Die Generalistik kommt! - Was sich mit der neuen Ausbildung ändert "Ende eines Erfolgsmodells"
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
November 2019/2 Die Generalistik kommt! „Ende eines Erfolgsmodells“ Chance oder Risiko? Was sich mit der Ingrid Hastedt und Wie die Praxis die Reform neuen Ausbildung ändert Ute Schienmann im Gespräch der Pflegeausbildung beurteilt Seite 4 Seite 8 Seite 12
›› Inhalt Abschluss Fokus ›› Neue Pflegeausbildung Pflege- lu ss fachmann Ab sch - Alten n ri pflege Die Generalistik kommt – das ändert sich! 4 Die neue Pflegeausbildung im Überblick „Ein Erfolgsmodell wird abgeschafft“ 8 Karri ere Im Gespräch: Vorstandsvorsitzende Ingrid Hastedt und Bildungszentrums-Leiterin Ute Schienmann Generalistische Pflegeausbildung – Chance oder Risiko? 12 Stimmen aus der Praxis Qualität ›› Aus unserer Arbeit Von der Servicefachkraft zum Altenpflegeberuf 14 Für Gjyste Scardamaglia und Joscha Hübenthal war die Servicehelfer-Ausbildung ein Sprungbrett Stammpersonal stärken – neue Kräfte binden 16 Die 63. Fachtagung des Wohlfahrtswerks gab Impulse für eine erfolgreiche Personalarbeit im Pflegeheim Mit Musik durch das Jahr 18 2019 ist beim Wohlfahrtswerk das „Jahr der Musik“ Impressum Herausgeber Glücksfaktor Essen 20 Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg Das Jakob-Sigle-Heim wurde als „Botschafter emotionaler Falkertstr. 29 · 70176 Stuttgart Genuss“ ausgezeichnet www.wohlfahrtswerk.de V.i.S.d.P.: Ingrid Hastedt, Vorsitzende des Vorstands Eine Zeit der Expansion 22 Redaktionsleitung Ein Rückblick auf die aktive Zeit des verstorbenen Katja Kubietziel (kk) früheren Vorstands Paul S. Held Tel. 0711 / 6 19 26-104 Fax 0711 / 6 19 26-199 „Die Idee passt bis heute“ 24 katja.kubietziel@wohlfahrtswerk.de Redaktionelle Mitarbeit Nach 37 Jahren beim Wohlfahrtswerk geht Erwin Müller in Rente – ein Anja Wieland (aw), Frank Bantle (fb), Gespräch zum Haus am Weinberg und Entwicklungen der Altenhilfe Stephanie Rieder-Hintze (srh) Fotos Titelfoto: Adobestock; Fotos S.20-21: ›› Panorama 26 Transgourmet; Foto S. 29: privat. Kurz berichtet Alle weiteren Fotos: Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg Satz und grafische Gestaltung ›› Menschen 28 Kreativ plus GmbH Maria Krämer: Die ausgezeichnete Azubine Hauptstr. 28 · 70563 Stuttgart Druck und Herstellung Krautheimer Werkstätten für Menschen mit Behinderung gGmbH In der Au 15 · 74238 Krautheim Das Wohlfahrtswerk für Baden-Würt temberg ist Mitglied im Paritätischen Spendenkonten Wohlfahrtsverband. Die Stiftungszeitschrift Baden-Württembergische Bank (BIC: SOLADEST600) IBAN: DE85 6005 0101 0002 0264 08 WEITwinkel erscheint zweimal jährlich und kann kostenlos bezogen werden. Postbank Stuttgart (BIC: PBNKDEFFXXX) IBAN: DE51 6001 0070 0002 8257 03 Auflage dieser Ausgabe: 5.500 Bank für Sozialwirtschaft Stuttgart (BIC: BFSWDE33STG) IBAN: DE46 6012 0500 0007 7395 00
Editorial ‹‹ Liebe Leserin, lieber Leser, wussten Sie, dass es eine Ausbildung speziell für die in diesem Jahr beschäftigt. Ergebnis ist ein 180 Pflege Älterer nur in Deutschland und in Österreich Seiten füllendes Abschlusspapier. Dieses beschreibt gibt? Und dass unsere duale Ausbildung – also nicht nur über 300 notwendige Maßnahmen im die enge Verzahnung von betrieblicher Praxis und Detail, sondern sagt auch konkret, durch wen sie Unterricht in der Berufsfachschule – in anderen jeweils umzusetzen sind. Dazu zählen Bundes- Ländern gar nicht existiert und sogar als Vorbild und Landesbehörden, Fachverbände, Pflege- und gilt? Ab 2020 wird sich bei der Pflegeausbildung in Krankenkassen, Gremien der Selbstverwaltung und Deutschland vieles ändern: Aus den drei bisherigen natürlich auch die Krankenhäuser und Pflegeein- Ausbildungen Krankenpflege, Kinderkrankenpfle- richtungen. ge und Altenpflege wird dann eine gemeinsame Pflegeausbildung. Die Fachwelt beschäftigt dieses Diese Vielfalt der Akteure zeigt, dass eine Ver- im Moment sehr; noch ist vieles unklar und Vor- besserung der Rahmenbedingungen ein komplexes bereitungen auf diese einschneidende Umstellung Unterfangen ist, bei dem vieles parallel anzuge- laufen – natürlich auch bei uns. Wir beleuchten hen ist und das erst durch das Zusammenwirken in diesem Heft Fakten und Meinungen zu dieser aller beteiligten Seiten gelingen kann. Dieses neuen generalistischen Pflegeausbildung. fordert erneut Zeit und Geduld und wird letzt- lich auch zu weiteren Reformen der Pflegeversi- Neben einer guten Ausbildung braucht es für die cherung führen müssen. Doch der Blick auf die in der Pflege Tätigen auch gute Rahmenbedin- demografische Entwicklung und die Situation gungen. Damit hat sich eine von drei Bundesmi- auf dem Arbeitsmarkt zeigt: Es geht kein Weg nistern eingesetzte „Konzertierte Aktion Pflege“ daran vorbei. Es grüßt Sie herzlich Ihre Ingrid Hastedt WEITwinkel • November 2019 • 2 3
Fokus ›› Neue Pflegeausbildung Die generalistische Pflegeausbildung Das ändert sich! Das wird kommen 1 Ab 2020 tritt die Pflege 3 Im dritten Jahr gibt es ein Wahlrecht: berufereform in Kraft: Wer durch die Auswahl des Trägers Es wird dann keine seinen Schwerpunkt auf die Pflege Aufteilung in Alten-, alter Menschen gelegt hat, kann Kinderkranken- und dann entweder die generalistische Krankenpflege mehr Ausbildung fortsetzen oder den Ab- geben. schluss „Altenpfleger/in“ anstreben. 2 Alle Azubis starten mit 4 Das gleiche gilt für Azubis in der dem Ausbildungsziel Kinderkrankenpflege: Sie können „Pflegefachfrau bzw. im dritten Jahr ebenfalls wählen, ob Pflegefachmann“. sie den generalistischen Abschluss Die ersten beiden oder den Abschluss als Gesundheits- Jahre lernen sie die und Kinderkrankenpfleger erwerben gleichen Inhalte in möchten. Theorie und Praxis. 2 Jahre GENERALISTISCHE AUSBILDUNG Quelle: Homepage des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 3. Jahr Gesundheits- Berufs- Pflege- Altenpfleger/in und Kinder- abschluss fachfrau/-mann krankenpfleger/in 4 WEITwinkel • November 2019 • 2
