70 Quelle: Eidgenössische Volkszählung, BFS 15
Grundlagen – Branchencharakter 3.2 Migranten und Migrantinnen Im Detailhandel arbeiten vergleichsweise wenige Migrantinnen und Migranten. Jedoch auch hier belegen sie mit 21,6 Prozent rund einen Fünftel aller Arbeitsplätze (Grafik 3.2.1). Im Vergleich dazu erreichen sie 25 Prozent auf gesamtschweizerischer Ebene und 23 Prozent im Tertiärsektor. Grafik 3.2.1: Anteil ausländische Arbeitnehmende an Gesamtbeschäftigung in %, 2008 35 30 27.7 25.0 25 23.0 21.6 20 15 10 5 0 Wirtschaft CH Sektor Tertiär Gesamter nicht spezialisierter Detailhandel Detailhandel Quelle: BFS Die im Detailhandel beschäftigten Migrantinnen und Migranten arbeiten vornehmlich in nicht-spezialisierten Betrieben. Diese Kategorie umfasst sowohl Grossmärkte als auch verschiedene Kleinbetriebe, insgesamt beinahe 90 000 Stellen. Dort machen die Migran tinnen und Migranten beinahe 28 Prozent aus, was weit höher ist als ihr Anteil am übrigen Detailhandel oder der Gesamtwirtschaft. 16
Grafik 3.2.2: Beschäftigungsstatus nach Nationalität in %, 2000 Lernende Angestellte ohne Führungsfunktion Mittleres und niederes Kader Eigentümer der Firma Mitglieder der Geschäftsleitung Mitarbeitende Familienmitglieder Selbständig ohne Angestellte Migranten Selbständig mit Angestellten Schweizer 0 10 20 30 40 50 60 70 Quelle: Eidgenössische Volkszählung, BFS Zudem belegen Migrantinnen und Migranten generell niedriger qualifizierte Positionen als Schweizer Arbeitnehmende. Zum Vergleich: Im Jahr 2000 belegten in der Gesamtwirtschaft 67,2 Prozent der MigrantInnen eine Stelle ohne Führungsfunktion. Bei den Schweizer Ar beitnehmenden betrug dieser Anteil nur 51 Prozent. Dieselbe Tendenz ist, wenn auch etwas weniger ausgeprägt, auch im Detailhandel auszumachen. So arbeiteten im Jahr 2000 66,4 Prozent der Migrantinnen und Migranten in Positionen ohne Führungsfunktionen (Grafik 3.2.2) während 57,2 Prozent der Schweizer Beschäftigten keine Führungsfunktion inne hatten. 17
Grundlagen – Branchencharakter 3.3 Lehrlinge, Aus- und Weiterbildung Die Zahl der Lehrlinge in der Detailhandelsbranche ist hoch. Gemäss einer im Jahr 2008 durchgeführten Betriebszählung ist der Detailhandel die Branche mit den meisten Lehrlin gen (Grafik 3.3.1). 2008 zählte sie über 26 000 Lehrlinge und lag mit einem Anteil von 13 % vor dem Baugewerbe (mit über 24 400 Lehrlingen). Grafik 3.3.1: Lehrlinge im Branchenvergleich, in absoluten Zahlen und %, 2008 30000 13.0 12.2 25000 20000 15000 6.2 5.8 10000 4.0 3.7 5000 0 Baugewerbe Detailhandel, ausgenommen Motorfahrzeuge Handel und Reparatur Motorfahrzeuge Berufe im Bereich Gesundheit Architektur- und Ingenieurbüros Kontrollen und Analysen Mediz. und soziale Einrichtungen Quelle: Eidgenössische Betriebszählung, BFS Zwar bildet die Branche viele Lehrlinge aus, die Grafik 3.3.2 zeigt aber auch, dass ein grosser Teil der Detailhandelsangestellten keine weiterführende Ausbildung absolviert. 81 Prozent der Beschäftigten haben keine oder nur die obligatorische Schulzeit absolviert, eine Lehre abgeschlossen oder eine Berufsschule besucht. Lediglich rund 15 Prozent der Detailhan delsangestellten haben einen Maturitätsabschluss oder das Diplom einer höheren Fach schule in der Tasche. In der Gesamtwirtschaft hingegen liegt der Anteil der Beschäftigten mit einem Maturitätsabschluss oder einer höheren Fachausbildung mit gut 29 % beinahe doppelt so hoch. 18
Tabelle 3.3.2: Erwerbstätige nach der höchsten abgeschlossenen Ausbildung, 2000 Höchste abgeschlossene Ausbildung CH Wirtschaft % Detailhandel % Keine abgeschlossene Ausbildung 2,3 2,1 Obligatorische Schulzeit 17,8 23,0 10. Schuljahr oder allg. Berufsvorbereitung 2,7 3,6 Lehre, vollzeitliche Berufsschule 41,6 52,3 Maturität 4,8 3,8 Fachmittelschule 3,2 1,3 Höhere Berufsausbildung 8,5 5,8 Höhere Fachschule 3,3 0,9 Fachhochschule 1,3 0,5 Universität, Hochschule 8,3 2,9 Keine Angaben 6,3 3,9 Quelle: Eidgenössische Volkszählung, BFS. Auch hier zeigt sich ein Graben zwischen den Geschlechtern: 22,7 % der Männer können einen Maturitätsabschluss oder das Diplom einer höheren Fachschule vorweisen. Bei den Frauen ist es nicht mal die Hälfte (11,1 %). Auch haben über 85 % der Frauen keine über die Lehre hinausgehende Ausbildung absolviert. Bei den Männern hingegen beträgt dieser Anteil nur 73,2 %. Besonders augenfällig wird der Unterschied auf der Stufe der obligatori schen Schulzeit. Dort beträgt der Anteil der Frauen 25,6 %, der Anteil der Männer nur gerade 18 % (Tabelle 3.3.3). Tabelle 3.3.3: Erwerbstätige im Detailhandel nach Ausbildung und Geschlecht, 2000 Höchste abgeschlossene Ausbildung Männer % Frauen % Keine abgeschlossene Ausbildung 2,0 2,2 Obligatorische Schulzeit 18,0 25,6 10. Schuljahr oder allg. Berufsvorbereitung 1,9 4,5 Lehre, vollzeitliche Berufsschule 51,3 52,8 Maturität 4,1 3,5 Fachmittelschule 1,0 1,5 Höhere Berufsausbildung 11,1 3,0 Höhere Fachschule 1,8 0,5 Fachhochschule 0,8 0,3 Universität, Hochschule 3,9 2,3 Keine Angaben 4,0 3,8 Quelle: Eidgenössische Volkszählung, BFS. 19
