Elyas M'Barek für Anfänger - Luisa Schrader

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© des Titels »Elyas M’Barek für Anfänger« (978-3-86883-614-1)
2015 by riva Verlag, Münchner Verlagsgruppe GmbH, München
Nähere Informationen unter: http://www.riva-verlag.de

                                                                Luisa Schrader

           für Anfänger
           Elyas M’Barek
1 – Klappe, die erste!

                                                                                 A Star fades, a Star rises

                                                                F   angen wir von vorne an. Ganz von vorne. Und ganz woanders,
© des Titels »Elyas M’Barek für Anfänger« (978-3-86883-614-1)
2015 by riva Verlag, Münchner Verlagsgruppe GmbH, München

                                                                    nämlich in Paris, und mit jemand ganz anderem, mit einer gro-
                                                                ßen Schauspielerin: Am 29. Mai 1982 stirbt die bildschöne Romy
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                                                                Schneider. Die, die die Sissi in den »Sissi – Die junge Kaiserin«-Filmen
                                                                spielt, sie ist einer der größten Stars ihrer Zeit. Erst 43 Jahre ist die
                                                                Österreicherin alt, als sie in Paris abends an ihrem Schreibtisch zu-
                                                                sammenbricht, knapp ein Jahr nach dem Tod ihres 14-jährigen
                                                                Sohnes. Er war beim Versuch, über einen Zaun zu klettern, von ei-
                                                                nem Zaunpfahl aufgespießt worden. Herzversagen steht auf ­ihrem
                                                                Totenschein, »Tod an gebrochenem Herzen«, so roman­tisiert es die
                                                                Presse später. Auf der ganzen Welt trauern Fans um Romy Schneider.
                                                                Mit den besten Schauspielern und Regisseuren ihrer Zeit hat sie ge-
                                                                dreht, fast 30 Jahre dauerte ihre Karriere.
                                                                  Ihr Todestag ist ein Samstag im frühlingshaften Mai, der Auftakt
                                                                zu einem Supersommer voller Sonnenschein in Deutschland. Und ein
                                                                paar Stunden bevor Romy Schneiders Leben ein viel zu frühes Ende
                                                                findet, bereitet sich eine andere Österreicherin auf die Geburt ihres
                                                                Kindes vor. 685 Kilometer entfernt, im wunderschönen München.
                                                                Dort liegt sie gerade in den Wehen. Die Stadt muss verdauen, dass
                                                                der Hamburger SV die DFB-Meisterschale vor dem Rekordmeister FC
                                                                Bayern gewinnt, und an der Spitze der Charts trällert Schlagersternchen
                                                                Nicole »Ein bisschen Frieden«. Bis die werdende Mutter vom Tod der
                                                                großen Schauspielerin erfährt, dauert es noch. Es gibt kein Internet,
                                                                kein Mensch hat ein Handy. Und wer ein Kind bekommt, verschickt

                                                                                                   9
Elyas M’Barek für Anfänger

                                                                eine Karte, statt ein Bild vom Nachwuchs auf Facebook zu posten.
                                                                Die Österreicherin bringt einen gesunden kleinen Jungen auf die Welt.
                                                                Sie nennt ihn Elyas.
                                                                   Genauso wenig, wie sie weiß, dass die große Romy Schneider gestor-
                                                                ben ist, weiß sie natürlich nicht, dass dieser Junge, dunkel wie sein
                                                                tunesischer Papa, mit österreichischem Pass wie sie, knapp 30 Jahre
                                                                später selbst ein großer Schauspieler sein wird. Noch kennt niemand
                                                                den Namen dieses kleinen Bündels Mensch. Außer seiner Familie.
                                                                Und den Leuten, denen seine Mama Karten schicken wird. Dass ihrem
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2015 by riva Verlag, Münchner Verlagsgruppe GmbH, München