Fokus ›› Neue Pflegeausbildung Gründe für die Reform 1 Krankenpflege wird auch im Pflegeheim immer wichtiger, denn: Die Bewohner sind oft chronisch und mehrfach erkrankt. Die pflegerische Versorgung wird immer anspruchsvoller. 2 Altenpflege wird auch im Krankenhaus 88 + % immer wichtiger, denn: Die Patienten sind häufig an Demenz erkrankt. Kenntnisse MEHR PFLEGEBEDÜRFTIGE BIS ZUM JAHR 2050 im Umgang mit alten Menschen werden immer wichtiger. Abschluss Pflege- s h lu s fachmann Absc - Alten f le g erin p 3 Durch den demografischen Wandel braucht die Pflege mehr Personal. Die generalistische Ausbildung soll 2,4 2,9 3,4 3,9 4,5 Mio. Mio. Mio. Mio. Mio. den Beruf für noch mehr Menschen attraktiv machen. 4 Deutschland zieht mit der Reform international nach: In anderen Quelle: Homepage des europäischen Ländern wird in der Pflege schon lange generalistisch Bundesministeriums für Familie, ausgebildet, den Beruf Altenpfleger/in kennt man dort nicht. Der Senioren, Frauen und Jugend Ka rri ere generalistische Berufsabschluss wird europaweit automatisch anerkannt werden. Das dürfen künftig nur Pflegefachkräfte Qualität Den Pflegebedarf erheben, den Pflegeprozess steuern und die Qualität sicherstellen – diese Aufgaben dürfen künftig ausschließlich durch Pflegefachkräfte ausgeübt werden. Deshalb werden sie „Vorbehaltsaufgaben“ genannt. WEITwinkel • November 2019 • 2 5
Fokus ›› Neue Pflegeausbildung usbildung · 2.100 eA Std ch . u lis h Ka rri ere Sc Pflegeausbildung mit akademischem Grad 4.600 Ein neues grundständiges Pflegestudium soll erweiterte Karrieremöglichkeiten Stunden Orientie Std. und Aufstiegschancen eröffnen: Es vermittelt die Kompetenzen der dualen In de Pflegeausbildung in Berufsschule und Praxisstelle, ergänzt diese um pflege 400 rung r Al wissenschaftliche Inhalte und befähigt zur Steuerung und Gestaltung St sph d. st ggf ten hochkomplexer Pflegesituationen. Das Studium dauert mindestens drei Jahre Be 5 00 ase pfl . in chen tri e 2 b li c h e g· A u s b il d u n eg und schließt mit der Berufsbezeichnung „Pflegefachfrau/Pflegefachmann“ i de Be ee re ic in M in Verbindung mit dem akademischen Grad ab. Wer bereits eine Pflege- htun ren r e g · Mich nd Min es In a ausbildung mitbringt, kann sich Leistungen anrechnen lassen. Pf 4 h gibt de lic 00 tein 1 Mio.stens 1.300 S Qualität St sat Mal td. d. z Vertie fungseinsatz 500 Std. Kostenfreie Ausbildung für alle Was in Baden-Württemberg bereits seit 1990 gilt, kommt jetzt für alle Bundesländer: Künftige Zusätzlich: Zur freien Zusätzlich: Erweiterung Schülerinnen Verteilung und Schüler müssen kein Schulgeld · 80 Std. des Ausbildungshorizonts mehr für die Pflegeausbildung bezahlen. (z.B. Pflegeberatung) · 80 Std. BISHERIGE ALTENPFLEGEAUSBILDUNG usbildung · 2.100 h eA Std isc . ul h Sc Ambulante gern* · 500 Std. bei deren Bereichen ggf. Pflege 4.600 Stunden Geronto- ren Trä psychiatrische Einrichtung ande n In a t Krankenhaus d. Be 0S 50 trie b lic h e g · 2. In A u s b il d u n de lte rA n pf le g * Diese Zeiten wurden häufig eei n r ic ht u n td . im ausbildenden Betrieb erbracht, g · M in d e s t e n s 2 .0 0 0 S mindestens 100 Stunden im Außeneinsatz waren vorgeschrieben. · Inhalt und Grafik: Wohlfahrtswerk 6 WEITwinkel • November 2019 • 2
Fokus ›› Neue Pflegeausbildung Mehr Praxisanleitung für Azubis Für Azubis wird es künftig mehr Anleitung in ihrer betrieblichen Ausbildung geben – das soll die Ausbil- dungsqualität erhöhen. Waren bisher 25 Stunden pro Halbjahr vorgesehen, müssen künftig mindestens zehn Prozent der Ausbildungszeit auf die Praxisanleitung entfallen. Die Kosten dafür bekommen die ausbildenden Einrichtungen aus dem Ausgleichsfonds ersetzt. KÜNFTIGE AUSBILDUNG IM PFLEGEHEIM ildung · 2.10 e Au sb 0S sch t d. i ul h Sc Pädiatrische Versorgung (z.B. im Kinderkrankenhaus) 4.600 120 Std. ren Trägern Stunden Psychiatrische Orientie Std. Versorgung (z.B. in Gerontopsychiatrie) 1.0 ei ande In de td. 120 Std. 400 rung 40 S r Al b t ste ggf. sph d. ten 0S Be 50 ase ns pfl · 2. in chen tri e b li c h e g Ambulante Pflege A u s b il d u n eg i de Be M ee re ich (z.B. bei ambulantem in ren r tu e Pflegedienst) · 400 Std. ng ·M In and Pf 4 h in d lic e s te 00 tein ns 1.3 St sat 00 Std. d. z Vertie Stationäre Akutpflege fungseinsatz (z.B. im Krankenhaus) · 400 Std. 500 Std. Zusätzlich: Zur freien Zusätzlich: Erweiterung Verteilung · 80 Std. des Ausbildungshorizonts (z.B. Pflegeberatung) · 80 Std. Quelle: Inhalt nach www.pflegeausbildung.net; Grafik Wohlfahrtswerk WEITwinkel • November 2019 • 2 7
Fokus ›› Neue Pflegeausbildung „Ein Erfolgsmodell wird abgeschafft“ Die generalistische Pflegeausbildung kommt – was sind Befürchtungen und Hoffnungen der Altenpflege? Wir sprachen mit der Vorstandsvorsitzenden Ingrid Hastedt und Ute Schienmann, die das Bildungszentrum Wohlfahrtswerk leitet. Die wichtigste Frage vorab: Wie beurteilen Sie die Ein zentrales Argument ist ja, dass sich die geplante Reform? Anforderungen in der Pflege verändert haben. Hastedt: Ich kann nur sagen: Glückwunsch an Schienmann: Das stimmt. Im Krankenhaus muss die Krankenhäuser – die brauchen diese Reform man sich auf Demenz und Hochbetagte einstellen. dringend. Für die Altenhilfe finde ich die Ziel- Gleichzeitig sind Pflegeheime dadurch gefordert, setzung verfehlt. dass die Bewohner mehrfach und chronisch erkrankt sind und schneller aus den Krankenhäusern entlas- Schienmann: Leider ist der Zeitpunkt schwierig. sen werden. Kenntnisse aus der Behandlungspflege Die Einrichtungen am Lernort Praxis haben im wie Beatmung oder Wunddrainagen spielen deshalb Augenblick unfassbar viele Neuerungen zu be- auch zunehmend in der Altenpflege eine Rolle. wältigen wie zum Beispiel die Umstellung der Qualitätserhebungen und die Einführung der Da klingt es doch sinnvoll, Fachkräften bereits in „entbürokratisierten Pflegedoku“. Die Fachkräfte der Ausbildung mehr pflegerische Kenntnisse zu sind bereits jetzt an der Kante ihrer Belastungen. vermitteln? 8 WEITwinkel • November 2019 • 2
Fokus ›› Neue Pflegeausbildung Wer Menschen mit Demenz versorgt, muss ganz viel Geduld haben, Kreativität mitbringen und nach Lösungen für herausforderndes Verhalten suchen – für solche Themen bleibt künftig weniger Raum. Ingrid Hastedt Schienmann: Das ist richtig. Aber die Generalistik bisher. Wir werden die Absolventen nach der wird durch ihren breiten Ansatz auch nicht alle Ausbildung für die Altenpflege deshalb weiter erforderlichen fachpflegerischen Inhalte vermitteln qualifizieren müssen. können. Deshalb werden wir auch in Zukunft Wei- terbildungen benötigen, die auf besondere Pfle- Werden sich mehr Menschen für den Beruf gebedarfe zugeschnitten sind. Und ich hoffe, dass entscheiden, wenn die Ausbildung attraktiver uns als Schule genügend Raum bleiben wird, die wird? Das ist ja ein weiteres Argument für die Kompetenzen zu vermitteln, die für den Umgang Generalistik… mit Menschen mit Demenz erforderlich sind. Hastedt: In den ersten zwei Jahren sind die Azubis Hastedt: Die Ausbildungsdauer bleibt gleich, des- künftig in vielen verschiedenen Einrichtungen. halb wird nicht mehr Wissen vermittelt