Grundlagen – Branchencharakter Mit anderen Worten: n Die Detailhandelsbranche bildet zahlreiche Lehrlinge aus; n Die beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten sind nach wie vor bescheiden: nur wenige Personen erreichen eine leitende Stellung; n Noch ausgeprägter zeigt sich dies bei den weiblichen Erwerbstätigen. Diese Entwicklung widerspiegelt sich auch in den Zahlen zur Weiterbildung: 7000 Lehrlinge starten jedes Jahr die berufliche Grundbildung zu Detailhandelsfachfrau/Detailhandels fachmann oder zum Detailhandelsassistenten. Diese beiden Ausbildungen schliessen mit einem eidgenössisch anerkannten Fähigkeitszeugnis resp. eidg. Berufsattest ab. Nur wenige absolvieren weiterführende Lehrgänge: Gerade 260 schliessen pro Jahr als Detail handelsspezialistIn (Textildetailhandel, Früchte & Gemüse) ab und noch weniger absolvieren die höheren Fachprüfungen zur Detailhandelsökonomin oder zum Detailhandelsmanager.1 1Durchgeführt werden die Lehrgänge von BDS (Bildung Detailhandel Schweiz). BDS ist die Dachorganisation je ner Arbeitgeber, die im Detailhandel eine Aus- und Weiterbildung organisieren, sie wird getragen von Coop, Post, Migros, Gewerbeverband, Swiss Retail und dem Verband Schweizerischer Filialunternehmungen. 20
3.4 Löhne Die Arbeitskosten im schweizerischen Detailhandel sind vergleichsweise tief Viele beklagen sich über die zu hohen Preise im Schweizer Detailhandel. Die Frankenstärke hat diese Preisdebatte neu angefacht. Als Ursache für die hohen Preise gelten häufig die ver meintlich hohen Löhne und Arbeitskosten. Dem ist aber nicht so. Eine Studie des BAK zeigt, dass 2009 der Preisunterschied vor allem in den höheren Kosten für die Warenbeschaffung lag. Dagegen waren die Lohnstückkosten im Schweizer Detailhandel geringer als in den vier Nachbarländern Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien.1 Grafik 3.4.1: Zerlegung der Schweizer Hochpreisinsel, 2009 Mehrwertsteuer -7 Andere Faktoren 2 Arbeitskosten -1 Vorleistungskosten 2 Warenbeschaffung Ausland 6 Warenbeschaffung Inland 9 Detailhandelspreis 11 -10 -5 0 5 10 15 Durchschnittswert der verschiedenen, für die Preisunterschiede verantwortlichen Kostenfaktoren im Vergleich zu Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien Quelle: BAK (2010). Die Frankenstärke hat diese Preisstruktur verzerrt (Veränderung der Beschaffungskosten). Zudem hat die Frankenstärke die Konsumenten veranlasst, vermehrt im Ausland einzu kaufen – der Verdienstausfall durch den Einkaufstourismus dürfte sich 2011 auf 4 bis 5 Milliarden Franken oder 5 % des Branchenumsatzes belaufen.2 Die grossen Schweizer Detailhändler haben auf diese Situation reagiert und die Preise gewisser Produkte gesenkt, was sich wiederum auf die Umsätze niederschlug. Grosse Unternehmen wie Coop und Mi gros führen den anhaltenden Einkaufstourismus und die Preiserosion nun als Gründe für die mageren Lohnerhöhungen oder gar Personalentlassungen an. 1BAK Basel Economics (2010), Preise, Kosten und Performance. Der Schweizer Detailhandel im internationalen Vergleich, Basel. 2CS (2012), Retail Outlook 2012, Fakten und Trends, Zürich. 21
Grundlagen – Branchencharakter Weil die Preissenkungen aber dazu führen, dass wieder mehr Ware gekauft wird, sind die Beschäftigten gleich doppelt belastet: Das Personal wird abgebaut, obwohl die Warenmen ge zunimmt. Und Lohnerhöhungen werden kaum gewährt, obwohl die Arbeitskosten in der Schweiz ohnehin schon tiefer sind als im benachbarten Ausland. Niedrige Löhne Der monatliche Bruttomedianlohn1 beträgt im Detailhandel 2010 nur 4605 Franken (Grafik 3.4.2). Er liegt damit unter dem Lohnniveau in anderen grossen Wirtschaftssektoren. In der Privatwirtschaft insgesamt beträgt der Medianlohn 5928 Franken und ist somit 1323 Franken höher als im Detailhandel. Vereinzelte Branchen haben allerdings einen tieferen Bruttomedianlohn, so beispielsweise die Bekleidungsindustrie oder das Gastgewerbe. Nichtsdestotrotz ist der Bruttomedianlohn in der Detailhandelsbranche sehr tief. Erschwe rend kommt hinzu, dass die meisten Beschäftigten Teilzeit arbeiten und somit noch weniger verdienen. Zudem zählt Erfahrung im Detailhandel kaum – die Löhne stagnieren im Gegen satz zu anderen Branchen meist nach einigen Jahren. Grafik 3.4.2: Differenz des monatlichen Bruttomedianlohns im Detailhandel zu anderen Branchen (in Franken), 2010 -538 Bekleidungsindustrie -499 Hotellerie/Gastgewerbe 1243 Baugewerbe 1303 Metallindustrie 1323 Privatwirtschaft insgesamt 1552 Verarbeitungsindustrie 4336 Pharmaindustrie 4823 Banken/Finanzdienste -1000 0 1000 2000 3000 4000 5000 6000 Medianreferenzlohn Detailhandel: 4605 Franken Quelle: BFS. 1Der Medianwert erlaubt, ein Ganzes in zwei gleich grosse Gruppen zu unterteilen. Der Medianlohn bezeichnet also jenen Lohn, bei dem die Hälfte der Löhne darunter liegt und die andere Hälfte darüber. 22
