Die Ernährungswende - Deutsche Gesellschaft für Ernährung

 
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                                                             Das Heim als Farm
                                                              Obst und Gemüse
                                                           selbst anzubauen ist
                                                            in der Corona-Krise
                                                          zum Trend geworden.
                                                             Die Wartelisten für
                                                          Kleingarten-Parzellen
                                                                       sind lang

      Die Ernährungswende
           Gesund, klimafreundlich, fair: Die Mehrheit der
      Deutschen wünscht sich besseres Essen. Landwirtschaft,
         Lebensmittelindustrie und Handel erfinden sich neu.
                     Wie gelingt der Umbruch?
                      TEXT VON SONJA   FRÖHLICH

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Die Ernährungswende - Deutsche Gesellschaft für Ernährung
Goldene Ernte
                    Saisonal kochen mit
                     heimischen Sorten
                ist gesund und schützt
                     das Klima. Herbst-
                  liches Wurzelgemüse
                     gelingt im Ofen be-
                    sonders aromatisch

                                                Fotos: Krautkopf/kraut-kopf.de

FOCUS 41/2021                              63
Die Ernährungswende - Deutsche Gesellschaft für Ernährung
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                                                                                                      Jan
                                             durch Erosion etwa 25 Milliarden Ton-
                                                                                                  Spliethofe
                                             nen fruchtbares Land verloren. Zugleich
                                                                                             betreibt in Münster
                                             schreiten der Raubbau am Regenwald und             einen Biohof.
                                             die Zerstörung der Moore fort.                    Seine Schweine
                                               Nahezu 80 Prozent der gesamten land-           haben Platz und
                                             wirtschaftlichen Nutzfläche dienen der              frische Luft
                                             Milch- oder Fleischproduktion, entwe-
                                             der als Weide oder als Anbaufläche für
                                             Tierfutter. Die Landwirtschaft produziert
                                             ein Drittel aller Treibhausgase, und die
                                             Viehzucht spielt dabei eine entscheiden-
                                             de Rolle, auch weil eine Milliarde Rinder
In einer dunklen Hinterhofhalle voller       Methan in die Atmosphäre rülpsen und
Becken und Schläuche gedeiht unsere          pupsen. Das Gas absorbiert bis zu 20-mal
Nahrung der Zukunft. Die Forscher des        mehr Strahlungswärme als Kohlendioxid.
Zentrums für Marine Tropenforschung
(ZMT) in Bremen züchten in ihren Meer-       Milliarden Menschen sind zu dick
wasseraquarien zum Beispiel Mangro-          Unsere Lebensmittelproduktion und Er-
venquallen. Mit ihren Schirmen haben         nährungsweise bedrohen nicht nur den
sich die Tiere rücklings am Glasboden        Planeten, sondern auch unsere Gesund-
festgesogen, ihre Tentakel schimmern in      heit. Der Einsatz von Antibiotika in der
Regenbogenfarben. Sie erinnern an kleine
Hochzeitstörtchen. Meeresbiologe Hol-
                                             Massentierhaltung verursacht gefährliche
                                             Resistenzen. Weltweit sind zwei Milliarden    „Wir müssen
                                                                                           eine Welt
ger Kühnhold fischt eines der filigranen     Menschen übergewichtig oder adipös,
Wesen aus dem Wasser. Es fällt auf sei-      weil sie sich zu viel Fett, Zucker und
ner Hand sofort in sich zusammen – zu        verarbeitete Lebensmittel auf die Rippen
Glibber. Quallen bestehen bis zu 97 Pro-
zent aus Wasser. Doch ihre Trockenmasse
                                             laden. „Chronische Krankheiten sind
                                             mittlerweile die stärkste Bedrohung des       bauen, in der
                                                                                           gesundes Essen
enthält viel Eiweiß, Mineralien, Fett- und   weltweiten wirtschaftlichen Fortschritts“,
Aminosäuren. Das macht sie für die For-      schreibt der US-Mediziner Mark Hyman
scher interessant. Superfood könnte aus      in seinem soeben erschienenen Bestseller
ihnen entstehen, meint Kühnhold, Protein-
pulver etwa oder Quallenchips.
                                             „Food Fix“. In den Vereinigten Staaten
                                             leidet jeder zweite Erwachsene und einer      jederzeit für
                                                                                           alle da ist“
   Ein gewaltiges Reservoir ungenutzter      von vier Teenagern an Prädiabetes oder
Ressourcen seien die Ozeane, glauben         Typ-2-Diabetes. Auch Herzkrankheiten
Kühnhold und seine Kollegen. Sie bede-       und Krebs sind oft Folgen einer ungesun-
cken 70 Prozent der Erde, aber liefern       den Ernährung.                                           António Guterres, UN-Generalsekretär
bislang nur zwei Prozent unserer Nah-          Und während fast ein Drittel aller pro-
rung. Die Bremer Wissenschaftler labo-       duzierten Lebensmittel im Müll landet,        eine Mehrheit der Bürger gesundes und
rieren deshalb auch mit Seegurken und        hungern Hunderte Millionen von Men-           faires Essen wünscht. Viele Leute haben
Algenarten. Ihre Experimente sind Teil des   schen, vor allem in den Entwicklungs-         schlechtes Fast Food und Convenience-
Projekts „Food4Future“. Das vom Bundes-      ländern, wo der größte Teil unserer Nah-      Produkte satt. Weniger Fleisch soll es nun
ministerium für Bildung und Forschung        rung angebaut wird. UN-Generalsekretär        sein, dafür mehr frisches Obst und Gemü-
mit fast sechs Millionen Euro geförder-      António Guterres richtete kürzlich einen      se, bestenfalls aus biologischem und regi-
te Programm soll Ideen liefern, wie sich     eindringlichen Appell an die Gemein-          onalem Anbau. Corona hat diesen Trend
nachfolgende Generationen auf nachhal-       schaft der Staaten. „Wir müssen eine Welt     noch verstärkt.
tige Art ernähren können. „Biofabriken“,     bauen, in der gesundes und nahrhaftes
so die Vision der Wissenschaftler, werden    Essen jederzeit für alle vorhanden und        Mehr Geld für Ökobetriebe
Algen, Grillen oder Quallen direkt in den    bezahlbar ist“, sagte er beim ersten Er-      Ein bisschen mehr bio zu essen wird
Städten aufziehen und verarbeiten.           nährungsgipfel der Vereinten Natio-           aber nicht reichen, und die sich langsam
                                             nen in New York und forderte „eine in-        ändernde Nachfrage der Konsumenten
Raubbau und Treibhausgase                    telligente, nachhaltige Bewirtschaftung       allein wird die Landwirtschaft nicht revo-
Die Lösungen der Biologen mögen radikal      der natürlichen Ressourcen“.                  lutionieren. „Dafür muss der Staat ganz
klingen und nicht allen schmecken. Doch        Eine Ernährungswende verlangen nun          neue Regeln schaffen“, sagt die Fernseh-
auch sie könnten wichtig werden, um          Umweltschützer wie Mediziner, ähnlich         köchin und Politikerin Sarah Wiener (siehe
eines der größten Probleme der Mensch-       einer Energiewende bei der Stromerzeu-        Interview auf Seite 69). „Kleine Betrie-
heit zu lösen: Wie künftig elf Milliarden    gung. Und was beim Strom der Ausstieg         be müssen für ihre Umweltbemühungen
Bewohner der Erde ernähren, ohne den         aus der Kohlekraft ist, könnte bei der Nah-   belohnt werden, alle, die Ressourcen zer-
Klimawandel weiter anzuheizen? Schon         rung der Ausstieg aus der industriellen       stören und ausbeuten, sollten einen an­-
jetzt sind viele Meere überfischt, viele     Fleischproduktion sein.                       gemessenen Preis dafür zahlen.“ Es wer-
Böden ausgelaugt, versalzen oder mit           Der Wandel hat in Deutschland bereits       de, stöhnt Wiener, aber immer noch genau
Pestiziden überfrachtet. Jedes Jahr gehen    begonnen. Umfragen zeigen, dass sich          umgekehrt verfahren.

