Digitalisierung "Made in China" - Daten- und Plattformökonomie 2.2019 - ZVEI

 
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Digitalisierung "Made in China" - Daten- und Plattformökonomie 2.2019 - ZVEI
2.2019

     Digitalisierung
    „Made in China”
Daten- und Plattformökonomie
Digitalisierung "Made in China" - Daten- und Plattformökonomie 2.2019 - ZVEI
Chancenkompass
                                                                             Datenwirtschaft
                                                                             Orientierungshilfe für datenbasierte Geschäftsmodelle in der Elektroindustrie

                                                                             KONFERENZ | 25. JUNI 2019 | FRANKFURT A.M.

                                                                                 www.zvei-akademie.de/chancenkompass
Bild: demarco, juniart, High-resolution, Nmedia, Gorodenkoff / Fotolia.com

                                                                                                                                                             ERFAHREN SIE, …

                                                                                                                                                             : welche Herausforderungen Datenmodelle an Ihr
                                                                                                                                                               Unternehmen stellen
                                                                                                                                                             : welche Daten einen Wertbetrag im Unternehmen
                                                                                                                                                               erzielen
                                                                                                                                                             : wofür die generierten Daten genutzt werden können
                                                                                                                                                             : welche Positionierungsmöglichkeiten sich bieten und
                                                                                                                                                               wann Partnerschaften notwendig sind
                                                                                                                                                             : welche Erlösmodelle sich für Ihr Unternehmen ergeben
                                                                                                                                                             : welche Maßnahmen ABB, Calvatis, Infineon
                                                                                                                                                               und Siemens ergriffen haben, um ihre führenden
                                                                                                                                                               Positionen auszubauen

                                                                                         Mit
                                                                                         Mitinteraktiven
                                                                                             interaktivenBreak-out
                                                                                                          Break-outSessions
                                                                                                                    Sessionszur
                                                                                                                             zurBeantwortung
                                                                                                                                 BeantwortungIhrer
                                                                                                                                              Ihrerkonkreten
                                                                                                                                                    konkretenFragen
                                                                                                                                                              Fragen
Digitalisierung "Made in China" - Daten- und Plattformökonomie 2.2019 - ZVEI
EDI TORIAL          3

             „Wir sollten den Diskurs
              über die Rolle Chinas
              hierzulande künftig
              differenzierter führen.“

             Liebe Leserin,
             lieber Leser,

             das Gewicht Chinas in der Weltwirtschaft nimmt weiter zu – und damit die Intensität, mit der über
             die Rolle der neuen Weltmacht in Politik und Gesellschaft diskutiert wird. Grundsätzlich ist das in
             einem demokratischen Gemeinwesen nicht verkehrt. Dennoch sind wir gut beraten, weder übermütig
             noch allzu demütig aufzutreten. Stattdessen braucht es Mut, auf die eigenen Stärken zu setzen und
             diese auszubauen. Zum Beispiel, wenn es um den Einsatz künstlicher Intelligenz in unseren Betrieben,
             aber auch anderen Lebensbereichen geht. Wenn es uns gelingt, Spitzentechnologie mit einem hohen
             Maß an Persönlichkeitsschutz zu verbinden, dann kann „KI made in Europe“ zu einem Markenzeichen
             werden.

             Etwas Mut braucht es auch, von den eigenen Vorurteilen abzurücken und in den Dialog zu treten.
             Denn dann wird rasch klar: Angesichts steigender Löhne und dramatischer Umweltverschmutzung
             kann China keinen anderen Weg gehen, als seine Industrie und seine Megastädte rasch zu moder-
             nisieren. Der Ersatz fossiler Kraftwerke und die Elektrifizierung des Verkehrs sind aus chinesischer
             Sicht alternativlos. Für deutsche Unternehmen liegen darin nicht nur Risiken, sondern auch riesige
             Chancen: Es eröff net sich ein gewaltiger Markt für innovative Technologien.

             Ich wünsche mir, dass wir sowohl den Dialog mit China als auch den Diskurs über die Rolle Chinas
             hierzulande künftig differenzierter führen. Einen kleinen Beitrag dazu wollen wir mit der vorliegen-
             den Ausgabe von AMPERE leisten.

             Ihr
Foto: ZVEI

             MICHAEL ZIESEMER
             Präsident des ZVEI

                                                                                                                AMPERE 2.2019
Digitalisierung "Made in China" - Daten- und Plattformökonomie 2.2019 - ZVEI
4   INHALT

    ILLUSTRATION AUF DER TITELSEITE

    Ein Serverschrank in der Verbo-
    tenen Stadt: Mit Digitalisierung
    und Industrie 4.0 will China
    seine Wirtschaft modernisieren.
    Partner sind willkommen –
                                                                      Wie Digitalisierung und Vernetzung
    aber wie kommt man an den                                         die Wertschöpfungsketten verändern.
    Wächterlöwen vorbei?

    Editorial                                                  3    STATUS QUO

    KOPF ODER ZAHL?
    SESAM, ÖFFNE DICH!
    Am Singles’ Day klingeln
                                                                    DIE PLATTFORMMACHER
                                                                    Wie Konzerne und Mittelständler
                                                                    die Chancen der Plattformökonomie
                                                                    nutzen können                           8
                                                                                                                 16
    in China die Kassen                                        6
                                                                    CHEFSACHE
    EINST UND JETZT                                                 „AUCH MAL AUF DIE SCHNAUZE FALLEN”
    BILDUNG À LA CARTE                                              Daniel Hager will sich auf den
    Vom muffigen Tagungshotel                                        Erfolgen seines Familienunternehmens
    zum Blended Learning                                     20     nicht ausruhen                       12

    MEIN ERSTES MAL                                                 ENTSCHLÜSSELT
    EIN LEBEN LANG                                                  SOUVERÄN
    Wie Wolfgang Reichelt aus Fundstücken                           Die Netzgemeinde streitet um
    Detektorradios baute                  46                        den Begriff der „Datensouveränität”.
                                                                    Versuch einer Definition                 16

    46                                                              CHECKLISTE
                                                                    BEREIT FÜR DIE DATENWIRTSCHAFT?
                                                                    Sieben Erfolgsfaktoren auf dem Weg
                                                                    in die Daten- und Plattformökonomie     18

                                                                      12
                                                                                                                      Illustration auf der Titelseite: shutterstock.com / MuchMania, shutterstock.com / ProStockStudio

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    www.zvei.org /ampere   ISSN-Nummer 2196 -2561
                           Postvertriebskennzeichen 84617

    AMPERE 2.2019
Digitalisierung "Made in China" - Daten- und Plattformökonomie 2.2019 - ZVEI
INHALT              5

                                                                                                                                                                                              Von der verlängerten
                                                                                                                                                                                              Werkbank zum füh-
                                                                                                                                                                                              renden Anbieter von
                                                                                                                                                                                              Hochtechnologie:
                                                                                                                                                                                              Das Reich der Mitte
                                                                                                                                                                                              ist aufgebrochen.

                                                                                                               IMAGINE                                    STANDPUNKTE
                                                                                                               KEINE FALSCHE EHRFURCHT
                                                                                                               VOR ALGORITHMEN
                                                                                                               Prof. Dr. Katharina Zweig kämpft um
                                                                                                               Aufklärung über maschinelles Lernen   22
                                                                                                                                                          VERSTEHEN STATT VERURTEILEN
                                                                                                                                                          Ostasien-Wissenschaftler
                                                                                                                                                          Prof. Dr. Thomas Heberer und
                                                                                                                                                          SEG-Manager Dr. Ulrich Kirschner
                                                                                                                                                                                                                                                                                          32
                                                                                                                                                          über China und den Westen                                      32

                                                                                                                 22                                       LÄNDERREPORT
                                                                                                                                                          BOOMTOWN NACH PLAN
                                                                                                                                                          Wie keine andere Stadt steht
                                                                                                                                                          Shenzhen für den Aufstieg Chinas.
                                                                                                                                                          Ein Ortstermin                                                 36

                                                                                                                                                          HEISSES EISEN
                                                                                                                                                          ALLEINE KANN ES KEINER
                                                                                                               REPORT                                     Cybersicherheit ist Gemeinschafts-
                                                                                                               NICHT OHNE MEIN SMARTPHONE                 aufgabe, sagt Siemens-Manager
                                                                                                               Die meisten Chinesen organisieren          Dr. Henning Rudolf                                             42
                                                                                                               ihren gesamten Alltag elektronisch    24