werden, Für einen Teil wird das interessanter sein als sondern anderes. Wer Menschen mit Demenz bisher. Für andere, die zunächst die Sicherheit versorgt, muss ganz viel Geduld haben, Kreati- durch Einbindung in ein Team brauchen, nimmt vität mitbringen und nach Lösungen für heraus- die Herausforderung zu. Auf der Metaebene hat forderndes Verhalten suchen – für solche The- die Politik Karriereoptionen und Durchlässigkeit men bleibt künftig weniger Raum. „Weniger in für die Generalistik ins Feld geführt – das sind die Tiefe und mehr in die Breite“ ist das Motto Argumente, die vor allem auf Schulabgänger ab- der Generalistik. zielen. In unseren Altenpflegeklassen sitzen aber auch Frauen nach der Familienphase, nur ein Teil Die Azubis werden weniger Zeit im Pflegeheim sind Schulabgänger. Außerdem sind es fast aus- ausgebildet – reicht das für den späteren Einsatz schließlich Personen mit Migrationshintergrund. aus? Für die meisten unserer bisherigen Zielgruppe zählen andere Argumente… Hastedt: Was heute jemand nach drei Jahren Al- tenpflegeausbildung gelernt hat, können drei Jahre Schienmann: …nämlich bei denjenigen, die zur Generalistik nicht erreichen – das wäre eine Über- Ausbildung ins Land kommen, vor allem finan- forderung. Selbst mit einer Vertiefung im dritten zielle: Viele kommen, weil sie eine wirtschaftliche Jahr in der Altenpflege ist die gesamte Zahl der Notwendigkeit haben. Viele schicken Geld an ihre Altenpflege-Praxisstunden deutlich geringer als Familien. Wenn es weiterhin unterschiedliche WEITwinkel • November 2019 • 2 9
Fokus ›› Neue Pflegeausbildung Bezahlung gibt und das Krankenhaus 300 Euro Wird hier also ein Erfolgsmodell abgeschafft? mehr bezahlt, werden sie dorthin gehen. Schienmann: Delegationen aus China, der Türkei Hastedt: Die Attraktivität eines Berufs hängt doch und anderen Ländern kommen zu uns, weil das mit guten Rahmenbedingungen bei der Arbeit zu- deutsche System in der Altenpflege und der Al- sammen. Dazu hat die Konzertierte Aktion Pflege tenpflegeausbildung so attraktiv ist. Da ist viel jüngst viele Vorschläge gemacht – auch, dass das „Hirnschmalz“ und soziologische Hintergrund- Gehaltsgefälle zwischen Pflegeheim und Kran- arbeit in die Entwicklung eingeflossen. Wir gel- kenhaus abgeschafft werden muss. Sehr gut! Zur ten anderswo als Vorbild. Ich hoffe sehr, dass das Beseitigung braucht es aber nicht die Generalistik, Leben und Wohnen im Alter auch in der neuen sondern Finanzierbarkeit durch Pflegesätze und Ausbildung so gut vermittelt werden kann. ambulante Entgelte. Hastedt: Andere Länder kennen ja gar keine Muss die Altenpflege am Ende mit weniger statt duale Ausbildung und haben auch keine Ausbildung mit mehr Azubis rechnen? für Pflegehilfskräfte. Dort gibt es entweder ange- lernte Hilfskräfte oder Akademiker – und nichts Hastedt: Bisher war die Rekrutierung erfolgreich: dazwischen. Es gibt inzwischen mehr Fachkräfte der Alten- pflege als der Krankenpflege. Und für alle Berufe Das System selbst hätten Sie also belassen – was werden demografisch bedingt Bewerberzahlen hätte man ändern sollen? sinken. Aber es gibt ja die These, dass die Ar- beit im Krankenhaus so unattraktiv sei, dass viele Hastedt: Eine sinnvolle Weiterentwicklung wäre Absolventen in der Altenpflege bleiben werden – gewesen, sich über akademische Pflegekräfte und warten wir mal ab. ihre Rolle im Vergleich zu den dual Ausgebildeten Gedanken zu machen. Ein breites Spektrum an Pflegekräften, die für die vielfältigen Einsatzfelder mal mehr und mal weniger geeignet sind – da- mit hätten beide Seiten die Auswahl gehabt: die Pflegekräfte selbst und auch wir als Arbeitgeber. Stichwort Akademisierung: Geplant ist auch ein neues grundständiges Pflegestudium… Schienmann: Grundständige Pflegestudiengänge gibt es ja bereits heute. Ausbildungsvergütungen bekommen aber nur Azubis in der dualen Aus- bildung. Für die Studierenden müssten die Träger dagegen auf freiwilliger Basis bezahlen. Ich bin gespannt, ob sich das durchsetzen wird – die Praxis wird es zeigen. Hastedt: Es fehlt noch an originären Einsatzfeldern Ingrid Hastedt für diese Akademiker in der Altenhilfe – und ohne 10 WEITwinkel • November 2019 • 2
Fokus ›› Neue Pflegeausbildung diese ist es schwierig, passende Tarifstrukturen die ambulanten Dienste – da werden ganze Tou- zu schaffen. Solange wiederum die Gehaltsan- ren grundsätzlich zu zweit nötig oder sogar mit reize fehlen, desto geringer ist der Anreiz, das zu mehreren Azubis erforderlich sein. Nach meiner studieren. Letztlich geht es dabei um die Frage, Wahrnehmung suchen diesbezüglich noch alle wie ein Funktionsprofil für die eine oder andere nach sinnvollen Organisationsformen. Berufsgruppe aussieht. Wie kann sich die Praxis auf die Reform Wir gelten anderswo als Vorbild. Ich vorbereiten? hoffe sehr, dass das Leben und Wohnen Schienmann: Man sollte sich personell im Alter auch in der neuen Ausbildung vorbereiten. Künftig ist ja mehr Zeit für die Praxisanleitung vorgeschrieben. Ent- so gut vermittelt werden kann. sprechend der Anzahl der Schüler, die man ausbilden möchte, muss man also Ute Schienmann genügend Praxisanleiter vorhalten und diese müssen mit 300 Stunden (Anm.: bisher Schienmann: Als Schule sind wir zum Glück 200 Stunden) qualifiziert sein. Da sollte man die bereits auf vieles gut vorbereitet. Wir haben Vorlaufzeit jetzt nutzen. zum Beispiel bereits Erfahrung mit simulierten Lernsituationen und Prüfungen. Auf Prüfungen Hastedt: Und man sollte nachdenken, wie die in der Gesundheits- und Krankenpflege haben Verortung der Praxisanleitung im Dienstplan wir bereits in Projekten mit chinesischen und und die Freistellung für die Anleitung praktisch philippinischen Fachkräften vorbereitet und sie gestaltbar sind. Schwierig wird das vor allem für durchgeführt. Wir bilden bereits weitgehend kom- petenzorientiert aus, uns fehlt eigentlich nur die Kinderkrankenpflege. Was liegt Ihnen sonst noch am Herzen? Hastedt: Hoffentlich bleibt in Baden-Württem- berg wenigstens die vom Land geregelte, einjäh- rige Ausbildung zum Altenpflegehelfer bestehen. Ansonsten kann ich nur fragen: Warum lässt man nicht die seit Jahrzehnten erprobte Altenpflege- ausbildung neben der Generalistik bestehen? Schienmann: ...und bietet ein zusätzliches Modul in der Kinder- und Krankenpflege an für alle, die einen europaweit gültigen Abschluss anstreben. Das wäre ein sinnvoller Weg gewesen. Das Interview führte Katja Kubietziel Ute Schienmann WEITwinkel • November 2019 • 2 11