                                                                Sohn einmal tausende wildfremde Menschen zum Geburtstag gratu-
                                                                lieren werden und dass er eines Tages als beliebtester Schauspieler
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                                                                einen österreichischen Award gewinnt, der im Namen von Romy
                                                                Schneider vergeben wird – das kann sie sich jetzt noch nicht vor-
                                                                stellen. Welche Mutter malt sich so etwas schon ernsthaft aus? Und
                                                                es spielt auch keine Rolle, es sind andere Dinge, die einer Frau, die
                                                                ihr Neugeborenes im Arm hält, wichtig sind: Hauptsach’, der Bua is
                                                                g’sund, wie man in München sagt.
                                                                   Elyas ist im Sternzeichen des Zwillings geboren. Zwillingen sagt
                                                                man nach, sie seien aufgeweckte, vielseitig interessierte Menschen.
                                                                Lebhaft, wissbegierig, neugierig auf ihre Umwelt. Von Sternzeichen
                                                                kann man halten, was man mag – aber das Zwilling-Klischee erfüllt
                                                                der Filmbeau perfekt. Immer wach, immer voll da, mit einem kon-
                                                                zentrierten Blick, der signalisiert: Hier bin ich. Zwillingen sagt man
                                                                außer­dem nach, technikbegeistert zu sein und mit Sprache umgehen
                                                                zu können. Sprache, das ist Elyas’ Waffe, Elyas’ Witz. Elyas ist schlag-
                                                                fertig: So sehr, dass ihm sein vorlautes Mundwerk in der Schule ein
                                                                ums andere Mal Ärger einbringt. Später aber, mit Millionen Followern
                                                                in sozialen Netzwerken, bringen ihm seine witzigen Posts tausende
                                                                von Likes und Faves ein. Seine Fähigkeit, charmant und schlagfer-
                                                                tig auf Interviewfragen zu reagieren, macht ihn noch beliebter und
                                                                interessanter. Ein Zwilling liebt Reisen, Sport und Spiele – Elyas
                                                                zum Beispiel fährt gern nach Thailand. Sport? Gehört untrennbar

                                                                                                  10
1 – Klappe, die erste!

                                                                zu seinem Leben, zumindest seit er im Licht der Öffentlichkeit steht.
                                                                Spiele? Pokern ist sein liebstes Hobby, abgesehen vom Sport – also nix
                                                                da mit allein vor der Playstation sitzen. »Ein Zwilling ist gern unter
                                                                Leuten, will Eindruck schinden und ist ein glänzender Unterhalter«,
                                                                schreibt das Portal das-sternzeichen.de, »ein Kreis potentieller be-
                                                                wundernder Liebhaber« sei bei diesem Sternzeichen die Regel. Wenn
                                                                das mal nicht auf den erwachsenen Elyas zutrifft …
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                                                                           Mit dem ist gut Kirschen essen
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                                                                »Als Kind wollte ich noch kein Schauspieler werden, und das ist
                                                                auch gut so. Als Kind soll man sich doch keine Gedanken darüber
                                                                machen, was später mal ist, als Kind soll man einfach Kind sein«,
                                                                sagte Elyas mal in einem Interview. Und das konnte Elyas. Zwei klei-
                                                                ne Brüderchen kommen nach ihm noch auf die Welt, einer ist zwei
                                                                Jahre jünger als er. Der kleinste, vier Jahre jünger, kommt mit seinen
                                                                blonden Haaren eher nach der Mama. Die Familie M’Barek lebt in
                                                                Sendling. Der Papa ist Mathematiker, arbeitet erst als Lehrer, später
                                                                als Software-Entwickler. Manchmal geht’s im Urlaub nach Tunesien,
                                                                der Heimat des Vaters, dort hat Mini-Elyas seine erste Begegnung mit
                                                                dem Meer.
                                                                  Auch Österreich, die Heimat der Mama, lernt der Kleine im Urlaub
                                                                kennen. Er wächst behütet auf. Mit einer Mutter, die sich kümmert,
                                                                Wert darauf legt, dass die Kinder Manieren haben, »bitte« und »dan-
                                                                ke« sagen, und die darauf achtet, was sie wann fernschauen (wenig).
                                                                Die Jungs sollen lieber mal ein Buch lesen. Oder draußen toben.
                                                                  Elyas hat trotzdem schon früh ein einprägsames Fernseh-Erlebnis.
                                                                Ein smartes Kind wie er weiß sich zu helfen, um den Fernsehkonsum
                                                                hochzuschrauben. Klein Elyas, sieben Jahre alt, hat einen Freund,
                                                                Tobias: Der darf fernschauen, wann er mag. »Baywatch« zum
                                                                Beispiel. Und Filme schauen darf er auch. Also hängt Elyas gern bei