                                                                                                                                                          Impressum

                                                                                                                 24
Die Nachweise der im Inhaltsverzeichnis verwendeten Bildmotive sind in den entsprechenden Artikeln vermerkt.

                                                                                                                                                          CHEFREDAK TEUR                                                            VERL AG, KONZEP T & REALISIERUNG
                                                                                                                                                          Thorsten Meier                                                            Publik. Agentur für Kommunikation GmbH
                                                                                                                                                                                                                                    Rheinuferstraße 9, 67061 Ludwigshafen
                                                                                                                                                          HER AUSGEBER                                                              Projektleitung: Stefanie Lutz,
                                                                                                                                                          ZVEI-Services GmbH                                                        s.lutz@agentur -publik.de
                                                                                                                                                          Dr. Henrik Kelz, Patricia Siegler
                                                                                                                                                          (Geschäftsführung)                                                        Inhalt: Redaktionsbüro delta eta
                                                                                                                                                          Lyoner Straße 9,                                                          Paschek & Winterhagen GbR
                                                                                                                                                          60528 Frankfurt am Main
                                                                                                                                                          Telefon +49 69 6302-412                                                   Art-Direktion: Barbara Geising
                                                                                                                                                          E-Mail: zsg@zvei-services.de
                                                                                                                                                          www.zvei-services.de                                                      Korrektorat: exact! Sprachenservice und Informations-
                                                                                                                                                                                                                                    management GmbH
                                                                                                                                                          ZSG ist eine 100-prozentige Servicegesellschaft
                                                                                                                                                          des ZVEI – Zentralverband Elektrotechnik- und                             ANZEIGEN
                                                                                                                                                          Elektronikindustrie e. V.                                                 Dr. Henrik Kelz, kelz@zvei-services.de

                                                                                                                                                          ANSPRECHPARTNER ZVEI E.V.                                                 DRUCK
                                                                                                                                                          Thorsten Meier                                                            SEW-EURODRIVE GmbH & Co KG
                                                                                                                                                          (Abteilungsleiter Kommunikation und Marketing),
                                                                                                                                                          meier@zvei.org                                                            Der Bezug des Magazins ist im ZVEI-Mitgliederbeitrag enthalten. Alle Angaben
                                                                                                                                                                                                                                    sind ohne Gewähr, Änderungen vorbehalten. Nachdruck, Vervielfältigung und
                                                                                                                                                          Karen Baumgarten, Stella Loock                                            Onlinestellung nur mit schriftlicher Genehmigung des Herausgebers gestattet.
                                                                                                               PRAXIS                                     (Referenten Kommunikation und Marketing),                                 Alle Rechte vorbehalten.
                                                                                                                                                          baumgarten@zvei.org, loock@zvei.org
                                                                                                               DAS APOLLO-PROGRAMM                        www.zvei.org                                                              Stand: 5 / 2019
                                                                                                               Wie die Apollo-Plattform von Baidu
                                                                                                               das autonome Fahren beflügeln will     28

                                                                                                                                                                                              Dieses Magazin wurde auf FSC®-zertifiziertem Papier gedruckt. Mit der
                                                                                                               AUS OSTWESTFALEN-LIPPE NACH HUAI'AN                                            FSC®-Zertifizierung (Forest Stewardship Council) wird garantiert, dass
                                                                                                                                                                                              sämtlicher verwendete Zellstoff aus nachhaltiger Forstwirtschaft stammt.
                                                                                                               Fraunhofer hat eine Forschungsfabrik                                           Der FSC® setzt sich für eine umweltgerechte, sozial verträgliche und
                                                                                                                                                                                              wirtschaftlich tragfähige Bewirtschaftung der Wälder ein und fördert die
                                                                                                               nach China exportiert                30                                        Vermarktung ökologisch und sozial korrekt produzierten Holzes.

                                                                                                                                                                                                                                                                                             AMPERE 2.2019
Digitalisierung "Made in China" - Daten- und Plattformökonomie 2.2019 - ZVEI
6   KOP F ODER Z AHL?

            Sesam,
            öffne dich!
             Text: Laurin Paschek

                SHANGHAI, CHINA

                V
                          ier Mal die Eins: Das ist der 11.11., der in
                          China schon seit den 1990er-Jahren als
                          „Singles’ Day“ begangen wird. Das Da-
                          tum wurde so gewählt, weil die Zahl 1
                einen Alleinstehenden ausdrücken soll. Viele wol-
                len das aber nicht bleiben, und deswegen organi-
                sieren junge Chinesen an diesem Tag Partys und
                Karaoke-Events, um mit anderen zu feiern und
                sich – wenn’s klappt – zu verlieben. Weil dabei
                auch kleine und große Geschenke helfen können,
                hat sich der 11.11. zugleich zum weltweit umsatz-
                stärksten Onlineshopping-Tag entwickelt.
                Der „Singles’ Day“ stellt die hierzulande etwas be-
                kannteren „Cyber Mondays“ oder „Black Fridays“
                in den Schatten, die ebenfalls im November abge-
                halten werden, damit die Kassen von Amazon und
                anderen Onlinehändlern klingeln.

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KOP F ODER Z AHL ?                          7

213,5
 Milliarden Yuan
 (umgerechnet rund
 28 Milliarden Euro) Umsatz
 erreichte der chinesische
 Onlinehändler Alibaba
 Group an einem einzigen
 Tag, dem 11.11.2018.
 Gegenüber dem 11.11.2017
 bedeutete dies eine
 Steigerung um 26 Prozent.

                                                   Foto: STR / AFP

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8   S TAT US QU O

    In Endverbrauchermärkten ist der Wandel zur Plattformökonomie weit
    fortgeschritten. Auch in der Industrie setzt sie sich durch und wird
    nach Ansicht von Experten das Gesicht der Elektroindustrie verändern.
    Wie gehen Unternehmen diese Herausforderung an? Und wie stehen
    die Chancen des deutschen Mittelstands gegenüber den neuen
    Wettbewerbern aus den USA und Asien? Eine Bestandsaufnahme.

    Text: Peter Trechow

                          E
                                   ine Plattform hat einiges für sich. Zwar ist der   Firmen hinaus. Und damit hält die Plattformökonomie
                                   Aufstieg beschwerlich, aber einmal oben ange-      auch in der Industrie Einzug. Für die Elektrobranche
                                   langt, breitet sich die Landschaft zu den eige-    liegt darin eine große Chance. So sagt Dr. Bernd
                                   nen Füßen aus. Was heute vor allem als             Heinrichs, Chief Digital Officer von Bosch Mobility
                          touristische Attraktion dient, war in früheren Zeiten       Solutions: „Die Entwicklung starker digitaler Plattfor-
                          strategisch höchst relevant, um potenzielle Angreifer       men steht am Anfang. In der Industrie wird künftig
                          bereits auf große Entfernungen zu erkennen. Wie es          kein Unternehmen mehr ohne sie auskommen.“
                          der Begriff in die Digitalökonomie geschafft hat, ist            Das sieht auch McKinsey-Berater Dr. Bernhard
                          nicht genau zu rekonstruieren. Früher, als Computer         Mühlreiter, der für den ZVEI den Chancenkompass
                          für die Erstellung von Gehaltsabrechnungen die Größe        Digitalwirtschaft erarbeitet hat. Doch er weist auch auf
                          von Kleiderschränken hatten, bezeichnete man mit            Risiken hin: „Player wie Google, Microsoft oder Ama-
                          „Plattform“ zunächst nur ein Betriebssystem, auf dem        zon treten mit ihrer Daten- und IT-Kompetenz in
                          verschiedene Programme laufen konnten. Als mit              Wettbewerb mit Industrieunternehmen“. Zwar verfü-
                          dem Internet der Onlinehandel in Schwung kam, ent-          gen Letztere über sogenanntes Domänen-Know-how,
                          standen zunächst digitale Marktplätze, die Händlern         also das Wissen um Produkte, Prozesse und Branchen,
                          realer Produkte eine Plattform bieten wollten. Und          doch fehlt ihnen die Datenkompetenz der IT-Player.
                                                                                                                                                  Foto: shutterstock.com / frank_peters, Illustration: Barbara Geising

                          mit einem Mal war auch das Produkt nur noch virtu-          Daher rät der Experte zu Allianzen – auch mit Wettbe-
                          ell, Bits und Bytes, zu beziehen über App Stores, die       werbern. Nur so könne man den Playern aus den USA
                          sich nun ebenfalls Plattform nannten.                       und Asien Paroli bieten. Schon heute finden auf
                              Die Welt professioneller IT-Systeme entzog sich die-    industriellen IoT-Plattformen viele Mittelständler zu-
                          sem Trend lange Zeit – erst recht, wenn sie der Echt-       sammen, die positive Netzwerkeffekte der Platt-
                          zeitsteuerung von Fahrzeugen, Gebäudetechnik oder           formökonomie nutzen wollen: geringere Transak-
                          Produktionsanlagen diente. Die hohen Sicherheitsan-         tionskosten, geteilte Risiken, Zugriff auf die Kreativität
                          forderungen führten dazu, dass mit wenigen Ausnah-          von Vielen. Diese Vorteile wachsen mit der Relevanz
                          men Hard- und Software sowie begleitende                    der Plattformen. Das wissen auch Großunternehmen
                          Dienstleistungen eng gekoppelt waren. Doch diese            wie Bosch und reihen sich.
                          einstmals weitgehend geschlossene Welt hat sich geöff-          „Digitale Plattformen spielen bei uns eine zentrale
                          net – im Internet der Dinge erfolgt die Steuerung von       Rolle“, betont Heinrichs. Dazu zählt auch die Mobility
                          Prozessen über einzelne Produktionsschritte oder gar        Cloud Suite. „Aufbauend auf der Bosch-IoT-Suite

    AMPERE 2.2019
Digitalisierung "Made in China" - Daten- und Plattformökonomie 2.2019 - ZVEI
S TAT US QU O       9

In unseren privaten Alltag ist
die Cloud längst eingezogen.
    Jetzt werden digitale
      Plattformen auch
   die Industrie verändern.