Fokus ›› Neue Pflegeausbildung Das sagt die Praxisanleiterin im Pflegeheim „Ich sehe noch viele offene Fragen: Werden die Schulen im Krankenhaus- und Altenhilfebereich künftig nach einheit- lichen Konzepten arbeiten? Und welche neuen Aufgaben werden auf uns Praxisanleiter zukommen? Mit der neuen Ausbildung werden wir ja viele Pflegeschüler aus dem Kran- Julia Kormann arbeitet als kenhaus bei uns haben, die nur einige Wochen bleiben. Wir müs- Stabstelle für Praxisanleitung und sen also schauen, welche Kenntnisse diese Azubis mitbringen und Pflegefachaufgaben im Altenburgheim. was wir ihnen in der kurzen Zeit vermitteln können. Der zeitliche Die Altenpflegerin und Sozialwirtin Aufwand für die Planung dieser Einsätze und für die Anleitung ist seit 2015 in der Bad Cannstatter wird größer werden. Ich selbst bin freigestellt für die Praxisan- Einrichtung des Wohlfahrtswerks leitung und finde das auch wichtig. Meine Sorge ist, ob wir auch beschäftigt. künftig genügend Bewerbungen für die Altenpflegeausbildung bekommen werden.“ Generalistische Chance Stimmen aus Bernd Kux ist Das sagt der Hausleiter Hausleiter im „Der soziale Bereich ist oft geprägt durch Altenburgheim. Der gutgemeinte Absichten, die sich dann erst Altenpfleger und Pflege im Alltag etablieren sollen – so auch bei fachwirt arbeitet seit der Generalistik. Man will durch die 25 Jahren in der Bad Reform mehr fachliche Spezialisierung in Cannstatter Einrichtung der Altenpflege erreichen – und das wäre auch sinnvoll, denn in der Lang und hat dort bereits zeitpflege sind andere Schwerpunkte wichtig. Beispielsweise ist ja die Bezie- seinen Zivildienst hungsarbeit ganz anders als in der Akutpflege. Tatsächlich befürchte ich aber absolviert. eine Abqualifizierung der Altenpflege, weil eben genau diese Spezialisierung auf abgesenktem Niveau stattfinden soll. Und trotzdem: Wir wollen dies auch als Chance verstehen, um Auszubildenden aus anderen Pflegebereichen einen interessanten und attraktiven Einblick in die stationäre Altenhilfe zu bieten.“ 12 WEITwinkel • November 2019 • 2
Fokus ›› Neue Pflegeausbildung Das sagt die Zentrale Praxisanleitung des Trägers „Die Reform wird den Stellenwert der Praxisanleitung und damit die Qualität der Ausbildung stärken. So wird den Auszubildenden künftig mehr Zeit für die Vera Koch Praxisanleitung zugemessen als bisher – nämlich zehn arbeitet im Team Prozent in jedem Einsatz statt bisher 25 Stunden pro der Zentralen Halbjahr. Wie das in der Praxis umgesetzt wird, bleibt Praxisanleitung des abzuwarten. Neu ist auch die Pflicht zur jährlichen Wohlfahrtswerks. Die Weiterbildung der Praxisanleiter. Dieses ‚Mehr‘ an An- Krankenschwester und leitungszeit und -qualität wird künftig aus einem ‚Aus- Diplom-Pflegewirtin gleichsfonds‘ finanziert. Für die Pflegeeinrichtungen ist Ansprechpartnerin wird die Umsetzung trotzdem eine Herausforderung, denn sie für die Praxisanleiter in den Einrich müssen die zusätzlichen Zeiten ja organisieren und auffangen. Aus tungen und unterstützt Azubis meiner Sicht ist es kaum mehr zu leisten, dass Praxisanleitung bei ihrer Ausbildung und ‚so nebenher‘ funktioniert – Praxisanleiter aus dem Pflegeteam vor Prüfungen. müssten für ihre Tätigkeit freigestellt werden.“ P fl e g e a usb i l d u n g : oder Risiko? der Praxis Das sagt die Pflegefachkraft und Mentorin „Für künftige Fachkräfte bringt die Reform einen Vorteil, denn sie werden Birgit Büsing ist Alten mehr Möglichkeiten haben, für sich pflegerin und arbeitet seit das richtige Aufgabengebiet zu finden. 33 Jahren im Jakob-Sigle- Allerdings ist meine Sorge, dass viele Heim in Kornwestheim. Fachkräfte nach ihrer Ausbildung im 2006 hat sie die Zusatz Krankenhaus bleiben werden. Die Krankenpflege wird künftig einen größe- qualifikation als Mentorin ren Raum in der Ausbildung einnehmen – dabei müssen wir aufpassen, dass abgeschlossen. Dies war die die Werte der Altenpflege nicht verloren gehen. Vor lauter Professionalität bisherige Bezeichnung darf man schließlich nicht die Bedürfnisse des täglichen Lebens vergessen. der Weiterbildung für Ganz praktisch halte ich angesichts des Pflegenotstands die geplanten zu- Praxisanleiter/innen im sätzlichen Anleiterstunden für schwer umsetzbar. Mein Wunsch? Genügend Wohlfahrtswerk. Freiräume, um die Azubis auch künftig gut ausbilden zu können.“ WEITwinkel • November 2019 • 2 13
›› Aus unserer Arbeit „Wir bekommen so viel zurück!“ Gjyste Scardamaglia und Joscha Hübenthal sind Altenpfleger aus Überzeugung. Als ersten Schritt auf ihrem Berufsweg haben sie erfolgreich die Ausbildung „Servicehelfer/in im Sozial- und Gesundheitswesen“ abgeschlossen – ein Sprungbrett und Start zweier Erfolgsgeschichten. „ I ch wollte schon immer in einem sozialen Beruf direkt mit Menschen arbeiten“, erzählt Gjyste Scardamaglia (28), ausgebildete Altenpfle- Joscha Hübenthal, geboren in Pforzheim und seit Oktober 2018 in der Ausbildung zum Altenpfle- ger, absolvierte nach dem Hauptschulabschluss ein gerin und Hygienefachkraft bei der Caritas. Ge- Freiwilliges Soziales Jahr in einem Seniorenzen- boren im Kosovo, kam sie mit vier Jahren mit ihrer trum. „Ich habe mich da direkt aufgehoben ge- Familie nach Stuttgart, wo der Vater schon länger fühlt“, sagt der 23-Jährige, sodass die Ausbildung arbeitete. Vor ihrem Hauptschulabschluss machte zum Servicehelfer im Anschluss „genau mein Ding eine Lehrerin sie auf den neuen Beruf „Service- war“. In seiner damaligen Praxisstelle, dem Haus helfer“ aufmerksam. „Ich war gerade 16 geworden, Heckengäu des Wohlfahrtswerks in Heimsheim, als der erste Ausbildungsjahrgang 2007 startete. arbeitet er bis heute. „Auf die Schulstunden hät- Wir waren so etwas wie ‚Versuchskaninchen‘ “, te ich verzichten können“, gibt er offen zu. Was erinnert sie sich schmunzelnd. Die Schulphasen aber nicht an den Inhalten, sondern daran gelegen bewältigte sie problemlos und die Praxis im Haus habe, „dass man so lange still sitzen muss“, so Martinus der Caritas in Stuttgart-Mitte machte Hübenthal. Er sei ein „Arbeitstier“ und wolle am ihr viel Spaß. „Auch wenn mein Traumberuf liebsten immer im Wohnbereich für die Bewohner Polizistin war, merkte ich gleich, das passt super da sein. Seinen Abschluss hat er selbstverständlich für mich.“ dennoch geschafft. Schwerpunkt ist die Praxis Rund 40 Prozent der Ausbildung sind den Schulphasen gewidmet, die alle Servicehelfer im Bildungs- zentrum Wohlfahrtswerk in Stutt gart absolvieren. Für die Ausbildung wurde eigens ein Curriculum entwickelt, zu dem unter „Ich habe mich da direkt anderem Mahlzeitenservice, Betreuung und Begleitung, aufgehoben gefühlt.“ Kommunikation oder der Umgang mit Demenz gehören. Die anderen 60 Prozent der Zeit erfol- gen in der Praxisstelle bei derzeit 23 Kooperationspartnern (Kliniken, ambulante Dienste, Pflegeheime und Joscha Hübenthal Einrichtungen der Behindertenhilfe). 14 WEITwinkel • November 2019 • 2