Das tiefe Lohnniveau im Detailhandel wirkt sich auch auf die Schlechtestverdienenden aus, das zeigt ein Blick auf die 10 % Beschäftigten, die am wenigsten verdienen. Sie liegen rund 250 Franken unter dem schweizerischen Durchschnitt. Und das in einem Bereich, in dem jeder Rappen zählt. In Zahlen heisst das: Die am schlechtesten entlöhnten 10 % im Detailhandel haben 2010 einen monatlichen Bruttolohn unter 3673 Franken erzielt. Zum Vergleich: Die am schlechtesten Verdienenden in der Privatwirtschaft haben 2010 einen monatlichen Bruttolohn unter 3928 Franken erzielt (Grafik 3.4.3). Die am schlechtesten entlöhnten 25 % haben im Detailhandel einen Bruttolohn unter 4078 Franken erhalten (Gesamtwirtschaft: 4694 Franken). Rund 23 000 Vollzeitstellen sind von Löhnen unter 3673 Franken betroffen. Solch ein Betrag liegt deutlich unter dem existenzsichernden Mindestlohn, den der SGB mit seiner Initiative fordert, nämlich 4000 Franken für eine 42-Stunden-Woche. Grafik 3.4.3: Monatlicher Bruttolohn für verschiedene Gruppen, Detailhandel und Privatwirtschaft, 2010 5000 4694 4500 3928 4078 4000 3673 3500 3000 2500 2000 1500 1000 500 0 Detailhandel Privatindustrie Detailhandel Privatindustrie insgesamt insgesamt Quantil 10% Quantil 25% Quelle: BFS. «Quantil 10 %» bezeichnet die 10 % der Beschäftigten, die am wenigsten verdienen «Quantil 25 %» bezeichnet die 25 % der Beschäftigten, die am wenigsten verdienen 23
Grundlagen – Branchencharakter Die Lohnunterschiede Mann/Frau verringern sich, sind aber noch nicht beseitigt In der Privatwirtschaft geht der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen zurück. Er ist in den letzten zehn Jahren von 21,3 % auf 18,4 % gesunken. In der Detailhandelsbranche war der Lohnunterschied 2000 höher und betrug 24,4 %. Zehn Jahre später belief er sich noch auf 18 %; im Vergleich zur Privatwirtschaft insgesamt hat sich der Lohnunterschied im Detailhandel also stärker verringert. Dies gilt allerdings vor allem für die weniger qualifizier ten Beschäftigungskategorien: Bei den repetitiven Tätigkeiten hat sich der Lohnunterschied von 15,6 % (2000) auf 7,6 % (2010) verkleinert und bei den Tätigkeiten, die Berufs- und Fachkenntnisse voraussetzen, von 21,8 % auf 13,7 %. Grafik 3.4.4: Lohnunterschied Männer/Frauen, bezogen auf den Bruttomedianlohn in %, 1998–2010* 25 20 15 10 Berufs- und 5 Fachkenntnisse 0 einfache, 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 repetitive Arbeit * laut Definition NOGA 2002 bis 2006. Danach laut Definition NOGA 2008. Quelle: BFS. Bei den hochqualifizierten Tätigkeiten allerdings geht die Lohnschere immer noch weit auf und liegt sogar über dem schweizerischen Durchschnitt. Liegt der Lohnunterschied in der Gesamtwirtschaft noch bei 17,9 %, so beträgt er im Detailhandel satte 23,2 %. Tabelle 3.4.5: Bruttomedianlohn, Lohnunterschiede Männer/Frauen nach Qualifikationen, 2010 Hochqualifizierte Berufs- und Einfache, Arbeiten Fachkenntnisse repetitive Arbeiten Branche Jahr Frauen Männer Diff. Frauen Männer Diff. Frauen Männer Diff. Detailhandel 2010 5350 6969 23,2 % 4360 5052 13,7 % 4164 4508 7,6 % Privatwirtschaft 2010 6671 8125 17,9 % 5202 5909 12,0 % 4225 4901 13,8 % Quelle: BFS. 24
Mit anderen Worten: n Die Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen verringern sich zwar, insbesondere auf den unteren Lohnstufen, sie bestehen aber weiterhin. Die Tatsache, dass sich der Lohnunterschied im Detailhandel verringert hat, ist unter anderem darauf zurückzufüh ren, dass ein grosser Teil der Detailhandelsbeschäftigten im Tieflohnbereich arbeitet, was die Lohnunterschiede einebnet. n Sobald die Löhne steigen, steigt auch die Diskriminierung wieder n Bei den mittleren und hohen Qualifikationen ist der Lohnunterschied sogar wesentlich ausgeprägter als im schweizerischen Durchschnitt. Weitergehende ökonomisch-statistische Auswertungen erlauben es zudem, den diskrimi nierenden Anteil zu eruieren. Damit wird jener Teil des Lohnunterschiedes