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10 S TAT US QU O

                                     BEKANNTHEIT                                                 TECHNOLOGIEPROJEKTE
                                VON DIGITALPLATTFORMEN                                             VON UNTERNEHMEN

                          „Der Begriff Digitale Plattformökonomie                                 „In unserem Unternehmen
                                         ist mir ...”                                           laufen bereits Projekte zu ...”

                                         bekannt: 43 %
                                         nicht bekannt: 54 %                                   Digitale                      Predictive
                                                                                              Produkt-                       Analytics:
                                         keine Angabe: 3 %                                    merkmale:
                                                                                                                               37 %
                                                                                                39 %

                                                                                             Entwicklung                    Platzierung
                                                                                                 einer                     von Services
                                                                                               eigenen                     auf anderen
                                                                                              Plattform:                   Plattformen:

                                                                                                 19 %                           17 %
                      Basis: 505 Unternehmen mit >20 Mitarbeitern in Deutschland     Quelle: Deutscher Industrie-4.0-Index 2018, Staufen AG
                      Quelle: Bitkom Research, 2018

                   bietet sie alle Funktionen, um Fahrzeuge, Anwender,             2016 die Automatisierungsplattform PLCnext auf. Ist
                   Unternehmen und Domänen auf einer Plattform zu-                 das westfälische Sturheit oder geschickte strategische
                   sammenzubringen“, erklärt er. Individuell können                Weichenstellung? Ulrich Leidecker, Leiter des Ge-
                   Fahrzeughersteller auf eine communitybasierte Park-             schäftsbereichs Industry Management & Automation,
                   platz-Suchmaschine, eine cloudbasierte Falschfahrer-            wirkt keineswegs stur. Ein zugewandter Gesprächs-
                   warnung oder drahtlos auf Software-Updates                      partner, der die Schwierigkeiten der Plattformökono-
                   zugreifen. Mit Coup betreibt Bosch auch eine Platt-             mie klar benennt. Etwa die Absicherung der
                   form für das Ridesharing von Elektrorollern in Berlin,          Plattformen gegen unbefugte Zugriffe, vor allem weil
                   Paris und Madrid. Und Töchter wie Etas und Escrypt              auch Drittanbieter eigene Apps in den PLCnext-Store
                   setzen auf Plattformansätze, um vernetzte Fahrzeug-             einstellen können. Oder das lästige Zertifikate-
                   flotten rundum vor unbefugtem Zugriff zu schützen –               Management. Die praktische Umsetzung digitaler
                   aus Angriffen lernend, wie ein Immunsystem.                      Plattformen – so viel wird klar – erfordert Sorgfalt im
                      Die Leitposition in Plattform-Ökosystemen ist be-            Detail. Doch sei die Plattformökonomie vor allem
                   gehrt, lautet die Frage doch: Lenken oder Mitmachen?            eine Chance.
                   Viele Unternehmen starten eigene Plattformen.                      „Es geht darum, Veränderungen selbst zu gestalten
                   Mühlreiter warnt: „Für manche mittelständischen                 und davon zu profitieren“, sagt Leidecker. Es gehe da-
                   Player ist es aussichtslos, eine Plattform in relevanter        rum, für digitale Geschäftsmodelle bereit zu sein. Die
                   Größe aufzuziehen. Ihnen fehlt es an personeller und            Ausgründung von Protiq war ein Zündfunke. Weil es
                   finanzieller Kraft, an Know-how und am Netzwerk.“                keinen Sinn machte, 3-D-Druckanlagen anzuschaffen,
                   Um das Dilemma zu lösen, gebe es zwei Möglichkei-               ohne sie auszulasten, setzte das Team auf eine Platt-
                   ten: Entweder bilde man schlagkräftige Netzwerke                form mit Kunden und Partnerfirmen. „Was einfach
                   oder man bringe sich in florierende Plattformen ein.             klingt, war in den Strukturen von Phoenix Contact
                      Spätestens hier bietet sich ein Gespräch mit                 nicht umsetzbar, da unsere gesamte Logik der diskre-
                   Phoenix Contact an. Denn der Mittelständler mit                 ten Fertigung für vorqualifizierte Kunden ganz anders
                   weltweit 17.400 Mitarbeitern und 2,38 Milliarden                strukturiert ist“, sagt er. Das Spin-off etablierte neue
                   Euro Umsatz setzt auf eigene Plattformen. Im Additive           Prozesse, dachte Geschäftsmodelle neu und forderte
                   Manufacturing treibt das Spin-off Protiq einen Markt-            so das Mindset des etablierten Mittelständlers heraus.
                   platz voran. Und Phoenix Contact selbst baut seit               Protiq stieß auf Konstanten der Plattformökonomie:

   AMPERE 2.2019
S TAT US QU O          11

Sofortiges Zahlen, Lieferung an nicht qualifizierte                    gewährleistet PLCnext die einfache Integration von
Kunden oder das Abtreten von Wertschöpfungs-                          Open-Source-Software und reibungslose Vernetzung
potenzial an Partner. Bei der Finanzabwicklung kam                    durch direkte Cloud-Anbindung.
sogar die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungs-                       „Wir haben uns für die Öffnung entschieden, weil
aufsicht (Bafin) ins Spiel.                                            proprietäre Engineering-Ansätze nicht in die vernetz-
    Auch PLCnext wirkt wie ein Katalysator für die                    te Welt passen“, erklärt Leidecker. Eine Vorausset-
Transformation vom Traditionsunternehmen zum                          zung in der Industrie 4.0 sei es nun einmal, dass
digitalen Industrie-4.0-Anbieter. „Die Plattform wird                 Anwender Lösungen verschiedener Anbieter in ihre
umso attraktiver, je mehr Partner mitwirken. Das ist                  Prozessketten integrieren können. „Mit der Plattform
ein Geben und Nehmen“, berichtet Leidecker. Natür-                    schaffen wir ein Ökosystem, in dem Kunden neben
lich gehen auch attraktive Aufträge an andere Anbie-                  der klassischen Industriesteuerung in Echtzeit sowie
ter auf der Plattform. Doch auf diese Weise soll ein                  zeitversetzt vielfältige externe Lösungen für ihre      Der „Chancenkompass
selbstverstärkender Kreislauf in Gang kommen. Dafür                   Automatisierungsprojekte finden“, sagt Leidecker.        Datenwirtschaft”
ist der PLCnext-Store offen für Kreative aus Bereichen                    Als Techniker geht er im Gespräch tief ins techni-   kann zum Preis von
                                                                                                                              99,90 Euro (netto)
wie Künstliche Intelligenz, Big Data oder Automati-                   sche Detail und benennt spezifische Kundenvorteile.
                                                                                                                              bestellt werden:
sierungstechnik. Junge Anbieter kommen mit Indus-                     Dabei wird klar, dass Phoenix Contact und andere
                                                                                                                              www.zvei-shop.de
trieunternehmen zusammen. Wo bisher aufwendige                        Mittelständler mit ihren Plattformen eine Karte aus-
Marktrecherche nötig war, können Anbieter und Su-                     spielen, die große IT-Player nicht im Blatt haben:
chende nun quasi per Mausklick aus dem Füllhorn                       Erfahrung aus Tausenden Kundenprojekten – bei
schöpfen. Der Store ist nur eine Facette der Plattform.               Phoenix Contact seit 1923. Indem sie dieses gewach-
Das technologische Herzstück ist eine neuartige                       sene Branchenwissen mit den neuen Möglichkeiten
kollaborative Entwicklungsumgebung. Da Program-                       des digitalen Miteinanders verknüpfen, stoßen sie
mierer nicht mehr die klassische SPS-Programmierung                   für sich, ihre Kunden und Partner die Tür zu rascher
lernen, sondern allenfalls Hochsprachen, über-                        Weiterentwicklung auf. „Wir müssen umdenken,
setzt PLCnext. Die Plattform setzt klassischen und                    offener werden und dürfen auch vor einer Kollabora-
Hochsprachen-Code sowie Daten aus gängigen Simu-                      tion mit bisherigen Wettbewerbern nicht zurück-
lationsprogrammen automatisch zu Echtzeit-                            schrecken“, sagt Leidecker. „Dazu gehört auch
Steuerungssoftware zusammen. Entwickler aus unter-                    die Mitarbeit auf Plattformen anderer Anbieter“.
schiedlichen Generationen können so in verschiede-                    Nach westfälischer Sturheit klingt das nun wirklich
nen Programmiersprachen zusammenarbeiten. Auch                        nicht.