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Die Ernährungswende - Deutsche Gesellschaft für Ernährung
TITEL

                                                                                                                                                        hofe direkt auf Vorbestellung auf seinem
                                                                                                                                                        Hof, in einem örtlichen Automaten oder
                                                                                                                                                        an Gastronomen in der Region. Im nahe
                                                                Meeresbiologe                                                                           gelegenen Restaurant „Das Lauschig“ sei-
                                                              Holger Kühnhold                                                                           en seine „Sendener Krüstchen“ Bestseller,
                                                              forscht in Bremen                                                                         freut sich der Landwirt. Auf den Feldern
                                                                  an unserer                                                                            wächst das Nebengeschäft: Zehn Früchte
                                                                Nahrung der                                                                             sind das, darunter Dinkel zum Backen,
                                                                   Zukunft                                                                              Quinoa für Bowls und Salate, Hanf für
                                                                                                                                                        Öle, Lupinen für Kaffee. Künftig will
                                                                                                                                                        Spliethofe auch Kichererbsen für Falafel
                                                                                                                                                        anbauen, schließlich gebe es ja immer
                                                                                                                                                        mehr Vegetarier. Mit dem Gelsenkirche-
                                                                                                                                                        ner TV-Koch Björn Freitag plant der Bauer
                                                                                                                                                        Online-Kochkurse. Die Mühe lohne sich,
                                                                                                                                                        sagt er, und mache großen Spaß: „Ich habe
                                                                                                                                                        noch keinen Haken gefunden.“
                                                                                                                                                        Weniger Fleisch, mehr kleine Bauern
                                                                                                                                                        In seiner Nachbarschaft gilt Spliethofe
                                                                                                                                                        noch immer als Exot. Laut Bund Öko-
                                                                                                                                                        logische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW)
                                                                                                                                                        bewirtschafteten im vergangenen Jahr
                                                                                                                                                        13,4 Prozent aller Bauern und damit gut
                                                                                                                                                        35 000 Höfe ihre Flächen nach dem Öko-
                                                                                                                                                        prinzip, allerdings eher in Süddeutschland.
                                                                                                                                                        In Nordrhein-Westfalen und Niedersach-
                                                                                                                                                        sen, den Hochburgen der großen Zucht-
                                                                                                                                                        und Mastbetriebe, läuft der Umbruch
                                                                                                                                                        dagegen schleppend. Im Münsterland, wo
                                                                                                                                                        Deutschlands drittgrößter Schlachtriese
                                                                                                                                                        Westfleisch (7,47 Millionen geschlachtete
                                                                                                                                                        Schweine, 2,83 Milliarden Euro Umsatz
                                                                                                                                                        im Jahr 2020) residiert, leben gut drei-
                                                                                                                                                        mal so viele Schweine wie Menschen. Die
                                                                                                         Nahrhafte Nesseltiere                          Umweltschutzorganisation WWF hat in
                                                                                                         Mangrovenquallen enthalten viel                der Region an jeder dritten Grundwasser-
                                                                                                         Eiweiß und Mineralien. Aus ihnen               messstelle Nitratwerte verzeichnet, die
                                                                                                         könnte Superfood entstehen                     den Grenzwert für Trinkwasser über-
                                                                                                                                                        schreiten, oftmals massiv.
                                                                                                                                                           Die Fleischlust der Deutschen ist zwi-
                                                                                                                                                        schen 2019 und 2020 leicht gesunken, um
                                                                                                         gesund und fröhlich aus. Heute hält er         750 Gramm auf 57,3 Kilo pro Kopf. Doch
                                                                                                         seine knapp 1000 Mastschweine nach den         um tatsächlich eine Wende zu erreichen,
                                                                                                         strengen Kriterien des Bioland-Verbands.       müsste sich der Konsum von Schnitzel und
                                                                                                         Sie haben doppelt so viel Platz wie gesetz-    dergleichen halbieren. Das schreiben die
                                                                                                         lich vorgeschrieben, die Ringelschwänz-        Autoren des „Fleischatlas 2021“, der unter
                                                             Jan Spliethofe hat es geschafft. Vor        chen werden nicht gestutzt, die Eckzäh-        anderem vom BUND und der Heinrich-
Fotos: Rafael Heygster für FOCUS-Magazin, Sonja Fröhlich

