Die Zukunft der beruflichen Bildung - Chancen, Herausforderungen, Potenziale Eine Studie im Auftrag der FDP-Landtagsfraktion NRW - FDP-Fraktion-NRW
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1 Die Zukunft der beruflichen Bildung Chancen, Herausforderungen, Potenziale Eine Studie im Auftrag der FDP-Landtagsfraktion NRW
Erstellt für die Erstellt von FDP-Landtagsfraktion NRW Handelsblatt Research Institute (HRI) April 2020 Dr. Hans Christian Müller Cornelia Zoglauer Prof. Dr. Jochen Wicher Dr. Jörg Lichter
Der Wert bürgerschaftlichen Engagements in NRW 3 DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 3 3 3 INHALT 1 Einleitung und Problemstellung ..................................................................................... 5 2 Die Entwicklung der beruflichen Ausbildung ................................................................. 10 2.1 Jüngste Trends und Status quo .............................................................................. 10 2.2 Auswirkungen auf den Fachkräftebedarf ................................................................. 15 3 Gründe für den Bedeutungsverlust der beruflichen Ausbildung...................................... 20 3.1 Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsmarkt ................................................. 20 3.2 Einflussfaktoren für die sinkende Nachfrage nach Ausbildungsplätzen ....................... 24 3.2.1 Demografischer Wandel .................................................................................. 24 3.2.2 Akademisierung .............................................................................................. 24 3.2.3 Matching-Probleme bei der Ausbildungsplatzwahl/-vergabe ............................... 27 3.3 Exkurs: Die besondere Rolle der Studienabbrecher im Ausbildungssystem ................. 31 4 Private Bildungserträge .............................................................................................. 33 4.1 Einkommensprämien durch Bildung ........................................................................ 33 4.2 Empirische Analyse mit Hilfe des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) ...................... 34 4.3 Bildungserträge in Bezug auf das Lebenseinkommen ............................................... 43 5 Staatliche Bildungsinvestitionen und -erträge ............................................................... 45 5.1 Öffentliche Ausgaben für akademische und berufliche Bildung .................................. 45 5.1.1 Akademische Bildung ...................................................................................... 47 5.1.2 Berufliche Bildung........................................................................................... 50 5.1.3 Bildungsfinanzierung im Vergleich.................................................................... 52 5.2 Exkurs: Die Finanzierung der Meisterausbildung ...................................................... 55 5.3 Staatliche Bildungserträge ...................................................................................... 56 6 Fazit und Ausblick ...................................................................................................... 61 6.1 Diskussion der Befunde .......................................................................................... 61 6.2 Handlungsempfehlungen........................................................................................ 63 Referenzen ........................................................................................................................ 68 Rechtlicher Hinweis ............................................................................................................ 73
4 DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG ABBILDUNGEN Abbildung 1: Vereinfachtes Schema des deutschen Bildungssystems .......................................6 Abbildung 2: Auszubildende in Deutschland und Nordrhein-Westfalen ................................... 10 Abbildung 3: Auszubildende nach Ausbildungsbereichen ....................................................... 11 Abbildung 4: Bestandene Prüfungen und vorzeitig aufgelöste Verträge .................................. 13 Abbildung 5: Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquote....................................................... 16 Abbildung 6: Bildungsabschlüsse .........................................................................................17 Abbildung 7: Ausbildungsvergütungen .................................................................................21 Abbildung 8: Besetzungsprobleme für Ausbildungsstellen......................................................22 Abbildung 9: Ausbildungsplätze – Angebot und Nachfrage .................................................... 23 Abbildung 10: Demografische Entwicklung ........................................................................... 24 Abbildung 11: Abiturientenanteil* an den Auszubildenden.....................................................25 Abbildung 12: Studien- und Ausbildungsanfänger ................................................................. 26 Abbildung 13: Beliebte und unbeliebte Ausbildungsberufe im Vergleich.................................. 29 Abbildung 14: Entwicklung der stündlichen Median-Einkommen nach Bildungsgrad ................ 36 Abbildung 15: Streuung der stündlichen Einkommen nach Bildungsgrad ................................ 37 Abbildung 16: Streuung der Einkommen nach Bildungsgrad (40-Jährige und jüngere) ............ 38 Abbildung 17: Entwicklung der Median-Einkommen nach Bildungsgrad und Alter ................... 39 Abbildung 18: Entwicklung der Median-Einkommen nach Branche und Bildungsgrad .............. 40 Abbildung 19: Streuung der Einkommen nach Branche und Bildungsgrad .............................. 42 Abbildung 20: NRW: Öffentliche Finanzierung der akademischen Bildung ....................... 49 Abbildung 21: NRW: Öffentliche Finanzierung der beruflichen Bildung ............................52 Abbildung 22: NRW: Öffentliche Mittel pro Kopf, nach Bildungsform in Euro (2018) .... 54 Abbildung 23: Bildungserträge des Staates ........................................................................59
DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 5 5 5 1 Einleitung und Problemstellung Die berufliche Bildung hat in Deutschland traditionell eine hohe Bedeutung.1 Für den größten Teil der Arbeitnehmer 2 führte der Weg in den Beruf in der Vergangenheit über die duale Ausbildung, die eine Ausbildung im Betrieb mit Unterricht in der Berufsschule kombiniert. Da das System Praxisnähe und Theorie gut miteinander verbindet, gilt es im internationalen Vergleich als besonders leistungsfähig und vorbildhaft. 3 Das System mit seinen derzeit mehr als 300 verschiedenen Ausbildungsgängen wird zudem als ein Grund für Deutschlands industrielle Stärke4 und Innovationsfähigkeit 5 genannt. Im internationalen Vergleich ist dieses Berufsbildungssystem auf die deutschsprachigen Länder Deutschland, Österreich und die Schweiz beschränkt. Es lässt sich charakterisieren als ein dezentrales, marktgetriebenes Ausbildungssystem, bei dem der Staat eine wichtige Rolle übernimmt, diese allerdings nur zusammen mit den Unternehmen, Kammern, Verbänden und Gewerkschaften.6 Formal lässt sich das deutsche System damit zwischen den liberalen (bspw. USA) und den staatszentrierten Systemen (bspw. Schweden) einordnen. Während es in den USA – außerhalb der Hochschulen – praktisch keine formalisierte Berufsausbildung gibt und das sogenannte training-on-the-job den größten Stellenwert hat, ist das System in Schweden stark schulisch organisiert und staatlich finanziert. Gleichzeitig werden die Arbeitgeber dort faktisch nicht in die Ausbildung einbezogen. Das deutsche Ausbildungssystem stellt einen Mittelweg dar. Dass der Einfluss der Ausbildungsbetriebe auf die Berufsausbildung groß ist, lässt sich nicht zuletzt daran erkennen, dass gut 70 Prozent der Ausbildungskosten von den Betrieben übernommen werden. 7 Da die Arbeitgeber ihre Nachwuchskräfte zu einem großen Teil selbst ausbilden, wurde in der Vergangenheit stets angenommen, dass die Ausbildungstätigkeit gut an die grundsätzliche Nachfrage nach Arbeitskräften angepasst ist. Zwar gibt es in Deutschland ebenfalls viele Ausbildungsgänge, die in erster Linie vollschulisch an Berufsfachschulen oder ähnlichen Einrichtungen erfolgen. Dazu zählen besonders Berufe aus den Bereichen Gesundheit, Erziehung und Soziales. Mit etwa 1 Bosch (2018a). 2 Aus Gründen der Lesbarkeit wurde im gesamten Text die männliche Form gewählt, nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter. 3 Süddeutsche Zeitung (2018). 4 Busemeyer (2012). 5 Bosch (2009). 6 Busemeyer (2012). 7 Schultheis/Sell (2014).