                                                                 DIGITALISIERUNGSGRAD
                                                               VERSCHIEDENER INDUSTRIEN

                                                                                                  Wendepunkt
                                                                                                                         Progressive
                                                    ELEKTROINDUSTRIE                                       MEDIEN        Unternehmen
                                                                                            DIGITAL                      und etablierte
                                                                                                                         Start-ups
                                                                                                                         bilden die neue
                                                                        KONSUMGÜTER                                      Normalität
                                                                                               Mainstream-
                                                                        BANKEN                 Kunden adaptieren
                                                                                               neue Modelle
               VERSORGUNGS-                               INDUSTRIE
                                                                                      Progressive
               UNTERNEHMEN                                                            Unternehmen                    Nachzügler
                                                                                      beginnen, neue                 scheitern
                                                                 Early Adopters       Geschäftsmodelle
                               Innovative Start-ups              starten mit          zu adaptieren
        Neue Trends            kreieren disruptive               neuen Geschäfts-                                   Adaptionskurve
        entstehen              Geschäftsmodelle                  modellen                                           Status der Industrien

                                                                                                                    Digitaler Reifegrad
     Quelle: McKinsey, ZVEI Services Chancenkompass Datenwirtschaft

                                                                                                                                     AMPERE 2.2019
12 CHEFS ACHE

                  Seit Daniel Hager vor elf Jahren die Geschäftsführung des 1955
                      gegründeten Familienunternehmens übernommen hat,
                   hat sich der Umsatz mehr als verdoppelt. Doch auf Erfolgen
                        will sich der Chef der Hager Group nicht ausruhen.
                       Stattdessen malt er auch mal den Teufel an die Wand.

                                         Text: Johannes Winterhagen | Fotografie: Alexander Grüber

              2018 lag Ihr Umsatz erstmals bei mehr als zwei Milli-    wir über Tugenden sprechen, dann bleibt auch in
              arden. Zu sagen „Läuft doch!“ wäre da eine nachvoll-     einer digitalen, sich schneller wandelnden Welt
              ziehbare Grundhaltung.                                   der direkte Kundenkontakt einer der wichtigsten
              Wir fragen uns stattdessen, wie wir uns auf die          Erfolgsfaktoren.
              Zukunft vorbereiten können. Tatsächlich ist die
              gute Baukonjunktur auch ein Grund dafür, dass            Ist das nur eine Frage des Know-hows oder auch der
              sich komplexere Technik schwer verkaufen lässt.          Haltung?
              Ein Zählerschrank ist halt schneller an den Mann         Start-up-Kultur bedeutet für mich vor allem, neue
              gebracht als ein intelligentes Zuhause.                  Arbeitsmethoden wie agile Entwicklung oder Design
                                                                       Thinking einzusetzen. Diese Methoden integrieren
              Wir reden schon lange über das Smart Home. Wann          wir bei uns mit der gleichen Stringenz, mit der wir
              passiert nun endlich etwas?                              heute Projekte umsetzen.
              Das Smart Home ist schon Realität. Der nächste
              Schritt wäre nun, in eine Dienstleistungswirtschaft zu   Wo stehen Sie da?
              gehen. Dafür sind noch einige Grundsatzfragen zu         Das ist natürlich ein Kulturwandel. Was die neuen
              lösen, auch technische. Zudem gilt es, die Marktvor-     Arbeitsmethoden betrifft, so haben wir ein um-
              aussetzungen zu schaffen, damit unsere Lösungen           fassendes Programm aufgelegt, um sie im ganzen
              wirtschaftlich sind.                                     Unternehmen bekannt zu machen. Es geht auch da-
                                                                       rum, unter den Mitarbeitern die Kompetenz zu ent-
              Welche Tugenden aus der alten Elekrotechnikwelt          wickeln, diese neuen Methoden richtig anzuwenden.
              braucht man, um in der neuen, dienstleistungsge-         Dabei ist die Frage von Bedeutung, wie man solche
              trieben Welt erfolgreich zu sein?                        Arbeitsweisen standardisieren kann – nur so erzielen
              Was Qualität und Professionalität betrifft, so sind       wir Akzeptanz in einer wachsenden Organisation.
              wir bei der Hager Group gut aufgestellt. In dem          Wir kommen aus dem klassischen Mittelstand, in
              Spezialwissen, etwa über die Applikationen, die für      dem viele Arbeitsweisen nicht kodifiziert sind. Ein
              die Gebäudetechnik benötigt werden, erarbeitet           Teil der Transformation besteht darin, Prozesse so
              unser Team kontinuierlich Know-how, um schluss-          zu standardisieren, dass wir auch in einer größeren
              endlich die passenden Lösungen parat zu haben,           Organisation erfolgreich zusammenarbeiten und
              die die gleiche Professionalität bieten. Wenn            weiter wachsen können.

  AMPERE 2.2019
CHEFS ACHE 13

   AMPERE 2.2019
14 CHEFS ACHE

                     „E
                      Es gibtt zw
                                wei Biild
                                        derr, die
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                     Da
                      as des Dra ach
                                   hens, de   er bekämmpftt
                     we
                      erdeen muss,, und da   as deer Prin nze
                                                            essin
                                                                n,
                     de
                      eren Herzz ess zu ge ewinnen  n gillt.”
                                                            ”
                     DANIEL HAGER

                  Transformation funktioniert über Standardisierung
                  und nicht über chaotisch-kreative Typen, die ohne
                  Rücksicht auf Prozesse arbeiten?
                  Ich würde das eher als mathematische Formel betrach-
                  ten. Es gibt immer wieder einen Punkt, an den wir an-
                  docken können. In einer großen Organisation mit
                  einer großen Vielfalt an Produkten müssen sich auch
                  neu gedachte Lösungen in das Gesamtsystem integrie-
                  ren. Die Transformation innerhalb unseres Unter-
                  nehmens birgt viele Komponenten und Faktoren.
                  Der allerwichtigste Faktor ist und bleibt der Kunde.
                  Er steht für uns zu jedem Zeitpunkt im Mittelpunkt.

                  Nun geht es Hager wirtschaftlich ja gut. Wie stiften
                  Sie Unruhe, um Ihren Mitarbeitern die Notwendig-
                  keit einer Transformation zu vermitteln?
                  Es gibt zwei Bilder, die ich nutze: Das des Drachens,
                  der bekämpft werden muss, und das der Prinzessin,
                  deren Herz es zu gewinnen gilt. Wir müssen also
                  einerseits ein attraktives Ziel vorgeben, andererseits
                  aber auch den Teufel an die Wand malen.

                  Was ist denn der Teufel an der Wand?
                  Das ist alles, was heute in unserer Welt passiert. Große
                  Internetkonzerne beispielsweise, die in unsere Welt
                  drängen und die, wenn sie erfolgreich wären, unser
                  Geschäftsmodell möglicherweise zerstören könnten.

                  Die Internetkonzerne werden aber doch keine elek-
                  trotechnischen Komponenten bauen.
                  Wir möchten uns aber nicht auf die Rolle eines Kom-
                  ponentenlieferanten beschränken. Damit sehen Sie,
                  dass die Metapher vom Teufel an der Wand eine Über-
                  spitzung ist. Klar ist aber, dass wir dank des Know-
                  hows unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
                  starke Abwehrkräfte haben. Doch eine sich immer
                  rasanter entwickelnde Technologie kann eben dafür
                  sorgen, dass der Teufel schnell vor der Tür steht.

                  Anders als bei Smartphones haben sich aber im
                  Home-Bereich noch keine dominanten Plattformen
                  herausgebildet.
                  Das ist richtig. Aber wir sehen, bei Alarmanlagen bei-
                  spielsweise, dass eine Art Plattformökonomie