›› Aus unserer Arbeit „Ich wollte schon immer direkt mit Menschen arbeiten.“ Gjyste Scardamaglia und Joscha Hübenthal haben sich beide nach dem Abschluss für die Altenpflege- ausbildung entschieden – mit starker Unterstützung ihrer Arbeitgeber – und dies nicht bereut. „Unser Beruf ist so vielfältig mit etlichen Qua- lifikationsmöglichkeiten. Und man bekommt so viel von den Bewohnern zurück“, erklärt Joscha Hübenthal. Gjyste Scardamaglia „Ich wollte mich weiterbilden und bewusst di- sie. Die Servicehelfer-Zeit brachte ihr auch das rekt in der Pflege arbeiten“, erinnert sich Gjyste private Glück: Sie lernte ihren Ehemann kennen. Scardamaglia. „Auch wenn es körperlich und Er schloss die Ausbildung 2012 ab und arbeitet psychisch oft anstrengend ist. Aber wir sind für heute verantwortlich in der Haustechnik des Wohn- die Bewohner alles und können so viel Positives in und Pflegezentrums Flugfeld des Wohlfahrtswerks diesem Lebensabschnitt für sie bewirken“, ergänzt in Böblingen. srh Auf einen Blick Servicehelfer/in im Sozial- und Gesundheitswesen • Start 2007 als Modellprojekt der Robert Bosch Die Ausbildung vereint zwei Ziele: Junge Menschen, Stiftung in Baden-Württemberg die wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, er • 2010 staatliche Anerkennung halten eine berufliche Perspektive. Die Arbeitgeber • Seit 2013 vom Verein Caro Ass vorangetrieben im Sozial- und Gesundheitswesen stärken dank der • Kliniken, ambulante Dienste, Pflegeheime und Servicehelfer Dienstleistung und Assistenz in ihren Einrichtungen der Behindertenhilfe bieten Häusern und entlasten ihre pflegerischen und the Ausbildungsplätze an rapeutischen Fachkräfte. Und sie rekrutieren ihren • Schulischer Teil am Bildungszentrum des fachlichen Nachwuchs im eigenen Haus. Denn viele Wohlfahrtswerks für Baden-Württemberg Absolventen entscheiden sich für weiterführende • Bisher rund 250 erfolgreiche Absolventen Pflege- oder therapeutische Ausbildungen. Weitere Informationen: www.caroass.de und www.wohlfahrtswerk.de/servicehelfer WEITwinkel • November 2019 • 2 15
›› Aus unserer Arbeit Stammpersonal stärken – neue Kräfte binden Wie kann man das Personal im Pflegeheim unterstützen und halten? Und wie bindet man neue Kollegen gut ein? Die Referenten der 63. Fachtagung des Wohlfahrtswerks waren sich einig: Die Widerstandsfähigkeit gegen Stress lässt sich stärken, daneben braucht es aber auch bessere Rahmenbedingungen in der Pflege. 2 D as Stammpersonal ist eine zentrale Säule im Alltag eines Pflegeheims – und gleichzeitig extrem gefordert: Neben den Die Beziehungsqualität fördern Dr. Stefanie Wiloth Psychische Widerstandsfähigkeit lässt sich stärken. Alltagsaufgaben müssen aktuell viele Weiterent- Wie das gehen kann, erklärte Dr. Stefanie Wiloth wicklungen bewältigt werden. Die Referenten vom Institut für Gerontologie an der Ruprecht- der diesjährigen Fachtagung erklärten, wie Mit- Karls-Universität Heidelberg: „Mit- arbeitende trotz dieser Belastung gestärkt werden arbeiter, die sich anerkannt und können und wie sich Bindung schaffen lässt. ins Team eingebunden füh- len, sind weniger anfällig Sechs Impulse für eine gelingende Personalarbeit bei Stress. Solche ‚Schutz- im Pflegeheim: faktoren‘ ergeben sich vor allem aus der positiven Interaktion mit Kollegen 1 und Bewohnern.“ Deshalb Bei Individuum, Einrichtung und sei es so wichtig, dass die Be- ziehungsqualität gefördert werde. Rahmenbedingungen ansetzen Prof. Hermann Brandenburg 3 „Der Blick auf das Individuum ist zentral, wenn man Belastung Persönliche Wünsche berücksichtigen reduzieren möchte: Wer ist Nils Himmelmann besonders gefährdet und wie Die SSB (Stuttgarter Straßenbahnen AG) ist ein lassen sich ‚Widerstands- Dienstleister, der wie Pflegeheime an 365 Tagen ressourcen‘ zum Beispiel rund um die Uhr Schichtdienste organisieren muss. durch Gesundheitsangebote Nils Himmelmann, Unternehmensbereichsleiter stärken? Das muss begleitet Betrieb, berichtete von den seit 2011 gesammelten werden durch einen Blick auf positiven Erfahrungen mit der Einführung eines interne Strukturen in der Einrichtung“, flexiblen digitalen Dienstplans: „Nach unter- so fasste Prof. Hermann Brandenburg von der schiedlichen Mustern können Mitarbeitende im Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallen- Fahrdienst ihre Wunschdienste angeben.“ Bei kon- dar seine Erkenntnisse aus dem PERLE-Projekt kurrierenden Wünschen bekomme derjenige den zum Personalmix im Pflegeheim zusammen. Nicht Zuschlag, der beim letzten Mal schlechter gestellt zuletzt müssten sich aber auch die „skandalösen war. Für Planungslücken und kurzfristige Ausfälle Rahmenbedingungen“ in der Altenpflege ändern. sei weiteres Personal fest eingeplant und finanziert. 16 WEITwinkel • November 2019 • 2
›› Aus unserer Arbeit 4 6 Positive Gefühle bewusst aktivieren Stolpersteine erkennen und reagieren Sacha Hübner Dr. Maria Kontos Unter dem Motto „Gemeinsam aufblühen im Pfle- Aktuelle Studienergebnis gealltag“ stellte Sacha Hübner, Geschäftsführer se zum Gelingen und Wohlglückheit aus Heilbronn vor, zu Stolpersteinen der wie sich positive Gefühle betrieblichen Einbin- im (Pflege-)Alltag be- dung ausländischer wusst aktivieren lassen: Pflegekräfte stellte „Beginnen Sie zum Dr. Maria Kontos Beispiel Teambespre vom Institut für Sozi- chungen mit einem alforschung an der Johann fünfminütigen Ein- Wolfgang Goethe-Universität in Frank- stieg zur Frage: Womit furt vor: „Wenn ausländische Pflegekräfte sind wir zufrieden?“ Wer kommen, sehen sich die ‚Etablierten‘ oft in der solche Übungen regelmäßig Defensive und reagieren mit Ablehnung. Das muss praktiziere, steigere seine psychi- man erkennen und dagegen angehen.“ Außerdem schen, sozialen und mentalen Ressourcen. sei wichtig, dass sich auch die Familienangehörigen gut integriert fühlten und sich ihnen Zukunfts 5 perspektiven böten. Den Einstieg leicht machen » Prof. Tim Bruysten Wie schafft man es, dass neue Fazit Mitarbeiter im Unterneh- „Wir müssen auf vielen Ebenen arbeiten, um neue men gut ankommen und Mitarbeiter einzubinden und unser Stammpersonal sich schnell wohlfühlen? zu halten. Hier ist jeder einzelne gefragt“, fasste Prof. Tim Bruysten von Ingrid Hastedt die Erkenntnisse der Fachtagung der richtwert GmbH zusammen. Abschließend warf sie einen Blick auf machte deutlich, wie die Rahmenbedingungen und forderte, dass bei wichtig es ist, den Ein- der Personalbemessung zum Beispiel auch Zeiten stieg so unkompliziert und für Personalausfall oder für die Einarbeitung neu- bequem wie möglich zu gestal- er Mitarbeiter berücksichtigt werden müssten. ten: „Wen kann ich fragen? Wo finde Mit der Konzertierten Aktion Pflege gehe die ich was?“ „Basics“ wie diese erleichterten den Start, Bundesregierung in die richtige Richtung: „Die denn man dürfe nicht vergessen: „Wer einen Neu- Altenpflege bekommt mehr Aufmerksamkeit – das anfang macht, der hat auch gerade etwas beendet.“ stärkt unsere Position.“ kk WEITwinkel • November 2019 • 2 17