6 DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 230.000 Anfängern pro Jahr8 ist dieser Bereich allerdings deutlich kleiner als die klassische duale Ausbildung.9 Aus diesem Grund soll die duale Ausbildung im Vordergrund dieser Studie stehen. Abbildung 1: Vereinfachtes Schema des deutschen Bildungssystems 10 Quelle: OECD, BMBF Historisch gesehen war die duale Ausbildung der übliche Weg in den Beruf für Jugendliche, die eine Haupt- oder Realschule absolviert hatten. 11 Damit war dies der Standardkarriereweg für den Großteil der Nachwuchskräfte. Viele Tätigkeiten, die in anderen Ländern zum Teil von akademisch ausgebildeten und zum Teil von angelernten Kräften ausgeführt werden, gehören in Deutschland zu den Kernaufgaben der beruflich ausgebildeten Fachkräfte. Diese stellen damit die große Mehrheit der Beschäftigten dar. 8 BIBB, Integrierte Ausbildungsberichterstattung. 9 Gemeint sind die Ausbildungen nach Berufsbildungsgesetz (BBiG) bzw. Handwerksordnung (HwO). Der Einfachheit halber werden sie im Folgenden unter dem Schlagwort „duale Ausbildung“ subsumiert. 10 Die Bezeichnungen, unter denen die berufsbildenden Schulen der beruflichen Bildung firmieren, unterscheiden sich in Deutschland meist stark von Bundesland zu Bundesland. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise werden die berufsbildenden Schulen unter dem Oberbegriff Berufskollegs zusammengefasst, dann aber nach den einzelnen Ausbildungssystemen differenziert. 11 Bosch (2018a).
DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 7 7 7 In der jüngeren Vergangenheit ist das traditionelle duale Ausbildungssystem in Deutschland dennoch stark unter Druck geraten, da es zu einer Verschiebung zugunsten des Hochschulsystems gekommen ist – mit der Folge einer deutlich gestiegenen Anzahl von Studienplätzen und Schulabsolventen mit Hochschulreife. Inzwischen beginnen Jugendliche zu gleichen Teilen ein Studium wie eine duale Ausbildung.12 Aus dem Standardkarriereweg der beruflichen Ausbildung ist mithin ein Ausbildungsgang geworden, der nunmehr neben der akademischen Bildung steht. Die angestrebte größere Durchlässigkeit zwischen beiden Systemen ist zwar formell gegeben, faktisch aber noch nicht allzu ausgeprägt. Zwar wechseln zunehmend Jugendliche aus einer Hochschul- in eine berufliche Ausbildung. Der umgekehrte Weg, also das Studium nach der Berufsausbildung, wird allerdings weiterhin nur von wenigen beschritten. Dabei ist diese Möglichkeit ein zentraler Baustein der politischen Bestrebungen, das Bildungssystem durchlässiger zu gestalten. Flankiert wurde der beschriebene Trend der Akademisierung von einem zu Beginn des neuen Jahrhunderts weit verbreiteten bildungspolitischen Narrativ, demzufolge diese Entwicklung wünschenswert sei.13 Lange Zeit wurde die im internationalen Vergleich geringe Akademikerquote Deutschlands kritisiert, in der eine Gefahr für die Innovationsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts gesehen wurde – so etwa von der OECD. 14 Hinzu kam die Erwartung, dass Deutschland auf dem Weg zu einer vom Dienstleistungssektor geprägten Wissensgesellschaft sei und die Bedeutung des produzierenden Gewerbes – in dem traditionell viele Menschen mit dualer Ausbildung beschäftigt sind – abnehmen würde. Der um die Jahrtausendwende zu beobachtende Anstieg der Bildungsrenditen15 – gemeint sind die relativen Einkommensvorteile, die durch eine höhere Ausbildung erzielt werden können – lieferte zusätzliche Belege für die These. Zudem wurde argumentiert, dass ein Hochschulabschluss dem Einzelnen ein höheres gesellschaftliches Ansehen16 verschaffe. Tatsächlich haben sich diese Thesen aber nicht in dem erwarteten Maße bewahrheitet. Heute gilt die Stärke des produzierenden Gewerbes als ein wichtiger Grund dafür, dass die deutsche Wirtschaft besser und schneller durch die globale Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 gekommen ist als die anderen entwickelten Volkswirtschaften. Auch ist der 12 BIBB (2019c); BIBB (2012); KMK, Vorausberechnung der Anzahl der Studienanfängerinnen und Studienanfänger. 13 Elsholz et al. (2018). 14 Carey (2008). 15 SVR Wirtschaft (2004); OECD, Education at a Glance, verschiedene Jahrgänge. 16 Flake et al. (2017). Demnach zeigen Befragungen, beispielsweise unter Abiturienten, dass Jugendliche einem Hochschulabschluss ein größeres gesellschaftliches Ansehen beimessen. Auf einer Skala von 1 bis 5 beziffern sie es im Mittel mit rund einem Punkt mehr als das Ansehen einer beruflichen Ausbildung.
8 DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG Anteil der Industrie an der Wertschöpfung in den vergangenen zehn Jahren längst nicht so stark zurückgegangen, wie es erwartet worden war. Die Nachfrage nach Arbeitskräften mit abgeschlossener dualer Ausbildung ist hoch geblieben, gleichzeitig aber haben Betriebe seit einiger Zeit zunehmend Probleme, in ausreichender Anzahl geeignete Bewerber für ihre Ausbildungsstellen zu finden. Dieser Fachkräfteengpass könnte zwar in Folge des derzeitigen – durch die Corona- Pandemie ausgelösten – Konjunktureinbruchs wieder kleiner werden. 17 Doch ist nach derzeitigem Stand eher mit einer temporären, aber nicht dauerhaften und strukturellen Verminderung der Nachfrage nach beruflich qualifizierten Arbeitskräften zu rechnen. Vielmehr ist zu erwarten, dass sich der Bedarf mittelfristig weiter vergrößern wird, wie es Vorausberechnungen vermuten lassen. 18 Es scheint somit, als hätte das Ausbildungssystem seine Fähigkeit eingebüßt, entlang der tatsächlichen Nachfrage der Unternehmen neue Fachkräfte auszubilden. Für die Volkswirtschaft könnte sich dies langfristig gesehen negativ auswirken. Zwar ist es durchaus denkbar, dass der Bedarf an ausgebildeten Arbeitskräften künftig stärker durch qualifizierte Zuwanderer aus dem Ausland gedeckt wird, sollte Deutschland zu einer offeneren und zielgenaueren Einwanderungspolitik finden. Bisher allerdings ist dies nicht abzusehen.19 Die vorliegende Studie greift die dargestellten Entwicklungen im Detail auf und ist wie folgt aufgebaut: Zunächst wird eine Bestandsaufnahme erstellt, wie sich das System der dualen Berufsausbildung verglichen mit anderen Ausbildungswegen in der jüngeren Vergangenheit entwickelt hat, sowohl in Deutschland im Allgemeinen als auch in Nordrhein-Westfalen im Besonderen. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Entwicklung von Angebot und Nachfrage auf dem Markt für Ausbildungsplätze gelegt. Ebenfalls dargestellt werden Erkenntnisse zum Ausmaß des derzeitigen und zu erwartenden Fachkräfteengpasses in der deutschen Wirtschaft. Im Anschluss daran wird die Hypothese untersucht, inwieweit die These von der höheren individuellen Rendite einer akademischen Bildung im Vergleich zu der eines dualen Berufsabschlusses Bestand hat. Die Empirie zeigt, dass es im Durchschnitt in Abhängigkeit vom Bildungsabschluss deutliche Einkommensunterschiede gibt. Die OECD etwa beziffert den mittleren Einkommensnachteil eines Beschäftigten mit einer dualen Berufsausbildung im 17 BIBB (2020). 18 IHK NRW (2019); BIBB und IAB, Projekt QuBe. 19 Poutvaara (2018).
DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 9 9 9 Vergleich zu einem Beschäftigten mit einem Hochschulabschluss auf rund 40 Prozent. 20 Wenige Erkenntnisse allerdings gibt es bisher über die Streuung der Einkommen. Deshalb soll hier geprüft werden, inwieweit sich die Einkommensspannen überschneiden. Im Anschluss daran geht diese Studie der Frage nach, inwieweit die staatlichen Investitionen in die berufliche Bildung hinter denen in die Hochschulbildung zurückbleiben. Dazu wird verglichen, welche Mittel die öffentliche Hand in Nordrhein-Westfalen in die unterschiedlichen Bildungswege investiert. Abschließend werden aus den Befunden Handlungsempfehlungen abgeleitet. Diese fokussieren sich auf die berufliche Ausbildung. Mögliche Reformen der Schulsysteme, des Weiterbildungssystems oder der Einwanderungspolitik werden aus Platzgründen nicht im Detail diskutiert. 20 OECD (2019a).
10 DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 2 Die Entwicklung der beruflichen Ausbildung 2.1 Jüngste Trends und Status quo Das berufliche Ausbildungssystem hat in jüngster Zeit deutlich an Bedeutung verloren – in Deutschland insgesamt und auch in Nordrhein-Westfalen. Dafür spricht die Entwicklung der Anzahl der Auszubildenden: Befanden sich im Jahr 2000 noch etwas mehr als 1,70 Millionen Auszubildende in einer dualen Berufsausbildung, so waren es 2018 nur noch 1,33 Millionen.21 Das entspricht einem Rückgang von 22 Prozent. In Nordrhein- Westfalen sank die Zahl im selben Zeitraum um 13 Prozent, von etwas mehr als 340.000 im Jahr 2000 auf knapp unter 300.000 im Jahr 2018. Nachdem die Zahlen im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends zunächst gesunken, dann aber wieder gestiegen waren, zeichnete sich das jüngst abgelaufene zweite Jahrzehnt erneut durch einen nahezu kontinuierlichen Rückgang aus. Parallel zum Aufschwung auf dem deutschen Arbeitsmarkt – der die Zahl der Erwerbstätigen stark ansteigen ließ – nahm die Ausbildungstätigkeit in Deutschland und Nordrhein-Westfalen stark ab. Abbildung 2: Auszubildende in Deutschland und Nordrhein-Westfalen Quellen: BIBB, Statistische Ämter des Bundes und der Länder, eigene Berechnungen 21 BIBB, Datensystem Auszubildende (DAZUBI).
DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 11 11 11 Nicht in allen Bereichen der Wirtschaft war dieser Rückgang der Ausbildungstätigkeit gleichermaßen groß. Weniger Auszubildende als zuvor gibt es allerdings in allen Bereichen. Besonders ausgeprägt war der Rückgang im Handwerk: Hier ist die Zahl der Auszubildenden von knapp 600.000 im Jahr 2000 auf knapp 370.000 im Jahr 2018 gefallen,22 was einem Minus von 38 Prozent entspricht. In Nordrhein-Westfalen sank die Anzahl der Lehrlinge im Handwerk im betrachteten Zeitraum von 112.000 auf 79.000, ein Rückgang von 29 Prozent.23 Ein geringeres Absinken – von insgesamt zehn Prozent zwischen 2000 und 2018 – gab es deutschlandweit im Bereich Industrie und Handel, der insgesamt die meisten Ausbildungsplätze stellt. Auch hier allerdings gab es in der zurückliegenden Dekade einen nahezu kontinuierlichen Rückgang. Bei den freien Berufen (zu denen etwa Steuer- oder Rechtsanwaltsfachangestellte gehören) oder auch beim öffentlichen Dienst setzte der Rückgang vornehmlich in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts ein. Abbildung 3: Auszubildende nach Ausbildungsbereichen 24 Quelle: Destatis, BIBB 22 Destatis, Berufsbildungsstatistik; BIBB (2012). 23 Westdeutscher Handwerkskammertag, Handwerksstatistik 2018/2019. 24 Soweit nicht anders vermerkt, beziehen sich Zahlen in den Grafiken stets auf Deutschland insgesamt.
12 DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG Unterteilt man den Ausbildungsmarkt nicht nach Zuständigkeitsbereichen, sondern nach Wirtschaftssektoren, so zeigt sich, dass es – gegen den Trend – einige Sektoren gibt, in denen die Auszubildendenzahlen zuletzt gestiegen sind.25 Dazu zählen medizinische und pflegerische Berufe, Verkehr und Logistik, Maschinen- und Fahrzeugbau, Chemie und Pharmazie sowie der Bereich der finanz- und rechtswirtschaftlichen Dienstleistungen. Aber auch in diesen Sektoren ist der prozentuale Anteil der Auszubildenden an der Gesamtzahl der Beschäftigten gesunken. Die größten Rückgänge bei den Auszubildendenzahlen sind in den Sektoren Beherbergung und Gastronomie sowie Erziehung und Unterricht festzustellen. Letzteres dürfte allerdings auch darauf zurückzuführen sein, dass in diesem Bereich inzwischen viele Berufsausbildungen schulisch erfolgen und nicht mehr betrieblich. Die Ausbildungstätigkeit in Deutschland ist nicht nur in der Tiefe rückläufig, sondern auch in der Breite. So hat sich parallel zur sinkenden Auszubildendenzahl auch der Anteil der Betriebe, die überhaupt ausbilden, verringert – seit 2010 von mehr als 23 Prozent auf inzwischen unter 20 Prozent. 26 In Nordrhein-Westfalen beträgt die Quote gleichwohl noch mehr als 22 Prozent, obwohl sie zuletzt ebenfalls rückläufig war. Zwar gilt weiterhin, dass kleine Betriebe – im Verhältnis zu ihrer Größe – mehr Auszubildende beschäftigen als große. Allerdings ist der Anteil der Auszubildenden an der Gesamtbelegschaft in den kleinen Betrieben zuletzt besonders stark gesunken. Folglich nähern sich die Anteilswerte über alle Betriebsgrößen hinweg an. So ist der Anteil der Auszubildenden an der Belegschaft in den Betrieben mit bis zu neun Beschäftigten zwischen 2007 und 2017 von 8,1 auf 5,2 Prozent gesunken, während bei den Großbetrieben (250 und mehr Beschäftigte) im selben Zeitraum ein Rückgang von 5,6 auf 4,2 Prozent zu verzeichnen war.27 Immer mehr Betrieben in Deutschland fehlt die Berechtigung zur Berufsausbildung. Der entsprechende Anteil an der Gesamtzahl dieser Unternehmen ist zwischen 2010 und 2017 von 41 auf 47 Prozent gestiegen. 28 Auch diese Entwicklung geht jedoch zum größten Teil auf die Kleinstbetriebe mit bis zu neun Beschäftigten zurück. Insgesamt 57 Prozent dieser Betriebe dürfen nicht ausbilden – vor allem, weil es an Ausbildern fehlt. Als Grund für die reduzierte Ausbildungstätigkeit wird des Öfteren die für einige Handwerksberufe im Jahr 2004 weggefallene Meisterpflicht genannt.29 Tatsächlich ist die Zahl der Auszubildenden in den liberalisierten Bereichen seither nennenswert zurückgegangen. Auch aus diesem 25 BIBB (2019b). 26 BIBB (2019a); BIBB (2012); Gillmann (2020). 27 BIBB (2019a). 28 IAB (2019). 29 Thomä (2018).
DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 13 13 13 Grund wurde die Deregulierung inzwischen zumindest für zwölf Gewerke zurückgenommen und die Meisterpflicht wieder eingeführt, so etwa für Fliesenleger oder Raumausstatter.30 Die oben dargestellten Trends führen dazu, dass das System der traditionellen dualen Ausbildung dem Arbeitsmarkt heute deutlich weniger examinierte Absolventen zur Verfügung stellen kann. Die Anzahl der bestandenen Abschlussprüfungen pro Jahr ist inzwischen deutschlandweit von knapp 480.000 im Jahr 2010 auf unter 400.000 im Jahr 2018 gesunken, in Nordrhein-Westfalen auf unter 90.000. Ein Einflussfaktor für diese Entwicklung ist die wachsende Anzahl von Ausbildungsabbrechern: Sie ist deutschlandweit zwischen 2010 und 2018 von 142.000 auf 152.000 im Jahr gestiegen, in NRW von 30.000 auf 33.000. Kamen 2010 noch 3,4 Absolventen mit bestandener Prüfung auf einen Abbrecher, so sind es inzwischen nur noch 2,6. Das gilt sowohl für Deutschland als auch für Nordrhein-Westfalen. Abbildung 4: Bestandene Prüfungen und vorzeitig aufgelöste Verträge Quelle: Destatis Zwar wechseln viele, die ihren Ausbildungsvertrag auflösen, in eine andere Ausbildung. So wird der Anteil der Abbrecher, die den Beruf wechseln und am Ende doch über eine abgeschlossene Ausbildung verfügen, auf zwei Drittel geschätzt. 31 Dennoch führt die 30 BMWi (2019). 31 IWD (2017).
14 DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG skizzierte Entwicklung dazu, dass die Leistungsfähigkeit des Systems sinkt, da die Absolventen auf dem Weg zwischen Schule und Beruf größere Umwege machen. Diese kosten Ressourcen – sei es in Form von steuerfinanzierten Mitteln für berufsbildende Schulen bzw. Berufskollegs oder sei es in Form von Ausbildungskosten für die Betriebe. Auch das – über das gesamte Arbeitsleben hinweg – erzielte Einkommen der Betroffenen fällt dadurch voraussichtlich geringer aus. Dem Problem sinkender Auszubildendenzahlen versuchte die Politik im Jahr 2013 mit dem Programm „Förderung der beruflichen Mobilität von ausbildungsinteressierten Jugendlichen und arbeitslosen jungen Fachkräften aus Europa“ (MobiPro-EU) zu begegnen. Vor allem Jugendlichen aus Südeuropa, die von der Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008/09 besonders stark getroffen wurden – die Jugendarbeitslosigkeit erreichte in Spanien und Griechenland Werte von über 50 Prozent – , sollte eine Berufsausbildung in Deutschland ermöglicht werden. Damit verbunden war die Hoffnung, dass die Absolventen nach der Ausbildung in Deutschland bleiben würden. Im Jahr 2016 allerdings entschied sich die Bundesregierung, das Programm im Jahr 2020 auslaufen zu lassen. Insgesamt nahmen 2015 und 2016 lediglich 5.200 Jugendliche an dem Programm teil. Zu den Gründen für den geringen Erfolg zählen die mitunter große Sprachbarriere, die hohen Kosten, eine hohe Abbrecherquote sowie eine geringe Bereitschaft der Absolventen, langfristig in Deutschland zu bleiben.32 Ein weiteres Problem: Die Wege in den Beruf dauern heute meist länger als früher, was sich in einem gestiegenen Durchschnittsalter der Auszubildenden niederschlägt. Im Jahr 1993 waren diese zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses im Durchschnitt 18 Jahre alt, 2017 dagegen schon knapp 20 Jahre.33 Der Anteil derer, die erst mit 20 oder in einem höheren Alter einen Ausbildungsvertrag unterschreiben, ist von 20 Prozent im Jahr 1993 auf 42 Prozent im Jahr 2018 angewachsen.34 In Nordrhein-Westfalen beträgt dieser Anteil mittlerweile sogar 52 Prozent. Verantwortlich dafür dürfte vor allem die höhere Anzahl von Abiturienten – und Hochschulabbrechern – unter den Auszubildenden sein. Mit der Anzahl der Absolventen einer Berufsausbildung sinkt die Anzahl derer, die sich später weiter fortbilden lassen. Dies zeigt sich etwa an der Entwicklung der Meisterprüfungen im Handwerk: Mit nur noch knapp über 20.000 erfolgreich abgeschlossenen Meisterausbildungen im Jahr 2018 ist dieser Wert auf einen absoluten Tiefpunkt gefallen.35 In den frühen 1990er Jahren hatten sich noch mehr als doppelt so viele Menschen in Deutschland zum Handwerksmeister ausbilden lassen. Für Nordrhein- 32 Deutscher Bundestag (2019); Müller (2017). 33 BIBB (2019a). 34 Destatis, Berufsbildungsstatistik. 35 ZDH, Statistik der Meisterprüfungen.
DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 15 15 15 Westfalen zeigt sich ein ähnliches Bild:36 Nicht nur die Anzahl ausgebildeter neuer Fachkräfte sinkt, sondern auch die Zahl derer, die berechtigt sind, ein Unternehmen zu führen und selbst Nachwuchskräfte auszubilden. Ein zusätzliches Problem für das Ausbildungssystem stellt die Überalterung der Lehrkräfte an berufsbildenden Schulen bzw. Berufskollegs dar. Schätzungen zufolge wird die Hälfte der Pädagogen an den Berufsschulen des dualen Systems bis 2030 das Rentenalter erreichen. 37 Darüber hinaus ist damit zu rechnen, dass die Anzahl der nachrückenden Berufsschullehrer in den kommenden Jahren deutlich unter der benötigten Anzahl liegen wird. Insofern werden diese Schulen aller Voraussicht nach weiterhin auf Quereinsteiger angewiesen sein. 2.2 Auswirkungen auf den Fachkräftebedarf Wie zuvor dargestellt, ist die Nachfrage nach einer dualen Berufsausbildung in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen. Diese Entwicklung wäre zu verkraften, wenn der Bedarf der Wirtschaft an beruflich ausgebildeten Fachkräften im gleichen Zeitraum ebenfalls gesunken wäre. Dies war allerdings nicht der Fall, im Gegenteil. So hat sich die Arbeitsmarktsituation von Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung in den zurückliegenden Jahren deutlich verbessert. 38 Der wirtschaftliche Aufschwung der 2010er Jahre machte sich bei dieser Beschäftigtengruppe besonders bemerkbar. So ist die Arbeitslosenquote dieser Gruppe seit ihrem Höchststand von 9,9 Prozent im Jahr 2004 um mehr als zwei Drittel auf 3,1 Prozent im Jahr 2019 gesunken. 39 Damit konnte sie sich immer weiter an die Arbeitslosenquote der Akademiker annähern, die im selben Zeitraum von 4,0 auf 2,1 Prozent gefallen ist. Gleichzeitig konnte der Abstand zur Arbeitslosenquote von Arbeitskräften ohne Berufsausbildung deutlich erhöht werden. Diese sank zwischen 2004 und 2019 von 24,6 auf 17,7 Prozent und bleibt damit auf einem sehr hohen Niveau. Für Nordrhein-Westfalen werden für alle Kategorien etwas höhere Werte gemeldet. Die Zahlen verdeutlichen, dass das Risiko, arbeitslos zu werden, für Menschen ohne Ausbildung kaum gesunken ist, für beruflich Qualifizierte dagegen deutlich. Ob die Arbeitslosenquoten im Zuge des Pandemie-bedingten Konjunktureinbruchs wieder 36 Westdeutscher Handwerkskammertag, Handwerksstatistik 2018/2019. 37 Klemm (2018). 38 OECD (2019b). 39 IAB, Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten; Bundesagentur für Arbeit, Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten.