  AMPERE 2.2019
CHEFS ACHE 15

entsteht. Da wird das Hardware-Geschäft bereits          Wofür haben Sie denn bereits fruchtbares Lehrgeld
durch Dienstleistungsmodelle in Mitleidenschaft ge-      gezahlt?
zogen. In den USA, aber auch in England und in           Bei einem vor ein paar Jahren gestarteten Projekt
Frankreich etablieren sich Geschäftsmodelle, in denen    wollten wir Alarmanlagen als Dienstleistungen
der Elektroinstallateur von einer Plattform beauftragt   verkaufen. Hier hat sich leider nicht der erwartete
wird und dann gar nicht mehr darüber entscheiden         Erfolg eingestellt. Trotzdem haben wir viele Er-
kann, welche Produkte er einsetzt.                       kenntnisse gewonnen und vor dem Hintergrund
                                                         auch eine entsprechende Infrastruktur entwickelt,
Lassen Sie uns noch über die Prinzessin sprechen.        etwa für die Abrechnung. Und wir haben gelernt,
Wer verbirgt sich dahinter?                              welche technischen Fähigkeiten unsere Komponen-
Die Prinzessin steht für die elektrische Welt von mor-   ten für ein Dienstleistungsgeschäft benötigen. Dazu
gen, die zahlreiche begeisternde Möglichkeiten bietet.   gehört auch, den Endkunden besser zu verstehen.
Ich denke dabei an die Energiewende oder an das          Etwa, dass für alle Bedienelemente heute das Smart-
Thema der Elektromobilität. Damit verbunden sind         phone der Maßstab ist.
Technologien, die uns morgen mehr Effizienz und da-
mit auch einen größeren Nutzen bieten. Wir müssen        Wie können Sie da mithalten?
in dieser Welt unseren Platz finden und darauf ach-       Schwierig ist dabei nur die zeitliche Dimension. Wir
ten, dass uns neue Akteure nicht zuvorkommen und         haben nun einmal bestehende Produkte, die sukzessi-
diesen besetzen.                                         ve abgelöst werden. Letztes Jahr haben wir die erste
                                                         Tür-Gegensprechanlage vorgestellt, bei der Sie sich
So arbeiten Sie mit Audi am induktiven Laden.            durch das Menü wischen können. Ich bin nicht Steve
Mit klassischer Gebäudetechnik hat das nicht mehr        Jobs, aber ich teste so etwas natürlich vorher schon
viel zu tun.                                             mal aus.
Solche Projekte sind noch in großem Maße experi-
mentell, weil der Weg nicht vorgezeichnet ist. Da        Anders als Steve Jobs haben Sie auch nicht ver-
braucht es Unternehmertum, also die Bereitschaft,        sucht, eine eigene Plattform als De-facto-Standard
Dinge auszuprobieren, vielleicht auch mal auf die        zu setzen.
Schnauze zu fallen und es dann besser zu machen. In      Um unseren eigenen Standard durchzudrücken,
solchen Märkten gibt es keine Gewissheit. Aber sein      sind wir zu klein, das kann ich offen sagen. Wir müs-
Geschäft nur über ein bestehendes Modell zu bedie-       sen offen für verschiedene Standards sein, ohne uns
nen, schränkt ein Unternehmen ein. Wir wollen neue       völlig zu verzetteln. Denn am Ende bedeutet das
Wege gehen.                                              immer auch: mehr Komplexität und zusätzliche
                                                         Kosten. Ich bezweifle übrigens sogar, dass größere
Wo zieht man da die Grenze?                              Anbieter es schaffen, ihre Plattformen geschlossen
Wir betreiben solche Projekte mit begrenzten Ressour-    zu halten.
cen und sind im Notfall in der Lage, die Reißleine zu
ziehen, sodass das Unternehmen bei einem Scheitern       Man muss jeden mitnehmen, lautet ein gängiger Satz.
nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Ein Beispiel      Stimmt das?
ist das Projekt „Designnetz“, für das wir 100 Häuser     Transformation funktioniert nur über Menschen. Die
mit Energiemanagementsystemen inklusive Speicher         größte Herausforderung besteht darin, Menschen zu
ausgestattet haben. Wenn sich dafür kein Markt ent-      bewegen und dafür zu sorgen, dass sich die Denkwei-
wickelt, ist das kein Drama. Aber nur so geht es, man    se verändern kann. Der Geist muss offen sein für neue
kann nicht alles in Powerpoint planen.                   Themen, neue Lösungsansätze und auch eine gewisse
                                                         Ungewissheit akzeptieren. Denn Überzeugung fängt
Sie haben also ein Risikobudget, das Sie zur Not ver-    da an, wo Wissen aufhört. Transformation gelingt
spielen können?                                          dann, wenn die Menschen davon überzeugt sind, dass
Ich würde in diesem Zusammenhang eher von Lehr-          die Zukunft mehr bringt als die Gegenwart. Bis das in
geld sprechen. Es kann ja auch passieren, dass eine      jedem Kopf angekommen ist, braucht es Zeit.
sehr gute Idee zum falschen Zeitpunkt kommt. Den
richtigen Zeitpunkt können wir nur finden, wenn
wir mittendrin sind.                                     Herr Hager, herzlichen Dank für das Gespräch!

                                                                                                             AMPERE 2.2019
16 EN T S CHLÜSSELT

   Die Netzgemeinde streitet um den
   Begriff der „Datensouveränität“.
   Doch inwiefern ist diese rich-
   tungsweisend, um die Digital-
   kompetenz der Bürger zu
   fördern? Der Versuch einer
   Definition erfordert auch
   die klare Trennung zwischen
   personenbezogenen Daten
   und Maschinendaten.

   Text: Laurin Paschek

   AMPERE 2.2019
EN TS CHLÜSSELT 17

                                         D
                                                   er etwas sperrige Begriff war der Aufreger auf      eine vorausschauende Wartung und völlig neue Ge-
                                                   einer Tagung deutscher Datenschützer zum           schäftsmodelle. Die Unterschiede sind dabei gewaltig.
                                                   Europäischen Datenschutztag 2018. Das              Während bei personenbezogenen Daten nach DSGVO
                                                   Konzept der „Datensouveränität“, so berich-        insbesondere auf einen möglichst sparsamen Umgang
                                         tet die Internetplattform Heise Online, könne beste-         zu achten ist, gilt im industriellen Bereich vor allem:
                                         hende Schutzprinzipien wie die Zweckbindung und die          Mit „Big Data“ soll das Potenzial von Industrie 4.0
                                         Sparsamkeit im Umgang mit personenbezogenen Da-              und dem Internet der Dinge überhaupt erst gehoben
                                         ten aushebeln. Nach den Worten der niedersächsischen         werden können.
                                         Landesdatenschutzbeauftragten Barbara Thiel werde                Aber wie kann der richtige Umgang mit Maschi-
                                         so das Recht auf informationelle Selbstbestimmung            nendaten gestaltet werden? „Wir haben innerhalb der
                                         implizit oder direkt infrage gestellt. Thiel fordert:        Plattform Industrie 4.0 intensiv darüber diskutiert, ob
                                         Damit der Begriff der Souveränität richtungsweisend           wir ein Dateneigentumsrecht brauchen“, berichtet
                                         werden könne, müsse er konkretisiert werden.                 Haimo Huhle, der die Abteilung Innovationspolitik
                                             Was also verbirgt sich dahinter? In der Netzgemein-      im ZVEI leitet. „Doch wir sind der Meinung, dass es
                                         de wird anstelle der „Datensouveränität“ der Begriff          viel sinnvoller ist, den Zugang zu den Daten über das
                                         „digitale Souveränität“ gefordert, etwa von Markus           allgemeine Vertragsrecht auszugestalten.“ Soll heißen:
                                         Beckedahl, dem Gründer der Plattform Netzpolitik.org.        Die einzelnen Akteure, also die Maschinenhersteller,
                                         Beide Begriffe beschreiben aber grundsätzlich das            die Komponentenlieferanten, die Betreiber von
                                         Gleiche: Die Möglichkeiten eines Menschen, die digi-         Maschinenparks und die Anbieter von Industrieplatt-
                                         talen Medien souverän nutzen zu können. Drei zentra-         formen bestimmen eigenständig und souverän,
                                         le Voraussetzungen sind dafür zu erfüllen.                   wer Zugriff auf welche Daten bekommen soll. Denn
                                             Ein wesentliches Kriterium sind die individuellen        nur so sei es möglich, dass die verschiedenen Akteure
                                         Fähigkeiten des Einzelnen. Nach dem D21-Digital-In-          ihre Interessen zum Ausgleich bringen können.
                                         dex, der im Auftrag des Bundesministeriums für Wirt-             Und dennoch sind – jenseits der rechtlichen
                                         schaft und Energie das jährliche Lagebild zur Digitalen      Bestimmungen – wichtige Rahmenbedingungen zu
                                         Gesellschaft erfasst, ist 2018 der Digitalisierungsgrad in   setzen. „Technische Daten müssen einfach und sicher
                                         Deutschland immerhin auf 55 von 100 möglichen                zu übermitteln sein“, fordert Jochen Reinschmidt, der
                                         Punkten gestiegen. „Die Kompetenzen nehmen zu:               beim ZVEI unter anderem den Arbeitskreis Daten-
                                         Es gibt mehr digitale Vorreiter und Mithaltende und          wirtschaft betreut. „Dazu gehören vor allem die Inter-
                                         weniger Menschen im digitalen Abseits als 2017“, so die      operabilität, also die Fähigkeit einzelner Systeme,
                                         Studie. Und doch sind es 21 Prozent der Befragten, die       miteinander zu kommunizieren, und die notwendige
                                         die Studie noch immer im Abseits sieht, 42 Prozent           Datensicherheit als Basis für Vertrauen.“ Schon vor       Der Digitalisierungs-
                                         können immerhin mithalten. Eine möglichst ausge-             gut drei Jahren erarbeitete der ZVEI entsprechende        grad ist in Deutschland
                                         prägte Digitalkompetenz der Bürger ist aber grundle-         Leitlinien zum verantwortungsvollen Umgang mit            auf 55 von 100 Punkten
                                                                                                                                                                gestiegen.
                                         gende Voraussetzung für Datensouveränität. Abhilfe           Daten, um die Monopolisierung technischer Daten zu
                                         muss vor allem jeder Einzelne für sich selbst schaffen.       verhindern. Demnach solle die Digitalisierung so ge-
                                         In der Studie „Zukunftspfade – Digitales Deutschland         staltet sein, dass Daten sicher geteilt werden können,
                                         2020“, die vom Bundesministerium des Innern bereits
                                         2013 in Auftrag gegeben wurde, stellen die Autoren
                                                                                                      ohne eine pauschale Überführung, Auswertung oder
                                                                                                      selektive Sichtbarkeit zur Voraussetzung zu haben.
                                                                                                                                                                             %
                                                                                                                                                                der Menschen sind
                                         fest: „Beim Aufbau digitaler Souveränität und Kompe-             Welche Potenziale mit datengetriebenen Ge-            aber noch immer im
                                         tenz sehen 93 Prozent aller Befragten zuallererst jeden      schäftsmodellen verbunden sind, soll der Chancen-         digitalen Abseits.
                                         einzelnen Bürger selbst in der Pflicht. Erst dann folgen      kompass Datenwirtschaft aufzeigen, den McKinsey im
                                         Bildungseinrichtungen wie zum Beispiel Schulen. Der          Auftrag der ZVEI-Servicegesellschaft (ZSG) und mit
                                         Bürger muss somit selbst Verantwortung übernehmen.“          Unterstützung des ZVEI und einiger seiner Mitglieds-
                                             Eine weitere Voraussetzung für Datensouveränität         unternehmen erarbeitet hat. „Der Chancenkompass
                                         sind sichere Angebote, die digital souveränes Han-           gibt Unternehmen der Elektroindustrie eine Orientie-
                                         deln überhaupt erst ermöglichen. Denn wenn der               rung, wie auf Basis von bereits vorhandenen Daten
                                         Datenfluss abgezweigt und Daten missbraucht wer-              neue datenbasierte Geschäftsmodelle entwickelt
                                         den können, dann helfen souveräne Entscheidungen             werden können“, erläutert Jochen Reinschmidt. Ein
                                         des Einzelnen auch nicht weiter. In diesem Zusam-            Fünf-Schritte-Modell hilft, Potenziale für solche
                                         menhang werden häufig sichere Transportwege und               Geschäftsmodelle in bestehenden Datensätzen zu er-
                                         eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung für die sichere            kennen, zu bewerten und umzusetzen. Wichtige
                                         Kommunikation gefordert. Eine wichtige Rolle spie-           Kriterien für die Bewertung sind dabei vor allem die
Foto: iStockphoto.com / Petar Chernaev