festgestellt, der nicht auf unterschiedliche Qualifikation, hierarchische Position oder Anforderungen der Stelle zurückgeführt werden kann. Im Detailhandel beträgt dieser Anteil 58 %, ist also sehr hoch – Frauen verdienen weniger, weil sie Frauen sind.1 Die Lohndiskriminierung betrifft übrigens alle Betriebe gleichermassen, sowohl kleine Be triebe als auch solche mit über 2500 Beschäftigten. Dies hat eine vertiefte Auswertung der Lohnstrukturdaten durch die Universität Genf ergeben. GAV und Mindestlöhne sorgen für eine Anhebung des Lohnniveaus Die Reallohnerhöhungen für Detailhandelsangestellte von Unternehmen, die einem GAV unterstellt sind, sind in den letzten Jahren deutlich höher ausgefallen. So sind sie seit dem Jahr 2000 um 10,5 % gestiegen, was wesentlich mehr ist als der Zuwachs von 7,3 % für die gesamte Detailhandelsbranche (Grafik 3.4.6). 1Silvia Strub, Desirée Stocker: Analyse der Löhne von Frauen und Männern anhand der Lohnstrukturerhebung 2008. Aktuelle Entwicklungen in der Privatwirtschaft und Situation im öffentlichen Sektor des Bundes, S.62, 2010. 25
Grundlagen – Branchencharakter Grafik 3.4.6: Entwicklung der allgemeinen Löhne im Vergleich mit den GAV-Löhnen (Basis 2000 = 100) 113 111 109 107 105 103 Reallöhne 101 mit GAV Reallöhne mit 99 und ohne GAV 2000 2002 2004 2006 2008 2010 Basis Quelle:2000 BFS. = 100 Dank der Öffentlichkeitskampagne der Unia konnten die Mindestlöhne in einigen grossen Detailhandelsunternehmen stark nach oben korrigiert werden. Innerhalb von 12 Jahren konnten beispielsweise die Löhne bei Coop und Migros erheblich verbessert werden; je nach Umstand und Region bewegt sich die Steigerung in der Bandbreite von 900 bis 1300 Franken, was einer nominalen Erhöhung von maximal 54 % für Coop und 48 % für Migros entspricht. Tabelle 3.4.7: Entwicklung der verbindlichen Mindestlöhne (x 13) für ungelernte Angestellte (in Franken/Monat) 1998 2002 2004 2008 2010 Max. Differenz in % Coop 2400–2700* 3200 3300 3600 3700 54 % Migros 2500–2800* 3150 3300 3300–3600* 3700 48 % *Regional unterschiedliche Mindestlöhne 26
Die Unia will im Übrigen einen gesetzlichen Mindestlohn von 4000 Franken für die ganze Branche durchsetzen. Die Frauen, die generell weniger verdienen als die Männer – und das erst recht im Detailhandel, wo die Löhne ausgesprochen tief sind – würden in hohem Mass von einem gesetzlichen Mindestlohn von 4000 Franken profitieren. Gleichzeitig könnte ein weiterer Schritt in Richtung Lohngleichheit realisiert werden. Nicht zu vergessen, dass hö here Löhne im Detailhandel auch zu einer Steigerung der Kaufkraft führen – was wiederum für die Detailhandelsbranche selbst von Vorteil wäre. Das Wichtigste in Kürze: Die Detailhandelsbranche weist etliche Besonderheiten auf: n Es sind hauptsächlich Frauen im Detailhandel beschäftigt. n Sie arbeiten überwiegend Teilzeit. n Ungefähr jede fünfte Stelle ist von MigrantInnen besetzt. n Die Branche bildet zwar viele Lehrlinge aus, bietet aber wenig Möglichkeiten, beruflich aufzusteigen. n Im Detailhandel arbeiten viele Beschäftigte ohne leitende Funktion, darunter überpropor tional viele Frauen. n Der Detailhandel ist eine Tieflohnbranche. Über 23 000 Arbeitsstellen werden mit weniger als 3673 Franken entlöhnt. n Die Frauen sind schlechter bezahlt als die Männer, auch wenn sich die Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern tendenziell verringern. Dies gilt allerdings nur für die tiefsten Einkommen – bei den höheren Einkommen steigt die Diskriminierung der Frauenlöhne deutlich und überdurchschnittlich. 27
Grundlagen – Strukturwandel 4. Detailhandel – eine Branche im permanenten Strukturwandel Die Branche wurde in den letzten Jahren geprägt von einem Kon- zentrationsprozess und diversen Rationalisierungsschüben. Ver- schärft wurde dieser Strukturwandel durch den Markteintritt inter- nationaler Harddiscounter wie Media Markt oder Aldi und Lidl. Die Verkaufsflächen wurden in den letzten Jahren stetig vergrössert, kleine Detaillisten verschwanden zusehends. Gleichzeitig lancier- ten grosse Ketten jedoch neue, flexible Kleinformate wie Tankstel- len- und Convenienceshops (häufig in scheinselbständigen Fran- chisemodellen). Diese sind, zusammen mit den Einkaufszentren, führend im Kampf für eine Verlängerung der Ladenöffnungszeiten. 4.1 Konzentrations- und Rationalisierungsprozess Die Umsatzzahlen belegen, dass sich die grossen Unternehmen in den letzten zehn Jahren ausgezeichnet behaupten konnten. Ihr realer Umsatz hat seit 2000 um mehr als 29 % zuge nommen. Auch die mittelgrossen Unternehmen konnten sich mit einem Zuwachs von 28 % sehr gut halten. Nicht so die kleinen Unternehmen, deren Umsatzzahlen seit dem Jahr 2000 praktisch stagnieren und lediglich 1,1 % zugelegt haben. Das wirkt sich aus: Unabhängige Detaillisten verschwinden zusehends, der Konzentrationsprozess führt dazu, dass wenige grosse Ketten ein dichtes Netz von Filialen über die Schweiz ziehen. 28