16 DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG ansteigen werden, bleibt abzuwarten. Allerdings scheint eine temporäre Erhöhung an dieser Stelle wahrscheinlicher als eine dauerhafte. Abbildung 5: Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquote Quellen: IAB, BA Verbessert hat sich im zurückliegenden Jahrzehnt auch die berufliche Situation all jener, die ihre Ausbildung gerade erst abgeschlossen haben: Während sich im Jahr 2010 noch mehr als jeder dritte Absolvent nach erfolgreicher Prüfung arbeitslos melden musste, war es 2017 nur noch jeder Vierte.40 Dementsprechend gestiegen sind die Übernahmequoten der Betriebe, also der Anteil der Absolventen, die von ihren Ausbildungsbetrieben in eine reguläre Beschäftigung übernommen werden.41 Fachkräfte mit abgeschlossener Berufsausbildung sind in der deutschen Wirtschaft derzeit in überproportionalem Maße gefragt. So werden für 61 Prozent der – zwischen 2010 und 2019 von insgesamt 0,8 auf 1,4 Millionen gestiegenen – offenen Stellen Bewerber mit 40 BIBB (2019a). 41 IAB (2018a).
DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 17 17 17 diesem Qualifikationsniveau gesucht. 42 Auf Hochschulabsolventen zugeschnitten sind dagegen lediglich 16 Prozent der Stellen. Abbildung 6: Bildungsabschlüsse Quellen: IAB, Destatis (Mikrozensus) Diese Quoten entsprechen zwar in etwa dem Anteil der Bildungsabschlüsse in der Bevölkerung. Doch betrachtet man die Gruppe der Jüngeren – die bei der Besetzung freier Stellen im Fokus steht –, so ist der Anteil der Akademiker hier bereits höher. Von den 30- bis 35-Jährigen verfügten 2018 bereits rund 29 Prozent über einen Hochschulabschluss, aber nur noch 53 Prozent über eine Berufsausbildung.43 Der Vergleich dieser Quoten mit den Anforderungsprofilen bei offenen Stellen lässt somit erkennen, dass das Ausbildungsgeschehen inzwischen in Teilen vom tatsächlichen Fachkräftebedarf abweicht. Diese These lässt sich auch für Nordrhein-Westfalen untermauern. Die Industrie- und Handelskammern schätzen den Fachkräfteengpass der heimischen Wirtschaft für 2019 auf knapp 450.000 Erwerbstätige.44 Der Zusatzbedarf an akademisch qualifizierten Kräften macht davon demnach lediglich 12 Prozent aus. Dieser Schätzung zufolge dürfte der Engpass insgesamt bis 2030 um zwei Drittel wachsen. Akademiker hätten dann noch einen 42 IAB Stellenerhebung, aktuelle Ergebnisse. 43 Destatis, Mikrozensus. 44 IHK NRW (2019).
18 DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG Anteil von lediglich neun Prozent. Der Fachkräfteengpass macht sich demnach voraussichtlich bei den betrieblich ausgebildeten Arbeitskräften bemerkbar. Ein ähnliches Bild ergeben die Qualifikations- und Berufsprojektionen (QuBe) vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) für die gesamte deutsche Wirtschaft. Diese zeigen, dass vor allem das Angebot von Fachkräften mit einer traditionellen beruflichen Ausbildung perspektivisch deutlich unter der Nachfrage liegen dürfte. Demnach kann davon ausgegangen werden, dass der Bedarf an Arbeitskräften für fachlich ausgerichtete, nicht- komplexe Tätigkeiten bis 2030 von 24,1 auf 25,2 Millionen Arbeitskräfte steigen45 und im Gegenzug die Anzahl der Arbeitskräfte mit abgeschlossener traditioneller Berufsausbildung von 22,9 auf 21,9 Millionen sinken wird. Bei den sogenannten komplexen Tätigkeiten – für die ein Bachelor- bzw. Masterabschluss nötig ist – wird für 2030 dagegen ein Überangebot prognostiziert. Somit lässt sich schlussfolgern, dass die Anzahl der Menschen, die eine duale Berufsausbildung absolvieren, zu einer Zeit sinkt, in der der Bedarf an Arbeitskräften mit genau dieser Qualifikation ansteigt. Das Ausbildungsgeschehen scheint sich also zu einem gewissen Grad von der Nachfrage entkoppelt zu haben. Unklar bleibt, wie sich der Prozess der zunehmenden Digitalisierung und Automatisierung auf den Bedarf an beruflich qualifizierten Arbeitskräften auswirken wird. Grundsätzlich ist zu erwarten, dass technologisches Wissen künftig schneller veralten wird, da sich das Tempo des Fortschritts erhöht. 46 Dadurch wächst die Bedeutung der Weiterbildung, schließlich muss Wissen im Laufe eines Berufslebens öfter aufgefrischt werden. Jedoch betrifft dieses Phänomen nahezu alle Erwerbstätige. In der Literatur wird meist angenommen, dass Arbeitsplätze, die zum Großteil manuelle oder intellektuelle Routinetätigkeiten fordern, eher vom technologisch bedingten Wegfall bedroht sind als andere. Schließlich sind es vor allem solche Aufgaben, die von Maschinen, Computern oder Robotern übernommen werden können. Untersuchungen zeigen, dass der Anteil solcher substituierbaren Tätigkeiten bei sogenannten Fachkraftberufen im Schnitt deutlich höher ist als bei Spezialisten- und Expertenberufen, für die in der Regel ein höherer Berufsabschluss nötig ist.47 Allerdings unterscheidet sich das Bild von Beruf zu Beruf: Da beispielsweise das Handwerk meist keine standardisierten, sondern eher individualisierte Produkte herstellt, die nach wie vor Handarbeit erfordern, gilt die 45 BIBB und IAB, Projekt QuBe. 46 Jung/Rürup (2017). 47 Dengler/Matthes (2018).
DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 19 19 19 Substituierbarkeit der entsprechenden Tätigkeiten hier als gering. Anders verhält es sich bei manchen Verwaltungs- oder Fertigungsberufen. Grundsätzlich bleibt aber festzuhalten, dass nicht jede Tätigkeit, die automatisiert werden könnte, auch automatisiert werden wird. Außerdem entstehen durch die Automatisierung neue Ausgaben im Bereich der Überwachung und Steuerung, für die wiederum ebenfalls Menschen nötig sind. Ferner sind selten sämtliche Tätigkeiten eines Berufsbildes vom Wegfall betroffen, andere aber nicht – so etwa all jene, die Teamarbeit oder soziale Interaktionen erfordern. 48 Insofern dürften die meisten Berufe durchaus Wandlungsprozesse erleben, aber kaum im Ganzen obsolet werden.49 48 BIBB (2019a). 49 Bonin (2019).