                                         len außerdem die gesetzlichen Rahmenbedingungen.             Verfügbarkeit der Daten, die konkrete Ausgestaltung
                                         Mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO)                  der Digitalisierungs-Domäne in Richtung Bestands-
                                         besteht für personenbezogene Daten mittlerweile              oder Neugeschäft, die strategische Positionierung
                                         ein gültiger Rechtsrahmen.                                   eines neuen Angebots im Portfolio, erforderliche Part-
                                             Klar abzugrenzen von den personenbezogenen Da-           nerschaften, mögliche Erlösmodelle und nicht zuletzt
                                         ten sind Maschinendaten. Sie sind der Rohstoff der            die Machbarkeit. Unternehmen haben damit einen
                                         Digitalisierung und wichtige Zutat für Industrie 4.0,        praxisorientierten Leitfaden zur Hand, um die Chan-
                                         sie ermöglichen den effizienten Betrieb von Fabriken,        cen der Plattformökonomie zu erschließen.

                                                                                                                                                                         AMPERE 2.2019
18 CHECKL IS T E

               Der vom ZVEI initiierte Chancenkompass Digitalwirtschaft de-
               finiert sieben Erfolgsfaktoren, die Unternehmen auf dem Weg
               in die Daten- und Plattformökonomie berücksichtigen sollten.
               Unsere Checkliste hilft Ihnen, nichts zu vergessen.

               Text: Johannes Winterhagen

   1   : WIE STARK BEZIEHEN SIE IHRE KUNDEN IN
         DIE PRODUKTENTWICKLUNG EIN?
                                                                     5
                                                                     : ERLAUBT IHRE UNTERNEHMENS-
                                                                       KULTUR EXPERIMENTE?
         Agile Entwicklungsmethoden basieren auf der beständigen       Methoden wie Scrum kann man lernen. Doch agiles Ent-
         Arbeit an einem Prototypen, der von Anfang an mit dem         wickeln kann nur erfolgreich sein, wenn die Unterneh-
         Kunden getestet wird. Zu warten, bis etwas perfekt läuft,     menskultur das Experimentieren und sogar das Scheitern
         und es dann erst dem Kunden zu zeigen, kann zu teuren         erlaubt. Bremsen Sie Erbsenzähler also lieber aus.

   2
         Fehlentwicklungen führen.

       : HABEN SIE ZWEI BIS FÜNF
                                                                     6
                                                                     : HAT SICHERHEIT BEI IHNEN TOP-PRIORITÄT?
                                                                       Erfolgreiche Geschäftsmodelle in der Plattformökono-
         ANWENDUNGSFÄLLE DEFINIERT?                                    mie beruhen oft darauf, dass sie Daten von anderen nut-
         Ideen für datengetriebene Geschäftsmodelle sind mittler-      zen. Dafür bedarf es des Vertrauens, dass diese Daten bei
         weile so zahlreich wie Sand am Meer. Doch wer alles in        Ihnen sicher aufgehoben sind. Beziehen Sie IT-Sicher-
         Ruhe erst einmal ausprobiert, kann sich auch verzetteln.      heitsexperten in jede Neuentwicklung ein.
         Besser fährt, wer sich auf wenige, vom Topmanagement be-
         gleitete Projekte konzentriert.                             7
                                                                     : IST IHR GESCHÄFTSMODELL SKALIERBAR?

   3   : STARTEN SIE SCHON ODER WARTEN SIE NOCH?
         In der Plattformökonomie zählt Geschwindigkeit. Wer den
                                                                       In der Datenökonomie gilt das Metcalf’sche Gesetz:
                                                                       Der Wert des Netzwerks steigt exponentiell mit der
                                                                       Anzahl der Teilnehmer, die Kosten nur linear. Falls Sie
         Markt als Erster erfolgreich besetzt, hat auf Dauer einen     selbst nicht groß genug sind, um einer guten Idee zu
         Skalenvorteil. Wenn ein neues datenbasiertes Geschäfts-       ausreichender Durchschlagskraft
         modell Ihr Stammgeschäft bedroht, legen Sie lieber selbst     zu verhelfen, suchen Sie sich
         los – und zwar sofort.                                        Kooperationspartner.

   4   : HABEN SIE DIE RICHTIGEN LEUTE AN BORD?
         Datenarchitekten und -analysten oder User-Experience-
         Experten sind ohnehin rar gesät. Wenn Sie als mittelstän-
         disches Unternehmen in datengetriebene Geschäftsmodelle
         investieren, rüsten Sie sich am besten von Anfang an mit
         jungen Talenten.

   AMPERE 2.2019
20 EINS T UND JE T Z T

                                                  Bildung
                                                 à la carte                     Text: Laurin Paschek

              F
                       ünf Tage Weiterbildung: Das bedeutete einst,                        neun Uhr morgens, Mittagspause von zwölf bis halb
                       in ein Auto zu steigen und zu einem abgelege-                       zwei. Zum Abendessen wurde ein dunkelroter Hage-
                       nen Tagungshotel zu fahren. Das etwas muffige                       buttentee gereicht, später am Abend traf man sich an
                       Zimmer war mit diesem dicken, bordeaux-                             der Hotelbar. Nach zwei Tagen hatte jeder das Gefühl,
               farbenen Teppich ausgestattet, der seine besten Zeiten                      die anderen Seminarteilnehmer schon seit langer Zeit
               bereits hinter sich hatte. Neben dem Röhrenfernseher                        zu kennen. Am Ende der Woche gab es dann einen di-
               lugte ein Datenkabel aus dem dunkelbraunen Holzfur-                         cken Leitz-Ordner mit einem Satz Seminarunterlagen
               nier des Tisches heraus. Sich dadurch mit dem Internet                      mit auf den Heimweg. Und natürlich das obligatorische
               zu verbinden, hätte eine eigene Weiterbildung voraus-                       Zertifikat, das die erfolgreiche Teilnahme bescheinigte.
               gesetzt. Doch das Seminar „Projektmanagement für                               Zurück im Büro kamen einem die Kollegen zunächst
               Führungskräfte“ wurde offline abgehalten, und das                           etwas seltsam vor, mit ihren doch recht altmodischen
               meist im Frontalunterricht. Für praktische Übungen                          Herangehensweisen. Das allerdings nur für drei Tage.
               bildeten die Teilnehmer einen Stuhlkreis. Frühstück                         Dann war man wieder im Alltag angekommen. Und
               gab es direkt vor Seminarbeginn zwischen acht und                           arbeitete eigentlich wieder genauso wie zuvor.