›› Aus unserer Arbeit Mit Musik durch das ahr „Das Jahr der Musik – Wir bringen Musik zu den Menschen“. Unter diesem Motto fanden 2019 besondere Veranstaltungen und Projekte in den Einrichtungen des Wohlfahrtswerks statt. D raußen Schmuddelwetter, ein grauer Herbstnachmittag. Aber im Saal der Else-Heydlauf-Stiftung in Stuttgart-Zuffen- dann ganz viele Eierrasseln verteilen lässt, wird aus Trommlern und Publikum eine große „Banda“. hausen heizen Samba- und Reggae-Rhythmen Wenige Tage zuvor waren die „Miladies“ in Zuf- ein und sorgen für Latino-Feeling. Christoph fenhausen zu Gast: Jutta, Lisa, Nicole, Andrea und Haas ist mit seiner Banda Maracatu zu Gast. Angela sind fünf Frauen mit Spaß an der Musik Was die 13 Musiker auszeichnet: Sie spielen der 1920/30er-Jahre. Sie bringen älteren Men- ausschließlich auf Bass- und Conga-Trommeln schen Momente der Erinnerung, wenn sie Lieder und mit Shaker-Rasseln. So hört man ihre Musik wie „Ein Freund, ein guter Freund“ oder „Ganz im ganzen Haus, und sie lockt immer mehr Zuhö- Paris träumt von der Liebe“ vortragen. Die Sänge- rer an. Ganz lässig und wie es in Brasilien üblich rinnen tragen dabei stilecht bunte Paillettenkleider, ist, animiert Christoph Haas Alt und Jung im Flapper-Stirnband und Federboa. Natürlich wird Saal, mitzuklatschen und mitzuwippen. Als er auch bei den „Miladies“ mitgesungen, denn die Da bleibt keiner still: Trommelkonzert von Maracatu 18 WEITwinkel • November 2019 • 2
›› Aus unserer Arbeit über 80-jährigen Bewohner können fast alle Texte in- und auswendig. Kraftvolles Trommeln oder Schlager von früher: So vielseitig gestaltet sich das mu- sikalische Angebot in den Häusern des Wohlfahrtswerks. Wer die Veranstaltungs- kalender vor Ort studiert, findet ganzjährig Konzerte, Tanzmittage, Singkreise, Abend- singen im Wohnbereich und gemeinsame Musik selbst erleben beim Fachtag für Mitarbeitende Aktionen mit Kapellen, Kindergärten oder Musikschulen aus der Nachbarschaft. „Musik ist gut Auch Mitarbeiterinnen des Kraichgauheims be- für Kopf und Seele, weckt Erinnerungen und fördert suchten den Fachtag und fuhren motiviert nach die Gemeinschaft. Deshalb haben wir 2019 zum Bad Schönborn zurück. „Bei uns im Haus gibt es Jahr der Musik gemacht“, erklärt Tatjana Bergmann, eine lange Tradition rund um die Musik“, berichtet die das Projekt mit organisiert und geplant hat. Renata Niess vom Sozialen Betreuungsdienst: „So kommen zum Beispiel Feuerwehrfrauen einmal im Weiterbildung im Themenjahr Musik Monat zum Singen. Eine Besonderheit ist auch unsere Kooperation mit der Musikschule Wag- Um neue Erkenntnisse und Ideen aus der Mu- häusel.“ Die Musiktherapeuten der Musikschule siktherapie zu vermitteln, organisierte das Wohl- laden 14-tägig zu Singrunden mit instrumentaler fahrtswerk im April einen Fachtag in Stuttgart. Begleitung ein. Außerdem bieten sie Musikthe- Über 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nah- rapie für Bewohner an, die krankheitsbedingt die men daran teil und besuchten Workshops von meiste Zeit in ihrem Zimmer verbringen. Neu Rollstuhltanz bis zur Entspannung mit Klang- ist die Sitztanzgruppe: Zwei Betreuungsassisten- instrumenten. Jan Sonntag, Professor für Mu- tinnen bringen ihr Wissen aus dem AOK-Seminar siktherapie in Hamburg, schilderte die positive „Musik, Tanz und Bewegung“ ein und treffen sich Wirkung von Musik auf Stimmung und Gefühl jede Woche mit den Bewohnern, um zu verschie- von Menschen mit Demenz. densten Musikrichtungen zu tanzen. fb Das Jahr der Musik Zum „Jahr der Musik“ stellte das Wohlfahrtswerk jeder Einrichtung eine „Musikbox“ für die tägliche Arbeit zur Verfügung. Sie enthält zum Beispiel Spiele zum Thema Musik, Klangschalen, Entspan nungs-CDs sowie Lautsprecher und Kopfhörer. Beim Fachtag in Stuttgart konnten sich die Häuser außerdem über einen Scheck in Höhe von 500 Euro freuen. Das Geld verwendeten sie zum Beispiel für Gastauftritte von Musikern oder für den Kauf von Instrumenten. Und weil das Musikjahr so gut lief, gibt es nun nochmals je 500 Euro – für eine musikalische Aktion zum Abschluss. WEITwinkel • November 2019 • 2 19
Essen ›› Aus unserer Arbeit Glücksfaktor Das Jakob-Sigle-Heim in Kornwestheim wurde für sein kulinarisches Gesamt- konzept ausgezeichnet und darf sich „Botschafter emotionaler Genuss“ nennen. Weckt Erinnerungen an früher: Gemeinsames Backen im Jakob-Sigle-Heim W er eine stationäre Wohngemeinschaft im Jakob-Sigle-Heim besucht, lan- det direkt in einem großen hellen Aufenthalts zu backen. Beim „Adventszauber“ locken frische Waffeln und Glühwein. Immer wieder finden festliche „Menue-Abende“ statt, bei denen auch bereich mit einer modernen Wohn-Ess-Küche. Angehörige und Freunde fürstlich bewirtet wer- Hier kochen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den. Und rund um die Terrasse wachsen Kräuter, von Montag bis Freitag frisch und saisonal. Be- Tomaten und Paprika. wohner, die mithelfen wollen, sind jederzeit ein- geladen. Wer sich nur unterhalten möchte, gesellt Keine Frage: Es schmeckt gut im Jakob-Sigle- sich einfach so dazu. „Unsere Wohn-Ess-Küchen Heim und die Bewohner und Gäste sind hoch- bilden ein Zentrum. Hier führt man einen Alltag, erfreut über das vielseitige Angebot an Speisen wie er auch früher in Familien üblich war“, be- und Aktionen rund ums Essen. Das hat jetzt richtet Einrichtungsleiterin Beate Dornbusch. Das auch eine Fachjury erkannt und der Einrichtung Konzept der stationären Wohngemeinschaften mit den Titel „Botschafter emotionaler Genuss“ in einer gemeinsamen Küche ist nur ein Bestandteil Gold verliehen. Gemeinsam mit zwei weiteren des kulinarischen Gesamtkonzepts. Daneben gibt Seniorenheimen wurde das Jakob-Sigle-Heim es eine Zentralküche, die täglich drei Menüs für Sieger des Wettbewerbs „Vom Kostenfaktor zum Mieter aus dem Betreuten Wohnen und Gäste aus Glücksfaktor – emotionale Genusskonzepte in der der Nachbarschaft kocht. Regelmäßig kommen Seniorenverpflegung“ und hat sich dabei gegen außerdem Schüler einer Berufsschule, um mit Be- rund 70 Mitbewerber aus ganz Deutschland durch- wohnern Leckereien im Holzbackofen im Garten gesetzt. Veranstalter der Aktion ist Transgourmet 20 WEITwinkel • November 2019 • 2