20 DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 3 Gründe für den Bedeutungsverlust der beruflichen Ausbildung 3.1 Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsmarkt Vor dem Hintergrund des in den letzten Jahren gewachsenen Fachkräftemangels liegt die These nahe, dass das Interesse an dual qualifizierten Beschäftigten auf Seiten der Arbeitgeber keinesfalls sinkt. Tatsächlich lag das Angebot an Ausbildungsplätzen von Betrieben und Behörden im Jahr 2019 mit 578.000 zwar um rund 60.000 unter der Marke von 2001, jedoch stagnierte es seit 2010 weitgehend auf dem aktuellen Niveau.50 Dabei ist allerdings zu beachten, dass es in der zurückliegenden Dekade zu einer Verschiebung kam: Die Zahl der öffentlich geförderten, das heißt außerbetrieblichen Ausbildungsplätze wurde reduziert, im Gegenzug stieg aber das Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen deutlich an – von 539.000 im Jahr 2010 auf derzeit 574.000. In Nordrhein-Westfalen legte die Anzahl der angebotenen Ausbildungsplätze in der zurückliegenden Dekade leicht zu – selbst für den Fall, wenn außerbetriebliche Ausbildungsplätze nicht berücksichtigt werden. Inzwischen übernehmen die Betriebe auch einen deutlich höheren Anteil der von ihnen ausgebildeten Nachwuchskräfte in ein Arbeitsverhältnis als zuvor: Waren es im Jahr 2000 noch 58 Prozent, so stieg diese Zahl bis 2018 auf 71 Prozent.51 Bei Unternehmen mit 500 und mehr Beschäftigten liegt die Quote inzwischen bei 83 Prozent. Große Unterschiede bestehen allerdings zwischen den Branchen: Während die Übernahmequote in der öffentlichen Verwaltung bei etwa 90 Prozent 52 liegt, kommt die Industrie auf immerhin über 80 Prozent. Beim Handel und Bau sind es etwas mehr als 70 Prozent, im Bereich Beherbergung und Gastronomie hingegen weniger als 50 Prozent. Im Betrachtungszeitraum haben die Tarifpartner die monatlichen Auszubildendenvergütungen überdurchschnittlich stark angehoben. Seit 2010 sind diese – im Durchschnitt der Ausbildungsberufe und Tarifgebiete – um 38 Prozent gestiegen, von 678 Euro im Jahr 2010 auf 939 Euro im Jahr 2019. 53 Damit lag das Plus bei den Ausbildungsvergütungen deutlich höher als bei den Tariflöhnen der Beschäftigten insgesamt. Hier war im Betrachtungszeitraum ein Zuwachs von 27 Prozent zu verzeichnen. 54 In Ostdeutschland lag der Anstieg der Ausbildungsvergütungen zwischen 2010 und 2019 sogar bei 48 Prozent. Der Rückstand auf das Niveau der alten Bundesländer hat sich im Betrachtungszeitraum von zehn auf vier Prozent verringert. 50 BIBB (2019c); BIBB (2012). 51 IAB (2019); IAB (2018a). 52 IAB (2019). 53 BIBB, Tarifliche Ausbildungsvergütungen. 54 Hans-Böckler-Stiftung, Statistisches Taschenbuch Tarifpolitik 2019.
DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 21 21 21 Abbildung 7: Ausbildungsvergütungen Quellen: BIBB, WSI, eigene Berechnungen Nachholbedarf wird den Arbeitgebern allerdings bei den Arbeitsbedingungen attestiert. Nach dem DGB-Ausbildungsreport 2019 sind zwar knapp 70 Prozent der Auszubildenden grundsätzlich mit ihrem Arbeitsplatz zufrieden,55 doch ist dieser Wert seit 2010 leicht gefallen. Der Anteil der Auszubildenden, von denen regelmäßig Überstunden erwartet werden, lag 2019 bei etwa 36 Prozent – vier Prozentpunkte unter dem Anteil von 2010. In der Gesamtbetrachtung lässt sich feststellen, dass die Arbeitgeber viele Maßnahmen ergriffen haben, um das System der beruflichen Ausbildung zu stützen. Dennoch gelingt es zunehmend weniger, die vorhandenen Ausbildungsplätze zu besetzen. Betrachtet man nur die betrieblichen Ausbildungsplätze, so ist diese Quote nicht besetzter Ausbildungsplätze zwischen 2010 und 2019 nahezu kontinuierlich angestiegen: In Deutschland insgesamt von 3,7 auf nunmehr 9,4 Prozent, in Nordrhein-Westfalen von 2,4 auf 8,0 Prozent.56 In absoluten Zahlen waren das 2019 insgesamt 53.000 unbesetzte Ausbildungsstellen bundesweit und 10.000 in Nordrhein-Westfalen. Wenig überraschend bestehen große Unterschiede zwischen den Wirtschaftsbereichen: Während der Anteil der nicht besetzten Stellen im Vergleich zu allen angebotenen Stellen beim Handwerk im Jahr 2010 noch 3,9 Prozent betrug, waren es 2019 bereits 55 DGB (2019a). 56 BIBB (2019c).
22 DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 10,6 Prozent.57 Im Bereich Industrie und Handel stieg der Anteil von 3,6 auf 9,2 Prozent. Die beiden mit Abstand größten Bereiche des Ausbildungssystems haben mithin die mit Abstand höchsten Nichtbesetzungsquoten. Bei den freien Berufen war ein Anstieg von 2,7 auf 7,0 Prozent zu verzeichnen. Allein im Bereich des öffentlichen Dienstes blieb die Nichtbesetzungsquote mit zuletzt 1,4 Prozent sehr niedrig. Abbildung 8: Besetzungsprobleme für Ausbildungsstellen Quellen: Destatis, BIBB, eigene Berechnungen Ein Hauptgrund für die rückläufige Ausbildungstätigkeit dürfte das nachlassende Interesse der Jugendlichen sein. Während die breit gefasste Gesamtzahl der Ausbildungsplatzinteressierten – also aller, die über ein Jahr hinweg zumindest zeitweilig als an einem Ausbildungsplatz interessiert registriert wurden – im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends noch meist bei einer knappen Million gelegen hatte, ist sie im Jahr 2019 auf unter 800.000 gefallen.58 Für die enger gefasste Zahl der Ausbildungsplatznachfrager – zu denen nur diejenigen zählen, die entweder einen neuen Ausbildungsvertrag unterschrieben haben oder im September noch immer als suchend registriert sind – liegen Daten erst seit einer Dekade vor. Sie ist in diesem Zeitraum allerdings ebenso gefallen – und lag 2019 bei nur noch knapp 600.000. 57 BIBB (2019c). 58 BIBB (2019c).
DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 23 23 23 Abbildung 9: Ausbildungsplätze – Angebot und Nachfrage Quellen: BIBB, eigene Berechnungen Die Kräfteverhältnisse zwischen dem Angebot an Ausbildungsplätzen und der Nachfrage danach haben sich also verschoben – zugunsten der Nachfragenden. Quantitativ übersteigt die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen das Angebot zwar weiterhin, in Nordrhein-Westfalen sogar in größerem Maße als in Deutschland insgesamt. Dennoch bleiben inzwischen immer mehr Plätze frei, da Angebot und Nachfrage nicht ausreichend zusammengebracht werden können. Tatsächlich scheinen diese Passungsprobleme noch immer derart gravierend zu sein, dass die Zahl der Ende September noch immer nach einer Ausbildungsstelle Suchenden trotz des wachsenden Angebots an freien Stellen nicht gesunken ist. Das gleiche gilt für Nordrhein-Westfalen. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Engpässe auf dem Arbeitsmarkt für beruflich qualifizierte Kräfte ist diese Situation bedenklich.