               37 %
                                                                                                                                                     Illustrationen: shutterstock.com / PODIS, shutterstock.com / Svetlana Shamshurina

               betrug die Weiterbildungsquote in Deutschland im Jahr 1991. Der Prozentwert gibt den Anteil der 19- bis
               64-Jährigen an, die ihrerzeit in den vorangegangenen zwölf Monaten an einer „nicht formalen Weiterbil-
               dung“ teilgenommen hatten.

               Quelle: Berichtssystem Weiterbildung (BSW) 1991, Statistisches Bundesamt

   AMPERE 2.2019
EINS T UND JE T Z T 21

   Heute kann man sich auch weiterhin ein her-                              führen. Damit sollen emotionale Lernerlebnisse ge-
kömmliches Präsenzseminar zur Weiterbildung                                 schaffen werden – und wenn das Lernen mehr Spaß
buchen. Immer beliebter werden aber die digitalen                           macht, so die Annahme, dann investieren die Men-
Angebote. Sie reichen vom fast schon klassischen                            schen auch mehr Zeit und Geld dafür.
Computer Based Training, das lokal am eigenen                                   Gemeinsames Merkmal aller digitalen Angebote
Rechner absolviert wird, über das vernetzte Web                             ist die Verstetigung des Lernens: Gelernt werden
Based Training per Internet bis hin zu neuen Formen                         kann eigentlich immer und überall. Deswegen wer-
wie dem Blended Learning – darunter verstehen die                           den die Inhalte meist in verdaulichen Häppchen ge-
Anbieter integrierte Lernkonzepte, die die Vorteile                         reicht und können à la carte immer dann, wenn mal
von Präsenzveranstaltungen mit dem E-Learning ver-                          Zeit ist, bearbeitet werden – etwa beim Warten am
binden. Große Hoffnungen legt die Branche auch auf                           Flughafen-Gate, während einer längeren Fahrt mit
neue Formen, etwa das „Game Based Training“, also                           dem Zug (stabile Internetverbindung vorausgesetzt)
das Lernen wie in einem Computerspiel, oder Lern-                           oder auch mal zwischendurch im Wanderurlaub auf
formate mit VR-Brillen, die in die virtuelle Realität                       der Berghütte.

50 %

2016 absolvierte jeder zweite Deutsche (Wohnbevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren) eine Weiterbildung.
Bei den Erwerbstätigen waren es sogar 56 Prozent. Immer wichtiger wird dabei das E-Learning:
Dieser Markt wächst seit zehn Jahren meist im zweistelligen Bereich, zuletzt 2017 um weitere 9,7 Prozent.

Quelle: Adult Education Survey (AES) 2016, Statistisches Bundesamt 2018, mmb Branchenmonitor 2018

                                                                                                                             AMPERE 2.2019
22 IMAGINE

  Selbst im deutschen Feuilleton tobt
  mittlerweile eine intensive Debatte
  über die Macht der Algorithmen.
  Prof. Dr. Katharina Zweig von der
  Technischen Universität Kaisers-
  lautern kämpft um Aufklärung.
  Im Gespräch mit AMPERE skizziert
  sie einen Weg in eine Zukunft, in
  der wir gelernt haben, wo wir ma-
  schinelles Lernen einsetzen – und
  wo wir bewusst darauf verzichten.

  Text: Aufgezeichnet von Johannes Winterhagen

  Für Prof. Katharina
  Zweig ist ein
  Algorithmus eine
  detaillierte Hand-
  lungsanleitung für ein
  allgemeines Problem.
  In diesem Sinn ist
  jedes Kochrezept
  ein Algorithmus.

  AMPERE 2.2019
IM AGINE 23

H
           auptbahnhof Frankfurt, am Sonntag Mit-             In der Debatte um den Einsatz künstlicher Intelli-
           tag. Katharina Zweig ist auf dem Weg nach      genz gibt es durchaus Stimmen, die die automatisierte
           Berlin und nimmt sich Zeit für ein Ge-         Entscheidungsfindung als großen Fortschritt empfin-
           spräch. Zeit, die sie eigentlich nicht hat,    den. Schließlich können Maschinen, anders als
denn ihre Arbeit steht auf zwei Beinen. Einerseits ist    menschliche Entscheider, niemanden bevorzugen,
sie Forscherin, leitet das „Algorithm Accountability      weil sie ihn als sympathisch empfinden. Doch diese
Lab“ an der Technischen Universität Kaiserslautern.       Illusion ist Zweig zufolge zerstört: Enthalten die
Dass es an dieser Universität seit einigen Jahren         Datensätze auch Angaben zu Geschlecht, Nationalität
einen Studiengang „Sozioinformatik“ gibt, ist wesent-     oder Wohnort, kann es zu einer systematischen
lich ihrer Initiative zu verdanken. Die Sozioinforma-     Diskriminierung ganzer Bevölkerungsgruppen kom-
tik geht der Frage nach, wie sich IT-Systeme und          men. Bis heute hält sich hartnäckig die Vorstellung,
Gesellschaft gegenseitig beeinflussen. Andererseits        es reiche, einen Algorithmen-TÜV einzurichten.
versucht Zweig in Vorträgen und populärwissen-            Dieser Ansatz ist Zweig zufolge von vornherein zum
schaftlichen Veröffentlichungen die Erkenntnisse          Scheitern verurteilt.
dieser jungen Forschungsdisziplin für jeden verständ-         Zumindest in Europa reift mittlerweile die Er-
  lich zu machen. Dafür verleiht ihr die Deutsche         kenntnis, dass es uns nicht gelingen wird, mithilfe sta-
    Forschungsgemeinschaft dieses Jahr den renom-         tistischer Daten Entscheidungen zu treffen, die dem
      mierten Communicator-Preis.                         Individualisierungsgebot Genüge tun. Das bedeutet
           Zweig ist es wichtig, erst einmal zu erläu-    nicht, dass künstliche Intelligenz nicht trotzdem viele
         tern, was ein Algorithmus überhaupt ist: eine    sinnvolle Anwendungsbereiche hat. So kann die
          detaillierte Handlungsanleitung für ein all-    Macht der Maschinen im Produktionsumfeld, wo sich
            gemeines Problem. In diesem Sinn ist jedes    ethische Fragen in der Regel gar nicht stellen, zu
             Kochrezept ein Algorithmus und die           höherer Wettbewerbsfähigkeit führen. Zweig plädiert
              menschliche Gesellschaft seit jeher durch   auch dafür, sie zu nutzen, um unsere Gesellschaft bes-
              Algorithmen bestimmt. Dass viele Men-       ser zu verstehen – beispielsweise um zu analysieren,
               schen Angst vor dem Begriff haben, liegt    unter welchen Verhältnissen gute Bildungsabschlüsse
                Zweig zufolge an einer bestimmten         entstehen. Und entsprechend gegenzusteuern,
                Klasse von Algorithmen, die maschi-       um jene sozialen Verhältnisse politisch zu verändern,
                nelles Lernen ermöglichen. Dafür gibt     die Einfluss auf den Bildungsabschluss haben.
                 man der Maschine keine Regeln mehr           „Die Gesellschaft sollte Regeln dafür entwickeln, in
                 vor, sondern füttert sie lediglich mit   welchen Bereichen maschinelles Lernen für die Ent-
                 Daten, also einer Menge bisheriger       scheidungsfindung eingesetzt werden darf und wie
                 Lösungen. Auf dieser Basis entsteht      hoch das Maß an Transparenz sein muss“, sagt Zweig.
                 dann ein algorithmisches Entschei-       Dafür sind zwei grundlegende Kriterien zu ent-
                dungssystem. Auch wenn das die            wickeln. Das erste Kriterium besteht im Schadenspo-
                Art und Weise auf den Kopf stellt, wie    tenzial, sowohl für das Leben des einzelnen Menschen
                üblicherweise programmiert wird, sind     als auch für bestimmte gesellschaftliche Bereiche. Da-
               auch solche Systeme per se nichts          runter fällt auch die gezielte Verbreitung von Des-
              Schlechtes. So ermöglichte erst maschi-     informationen über soziale Medien im Wahlkampf.
              nelles Lernen einigermaßen korrekte         Das zweite Kriterium besteht im Grad der Monopoli-
             Computer-Übersetzungen.                      sierung. Die ist bei Kaufentscheidungen meist gering.
               Allerdings haben solche Entscheidungs-     Man muss seine Bücher ja nicht bei einem großen
          systeme einen Haken: Die Regeln, nach           Internetportal kaufen, sondern kann auch in die
                                                                                                                     Foto: Felix Schmitt, felixschmitt.com, shutterstock.com / BAIVECTOR

         denen künftige Entscheidungen getroffen          Buchhandlung um die Ecke gehen. Staatliche Ent-
        werden, sind in einer Struktur festgehalten,      scheidungen sind hingegen de facto immer mono-
      einem künstlichen neuronalen Netz beispiels-        polisiert. Deshalb sollte in diesem Bereich hierzulande
     weise, das für den Menschen nicht oder nur           der Einsatz automatisierter Entscheidungssysteme
  schlecht nachvollziehbar ist. In welchem Verhältnis     weitgehend ausgeschlossen werden.
eine mit einem solchen System gefundene Lösung zur            Die gesellschaftliche, teilweise sogar über das
optimalen Lösung steht, entzieht sich dem mensch-         Feuilleton geführte Diskussion über Algorithmen
lichen Urteilsvermögen. Genau das kann zum Pro-           hat Zweig zufolge einen positiven Nebeneffekt: Die
blem werden, wenn auf maschinellem Lernen                 deutsche Industrie könnte ihre ohnehin ausgeprägte
basierende Systeme Entscheidungen treffen, die einen       Stärke bei den eingebetteten Systemen ausbauen.
gravierenden Einfluss auf das Schicksal eines Men-         Denn für Expertinnen wie sie gilt als ausgemacht,
schen haben. Entscheidungen wie: Wird der Immo-           dass es sicherer ist, seine Daten bei sich zu behalten
bilienkredit einer Familie bewilligt? Kann ein            und auf vertrauenswürdigen Chips zu rechnen,
Strafgefangener früher aus der Haft entlassen werden?     als dies in der Cloud zu tun.