›› Aus unserer Arbeit Deutschland, ein großer Anbieter von Gemein- schaftsverpflegung. Kochen fördert soziale Kontakte Als die Juroren Anfang des Jahres nach Korn- westheim kamen, organisierte man im Haus ein Mittagessen, das in jedem Gang eine Komponente aus dem Holzbackofen enthielt: Erst gab es Lauch- suppe mit Kartoffelbrot, dann eine Ofenkartoffel, Hähnchengeschnetzeltes mit Sour-Cream und zum Nachtisch köstlich süße Zimtschnecken. Bei der Im Holzbackofen im Garten wird das Brot selbst gebacken Zubereitung und beim Servieren wirkten Berufs- schüler der Oscar-Walcker-Schule mit, die ihre Ausbildung im Bereich Nahrung wie zum Beispiel Sieger-Ideen als Bäcker oder Lebensmittelverkäufer absolvieren. Regelmäßig kommen die Azubis ins Jakob-Sigle- Für den Wettbewerb bewarb sich das Heim, um am Holzbackofen praktische Übungen Jakob-Sigle-Heim mit drei Angeboten: durchzuführen und gemeinsam mit Bewohnern etwas Zeit zu verbringen. Beate Dornbusch: „Die Holzbackofen jungen Leute sehen dabei, dass es in einem Pfle- Seit 2011 gibt es ihn im Garten. Hier wird regelmä geheim ein schönes Miteinander gibt und dass ßig frisches Brot gebacken, aber auch Flachswickel auch ältere Menschen gerne noch genießen.“ Für oder Apfelschnecken aus Mürbteig. Oft helfen den Sieg beim Wettbewerb waren das Miteinan- Kindergarten-Gruppen oder Berufsschüler mit. der von Alt und Jung sowie der Holzbackofen ein wichtiges Kriterium. Die Jury war beeindruckt, wie Kooperation mit Berufsschule das Backen an der frischen Luft die Sinne anregt, Angehende Bäcker und Verkäufer/innen sowie Erinnerungen weckt und soziale Kontakte fördert. Menschen mit Handicap der Oscar-Walcker-Schule (Fachgebiet Nahrung) aus Ludwigsburg kommen Alle helfen zusammen zu gemeinsamen Aktionen in die Einrichtung. Menue-Abende Bei den Vorbereitungen für den Wettbewerb und Bis zu sechs Mal pro Jahr wird ein festliches bei der Organisation der kulinarischen Projekte 4-Gänge-Menü ausgerichtet. Über 70 Gäste – spielt das Zusammenwirken der verschiedenen Be- Bewohner, Angehörige, Freunde – genießen rufsgruppen im Haus eine zentrale Rolle: „Wenn im Saal einen schönen Abend. die Mitarbeitenden der Pflege nicht pünktlich die Bewohner versorgt haben, können sie nicht zu den Angeboten kommen. Und wenn der So- ziale Betreuungsdienst nicht aktiv Menschen Der Film dazu im Haus und Angehörige einlädt, können wir Zu den Gewinnern des Wettbewerbs hat der Veran keinen Menue-Abend realisieren“, erklärt Beate stalter Transgourmet ein Video gedreht. Es ist auf Dornbusch: „Unser Sieg ist deshalb eine schöne der Homepage www.jakob-sigle-heim.de zu sehen. Gemeinschaftsleistung.“ fb WEITwinkel • November 2019 • 2 21
›› Aus unserer Arbeit Eine Zeit der Expansion Im Frühjahr 2019 verstarb Paul S. Held, Vorstand des Wohlfahrtswerks von 1984 bis zum Eintritt in den Ruhestand Ende 1996. Wir nehmen dies zum Anlass zu einem Rückblick auf das Wohlfahrtswerk in seiner aktiven Zeit. Von Ingrid Hastedt A ltenhilfestrukturen der 1980er Jahre sind mit den heutigen nicht zu vergleichen: Sozialstationen fehlten vielerorts und unter „Senio renwohnen“ verstand man Ein-Zim- mer-Appartements in Altenwohnhei- men und Altenheimen. Ansteigender Hilfebedarf bedeutete Umzug: Vom Wohnheim ins Altenheim und von dort ins Pflegeheim. Beim Amtsan- tritt von Paul S. Held 1984 hatte das Wohlfahrtswerk sieben zwei- und drei- gliedrige Heime und war Pionier mit einer Altentagespflege. Planungen für weitere Häuser waren in Arbeit. Seine zwölf Vorstandsjahre wurden eine Zeit der Expansion. Zu den neuen Einrich- Paul S. Held beim Neujahrsempfang 1992 tungen zählten die Pflegeheime Haus an der Steinlach in Mössingen, das Haus am Fleins- für Ältere und ein Wohnbereich für junge Pfle- bach in Filderstadt und das Haus Heckengäu in gebedürftige, eine Tagespflege und Betreuungs- Heimsheim. Das Haus im Park in Bisingen war leistungen für Bewohner der Seniorenwohnungen bei seiner Pensionierung 1996 noch im Bau. nebenan, die von der Baugenossenschaft Zuffen- hausen vermietet wurden. Eine Besonderheit dieser neuen Einrichtungen war die enge Zusammenarbeit des Wohlfahrtswerks Pionierleistungen in den 1980er Jahren mit den jeweiligen Kommunen, die im Sinne der Daseinsvorsorge die Bauherren waren. Für das In den frühen 1980er Jahren begonnene konzep- Haus Heckengäu schlossen sich sogar fünf Ge- tionelle Überlegungen führten dann zu weiteren meinden zu einem Zweckverband zusammen, Pionierleistungen: Mit dem „Betreuten Wohnen der bis heute Bestand hat. Das Wohlfahrtswerk Stuttgart-West“ wurde 1987 eine gemeinsam wurde über langjährige Mietverträge als Betreiber mit der Sozialplanung der Stadt Stuttgart ent- verpflichtet. Den Anfang machte 1985 die Stadt wickelte Idee umgesetzt. Dafür mietete man ein Stuttgart mit dem Bau der Else-Heydlauf-Stiftung von der Baugenossenschaft FLÜWO errichtetes in Zuffenhausen. Ein breit gefächertes Angebot Gebäude langfristig an. Die Erfahrungen mit die- wurde geschaffen: Im Pflegeheim Wohngruppen sem neuen Angebot führten nach und nach zur 22 WEITwinkel • November 2019 • 2
›› Aus unserer Arbeit vertraglichen Umstellung der bisherigen Alten- Ehrenamtlich engagiert heim-Appartements auf einen mit dem Mietver- trag gekoppelten Dienstleistungsvertrag. Für die Zeitgleich wurden also ganz unterschiedliche Bewohner dieser „Betreutes Wohnen“ genannten Hauskonzepte umgesetzt, denen eines gemeinsam Wohnform ergab die Umstellung Vorteile: Sie war: ein vielfältiges Angebot unter einem Dach. mussten neben dem Notruf zwar die benötigte Paul S. Held brachte diese und andere Träger Hilfe, aber nichts darüber hinaus abnehmen und erfahrungen auch in vielen Gremien ein. So bezahlen. Beim Altenheim hatte es vorher pau- engagierte er sich zum Beispiel in Fachgruppen des schale Tagessätze gegeben und einen definierten Paritätischen Wohlfahrtsverbands, war ehrenamt- Leistungsumfang. lich von 1986 bis 1993 Vorsitzender des Arbeits- kreises Stuttgarter Heimträger und Mitglied im Etwas noch heute Innovatives war die Konzep „Koordinierungsausschuss“, der Beratungen zu tion für das Haus am Weinberg in Obertürkheim: Pflegeheim-Förderanträgen abhielt. Es waren Durchmischtes Wohnen von je ein