24 DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 3.2 Einflussfaktoren für die sinkende Nachfrage nach Ausbildungsplätzen 3.2.1 Demografischer Wandel Ein Teil des Nachfragerückgangs auf Seiten der Jugendlichen ist demografisch bedingt. Die zahlenmäßige Stärke der nachkommenden Altersjahrgänge ist zuletzt gesunken – und dürfte Prognosen zufolge 59 bis Mitte des neuen Jahrzehnts weiter sinken. Als Beispiel für den Trend der vergangenen Jahre kann die Entwicklung der 9.-Klässler-Zahlen herangezogen werden: In Deutschland und Nordrhein-Westfalen ist deren Anzahl bis 2006 noch gestiegen 60, seither aber fällt sie merklich. Dass weniger Jugendliche einen Ausbildungsvertrag unterschreiben, liegt somit auch daran, dass es schlichtweg weniger von ihnen gibt. Abbildung 10: Demografische Entwicklung Quelle: Destatis 3.2.2 Akademisierung Ein weiterer Grund für die sinkende Nachfrage der Jugendlichen nach Ausbildungsplätzen liegt im eingangs erwähnten Wandel des Bildungssystems. So erlangen heute deutlich 59 Destatis, Bevölkerungsvorausberechnung (Variante G2L2W2 von 2018). Dabei wird eine moderate Entwicklung von Geburtenrate, Lebenserwartung und Zuwanderungssaldo angenommen. 60 Destatis, Statistik der allgemeinbildenden Schulen.
DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 25 25 25 mehr Schüler die Hochschulreife als früher. Die sogenannte Studienberechtigtenquote, also der Anteil der 18- bis 21-Jährigen, der über die Allgemeine Hochschulreife verfügt, ist zwischen 2000 und 2018 von 28 auf 40 Prozent angestiegen61, in Nordrhein-Westfalen sogar von 30 auf 44 Prozent. Berücksichtigt man zusätzlich diejenigen, die über die Fachhochschulreife verfügen, so liegt diese Quote in Deutschland sowie in Nordrhein- Westfalen bereits bei knapp über 50 Prozent. Im Gegensatz zu früher steht heute also der Mehrheit der Jugendlichen der Weg an die Fachhochschulen und Universitäten offen. Immer mehr Jugendliche haben somit eine Wahlfreiheit zwischen den Systemen der Berufsausbildung. Zwar zieht es bei Weitem nicht alle Abiturienten an die Hochschulen. So ist der Anteil der neu eingestellten Auszubildenden, die das Abitur oder die Fachhochschulreife haben, zwischen 2008 und 2018 von 19 auf 29 Prozent gestiegen – in Nordrhein-Westfalen sogar von 29 auf 41 Prozent. 62 Die meisten von ihnen sind damit formal überqualifiziert, denn bei weniger als zehn Prozent der Ausbildungsplätze wird eine Fach- oder Allgemeine Hochschulreife als Grundvoraussetzung gefordert. 63 Abbildung 11: Abiturientenanteil* an den Auszubildenden * Schulabgänger mit Abitur oder Fachhochschulreife Quellen: Destatis, eigene Berechnungen 61 BMBF, Datenportal. 62 Destatis, Berufsbildungsstatistik. 63 BIBB (2019c).
26 DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG Für die Betriebe können Auszubildende mit Abitur von Vorteil sein, da sie in der Ausbildung erfolgreicher sind: Bei den vorzeitig aufgelösten Ausbildungsverträgen ist der Anteil der Abiturienten deutlich unterproportional, bei den bestandenen Prüfungen dagegen überproportional. 64 Abbildung 12: Studien- und Ausbildungsanfänger Quellen: BIBB, KMK, Destatis Selbst wenn man berücksichtigt, dass inzwischen mehr Abiturienten eine berufliche Ausbildung aufnehmen, ändert sich der generelle Befund einer zunehmenden Akademisierung nicht. Die Anzahl der Jugendlichen, die ein Studium beginnen,65 ist insbesondere im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends stark gewachsen, während die Anzahl der neuen Ausbildungsverträge sank. Inzwischen liegen beide Werte ungefähr gleichauf. In Nordrhein-Westfalen ist die Anzahl der Studienanfänger inzwischen sogar minimal größer. Das System der beruflichen Bildung hat derzeit nicht nur Probleme, Jugendliche mit Abitur für eine Ausbildung zu begeistern. Auch die Integration von Jugendlichen ohne 64 Destatis, Berufsbildungsstatistik. 65 Betrachtet werden hier lediglich die Studierenden, die sich in ihrem ersten Hochschulsemester befinden. Andernfalls würden bspw. beginnende Masterstudenten doppelt Eingang finden in die Statistik, da sie bereits zu Beginn ihres Bachelor-Studiums gezählt wurden.
DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 27 27 27 Schulabschluss gelingt nicht im gewünschten Maße. 66 Der Anteil dieser Gruppe an den Auszubildenden insgesamt stagniert seit einer Dekade bei etwa drei Prozent. Bei den bestandenen Prüfungen ist ihr Anteil noch kleiner – und zuletzt auch stark zurückgegangen. 3.2.3 Matching-Probleme bei der Ausbildungsplatzwahl/-vergabe Die Tatsache, dass das Interesse der Jugendlichen an einem Ausbildungsplatz abgenommen hat, spüren nahezu alle Unternehmen. 67 Dennoch trifft die Entwicklung manche Arbeitgeber deutlich härter als andere. So scheinen sich die Präferenzen der an einer Ausbildung Interessierten zuletzt verschoben zu haben. Nach den vorliegenden Untersuchungen resultierten die Probleme beim Zusammenbringen von Arbeitgebern und Ausbildungsinteressierten in der Vergangenheit vor allem daraus, dass Kandidaten nicht über die gewünschten Eigenschaften – wie etwa Kenntnisse oder Herangehensweisen – verfügten („eigenschaftsbezogenes Mismatch“) oder schlichtweg Wohn- und Arbeitsorte zu weit auseinanderlagen („regionales Mismatch“).68 In der zurückliegenden Dekade allerdings stieg die Anzahl derjenigen, bei denen die Berufswünsche das Hauptproblem darstellten („berufsfachliches Mismatch“), kontinuierlich an. Der Anteil der unbesetzten Ausbildungsstellen, bei denen dieser Grund ursächlich für den misslungenen Findungsprozess ist, wird inzwischen deutschlandweit auf ein Drittel, für Nordrhein-Westfalen sogar auf ein Viertel geschätzt, wie aus dem jüngsten Ländermonitor berufliche Bildung der Bertelsmann Stiftung hervorgeht. Besondere Probleme bei der Suche nach Bewerbern treten in den Berufen auf, die bislang als klassische „Hauptschülerberufe“ galten. Je höher der Anteil der Auszubildenden mit Hauptschulabschluss in einem Beruf ist, desto höher ist in aller Regel der Anteil der unbesetzten Stellen, wie eine Analyse des BIBB zeigt. 69 Beispiele sind hier die Bäcker, die Fachverkäufer für Lebensmittel oder die Mitarbeiter der Gastronomie. Bei den beiden letztgenannten Gruppen dürfte erschwerend hinzukommen, dass die Löhne für Mitarbeiter mit abgeschlossener Ausbildung nur wenig über denen ihrer Kollegen ohne entsprechende Ausbildung liegen.70 Insgesamt ist es zuletzt nicht in nennenswertem Ausmaß gelungen, zusätzliche Personengruppen – etwa Jugendliche ohne Schulabschluss – für eine Ausbildung in diesem Bereich zu gewinnen. 66 Destatis, Berufsbildungsstatistik. 67 DIHK (2019). 68 Bertelsmann Stiftung (2019). 69 BIBB (2019c). 70 Woeßmann et al. (2017).