                                                           fünf Jahren stellte der Landwirt, 36 Jah-     ne nicht geschliffen, die jungen Eber nur      Böll-Stiftung herausgegeben wurde. „Es
                                                           re, verheiratet, vier Kinder, den elterli-    unter Vollnarkose kastriert. Seine Tiere       geht nicht darum, gar kein Fleisch mehr
                                                           chen Schweinemastbetrieb in Senden im         bekommen Antibiotika erst dann, wenn           zu essen“, sagt die Agrarwirtschaftlerin
                                                           Münsterland auf ökologische Haltung um.       sie wirklich krank sind. Das Futter baut       Christine Chemnitz von der Heinrich-Böll-
                                                           Er sagt: „Ich hatte es satt, nur tierisches   Spliethofe auf 130 Hektar Land nach Öko-       Stiftung. „Es geht darum, weniger und
                                                           Stückgut zu produzieren, das verramscht       standard selbst an. Geschlachtet werden        besseres Fleisch zu essen.“ Tierhaltung
                                                           und dann irgendwo geschlachtet, irgend-       die Schweine im 25 Kilometer entfernten        von kleinen Bauern, das sei das nachhal-
                                                           wo gegessen oder weggeschmissen wird.“        Schöppingen: „Zuerst kommen die Bio-           tige Zukunftsmodell. Ob und wie schnell
                                                           Heute könne er es sich nicht mehr vor-        schweine an die Reihe, damit sich Blut         die Wende gelingt, darüber entscheidet
                                                           stellen, seine Schweine auf Betonspaltbö-     und Hack nicht vermischen mit dem aus          auch die EU mit ihren milliardenschwe-
                                                           den in schlecht belüfteten Massenställen      konventionellen Betrieben.“                    ren Förderprogrammen. Für den Natur-
                                                           aufzuziehen. Quiekend laufen Spliethofe          Das meiste Fleisch vertreibt der Bioland-   schutz gab es bislang eher wenig Geld.
                                                           seine Tiere in ihren Außengehegen ent-        Verband für ihn an regionale Edeka-            Mit ihrer „Farm to Fork“-Strategie will
                                                           gegen, als er Kleegras bringt. Sie sehen      Märkte. Einen kleinen Teil verkauft Spliet-    die Kommission das nun ändern. In

                                                           FOCUS 41/2021                                                                                                                        65
Die Ernährungswende - Deutsche Gesellschaft für Ernährung
WISSEN

 Der Biomarkt                                       In der Pandemie erlebten Hofläden und
                                                 Direktvermarkter einen Ansturm von Kun-               Fleischlos
                                                                                                    lecker: vegane
 boomt, aber
                                                 den. Selbst Supermärkte und Discounter
                                                 verkaufen so viele vegetarische, vegane          Kartoffelfladen mit
                                                 und nachhaltige Produkte wie nie zuvor.           Ofentomaten und

 im Netz tobt
                                                                                                     viel frischem
                                                 Eine Umfrage des Bundeslandwirtschafts-
                                                                                                      Basilikum
                                                 ministeriums ergab: 37 Prozent der Deut-

 ein Kampf
                                                 schen haben im vergangenen Jahr häu-
                                                 fig oder gar ausschließlich Bioprodukte
                                                 gekauft. Das galt vor allem für Eier, Obst

 um die                                          und Gemüse, aber auch für Milchproduk-
                                                 te, Fleisch- und Wurstwaren. Laut Statistik