                                                                                                     AMPERE 2.2019
24 REPORT

                           Chinesen organisieren ihren kompletten Alltag mit dem Smart-
                           phone. Die Apps, die sie dafür nutzen, stammen ausschließlich
                           von chinesischen Anbietern. Dass der rasche Wandel zu einer
                           Digitalökonomie auch Schattenseiten hat, kümmert die meisten
                           Nutzer wenig.

                           Text: Christiane Kühl

      Autorin Christiane                                                              Online-Shops einkaufen. Jede Garküche, jeder Markt-
          Kühl an einem                                                               stand ist mit zwei QR-Codes ausgestattet: Grün steht
   Marktstand in Peking:                                                              für WeChat, blau für Alipay, den zweiten großen Mo-
        Bezahlt wird per
                                                                                      bil-Bezahldienst Chinas. Der QR-Code wird gescannt,
       Smartphone, das
                                                                                      und schon ist alles bezahlt. Erste Restaurants nehmen
   dafür einen QR-Code
       (Bildmitte unten)
                                                                                      schon kein Bargeld mehr an.
                 scannt.                                                                  Meine Freunde fragen niemanden mehr nach der
                                                                                      Telefonnummer, sondern nur nach dem WeChat-
                                                                                      Kontakt. Per Smartphone scannt man den persön-
                                                                                      lichen WeChat-QR-Code des anderen ein – und schon
                                                                                      ist man miteinander verbunden. Ich habe Dutzende
                                                                                      von Kontakten, die ich ausschließlich in der WeChat-
                                                                                      App anrufen kann, mit oder ohne Video. Manchmal
                                                                                      nehme ich mir vor, sie nach einer Handynummer oder
                                                                                      E-Mail-Adresse zu fragen, aber letztlich: Warum?
                                                                                      Selbst im Geschäftsleben dominiert WeChat die Kom-

                           E
                                  twas mehr als ein Jahr ist es her, dass ich erst-   munikation. E-Mails wirken auf viele Chinesen fast so
                                  mals ganz ohne Portemonnaie und Bargeld             steinzeitlich wie Faxgeräte.
                                  unterwegs war. Eher aus Versehen; den Geld-             China treibt die Digitalisierung des Alltags mit
                                  beutel samt Bankkarten hatte ich zuhause            hohem Tempo voran. Und die Menschen machen dies
                           vergessen. Nach kurzem Schreck war klar: Alles kein        begeistert mit. Digitalisierung bedeutet für die meis-
                           Problem. Erst zahlte ich das Taxi mit dem Smart-           ten mehr Bequemlichkeit, bessere Kommunikation,
                           phone. Später setzte ich mich zum Arbeiten in ein          mehr Spaß. Auf WeChat sind Tausende „Sticker“ ge-
                           Café – wieder alles mit dem Smartphone bezahlt.            nannte Gifs im Umlauf, die anstelle einfacher Emojis
                           Desgleichen im Japan-Laden nebenan, der getrockne-         verschickt werden, um Emotionen auszudrücken.
                           te Früchte, Sonnenbrillen und günstige Kopfhörer           Manche meiner Chatgruppen sind gespickt mit
                           verkauft. Und genauso beim Abendessen mit einer            lachenden Captain Picards, tanzenden Partygruppen,
                           Freundin. Möglich macht dies die chinesische Alles-        futternden Garfields oder glotzenden Lamas. WeChat
                           könner-App WeChat. Gestartet 2011 als Chat-Platt-          wird den Daten des Marktforschungsdienstes eMarke-
                           form plus Timeline für Freunde im Facebook-Stil, hat       ter zufolge von 83 Prozent aller Smartphone-Besitzer
                           WeChat heute Hunderte von Funktionen, mit der              in China genutzt; in den großen Metropolen sind
                           Chinesen ihren halben Alltag organisieren: Gas und         es gar 92 Prozent. Die App hat rund eine Milliarde
                           Wasser bezahlen, Flugtickets reservieren, in kleinen       aktive User, fast alle in China. Generell ist Chinas

  AMPERE 2.2019
REP ORT 25

                                                                    Digitalsphäre mit ganz anderen Akteuren besetzt als       sen einzelner Nutzer und stellt ihnen nur
                                                                    der Rest der Welt. Facebook, Google oder WhatsApp         Videos in den Feed, die sie interessieren. Douyin ge-
                                                                    sind seit Jahren blockiert und nur durch sogenannte       hört der Firma Bytedance, die auch die App Toutiao
                                                                    VPN-Tunnel erreichbar, deren Server im Ausland ste-       betreibt – zu Deutsch „Schlagzeile“ –, die Usern mit-
                                                                    hen. Und so nutzen die Chinesen WeChat, die Such-         hilfe künstlicher Intelligenz Nachrichten zu Themen
                                                                    maschine Baidu, den Microblog Weibo und zahllose          zuspielt, an denen sie durch ihre ersten Klicks in der
                                                                    weitere lokale Smartphone-Apps.                           App Interesse gezeigt haben, von Politik zum Koch-
                                                                        Eine der größten ist Meituan. Mit der App können      rezept. Auch diese App lernt sehr schnell.
                                                                    sich Städter Mahlzeiten liefern lassen, Tische in Res-        Digitalisierung spielt auch für die Mobilität eine
                                                                    taurants reservieren, Kinokarten kaufen, die nächste      immense Rolle. Viele Chinesen fahren mit den hierzu-
                                                                    Autowaschanlage finden, Räume zum Singen in Kara-          lande sehr günstigen Taxis. Früher konnten wir in
                                                                    oke-Bars buchen oder Hochzeitsfotos arrangieren.          Peking oder Shanghai an jeder Straßenecke Taxis an-
                                                                    Eigentlich alles, was zur Freizeit gehört. „Wir wollen,   halten – länger als ein paar Minuten wartete man nie.
                                                                    dass die Menschen nach der Arbeit so viel Zeit wie        Das ist heute schwierig, denn die meisten Taxis wer-
                                                                    möglich auf unserer Plattform verbringen“, erklärt        den über Apps bestellt, deren größte, Didi Chuxing,      Millionen aktive
                                                                    Teng Cheng, PR-Direktor von Meituan in Peking.            eine ganze Reihe an Mobilitätsdiensten anbietet. Und     Nutzer hat der
                                                                    Meituan hat 380 Millionen aktive Nutzer, die pro Tag      so stehe ich wieder einmal mit dem Smartphone an         Liefer- und Service-
                                                                                                                                                                                       dienst Meituan, der
                                                                    19 Millionen Transaktionen über die Plattform abwi-       der Straße und schaue, wie sich auf dem Bildschirm
                                                                                                                                                                                       täglich 19 Millionen
                                                                    ckeln. Um Spaß geht es auch bei Douyin, einer 2016        das von mir bestellte Auto langsam auf mich zubewegt.
                                                                                                                                                                                       Transaktionen
                                                                    gestarteten App für Kurzvideos, die im Ausland Tiktok     Je nach Bedarf ordere ich ein normales Taxi, einen       abwickelt.
                                                                    heißt und nach eigenen Angaben weltweit bereits seit      Express oder sogar ein Premium-Mobil, bei dem der
                                                                    Mitte 2018 gut 500 Millionen Nutzer hat. Der Algo-        Fahrer Anzug trägt, der Rückraum mehr Beinfreiheit
                                                                    rithmus der App erkennt extrem schnell die Interes-       hat und es eine Flasche Wasser für die Fahrt gibt –

                                                                      Eine kleine Spende?
                                                                      Um diesen Gitarren-
                                                                      spieler in einer
                                                                      Pekinger U-Bahn-
                                                                      Passage zu beschen-
                                                                      ken, kann man auch
                                                                      den QR-Code und sein
                                                                      Smartphone nutzen.
Fotos: privat, AFP / JUN YASUKAWA / YOMIURI / THE YOMIURI SHIMBUN

                                                                                                                                                                                                AMPERE 2.2019
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