Drittel rüs Jahre, in denen die Altenpflegeausbildung auf tigen, ein Drittel hilfebedürftigen und ein Drit- Bundesebene diskutiert wurde, Standards für die tel pflegebedürftigen Älteren in 97 baugleichen Praxisanleitung in der Pflegeausbildung entwickelt Appartemens. Bei steigendem Hilfebedarf sollte wurden und die Finanzierung der Altenpflege- kein Umzug mehr nötig sein (mehr dazu lesen Sie schulen zu verhandeln war. Vorstand Held wirkte im Interview mit Erwin Müller auf den folgenden durch seine Gremienarbeit bei vielen Themen Seiten). Dieser erfolgreiche Ansatz ist bis heute mit, die interessanterweise heute so aktuell sind Vorbild für eine nachhaltige Wohnform im Alter. wie damals. Blätter der Wohlfahrtspflege Deutsche Zeitschrift für Soziale Arbeit Mit den Blättern der Wohlfahrts- Themenheft »Der demokratische und pflege gibt das Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg eine solidarische Sozialstaat« (Heft 6/2019) der traditionsreichsten Fachzeit- schriften in Europa heraus. Bereits Wie gelingt ein demokratisch gerechtes und solidarisches 1848 entstand die Publikation, die Gemeinwesen, wie das Miteinander von Jung und Alt, sich an Fach- und Führungskräfte im Sozialwesen wendet und zu Gesund und Krank, Arm und Reich? Die Beiträge des aktuellen Entwicklungen in allen Themenheftes beschäftigen sich zum Beispiel mit der Tätigkeitsfeldern der Sozialen Frage, wie sich die politische Beteiligung von Senioren Arbeit informiert. in der Kommunalpolitik stärken lässt und wie ein sozialethischer Orientierungsrahmen für Wohngemein- schaften im Alter aussehen kann. Heft 6/2019 Nomos Verlagsgesellschaft g Bestellun 76520 Baden-Baden • Telefon 072 21 / 21 04-39 • Fax 072 21 / 21 04-43 E-Mail: hohmann@nomos.de • www.bdw.nomos.de WEITwinkel • November 2019 • 2 23
›› Aus unserer Arbeit „Die Idee passt bis heute“ Nach 37 Jahren beim Wohlfahrtswerk geht Erwin Müller in Rente. Der langjährige Einrichtungsleiter des Haus am Weinberg erzählt, warum das Konzept der Einrichtung heute so aktuell ist wie damals und was sich in der Altenhilfe ändern müsste. Bei der Konzeption des Haus am Weinberg in Man wollte eine Gesamteinrichtung schaffen, in Stuttgart-Obertürkheim ist man Anfang der der jemand auch dann in seiner Wohnung blei- 1990er Jahre ganz neue Wege gegangen… ben kann, wenn er schwer pflegebedürftig wird. Die Wohnungen wurden deshalb alle gleich – als Damals fehlten alleine in Stuttgart 600 Pflege- Einzel-Appartements mit Küche – ausgestattet. plätze – die Kommunen mussten sich deshalb dringend Gedanken zur Versorgung ihrer älteren Mit Einführung der Pflegeversicherung ab 1995 Bürger machen. Wir wurden als Experten für die hat das Konzept so nicht mehr funktioniert…. Planung und Beratung an den Tisch geholt, mit Stiftungen und Genossenschaften hat man neue Das war eine richtige Krise, denn es wurden plötz- Förder- und Finanzierungsstrukturen aufgebaut. lich Schubladen aufgemacht: Wir mussten genau Das Haus am Weinberg war offizielles Modell- festlegen, welche Wohnungen ambulant und wel- projekt des Landes Baden-Württemberg. che stationär sind. Unsere Grundidee, dass jemand in seiner Wohnung bleibt und sich nur sein Status Was war das Revolutionäre? ändert, hat damit nicht mehr funktioniert. Keiner sollte im Alter mehr umziehen müssen! Wie sieht das inzwischen aus? Damals kannte man ja nur die Dreigliedrigkeit der Einrichtungen: Im Wohnheim wohnten fittere Heute ist genau festgelegt, welche Appartements Senioren, dann gab es das Altenheim mit vor- zum Pflegeheim und welche zum Betreuten Woh- wiegend hauswirtschaftlicher Versorgung und nen gehören – aber trotzdem muss niemand um- das Pflegeheim für pflegebedürftige Menschen. ziehen. Man kann auch dann noch im Betreuten 24 WEITwinkel • November 2019 • 2
›› Aus unserer Arbeit Wohnen bleiben, wenn man Was bleibt Ihnen schwer pflegebedürftig wird besonders in Erinne- und bekommt dort ein Leis rung? tungsniveau wie im Pflege- heim. Nur die Abrechnung Es gibt wohl kaum ei- muss eben auf ambulanter nen Beruf, bei dem man Basis erfolgen. Wir mussten so viel zurückbekommt für das Betreute Wohnen eine und das Gefühl hat, Lösung finden, damit jemand dass die Arbeit sinnvoll auch bei schwerem Pflegebe- ist und wertgeschätzt darf nicht oder kaum mehr be- Erwin Müller hält 1992 die Rede wird. Die Arbeit im zahlen muss als im Pflegeheim. bei der Eröffnung des Haus am Weinberg Pflegeheim hat auch eine entspannt schöne Wie beurteilen Sie die Idee aus heutiger Sicht? Seite: Faschings-, Weihnachts- und Sommerfeste sind zwar eine riesige Anstrengung, aber sie sind Das Konzept passt bis heute! Es passt nur nicht auch etwas sehr Schönes. auf die politische Landschaft mit einer Pflegever- sicherung, die immer noch so große Unterschiede Was wünschen Sie der Altenhilfe zum Abschied? zwischen stationärer und ambulanter Versorgung macht. Ich wünsche mir, dass dieses kritische Beäugen von außen weniger wird. Die Pflege steht viel zu Sie haben ein viertel Jahrhundert das Haus am oft unter Generalverdacht – das ist für alle Be- Weinberg geleitet. Welche Eigenschaften braucht teiligten ein Riesenstress. Kritisches Prüfen hat es dafür? ja seine Berechtigung, aber es muss immer noch das praktische Leben gelebt werden – und das Als Einrichtungsleiter muss man sehr gut or- kann man nicht ausschließlich wissenschaftlich ganisiert sein und empathisch mit Mitarbeitern klassifizieren. Viele aktuelle Entwicklungen in der umgehen können. Man muss Wertschätzung für Altenhilfe sehe ich dagegen positiv – eigentlich die schwierige Arbeit vermitteln und ein offenes wäre es eine spannende Zeit, weiterzumachen. Ohr für alle Krisensituationen haben. Gute Mit- arbeiterführung ist das A und O. Ein Hausleiter Wir danken Ihnen für das Gespräch! ist nur dann erfolgreich, wenn es ihm gelingt, ein gutes Team um sich herum aufzubauen. Das Interview führte Katja Kubietziel Zur Person Seinen Berufseinstieg hatte der Sozialpädagoge und Sportwissenschaftler Erwin Müller 1982 im Sozialdienst des Ludwigstifts. Später baute er als Assistent des Vorstands den Sozialdienst in allen Pflegeheimen des Wohlfahrtswerks auf. Seine Leidenschaft gehört dem Haus am Weinberg in Obertürkheim, das er mit konzipierte und das er 25 Jahre lang leitete. Seit 2018 ist der 63-Jährige als Regionalleiter für das Haus am Weinberg, das Haus am Kappelberg und das Altenburgheim verantwortlich. In seiner Freizeit ist der Familienmensch in Tennis- und Tischtennismannschaften aktiv und reist gerne. WEITwinkel • November 2019 • 2 25
Sie können auch lesen