 Currywurst
                                                 stieg der Verkauf etwa von Biofleisch im
                                                 vergangenen Jahr um 50 Prozent.
                                                    Mit großen Versprechen umgarnen Her-
                                                 steller und Handel die klima- und gesund-
 dem im Mai vorgestellten Entwurf stehen         heitsbewussten Kunden. Der weltgrößte
 27 Maßnahmen, darunter höhere Ausga-            Lebensmittelkonzern Nestlé will bis 2050
 ben für den Ökoausbau, bessere Regeln           klimaneutral werden, der Chemie- und
 für den Einsatz von Pestiziden und Dün-         Pharmakonzern Bayer steigt 2022 in das
 gemitteln sowie ein einheitliches Tier-         Geschäft mit Biogemüse-Saatgut ein.
 wohlkennzeichen. Etliche Agrarverbände          Selbst Buletten-Billigheimer McDonald’s
 arbeiten derweil gerade daran, dass es          plakatiert es auf die Wände: „Es gibt kei-
 die ambitionierte Strategie nicht durchs        nen Planeten B.“ Nachhaltig, beteuern die
 EU-Parlament schafft.                           Supermärkte und Discounter, ist das neue
                                                 Geil. In ihren Abteilungen mit „veganer
 Engagierte Ernährungsräte                       Vielfalt“ und „Bioknüllern“ kann man
 In der grün geprägten Stadt Münster will        neben den eigenen Biosortimenten inzwi-
 eine Gruppe engagierter Bürger nicht län-       schen auch die höherwertige Ware von
 ger auf die Politik warten. Anfang des          Demeter und Bioland kaufen, die es zuvor
 Jahres gründeten Hochschüler, Händ-             nur in Ökomärkten gab. Sogar Discounter-
 ler, Biohöfe, Betriebe und Kliniken den         Marktführer Aldi überlegt inzwischen,
 „Ernährungsrat Münster e.V.“. Fünf              seine Biolinie von regionalen Betrieben
 Arbeitsgruppen wollen das Ernährungs-           zu beziehen.
 system in der Stadt umkrempeln: Gemü-              Das habe dann enorme Auswirkungen
 se soll aus dem Umland und urbanen              auf die Branche, weil Aldi bundesweit der
 Gemeinschaftsgärten kommen, Schulen             größte Biohändler sei, aber überwiegend                                          Christoph
 sollen wieder Kochen lehren, in Kantinen,       Bioprodukte aus dem Ausland anbiete,                                          Elbert serviert
 Altenheimen und Kitas soll es nachhaltig        sagt Andreas Hopf, Geschäftsführer der                                           in seinem
 produzierte Speisen geben. Inzwischen           Erzeugergemeinschaft „Vermarktungs-                                          Restaurant „11A“
 berät der Ernährungsrat den ersten Land-        gesellschaft Biobauern“. Sollte dies so                                      in Hannover vor
 wirt. „Der Mann betreibt bisher konven-         kommen, Aldi aber weiter auf „Bio zum                                         allem regionale
 tionelle Schweinemast“, sagt Mitinitiator       billigsten Preis“ setzen, dürften die Bio-                                       Bioküche
 Damian Winter. „Er will davon los und           bauern aber nicht den gleichen Fehler
 baut sich gerade mit Ackerfrüchten ein          machen wie früher die konventionellen
 zweites Standbein auf.“                         Betriebe, indem sie mit immer größeren
    Es ist ein Aufbruch der Zivilgesellschaft:   Betrieben und Monokulturen auf die stei-
 Über 40 Ernährungsräte gibt es inzwi-           gende Nachfrage reagierten.                     Discounter bieten eigene Sortimente mit
 schen in Deutschland, 20 weitere sind in                                                        fleischfreien Alternativen an. Die Rügen-
 Gründung. Die ersten entstanden 2016 in         Veggiewurst als Ersatzreligion                  walder Mühle, Pionier in Sachen Veggie-
 Köln und Berlin. Am Rhein ist es gelungen,      Ähnlich wie Bio boomt der Markt mit             wurst, machte mit ihren Ersatzprodukten
 Modell-Kitas mit lokalen Lebensmitteln zu       sogenannten Ersatzprodukten für Fleisch         im Juli 2020 erstmals mehr Umsatz als
 versorgen und kaum genutzte Firmen­             und Käse. Manch einer scheint die Burger        mit klassischem Aufschnitt oder Teewurst.
 gelände in Selbstpflückgärten zu verwan-        und Nuggets aus Tofu, Seitan, Kichererb-        Die Experten der Unternehmensberatung
 deln. An der Spree arbeitet man mit dem         sen und ähnlichen Rohstoffen mit fast reli-     Kearney prognostizieren, dass im Jahr
 Senat an einer nachhaltigen Ernährungs-         giösem Eifer zu verzehren. Sie enthalten        2040 nur noch 40 Prozent aller Fleisch-
 strategie für die Hauptstadt. Das Leibniz-      zwar oft ähnlich viele Zusatz- und Ver-         produkte von Tieren stammen werden.
 Zentrum für Agrarlandschaftsforschung           arbeitungsstoffe wie ihre tierischen Pen-       Bis dahin dürften die Regale auch voll mit
 in Müncheberg hat ausgerechnet, dass            dants. Doch immerhin sollen sie Lebewe-         künstlich erzeugtem Fleisch und Fisch aus
 Berlin mit Lebensmitteln aus einem Radi-        sen und Klima schonen. Die Auswahl ist          Stammzellen sein. Investoren sowie Groß-
 us von etwa 100 Kilometern rund um die          mittlerweile riesig: Selbst Billigfleischpro-   konzerne der Tech- und Fleischindustrie
 Stadt zu versorgen wäre.                        duzenten wie Wiesenhof und Meica sowie          kämpfen um den Markt mit Produkten aus

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Die Ernährungswende - Deutsche Gesellschaft für Ernährung
TITEL

                                                                                                                                                                           Mit
                                                                                                                                                                    Vertical Farming
                                                                                                                                                                       erzeugt das
                                                                                                                                                                    Berliner Start-up
                                                                                                                                                                   Infarm Kräuter wie
                                                                                                                                                                      Basilikum auf
                                                                                                                                                                     ökologische Art

                                                        dem 3D-Drucker. Die ersten Pharmaunter-        und Ingwer. Die Erderwärmung und neue         der Facharbeiterin und des Facharbeiters
                                                        nehmen entwickeln schon Nährmedien             Technologien begünstigen deren Anbau          in der Produktion. Das soll so bleiben“,
                                                        für die Herstellung von In-vitro-Fleisch.      in Mitteleuropa.                              empörte er sich auf seiner Lieblingsplatt-
                                                           Schmeckt so die Zukunft? Wohl auch.                                                       form LinkedIn. Über 2300-mal wurde der
                                                        Die jungen Verbraucher werden sehr auf-        Mehr Bio für Berliner Kantinen                Post an einem Tag kommentiert. Der grö-
                                                        geschlossen sein, glaubt Hanni Rützler,        Ob die Ernährungswende gelingt, ent-          ßere Currywurst-Coup gelang dann aller-
                                                        Ernährungsexpertin des Zukunftsinsti-          scheidet sich nicht nur in privaten Küchen,   dings der Marketingabteilung der Rügen-
                                                        tuts in Berlin und Wien. Sie hat für den       sondern auch in Kantinen, Mensen, Kitas       walder Mühle. Sie zeigte ein Bild ihrer
                                                        Konsumenten des 21. Jahrhunderts den           und Krankenhäusern sowie in der Gastro-       veganen Mühlen-Bratwurst und schrieb:
                                                        Begriff „Real Omnivore“ geprägt: „Ech-         nomie. Wie das Wuppertal Institut errech-     „Erledigt, Gerhard.“
                                                        te Allesesser“ seien Food-Tech-affin und       net hat, geben die Küchen der „Außer-           In Schröders Heimatstadt Hannover kre-
                                                        decken ihren Proteinbedarf gern auch mit       Haus-Verpflegung“ täglich insgesamt           denzt Gastronom Christoph Elbert sein
                                                        Produkten aus Algen, Mykoproteinen und         knapp 40 Millionen Portionen Essen aus.       aktuelles Menü. Darunter: „Spinat-Maul-
                                                        Insekten. Sie ernähren sich überwiegend        Berlin hat sich deshalb ein ambitioniertes    taschen mit Tomaten-Kichererbsen-Sugo“
                                                        pflanzlich und essen, wenn sie mal Fleisch     Ziel gesetzt. Innerhalb von fünf Jahren       oder „Sauerfleisch vom Havelländer Apfel-
                                                        konsumieren, nicht nur die „edlen“ Teile.      will die Hauptstadt alle Großküchen auf       schwein“. Auch seine legendäre „Kanz-
                                                        Wenig Scheu sollen sie auch vor In-vitro-      faire, regionale Biokost umstellen und die    ler-Currywurst“ steht auf der Speisekarte
Fotos: StockFood, Sonja Fröhlich, Philipp Spalek/laif