Grafik 4.1.1: Umsatz nach Unternehmensgrösse (Basis 2000 = 100) 140 130 120 Total 110 Klein (weniger als 15 Vollzeitangestellte) 100 Mittelgross (15–45 Vollzeitangestellte) 90 Gross 80 (mehr als 45 Vollzeitangestellte) 2000 2002 2004 2006 2008 2010 Quelle: BFS. Der Löwenanteil des Detailhandel-Geschäfts entfällt auf Migros und Coop. Ihr Anteil am Gesamtumsatz beträgt weit über 30 % und ist im Wachsen begriffen. 2005 lag er noch bei 33,1 %, 2010 schon bei 37,3 %. Auch die Gewinne haben sich bei Coop und Migros gestei gert. Während Migros 2005 einen Gewinn von 699 Millionen und 2010 einen Gewinn von 852 Millionen verbuchen konnte, was einem Zuwachs von 22 % entspricht, konnte Coop den Gewinn im gleichen Zeitraum noch stärker steigern, nämlich von 270 auf 470 Millionen Franken, was einem Zuwachs von über 74 % entspricht! Die Löhne haben mit dieser Entwicklung allerdings nicht mitgehalten. Sie wurden zwar ebenfalls erhöht, aber niemals in diesem Ausmass. Kurz: Die beiden Genossenschaften nehmen im helvetischen Detailhandelsgeschäft eine einzigartige und beherrschende Stellung ein. Diese für Europa einzigartige Konzentration ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die beiden Grossen über Jahre hinweg auf Einkaufstour gegangen sind: So hat Coop beispielsweise EPA, Waro, Interdiscount, Fust, Carrefour und Christ aufgekauft. Und Migros hat sich ABM, Globus, LeShop und Denner angeeignet. Mit den diversen Firmenaufkäufen haben die beiden traditionellen Akteure ihre Marktposition gefestigt. Sie sind, zusammen mit anderen grossen Ketten, auch federführend bei vielen Einkaufs zentren. Die Idee der Einkaufszentren - viele Läden an einem Ort – ist alt. Neu jedoch werden die Einkaufszentren zu richtigen Erlebnistempeln umgestaltet – von der Sauna bis zum Schuhladen, vom Osterhasengiessen für Kinder bis zum Outdoor-Geschäft, vom Kino bis zur Kirche (Westside/BE, St. Jakobs-Park/BS, Sihlcity/ZH, Balexert/GE, Foxtown/TI). Die Ladenöffnungszeiten in den Einkaufszentren sind gegenüber den kleineren Läden im Detailhandel deutlich länger. 29
Grundlagen – Strukturwandel Die fortschreitende Konzentration geht zudem einher mit einem andauernden Rationalisie rungsprozess. Nachdem schon in den letzten Jahren Arbeitsabläufe rationalisiert worden sind (elektronische Kassen), erlebt der Detailhandel zurzeit einen neuen Schub: Migros beispielsweise legt einzelne Produktionsstandorte wie Jowa zusammen, Coop zentralisiert die Logistik. Die Einführung von Onlineshopping, Selfscanning und neuen Kassensystemen wie Passabene von Coop lagert einen Teil der Arbeit an die Kundschaft aus. Beim Online- Shopping profitieren die Betreiber zudem von effizienten Lagermöglichkeiten und automa tisierten Abläufen, die nicht mehr zwingend von geschultem Verkaufspersonal verrichtet werden müssen. Die anstehenden Veränderungen im Detailhandel werden das bisherige Berufsbild verändern und eventuell weiter schwächen. 4.2 Harddiscounter, Tankstellen- und Convenienceshops Die Konkurrenz im Detailhandel hat sich durch den Markteintritt der beiden deutschen Harddiscounter Aldi und Lidl verschärft – Aldi ist seit 2005, Lidl seit 2009 in der Schweiz präsent. Die Tiefpreispolitik der deutschen Konkurrenz haben die Schweizer Detailhandels riesen Migros und Coop bisher erfolgreich gekontert mit der Übernahme von Discountern wie Denner und Carrefour. Nach einigen Startschwierigkeiten scheint sich Aldi mittlerweile in der Schweiz behaupten zu können, während die Zukunft von Lidl ungewiss ist. Angesichts von bezugsbereiten, aber leer stehenden Filialen begannen die Medien 2011, über einen möglichen Rückzug von Lidl aus der Schweiz zu spekulieren – Gerüchte, die Lidl jedoch bisher heftig dementierte. 2010 verfügten die beiden Harddiscounter über 233 Verkaufs stellen (Grafik 4.2.1), anfangs 2012 dürften es rund 250 Filialen gewesen sein, was im Lebensmittelbereich immerhin einen Marktanteil von fast 5 % bedeutet.1 1CS (2012), Retail Outlook 2012, Fakten und Trends, Zürich. 30