28 DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG Auf der anderen Seite sind unter den Berufen, bei denen das Interesse an einem Ausbildungsplatz noch immer deutlich größer ist als das Angebot an Plätzen, viele, in denen traditionell zahlreiche Auszubildende über die Hochschulreife verfügen. Hierzu zählen zum Beispiel Mediengestalter, Fotografen oder Gestalter für visuelles Marketing. Auch Einkommen und Reputation dürften mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Einfluss auf die Berufspräferenzen potenzieller Auszubildender haben.71 Diese These soll im Folgenden untersucht werden. Dafür werden die besonders „unbeliebten“ Berufe – bei denen das Angebot an Ausbildungsplätzen die entsprechende Nachfrage von Seiten der Jugendlichen am weitesten übertrifft – verglichen mit den überdurchschnittlich „beliebten“ Berufen. Die Auswertung zeigt, dass es offenbar durchaus einen Zusammenhang gibt zwischen der Beliebtheit eines Berufs unter Jugendlichen – und der Entlohnung: Während der mittlere Wert der Ausbildungsvergütungen in den beliebten Berufen bei knapp 1.000 Euro pro Monat liegt72, beträgt er bei den unbeliebten lediglich knapp 860 Euro. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Bruttolöhnen, die ausgebildete Kräfte verdienen können: Diese liegen bei den Berufen mit Übernachfrage bei gut 2.900 Euro pro Monat,73 bei den Berufen mit Überangebot an Ausbildungsplätzen dagegen lediglich bei knapp 2.200 Euro. Potenzielle Auszubildende streben offensichtlich verstärkt in die Ausbildungsberufe, die während und nach der Ausbildung ein höheres Einkommen versprechen. Zu beachten ist allerdings, dass die Spannbreite der Vergütungen und Löhne in dieser Betrachtung groß ist, wie Abbildung 13 zeigt. Einzelne Berufe – wie etwa Buchhändler oder Florist – sind trotz eines eher geringen Einkommens beliebt bei Jugendlichen. Andere – wie etwa der Betonbauer – stoßen trotz hoher Vergütungen auf wenig Interesse. Ein zusätzlicher Einflussfaktor für die Wahl des Ausbildungsberufs dürfte auch die gesellschaftliche Anerkennung für eine Tätigkeit sein. Für diese liegen ebenfalls statistische Daten vor, die in diesem Falle auf Umfragen basieren. 74 Auch hier deutet sich ein Zusammenhang mit der Nachfrage nach Ausbildungsplätzen an. So wird das Ansehen der Berufe mit der höchsten Übernachfrage auf einer Skala von 0 bis 10 im Mittel mit 5,6 Punkten bewertet 75, das von Berufen mit dem höchsten Überangebot dagegen mit einem Punkt weniger. Dieser Unterschied ist durchaus bemerkenswert – zum einen, weil sich die mittleren Bewertungen aller abgefragten Berufe im Bereich zwischen 3 und 9 Punkten 71 Flake et al. (2017). 72 BIBB, Datensystem Auszubildende (DAZUBI). Konkret handelt es sich um den Median-Wert der Ausbildungsvergütungen der 12 bzw. 14 Berufe in beiden Gruppen. 73 Bundesagentur für Arbeit, Entgeltatlas. Berechnet wurde der Median-Wert der mittleren Einkommen der 12 bzw. 14 Berufe in beiden Gruppen. 74 BIBB (2019d). Die Daten basieren auf den Angaben von gut 9.000 Befragten. 75 Median-Wert der Bewertungen.
DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG 29 29 29 bewegen, also nicht die volle Spanne zwischen 0 und 10 ausgenutzt wird, zum anderen, weil sich unter den am besten bewerteten Berufen viele finden, für die ein Hochschulstudium notwendig ist. Abbildung 13: Beliebte und unbeliebte Ausbildungsberufe im Vergleich Quellen: BA, BIBB, eigene Berechnungen, eigene Darstellung
30 DIE ZUKUNFT DER BERUFLICHEN BILDUNG Ferner kann man festhalten, dass unter den Berufen mit dem größten relativen Überangebot an Ausbildungsplätzen zahlreiche sind, in denen unter Auszubildenden besonders große Unzufriedenheit herrscht. 76 Zu nennen sind hier etwa die Lebensmittel- Fachverkäufer (unter denen nur 51 Prozent mit ihrer Ausbildung zufrieden sind) oder die Hotelfachleute (60 Prozent). Im Mittel aller betrachteten Berufe liegt die Zufriedenheit bei 70 Prozent. Die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen ist zudem von der Betriebsgröße abhängig. Kleinbetriebe haben zunehmend Probleme, ihre Ausbildungsstellen zu besetzen – wodurch sich auch deren sinkende Ausbildungstätigkeit erklärt.77 Während ausbildende Kleinbetriebe mit bis zu neun Beschäftigten im Jahr 2018 im Schnitt 39 Prozent ihrer Ausbildungsplätze unbesetzt lassen mussten, 78 sinkt dieser Anteil mit zunehmender Betriebsgröße. 79 Bei Betrieben mit mehr als 250 Beschäftigten liegt die Quote noch bei gut zehn Prozent. Dieser Befund dürfte nicht zuletzt auf die geringere finanzielle Attraktivität dieser Betriebe für Jugendliche zurückzuführen sein. Während Kleinstbetriebe ihren Beschäftigten im Jahr 2017 im Mittel gut 2.600 Euro zahlten, waren es bei Großbetrieben mit 250 und mehr Beschäftigten knapp 3.600 Euro.80 Auch wird in kleineren Betrieben seltener nach Tarif entlohnt.81 Hinzu kommt, dass kleinere Betriebe weniger Mittel für die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter einsetzen, 82 im Bereich der Digitalisierung geringere Investitionen tätigen 83 und ihren Mitarbeitern seltener ein flexibles Arbeiten gestatten, etwa im Homeoffice.84 Insgesamt lässt sich mithin eine Verlagerung der Nachfrage feststellen – hin zu Berufen und Betrieben mit höherer Entlohnung und einem höherem gesellschaftlichen Ansehen bzw. Prestige. Nach Lage der Dinge ist es bisher nur unzureichend gelungen, diesen Unterschied auszugleichen und Ausbildungsinteressierte dazu zu bewegen, andere Berufe in Betracht zu ziehen. 76 DGB (2019a). 77 BIBB (2019a). 78 IAB (2019). 79 Hier muss allerdings beachtet werden, dass in den zitierten Auswertungen des IAB-Betriebspanels deutlich höhere Nichtbesetzungsquoten für Ausbildungsplätze genannt werden als in den Tabellen des BIBB, die ansonsten als erste Datengrundlage dieser Studie fungieren. 80 IAB (2018b). 81 WSI (2019). 82 IAB (2019). 83 BIBB (2019a). 84 IAB (2019).
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