                                                        Fleisch und -Fisch haben.                      Köche schulen.                                seines Restaurants „11A“. Allerdings listet
                                                           „Die neuen Esstypen werden Genuss              Noch sind die Schlangen vor den Aus-       er akribisch die Erzeuger seines Einkaufs
                                                        mit Verantwortung verbinden, ohne sich         gabestellen mit Grünkernbratlingen kurz.      auf, überwiegend kleine Betriebe aus der
                                                        retrograd nur an einer zur Idylle stilisier-   Als Volkswagen im Sommer ankündigte,          Region. Fast vier Jahrzehnte hat Elbert in
                                                        ten Vergangenheit zu orientieren oder sich     in seiner Zentralkantine nur noch fleisch-    den guten Küchen Europas gekocht. Er
                                                        einem radikalen Verzichtsregime unterzu-       freie Speisen anbieten zu wollen, disku-      sagt, nie sei Glaubwürdigkeit so wichtig
                                                        ordnen“, schreibt Rützler in ihrem 136-sei-    tierte die Nation – und das, obwohl es auf    gewesen wie heute. „Die neue Generation
                                                        tigen „Food Report 2022“. Einen weiteren,      dem Firmengelände in Wolfsburg noch           meiner Gäste ist super informiert, isst viel
                                                        weniger futuristischen Trend sieht Rütz-       weitere Kantinen gibt. Ex-Bundeskanzler       weniger Fleisch und verhält sich kritisch
                                                        ler in exotischen, aber lokal angebauten       Gerhard Schröder (SPD) heizte die Debat-      gegenüber der Industrie.“ Womöglich sind
                                                        Genüssen – Reis aus dem Burgenland             te in den sozialen Medien an. „Curry-         genau das die richtigen Zutaten für die
                                                        oder Shiitake-Pilze, Garnelen, Koriander       wurst mit Pommes ist einer der Kraftriegel    Ernährungswende.                         n

                                                        FOCUS 41/2021                                                                                                                         67
Die Ernährungswende - Deutsche Gesellschaft für Ernährung
WISSEN

                              Faktenreport: Ernährungswende
                          Welche Lebensmittel die schlechteste CO 2-Bilanz haben, wo die Landwirtschaft in Deutschland am
                                            ökologischsten ist und was die Jungen von der Politik erwarten

                      Wo Abfälle entstehen                                                                  Ökolandbau Entwicklung
      Primärproduktion               Verarbeitung von                          Herstellende Biobetriebe                                   Entwicklung der
      1,4 Mio. t, 12 %               Lebensmitteln                              nach Bundesländern                                  Biolebensmittelherstellung
                                     2,2 Mio. t, 18 %                          2019 (Anzahl der Betriebe)                           Zuwachs 2014–2019 (in %)

                                            Groß- und Einzelhandel                                         3001 bis 4000                                         31 % bis 40 %
                                            0,5 Mio. t, 4 %                                                2001 bis 3000                                         21 % bis 30 %
                                                                                                           1001 bis 2000                                         11 % bis 20 %
                                                                                                           1 bis 1000                                            1 % bis 10 %

                                               Außer-Haus-
      private Haushalte                        Verpflegung
                                                                                                      Wachstum Zwischen
      6,1 Mio. t, 52 %                         1,7 Mio. t, 14 %
      Werteverlust Die größte Verschwendung                                                              2014 und 2019
      betreiben die Verbraucher. Jeder wirft demnach                                                    stieg die Zahl der
      75 Kilogramm Lebensmittel im Jahr weg                                                              Biobetriebe um
                                                                                                      26 Prozent auf 16 281

      Diese Lebensmittel sind die größten Klimakiller
      C02-Equivalent pro Kilo

                                                                                                                                                         Schwein
                    Butter                                                                                             Geflügel                           3,2 kg
                    23,8 kg                      Rindfleisch                              Käse                          3,5 kg
                                                   13,3 kg                               8,5 kg
      Treibhausgase Am schädlichsten für unsere Umwelt sind Produkte der Fleisch- und Milchindustrie.
      Für die Produktion von Butter braucht es viel Milch, entsprechend viele Kühe müssen gehalten werden

      Industrieländer sind kein Vorbild
      Fleischkonsum entwickelter und sich entwickelnder Länder nach Fleischarten, Jahresdurchschnitt 2017–19, in 1000 Tonnen

            Rind und Kalb                   Schwein                           Geflügel
                                                                                                                                 Pro-Kopf-Verzehr
                                                                                                               68,6              Einzelhandelsgewicht,
                                                                                                                                 Kilogramm pro Jahr
               29 300                        41 200                           48 400                 2700                                                             Schaf
      entwickelte Länder                                                                    gesamt: 121 600
                                                                                                                              26,6

                                                                                                                                                                                 Quellen: BMEL, BOELW, BUND/Heinrich-Böll-Stiftung: Fleischatlas 2021
                    40 200                                           75 100                                                              76 000                   12 300
      sich entwickelnde Länder                                                                                                                      gesamt: 203 600
      Weltverbrauch Trotz einer mehr als fünfmal größeren Bevölkerung verbrauchen die ärmeren Länder nicht
      einmal doppelt so viel Fleisch wie die reicheren. In den USA wird pro Kopf am meisten Fleisch gegessen

      Jung und kritisch
      Umfrage unter 15- bis 29-Jährigen über Klimaproteste, Ernährung und Tierhaltung in Prozent               „Es sollte staatliche                        Flexitarier/innen
                                             3,3                             3,4 1,1                           Werbekampagnen geben,
         stimme voll und ganz zu       6,1                                                                                                                  49,0 %
                                                         32,9       15,3                     39,6              um den Fleischkonsum
         stimme eher zu                                                                                        zu reduzieren.“                 27,1 %
          teils, teils        19,3         „Der Staat soll die                                                         Omnivore/Omnivorinnen
                                                                               „Die Politik sollte dafür                                            69,7 %
          lehne eher ab                  Menschen dabei unter-                  sorgen, dass Lebens-
                                          stützen, sich klima-                                                                stimme voll                          46,2 %
          lehne ganz und gar ab                                                mittel umweltgerecht                           und ganz zu,
                                              freundlicher                                                                                      Vegetarier/innen
                                                                                 erzeugt werden.“                             stimme eher zu
      Abweichungen zu 100 %                  zu ernähren.“
      sind rundungsbedingt
                                                                                                                                                               Veganer/innen
                                  38,5                                  40,5