Grafik 4.2.1: Anzahl Verkaufsstellen von Aldi und Lidl, Schweiz 140 132 120 112 100 94 80 57 61 60 40 27 29 Aldi 20 8 Lidl 0 2005 2006 2007 2008 2009 2010 Quelle: Detailhandel Schweiz 2011, GFK Switzerland. Parallel zum zunehmenden Druck der deutschen Harddiscounter hat sich die Zahl der Convenienceshops1 stetig vergrössert. Dabei handelt es sich um neue Ladenformate wie Tankstellenshops, Convenience-Shops, Bahnhofsläden oder grosse Kioske. Sie sind meist länger geöffnet als herkömmliche Lebensmittelläden, verfügen über eine vergleichsweise kleine Ladenfläche und führen ein eingeschränktes Sortiment (siehe auch Kap. 4.4.). Ihr Wachstum ist rasant. Im Jahr 2000 schätzte man ihre Zahl auf 830. Zehn Jahre später hat sich ihre Zahl bereits verdoppelt (Grafik 4.2.2). Branchenführer ist Coop mit seinen Pronto-Shops. Bei den traditionellen, unabhängigen Lebensmittelläden zeigt sich in den letzten Jahren eine stark gegenläufige Entwicklung. Sie verschwinden zusehends und ihr Niedergang setzt sich ungebremst fort. Waren 1985 noch fast 6000 kleine Detaillisten in der Schweiz tätig, so sind es heute gerade noch knapp 2400. 1Der Begriff «Convenience» wird erst seit Mitte der 90er-Jahre für vorverarbeitete, zeitsparend verwendbare Nah rungsmittel verwendet 31
Grundlagen – Strukturwandel Grafik 4.2.2: Entwicklung der Convenience-Shops und unabhängigen Lebensmitteldetaillisten 7000 6000 5920 5258 5000 4441 4000 3878 Selbständige Lebensmitteldetaillisten 3000 2808 (ohne Fachgeschäfte) 2489 2458 2377 Tankstellen- und 2000 1505 1581 1622 Convenience-Shops 1399 (ohne Kioske) 1000 830 0 1985 1990 1995 2000 2005 2008 2009 2010 Quelle: Schätzungen für das Jahr 2000 für die Tankstellen- und Convenience-Shops, Detailhandel Schweiz 2007; für die übrigen Daten, Detailhandel Schweiz 2011, GFK Switzerland. 4.3 Starker Filialisierungstrend, unabhängige Detaillisten verschwinden Die Branche ist also geprägt durch die Konzentration auf wenige grosse Unternehmen und durch das Verschwinden der traditionellen unabhängigen Lebensmitteldetaillisten. Nichts destrotz gibt es immer noch sehr viele Quartierläden. Sie werden aber immer häufiger als Filiale oder Franchiseunternehmen einer grossen Kette geführt. Das Phänomen der «Filiali sierung» ist im Detailhandel denn auch stark zunehmend. In der Schweiz arbeiten rund 45 Prozent aller Beschäftigten in einem Unternehmen mit mehreren Filialen. Der Filialisierungsgrad der Gesamtwirtschaft hat sich in der Periode 1998–2008 kaum verändert, ist aber je nach Branche unterschiedlich hoch. So arbeiteten 2008 im Gastgewerbe 21 Prozent der Beschäftigten in einem sogenannten Mehrbetriebs unternehmen, in der Finanzbranche hingegen 75 Prozent. Im Detailhandel arbeiteten jedoch schon Ende der 90er Jahre überdurchschnittlich viele Angestellte in einem Mehrbetriebunternehmen, dieser Anteil stieg bis 2008 auf 55 % an. 32
Grafik 4.3.1: Filialisierungsgrad nach Branchen, Schweiz, 2008 Hotellerie-Gastgewerbe 21% Schweizer Wirtschaft 45% Detailhandel 55% Finanzbranche 75% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% Anteil Beschäftigung in Mehrbetriebsunternehmen im Verhältnis zur Gesamtbeschäftigung in der Branche, in % Quelle: CS (2010), Die Struktur der Schweizer Wirtschaft 1998–2020, Zürich. In einzelnen Subbranchen des Detailhandels ist die Filialisierung in den letzten Jahren mas siv vorangetrieben worden, so etwa im Sporthandel (Tabelle 4.3.2). Die Subbranchen Wa renhäuser und Supermärkte sind mit einem Anteil von 97 % respektive 87 % am stärksten filialisiert. Es folgen der Schuhhandel (83 %), die Parfümerien (70 %) und der Bekleidungs handel (67 %). Den schwächsten Filialisierungsgrad weist der Spezialdetailhandel Food auf - zu dieser Kategorie gehören beispielsweise die Bäckereien und Metzgereien. Dort arbeiten 69 % der Angestellten in einem Betrieb ohne Filialen. 33
Grundlagen – Strukturwandel Tabelle 4.3.2: Filialisierungsgrad Subbranchen, Entwicklung 1998–2008 Detailhandel Filialisierungsgrad Filialisierungsgrad Durchschn. Anzahl Subbranchen 1998 2008 Läden pro Filialkette Sporthandel 21 % 37 % 4 Apotheken und Drogerien 21 % 34 % 6 Buchhandel 46 % 59 % 6 Möbelhandel 43 % 55 % 4 Bau- und Heimbedarffachmärkte 42 % 51 % 5 Optiker 31 % 39 % 6 Papeterien 29 % 35 % 4 Bekleidungshandel 62 % 67 % 8 Uhren- und Schmuckhandel 44 % 48 % 4 Elektronikhandel 34 % 39 % 4 Schuhhandel 79 % 83 % 18 Spezialdetailhandel Food 27 % 31 % 3 Supermärkte/Dorf- und Quartierläden 85 % 87 % 31 Warenhäuser 99 % 97 % 19 Parfümerien 72 % 70 % 22 Kioske 69 % 60 % 66 Detailhandel total 52 % 55 % 8 Quelle: CS (2011), Retail Outlook 2011, Fakten und Trends, Zürich. Der Filialisierungsgrad würde noch höher ausfallen, würde man die in Franchise geführten Betriebe einberechnen. Sie werden aber statistisch als «unabhängige Betriebe» gezählt, obwohl sie zu einer grossen Kette gehören. So sind die Zahlen beispielsweise bei den Kiosken mit Vorsicht zu