                                                                                                  11
Elyas M’Barek für Anfänger

                                                                Tobias ab. Und die zwei Grundschüler ziehen sich eines Tages bei
                                                                Tobias daheim eine Videokassette aus dem Regal. »Misery«, was auch
                                                                immer das heißt, schaut ganz cool aus, also rein in den Rekorder. Als
                                                                die Bilder über den Röhrenfernseher flimmern, ist Elyas so still wie
                                                                selten. Der Horrorfilm nach einem Stephen-King-Roman ist so gar
                                                                nichts für Jungs, die gerade mal Lesen und Schreiben gelernt haben.
                                                                Drei, vier Nächte lang hat Elyas Albträume, erzählt er später in einem
                                                                Interview für Disney. Und in Gedanken sagt er zu seiner Mama: »Ich
                                                                hätte auf dich hören sollen, ich geh nie wieder zu Tobias!« Aber er
© des Titels »Elyas M’Barek für Anfänger« (978-3-86883-614-1)
2015 by riva Verlag, Münchner Verlagsgruppe GmbH, München

                                                                lernt nicht nur, dass auch die vorlautesten Jungs ab und zu besser mal
                                                                auf Mama hören sollten, er lernt auch eine andere, wichtige Lektion:
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                                                                Filme können gewaltig beeindrucken.
                                                                  Abgesehen vom Fernsehen lebt Elyas am liebsten das wilde
                                                                Bandenleben draußen: Im Sendlinger Westpark treibt er sich mit
                                                                den anderen Kindern aus der Nachbarschaft rum, »eine richtige
                                                                Rasselbande waren wir«. Kleine, dreckverschmierte Jungs, die auf
                                                                Bäume klettern, Steine kicken und Fußball spielen. Elyas hat die
                                                                Freiheit, sich auszutoben. Nach der Schule treffen sich die Kids in
                                                                einem großen Kirschbaum, hocken in den Ästen und spucken Kerne
                                                                auf die, die als letztes ankommen. Traumhafte Kindheit? Check!
                                                                  Wenn, ja wenn da nur die Sache mit der Schule nicht wäre …

                                                                                       Fack ju Schuhle
                                                                »Ich bin eigentlich gern zur Schule gegangen«, sagt Elyas. Nur
                                                                eben nicht immer gleich gern. Er geht nach der Grundschule aufs
                                                                Gymnasium und hat schnell keinen Bock mehr. Kommt von der
                                                                Schule heim, knallt den Rucksack in die Ecke und die Zimmertür
                                                                hinter sich zu. An der Wand klebt ein f­ettes ­Guns N’Roses-Plakat.
                                                                Jetzt die Musik laut aufdrehen. Lauter. Und alles, bloß nicht: Lernen.

                                                                                                 12
1 – Klappe, die erste!

                                                                Die Noten rutschen in den Keller. Besonders mit Mathe hat er
                                                                Schwierigkeiten. Aber als lässiger Typ mit großer Klappe, die Elyas
                                                                damals schon hat, gehören schlechte Noten irgendwie auch zum gu-
                                                                ten Ton und an den Ärger zu Hause gewöhnt er sich. In der Klasse
                                                                ist er frech, muss immer das letzte Wort haben. Und wenn er gar kei-
                                                                nen Bock hat auf den Unterricht, ist er großzügig mit sich selbst und
                                                                spart sich die Stunde. Ein großer Schwänzer wird er aber nie, in der
                                                                Schule gibts schließlich auch noch eine Menge Dinge, die tausendmal
                                                                interessanter sind als Unterricht: Freunde. Große Pausen. Mädchen.
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                                                                  Auch wenn Mädchen, diese geheimnisvollen Wesen, die vor ein paar
                                                                Jahren noch mit auf dem Bolzplatz und im Park gespielt hatten und
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                                                                jetzt auf einmal mit Wimperntusche experimentieren und mit Stolz
                                                                BHs ausstopfen, für ihn ein einschüchterndes Phänomen sind: Eins,
                                                                bei dem Elyas, sonst immer die Klappe offen, nicht so recht weiß, wie
                                                                man da am besten ran geht. Aber er reißt sich zusammen und lädt eine,
                                                                die er ziemlich süß findet, ins Kino ein. Die perfekte Gelegenheit, um
                                                                sich ganz lässig ein bisschen näher zu kommen. Arm um die Schulter
                                                                legen und so. Und Elyas ist echt verknallt. Dann kommt der große
                                                                Abend. Elyas sitzt neben dem Mädchen. Der Film läuft. Und läuft.
                                                                Er denkt sich: »Jetzt, jetzt, mach einfach!« Aber er traut sich nicht.
                                                                Kann seinen Arm nicht heben. Die dicke Armlehne zwischen ihnen ist
                                                                eine Barriere, die einfach unüberwindbar ist. Eineinhalb Stunden sind
                                                                vorbei, und er hatte es nicht einmal geschafft, ihre Hand zu nehmen.
                                                                Klar, dass aus der Schwärmerei nicht mehr geworden ist … Aber er
                                                                hat daraus gelernt: Heute ist er schneller als der Abspann!
                                                                  Der präpubertäre, pausbäckige Elyas trägt den typischen 90er-
                                                                Jahre-Style: viel zu große Pullis, Socken in Birkenstocks, die dichten
                                                                Haare stehen ihm irgendwie zu Berge. Ein Womanizer ist er nicht von
                                                                Geburt an. Schulsport findet Elyas blöd. Aber das freche Grinsen, das
                                                                hat er auch als Kind schon drauf. Und das Schauspielern. Der Junge
                                                                hat ein Hobby: Theater spielen. Es gibt eine Theorie, die besagt, dass
                                                                Menschen ihre Leidenschaft schon in der Kindheit entdecken und