 68                                                                                                                                                                   FOCUS 41/2021
Die Ernährungswende - Deutsche Gesellschaft für Ernährung
TITEL

                                  Auf
                                Wieners
                              Gut Kerkow
                              grasen Kühe
                                noch auf
                                Weiden

                            „Konzerne kommen billig weg“
                   Die Europa-Abgeordnete und Unternehmerin Sarah Wiener erklärt, warum sie Ersatzfleisch
                           für Unsinn hält und warum kleine Biohöfe besser unterstützt werden müssen

            I
                     m vergangenen Jahr musste             wird inzwischen aber von vielen Menschen            Um immer mehr Menschen ernähren
                     die deutsch-österreichische           missbraucht. Das Marketing der Nahrungs­            zu können, werden große Hoffnungen
                     Fernsehköchin und Unterneh-           mittelindustrie will uns weismachen, das Heil       auch auf die Digitalisierung und Gen-
                     merin Sarah Wiener Insolvenz          der Welt liege nun in künstlichen, minderwerti-     technik in der Landwirtschaft gesetzt.
                     für ihre beiden Berliner Restau-      gen Ersatzprodukten – den Surrogaten.                  Gerade diese Effizienz hat uns doch an den
                     rants und den Cateringbetrieb         Sie meinen damit etwa vegane Wurst                  Abgrund geführt: Hochleistungspflanzen und
            anmelden. Grund dafür, sagte sie, seien        und In-vitro-Fleisch aus dem Labor.                 Hochleistungskühe, die auf den Punkt normiert
            die wirtschaftlichen Auswirkungen der             Es gibt inzwischen alles Mögliche als Fake.      abliefern und nach zwei oder drei Laktationen
            Corona-Krise. Inzwischen verbringt die         Das sind schwerstverarbeitete Lebensmittel,         zum Abdecker gehen, weil sie Burnout haben.
            59-Jährige viel Zeit mit Politik. Seit zwei    bei denen die Natur nur eine untergeordnete         Hühner, die bis zum letzten Tag Eier legen, Nutz-
            Jahren sitzt Wiener als Parteilose für die     bis gar keine Rolle mehr spielt. Gerade die neue    tiere, die trotz Deformationen, Krankheiten,
            österreichischen Grünen im Europa­-            vegane Maschinerie verschlingt Milliarden an        Amputationen und falscher Ernährung Leis-
            parlament und kämpft etwa für die Ziele        Forschung und wird von der gleichen Industrie       tung bringen. Das sind direkte Folgen von unse-
            des „Green Deal“. Ihre Liebe zur Natur-        bedient, die auch die Massentierhaltung zu ver-     rer Vorstellung des ewigen Wachstums und der
            landwirtschaft lebt sie als Bäuerin auf        antworten hat. Schon lange wird in den Science-     Effizienz. Die Folge ist eine seelische Abspaltung
            ihrem Gut Kerkow in der Uckermark aus          Laboren großer Konzerne wie Nestlé an unserem       davon, dass dies ja unsere Mitgeschöpfe sind.
            – mit glücklichen Rindern auf der Weide        Stoffwechsel geforscht, um uns dann „perso-         Was schlagen Sie als Lösung vor?
            und gesundem Boden.                            nalisierte“ Abonnements für Mikronährstoffe            Statt immer neue Systeme für die Agroindus-
              Wiener spart nicht mit Kritik an der         anzubieten. Essen muss aber nicht personali-        trie zu schaffen, sollten wir uns auf eine dezen­-
            Lebensmittelindustrie, etwa indem sie          siert, sondern individualisiert sein. Die frische   trale, lebendige, ökologische Landwirtschaft
            mit dem Trend zur veganen Ernährung            Vielfalt macht’s!                                   konzentrieren – die gibt es bereits und sie
            abrechnet: „Denn leider rettet auch sie                                                            kommt ganz ohne Chemie aus! Warum pro-
            nicht die Welt.“ Wir erreichen sie zwi-                                                            bieren wir es nicht einfach damit?
            schen zwei Sitzungen in Brüssel.                     „Wir haben bereits eine                       Derzeit wirtschaften erst 13 Prozent
                                                                Lösung – und das ist eine                      unserer Bauernhöfe nach dem Bioprinzip.
            Frau Wiener, was bedeutet nach-                                                                    Wie wollen Sie die anderen überzeugen?
            haltiges Essen für Sie?
                                                                  lebendige, ökologische                          Nach einem ganz einfachen Prinzip: Kleine
              Für mich ist das immer noch die regionale,               Landwirtschaft“                         Betriebe müssen für ihre Umweltbemühungen
Foto: dpa

            ökologische und glückselig machende Ge-                                        Sarah Wiener        belohnt werden, alle, die Ressourcen zerstö-
            schmacksvielfalt. Der Begriff Nachhaltigkeit                                                       ren und ausbeuten, sollten einen angemes-

            FOCUS 41/2021                                                                                                                                     69
Die Ernährungswende - Deutsche Gesellschaft für Ernährung
WISSEN                                                                                                                                               TITEL