geniessen. Dort scheint der Filialisierungsgrad abgenommen zu haben. In Tat und Wahrheit existieren jedoch nur noch wenige unabhängige Kioske – der Markt ist aufgeteilt zwischen Valora und Naville. Die 60 % sind viel eher Ausdruck der systematischen Umwandlung von Valora-Kiosken in scheinbar unabhängige Agenturen, die aber faktisch Valora gehören (siehe auch Kap. 4.4). Aus gewerkschaftlicher Sicht kann das Phänomen der Filialisierung sowohl als Vor- als auch als Nachteil betrachtet werden. Ein Vorteil ist sicher, dass sozialpartnerschaftliche Verhandlungen mit einem grossen statt mit vielen kleinen Partnern geführt werden können. Allerdings ist der Detailhandel eine wenig geregelte Branche, die Arbeitgeber weigern sich meist, in kollektivvertragliche Verhandlungen oder gar einen Rahmen-GAV für die ganze Branche einzusteigen. Deshalb überwiegt zurzeit eindeutig der Nachteil der Filialisierung. 34
4.4 Scheinselbständigkeit durch Franchising Mit dem Konzentrationsprozess und dem Aufstieg der Convenience-Shops hat ein neues Ge schäftsmodell Aufschwung erhalten: die Franchise oder Agentur. Das heisst, Mutterhäuser wie Valora, Coop Mineralöl AG oder Migrol machen Auflagen zu den Produkten, die geführt werden, bestimmen die Einkaufs- und Preispolitik und zweigen einen Teil des Gewinns ab. Die Risiken werden einseitig auf die Franchisenehmer abgewälzt – und die Arbeitnehmen den sind kaum geschützt, weil die Arbeitsbedingungen in dieser Branche kaum geregelt sind. Wie ein Konzern das Personal unter Druck setzt und gleichzeitig den Gewinn steigert, zeigt das Beispiel Valora. Die Kioskbetreiberin hat das Agentursystem stark ausgebaut. Die Kioskleiterinnen müssen nicht nur eigenes Geld in die Agentur einbringen, sie müssen auch das unternehmerische Risiko tragen. Das Agenturmodell bedeutet nebst vermehrter Selbstausbeutung der LeiterInnen auch zunehmenden Druck auf die Kioskmitarbeiterinnen. Denn der Valora-Gesamtarbeitsvertrag, der minimale Rahmenbedingungen bietet, gilt für diese Agenturen nach einem Jahr nicht mehr. Gleichzeitig beschäftigt der Konzern seine Angestellten vermehrt im Stundenlohn – ohne Garantie für eine Mindestbeschäftigung. Die Löhne sind tief und liegen vielerorts unter 20 Franken/Stunde. Zudem hat Valora 2011 Personal abgebaut – und gleichzeitig den Nettoerlös pro MitarbeiterIn um beinahe 10 % gesteigert. Migros und Coop verfolgen mit ihren Convenience-Shops «Migrolino» und «Coop Pronto» eine ähnliche Politik. Auch dort unterstehen die Angestellten nicht einem GAV – die Mutterhäuser übernehmen somit keine Verantwortung für die Arbeitsbedingungen in ihren Franchisebe trieben. Die Arbeitsverträge in den Franchisebetrieben sind häufig deutlich schlechter als der GAV des Mutterhauses. Die Folge sind Tieflöhne und die Aushebelung des Arbeitnehmer schutzes. Besonders deutlich wird dies bei jenen Convenience-Shops, die sonntags illegal geöffnet haben, und gegen die die Unia teilweise gerichtlich vorgehen muss. Aber auch andere Unternehmen kennen Franchisesysteme. Dazu gehören beispielsweise Volg mit den Tankstellenshops «TopShop» und Denner mit den «Denner Satelliten» aber auch grosse Unternehmen wie Ikea oder Esprit. Das Wichtigste in Kürze: n Der Markt ist gesättigt, die Branche ist geprägt von gewaltigen Strukturveränderungen n Der Konzentrationsprozess im Detailhandel führt zum Verschwinden der kleineren, unab hängigen Detaillisten n Neue Formate entstehen (Convenience- und Tankstellenshops). n Vor allem Kleinläden werden zunehmend in Franchise oder einem Agenturmodell geführt und sind abhängig von einer Kette. 35
Grundlagen – Arbeitsbedingungen 5. Verschlechterung der Arbeitsbedingungen Die fortschreitenden Konzentrations- und Rationalisierungspro- zesse bescheren den grossen Unternehmen in den letzten Jahren zwar stark steigende Gewinne, verstärken den Druck auf die Be- schäftigten aber erheblich: Arbeitsplätze werden abgebaut, die Arbeitszeiten zusehends ausgedehnt und gleichzeitig fragmentiert (kleine Pensen, grosse Pausen zwischen den Einsätzen, Wegfall garantierter Pensen). Die Anforderungen an die Flexibilität der Ar- beitnehmerInnen steigen (Arbeit auf Abruf, Stundenlohnverträge). Ein erstes Signal für die Prekarisierung der Branche ist der wachsende Anteil der Teilzeitar beit. Arbeiteten 1994 noch 35,5 % der Angestellten Teilzeit, so waren es 2010 über 40 % (Grafik 5.0.1). Eine Teilzeitstelle ist oftmals gleichzusetzen mit prekären Arbeitsbedingun gen, ungenügender sozialer Sicherheit (z.B. Pensionskasse), eingeschränkten Weiterbil dungs- und Karrieremöglichkeiten. Andrerseits ermöglicht eine Teilzeitbeschäftigung auch, sich andern Aufgaben zu widmen, zum Beispiel der Weiterbildung, der Betreuung von Kindern oder der Freiwilligenarbeit. Die Teilzeitarbeit ist deshalb meistens charakteristisch für das Berufsleben der Frauen. Der Anteil der Frauen, die Teilzeit arbeiten, liegt bis 1997 knapp unter 50 % und schwankt seit 1999 zwischen 52 und 56 %. Der entsprechende Teilzeitstellenanteil bei den Männern liegt bis 1998 unter 15 %. Seit 2000 bewegt er sich zwischen 16 und 17,5 %. 36