                                                                                                  13
Elyas M’Barek für Anfänger

                                                                dass es an uns ist, was wir im späteren Leben daraus machen. Ob
                                                                es ein Leben der Leidenschaft wird, oder eins des »9 to 5«-Jobs, in-
                                                                dem wir unseren Arbeitsalltag aussitzen und fürs Wochenende leben,
                                                                wo der Leidenschaft vielleicht ein kleines Plätzchen als Hobby ein-
                                                                geräumt wird oder sie ganz in Vergessenheit gerät. Manche zukünf-
                                                                tige Architektin errichtet mit höchster Konzentration Lego-Gebäude,
                                                                mancher Arzt verband als kleiner Bub gewissenhaft die Wehwehchen
                                                                seiner Stofftiere. Natürlich wird nicht aus jedem Kind, das gern malt,
                                                                später mal ein Picasso. Aber Elyas, ein temperamentvolles Kind, stürzt
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                                                                sich auf die Bühne, unterhält sein Publikum, genießt den Applaus
                                                                und wird später mit genau dieser Leidenschaft sein Geld verdienen.
Nähere Informationen unter: http://www.riva-verlag.de

                                                                  Nur der verstaubte Frontalunterricht, der langweilt Elyas. Die alten
                                                                Beamtenlehrer, die an der Tafel monoton ihren Text runterrasseln, in-
                                                                nerlich die Monate bis zur Rente runterzählen und dabei Schüler, die
                                                                nicht gleich mitkommen, ungerührt zurücklassen. Lehrer, die ihn mit-
                                                                reißen, inspirieren, sind nicht in Sicht. Seine Eltern finden seine immer
                                                                schlimmer werdende Anti-Lern-Haltung aber gar nicht lässig. Erst
                                                                recht nicht mehr, als Elyas die siebte Klasse an seinem Schwabinger
                                                                Gymnasium nicht schafft. Mathe hat ihm das Zeugnis vergeigt. Und
                                                                plötzlich steht der Junge mit der großen Klappe knietief in der Kacke.

                                                                              Bekehrung in letzter Minute

                                                                D     er Morgen beginnt mit einem Gebet, das Essen auch. Mönche
                                                                      begleiten die Buben durch die Schulzeit. Es gibt feste Studier-,
                                                                Schlaf- und Mahlzeiten. Bis zur neunten Klasse teilen sich je zwei Jungs
                                                                ein Zimmer, die älteren bekommen ein eigenes inklusive Nass­zelle. Die
                                                                Internatsschüler übernehmen am Wochenende den Ministrantendienst.
                                                                Es ist der Albtraum eines jeden Kindes: »Du kommst ins Internat!«
                                                                Getoppt werden kann das nur durch: »Und zwar in ein reines Jungen­
                                                                internat! Katholisch! Im tiefsten bayerischen Wald!« Besonders für

                                                                                                   14
1 – Klappe, die erste!

                                                                ein Kind wie Elyas, mittlerweile 13 Jahre alt, r­ ebellisch, vorlaut, aber
                                                                fest verwurzelt in seiner Heimat, bei seinen Freunden – da erscheint
                                                                ein streng ­reglemen­tiertes Leben wie das im Klosterinternat auf dem
                                                                Land wie die Vorstufe zur Hölle. Aber weil das Kloster mit einem guten
                                                                Miteinander und vielen gemeinsamen Aktivitäten, Modelleisenbahn,
                                                                Leichtathletikanlage, Basketballfeld, Schwimmbad, Klavier- und Or­
                                                                gelunterricht wirbt, stellt er sich das anfangs trotzdem ganz nett vor:
                                                                Ein bisschen wie einen ausgedehnten Schullandheim-Ausflug. Aber als
                                                                er schließlich dort ankommt, muss er schmerzlich feststellen: Ihm gibt
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2015 by riva Verlag, Münchner Verlagsgruppe GmbH, München