                                                                                                              Die wichtigsten
                                                                                                            Lebensmittel-Label
                                                                                                                           Deutsche Anbauverbän-
                                                                                                                           de wie Bioland, Demeter
                                                                                                                           und Naturland setzen
                                                                                                                           die höchsten Ökostan-
                                                                                                                           dards für ihre Betriebe
                                                                                                                           – sie liegen teils weit
                                                                                                                           über denen der EU
                                                                                                                           und beinhalten auch
                                                                                                                           strenge Regeln für eine
        Mit einer                                                                                                          artgerechte Tierhaltung
      Stiftung sorgt
      Wiener dafür,
       dass Kinder                                                                                                         Das EU-Biologo und das
       ausgewogen                                                                                                          deutsche Biosiegel stehen
           essen                                                                                                           auf Lebensmitteln, die
                                                                                                                           den Mindeststandard laut
                                                                                                                           EG-Bioverordnung erfüllen
 senen Preis dafür zahlen. Bislang ist es genau       Verarbeitungsgrad, Umweltgifte und Zusatz-
 umgekehrt; die mit den größten Flächen erhal-        stoffe aus. Zumindest müsste das Label Nova,
 ten die höchsten Subventionen. Das führt dann        das vier Stufen der Verarbeitung einordnet, mit                      Nur den Mindeststandard
                                                                                                                           garantieren auch die Labels der
 zu diesem unlauteren Wettbewerb und enormen          Nutri-Score verbunden werden.
                                                                                                                             Discounter und Supermärkte auf
 Sterben der Kleinbauern, die nicht – oft auch        Was sollen wir nun einkaufen?
                                                                                                                             ihren Eigenmarken
 noch steuerfrei – für den Weltmarkt produzie-           Das Allerbeste ist, selbst frisch und vielfäl-
 ren können und wollen. Der Staat muss also           tig und am besten aus ökologischem Anbau
 ganz neue Regeln schaffen, um die ökologische        zu kochen. Die hochverarbeiteten Industrie­                          Das Zeichen steht für soziale
 Landwirtschaft voranzubringen.                       produkte sind immer minderwertiger.                                  Aspekte wie Verbote von Zwangs-
 Die „Farm to Fork“-Strategie der                     Nicht jeder kann sich den Einkauf im Hofladen                        und Kinderarbeit. Rund die Hälfte
 EU-Kommission, an der Sie mitgearbeitet              oder auf dem Wochenmarkt leisten.                                    der Produkte ist bio
 haben, hat sich diesbezüglich                           Wir können die soziale Frage nicht mit
 ambitionierte Ziele gesetzt.                         der ökologischen aufwiegen. Sollen nun alle
    Da steht zum Beispiel drin, dass wir bis zum      schlechtere Nahrungsmittel essen oder brau-                          Fisch aus nachhaltigem Fang
 Ende des Jahrzehnts 25 Prozent Ökolandbau            chen wir Rahmenbedingungen, damit alle gut                           verspricht die Organisation
 anstreben und den Einsatz von Antibiotika um         essen können? Wenn wir als eines der reichs-                         Marine Stewardship Council.
 die Hälfte reduzieren wollen. Es ist ein steiniger   ten Länder beschließen, gesund und nach­-                            Umweltverbände empfehlen das
 Weg dorthin. Viele konservative Politiker und        haltig zu essen, dann würden alle vom frucht-                        Zertifikat nur eingeschränkt
 Politikerinnen wollen alles so belassen, wie es      baren Boden, der Biodiversität und dem Klima
 ist. Da ist viel Angst und Mutlosigkeit. Es gibt     profitieren. Viele Ursorten verschwinden indes
 auch große Unterschiede zwischen den Mit-            zusehends. Wer niemals den Geschmack etwa                            Lebensmittel und Kosmetik, die
 gliedsländern. Während etwa Österreich das           von scharfen, länglichen Radieschen oder von                         ohne Gentechnik produziert
 Ziel beim Ökolandbau schon erreicht hat, sind        sonnengereiften, würzigen gelben oder rosa                           wurden. Manchmal irrelevant wie
 andere erst bei ein oder zwei Prozent.               Tomaten kennengelernt hat, wird auch keine                           die Bezeichnung „vegan“ bei Reis
 Die Strategie beinhaltet auch Maßnahmen              Sehnsucht danach entwickeln.
 für eine einheitliche Lebensmittel-                  Wer sollte also für das Bioprinzip
                                                                                                                           Skala für Eigenmarken, an der
 kennzeichnung. Genügt der Nutri-Score                bezahlen, das Sie fordern? Die
                                                                                                                           Verbraucher sehen sollen, wie
 nicht, mit dem die großen Hersteller                 Verbraucher mit ihren Steuern?
                                                                                                                           nahrhaft ein Lebensmittel ist
 und Handelsketten ihre Eigenmarken                      Ich bin klar für das Verursacherprinzip: Lasst                    (E steht für „sehr ungünstig“)
 seit Kurzem freiwillig auszeichnen?                  doch mal die Lebensmittel- und Agrarindustrie
    Mit dem Nutri-Score haben sich die Konzerne       dafür zahlen, was sie alles anrichtet, statt indi-
 drei Sünden herausgesucht – Zucker, Salz und         rekt Pestizide und Mineraldünger zu subventio-
 Transfette –, um zu labeln, in welchem Maß die       nieren. Soll sie für die Milliarden Krankenkosten
 in den Produkten im Vergleich zur gleichen Pro-      und den Verlust an fruchtbarem Boden aufkom-
 duktgruppe stecken. Die freuen sich ja gerade-       men. Für die Milliarden, um unser Trinkwas-
 zu, wie billig sie damit davonkommen.                ser zu reinigen. Auch dafür brauchen wir neue
                                                                                                           Mehrere Handelsketten drucken inzwischen ihr
                                                                                                                                                               Foto: imago images

 Was meinen Sie damit?                                Regeln: Was ist gestattet? Was kostet es, wenn
    Zucker kann man mit – zum Teil krebserre-         ich dagegen verstoße? Dann werden wir sehen,         freiwilliges „Haltungsform“-Etikett auf ihre
 genden – Zuckeraustauschstoffen ersetzen.            was günstiger und was zukunftsfähiger ist. n        Fleischverpackungen. Es ist kein Tierwohl-Label,
                                                                                                           sondern ordnet lediglich das bestehende Angebot
 Salz durch Glutaminsäure, Fette durch Hoch-
                                                                                                           in vier Stufen ein – vom gesetzlichen Mindest-
 leistungsenzyme. Das Label sagt nichts über                                 INTERVIEW: SONJA FRÖHLICH
                                                                                                           standard (1) bis zum Biostandard (4)

 70                                                                                                                                           FOCUS 41/2021
Die Ernährungswende - Deutsche Gesellschaft für Ernährung
Unerklärliches. Erklärt.