Grafik 5.0.1: Anteil der Teilzeitbeschäftigung im Detailhandel, in %, 1992–2011 60 55 50 45 40 35 30 25 20 Total 15 Frauen 10 Männer 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 Quelle: Beschäftigungsstatistik (BESTA), BFS. Mit dem Markteintritt der deutschen Harddiscounter stellt sich aus gewerkschaftlicher Sicht auch die Frage nach dem Niveau der sozialen Standards – beide Unternehmen sind bekannt dafür, die Rechte der Beschäftigten häufig zu missachten. Mit ihrem Markteintritt hat der Druck auch auf die Schweizer Unternehmen zugenommen. So hat Migros schon 2008 die Arbeitszeit für 8000 Beschäftigte von 41 auf 43 Wochenstunden angehoben. Diese Arbeits zeiterhöhung betrifft immerhin rund 10 % der Migros-Belegschaft. Weitere Faktoren tragen zur Verschlechterung der Arbeitsbedingungen bei. So findet das Wachstum im Detailhandel häufig in der Agglomeration statt (z. B. Einkaufszentren), die Innenstädte entleeren sich zusehends. Der Personalbestand der Detailhandelsbranche in den Stadtzentren ist zwischen 1998 und 2008 stagniert.1 Im gleichen Zeitraum hat die Be schäftigung in den Agglomerationsgemeinden deutlich zugenommen (+ 7 %). Das führt dazu, dass der Arbeitsweg für die Detailhandelsangestellten oftmals schwieriger wird, besonders für die nicht motorisierten Angestellten. 1CS (2011), Retail Outlook 2011, Fakten und Trends, Zürich. 37
Grundlagen – Arbeitsbedingungen In der Agglomeration arbeiten, immer später Feierabend haben – dies wird für einen immer grösseren Teil der Detailhandelsangestellten zur Normalität. Dazu kommt ein steigender Druck am Arbeitsplatz. Die Arbeitsproduktivität pro Arbeitnehmer nimmt zu, die Rationalisie rungsmassnahmen verändern den Arbeitsalltag und die Beschäftigten müssen eine immer grössere Verkaufsfläche bewirtschaften.1 Letzteres ist gemäss einer Studie der Credit Suisse sogar der Hauptgrund für die steigende Arbeitsproduktivität im Detailhandel. 5.1 Arbeitszeiten, Stress und Gesundheit Der Kampf um Marktanteile wird im gesättigten Schweizer Markt momentan stark über die Ausdehnung der Ladenöffnungszeiten geführt. Über verschiedene Initiativen, Motionen und Vorstösse sollen die Arbeitszeiten flexibilisiert und aus dem Sonntag ein Verkaufstag wie jeder andere gemacht werden. Seitdem das Volk 1996 das Arbeitsgesetz mit sechs Sonn tagsverkaufstagen verworfen hat, versuchen die Liberalisierungsbefürworter, die vor allem bei FDP und SVP zu finden sind, ihr Ziel mit einer «Salamitaktik» zu erreichen und verlangen immer neue Ausnahmeregelungen für einzelne Bereiche. Wieso dieser Druck auf die Ladenöffnungszeiten? Von längeren Öffnungszeiten profitieren vor allem die Grossen. Die kleineren, unabhängigen Detaillisten können sich längere Laden öffnungszeiten – und damit höhere Personalkosten – kaum leisten. Die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten geht zudem auf Kosten des Personals. Die Arbeitszeiten werden länger und zerstückelter, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie immer schwieriger. Kein Wunder, sprechen sich die Beschäftigten in Unia-Umfragen jeweils zu beinahe 100 % gegen eine weitere Ausdehnung der Ladenöffnungszeiten aus. Auch die kleinen und mittleren Detaillisten sind grossmehrheitlich gegen die Verlängerung der Laden öffnungszeiten. Nicht einmal die Kundschaft befürwortet das 24-Stunden-Shopping. Eine re präsentative Umfrage des Internetdienstes Comparis.ch2 zeigt, dass 82 % der Bevölkerung zufrieden sind mit den geltenden Ladenöffnungszeiten. Sogar die flexibelste Altergruppe, die Jungen bis 25 Jahre, sind mehrheitlich gegen eine Ausweitung. Und nicht zuletzt zeigt ein Blick auf die Abstimmungen der letzten Jahre, dass das Stimmvolk eine Verlängerung in rund 90 % der Fälle abgelehnt hat. Trotzdem argumentieren die Liberalisierungsturbos mit einem fiktiven Kundenbedürfnis, wenn sie Vorstösse zur Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten lancieren. 1CS (2010), Retail Outlook 2010, Fakten und Trends, Zürich. 2www.cash.ch/news/alle/chdrei_von_vier_konsumenten_gegen_laengere_ladenoeffnungszeiten-1146852-448 38
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