Das Unerklärliche – mit William Shatner DI 20:15
WISSEN                                                                                                                                    TITEL

 Gemüse auf den Teller!                                                                                    4 Freitag gibt’s Fisch – aber
                                                                                                             besser nicht jeden
 Wissenschaftler haben die Planetary Health Diet entwickelt.                                               Laut Leitlinie steht jedem Bewohner
                                                                                                           der Erde pro Woche ein Fischfilet von
 Ihr Speiseplan soll Gesundheit und Klima schützen                                                         knapp 200 Gramm zu. Es kann auch
                                                                                                           etwas mehr sein, wenn bei anderen
                                                                                                           tierischen Eiweißlieferanten gespart
                                                                                                           wird. Der neue Fischratgeber des
                                                                                                           WWF empfiehlt aus Gründen der
                                                                                                           Nachhaltigkeit, kleinere Schwarm­
                                                                                                              fische wie Sprotte und Sardine
                                                                                                                    oder auch Karpfen zu kaufen
                                                                                                                      – statt Raubfische wie
                                                                                                                Schwertfisch, Kabeljau, Dorade
                                                                                                           oder Lachs.

                                                                                                           5 Die Milch macht es nur
                                                                                                             in kleinen Mengen
                                                                                                           Butter gilt als größter Klimakiller –
                                                                                                           noch vor dem Rindfleisch (s. Fakten-
                                                                                                           report S. 68). Für ihre Herstellung
                                                                                                           ist jede Menge Milch erforderlich.
                                                                                                           Dafür wiederum braucht es intensive
                                                                                                           Kuhhaltung. Durch Verdauungsgas
                                                                                                           und Futterproduktion werden dabei
                                                                                         Kleiner           viele Treibhausgase freigesetzt.
                                                                                      CO2-Abdruck:         Die Forscher empfehlen pro Tag nur
                                                                                        Heimische          250 Milliliter Vollmilch oder aus
                                                                                      Wurzeln, Salate
                                                                                                           dieser Milchmenge hergestellte Pro-
                                                                                        und Nüsse
                                                                                                           dukte – das entspricht etwa einer
                                                                                                           kleinen Scheibe Käse. Wer mehr Fett
                                                                                                           aufs Brot will, sollte auf Pflanzen-
                                                                                                           margarine umsteigen.

 E                                                                                                         6 Den
          ine Ernährung, die Klima          ler liegen. Beides schaltet freie Radi-                              Salat mit Nüssen und
          und Ressourcen schont und         kale aus und stärkt unsere Abwehr-                               Apfelstücken garnieren
          gleichzeitig gesund ist,          kräfte. Gemüse schneidet bei der                               Nüsse sollten in Zukunft eine größere
 basiert auf pflanzlichen Lebensmit-        C02-Bilanz am besten ab.                                       Rolle in unserer täglichen Ernährung
 teln. Vegetarisch oder vegan muss sie                                                                     spielen. 50 Gramm pro Person passen
 allerdings nicht sein, schreibt die Eat-
 Lancet-Kommission. Das Gremium             2 Vollkornnudeln
                                              Hülsenfrüchte
                                                             und mehr                                      zum Beispiel gut in einen Salat. Ein
                                                                                                           Apfel darin deckt schon je nach Größe
 aus 37 internationalen Forschern aus       Etwa 230 Gramm Vollkornprodukte                                die täglich empfohlene Menge von
 Landwirtschaft, Klimaforschung und         werden pro Tag empfohlen – etwa                                200 Gramm an Obst ab.

                                                                                                                                                    Illustrationen: Franziska Altmann, Betül Rühmann beide FOCUS-Magazin
 Medizin hat die „Planetary Health          als Vollkornnudeln. Statt Hackfleisch
 Diet“ entwickelt. Ihre Empfehlungen
 legen eine tägliche Energieaufnahme
                                            ließen sie sich mit einer Bolognese-
                                            Sauce aus Linsen oder Erbsen kombi-                            7 Am besten Flexitarier
                                                                                                             werden
 von 2500 Kilokalorien zugrunde. Für        nieren. Hülsenfrüchte liefern wert-                            Als wichtigste Regel gilt: Weniger
 die Deutschen könnte der Speiseplan        volles Eiweiß. Die Forscher raten zu                           Fleisch essen! Experten raten, nicht
 der Zukunft etwa so aussehen:              täglich 75 Gramm.                                              mehr als 25 Prozent des Eiweißbe-
                                                                                                           darfs über Fleischkonsum zu decken.

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                                                                                         LESERDEBATTE
      Grünes Gemüse                              Ein Ei und manchmal                                       Nach der „Planet Health Diet“ stehen
      aus der Region                             auch zwei                                 Sollte der      jedem Erdenbürger pro Woche im
 Der wichtigste Bestandteil jeder Mahl-     Wer am liebsten jeden Morgen ein            Fleischkonsum      Schnitt 200 Gramm Geflügel zu, das
 zeit ist Gemüse. Insgesamt 300 Gramm       Frühstücksei isst, wird sich stark           durch Steuern     ist etwa ein Hähnchenbrustfilet. Noch
 pro Tag sollten es sein. Die Kommis-       einschränken müssen: Gemäß den                und Gesetze      weniger ist es bei Rind-, Schweine-
 sion empfiehlt, dass davon jeweils         Empfehlungen soll ein Ei pro Woche         reduziert werden?   oder Lammfleisch. Etwa ein kleines
 100 Gramm als rotes und grünes             ausreichen. Mit der angegebenen               Schreiben Sie    Rindersteak von 196 Gramm pro
 Gemüse gegessen werden. Vor allem          Spannbreite von bis zu 25 Gramm Ei                uns an       Woche ist bereits die Menge, die laut
 dunkelgrünes Gemüse wie Spinat             pro Tag könnten es auch, je nach               leserbriefe@    Eat-Lancet-Kommission nicht über-
 oder Brokkoli sollte öfter auf dem Tel-    Größe, zwei Eier pro Woche sein.            focus-magazin.de   schritten werden sollte.            n

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Dieser Text
zeigt evtl. Pro-
bleme beim
Text an

                                                                     Die Nr. 1 Marke
                                                                   im Hustensegment*

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                Packungsbeilage beachten. Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und
              fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. * Quelle: AGM Nielsen LEH + DM o. HD, Husten, MAT 06/21.
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