                                                                das geregelte Internatsleben nichts, das romantische Bild, dass er sich
                                                                gemalt hatte, stimmt mit der Realität nicht überein. Für Elyas ist es
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                                                                einfach nur grausam. Um halb sieben aufstehen, vor dem Unterricht
                                                                noch lernen, der Drill durch die Mönche … »Wie im Knast«, formu-
                                                                liert er es mal drastisch. Schreibt er eine schlechtere Note als eine Drei,
                                                                muss er zur Strafe stundenlang extra Hausaufgaben machen. Und
                                                                Mädchenbesuche sind natürlich strengstens untersagt. Er ist unglück-
                                                                lich im Kloster. Nach eineinhalb Jahren hat er seine Eltern endlich
                                                                weichgeklopft, mit 15 flüchtet er zurück nach Hause.
                                                                   Und hat endgültig keinen Bock mehr auf Schule. Im Unterricht setzen
                                                                ihn die Lehrer allein nach vorne, weil er frech ist. Er sitzt eigentlich lie-
                                                                ber in der Mitte. Schön unverdächtig. Dafür ist er oft Klassensprecher,
                                                                weil er findet, dass nicht die Streber, die den Lehrern immer nach dem
                                                                Mund reden, die Klasse vertreten sollten. Er ist das Gegenteil eines
                                                                Strebers. Er lernt nicht. Macht nie Hausaufgaben. Seine Mutter hat es
                                                                nicht leicht mit ihm.
                                                                   Elyas, etwa 16 Jahre alt, hat seine Teenie-Proll-Phase, lässt sich ein
                                                                Ohrloch stechen und läuft mit einem goldenen Ohrring durch die
                                                                Stadt. Blondiert sich die Haare. Statt zu lernen, hängt er lieber mit
                                                                Freunden ab, hat die ersten Freundinnen, schaut Filme: »Pulp Fiction«
                                                                zum Beispiel, Quentin Tarantinos Meisterwerk von 1995 – wer das
                                                                nicht gesehen hat, ist nicht cool. Die Jungs wollen sein wie Gangster
                                                                Vince Vega, der Soundtrack läuft auf jedem Chillabend. Noch einer

                                                                                                     15
Elyas M’Barek für Anfänger

                                                                seiner Favoriten: »La Haine« (»Hass«) ein französischer Schwarz-
                                                                Weiß-Film aus dem gleichen Jahr, der das Leben drei Jugendlicher
                                                                in den Banlieues Frankreichs 24 Stunden lang begleitet. Ein Alltag
                                                                geprägt von Drogen, Krawallen und Gewalt. Seit »La Haine« steht
                                                                Elyas auf französische Filme. Aber auch das deutsche Pendant zu den
                                                                Gangsterfilmen aus der Zeit, die er so mag, macht gewaltig Eindruck
                                                                bei ihm: Fatih Akins »Kurz und schmerzlos«. Deutscher Film kann
                                                                was, das merkt er schon früh.
                                                                  Problemkind-Alarm. Cem aus »Türkisch für Anfänger« in der 10b
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                                                                von »Fack ju Göhte«. Will man Elyas’ Schul-Drama etwas Positives
                                                                abgewinnen, kann man sagen: immerhin eine Real-Life-Übung für
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                                                                seine späteren Glanzrollen. »Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich die
                                                                Schule gewechselt habe«, sagt Elyas. In der 10. Klasse fällt er schon
                                                                wieder durch, zum dritten Mal, wieder ist Mathe Schuld. Und: Viele
                                                                Möglichkeiten bleiben jetzt nicht mehr. Seine Noten sind schlecht,
                                                                aber eigentlich ist er für die Hauptschule zu alt.
                                                                  Nur gut, wenn man eine Mutter hat wie Elyas. Eine, die für ihre
                                                                Söhne kämpft, auch wenn sie bei ihrem ältesten langsam selbst
                                                                Hopfen und Malz verloren sieht. So wie die gelangweilten Beamten­
                                                                lehrer auch. Kein tolles Gefühl, wenn alle über einen denken, dass
                                                                man es nicht drauf hat. Auch nicht für einen bockigen Teenager,
                                                                der sich immer cool gibt. Ganz schön demotivierend. Klar gehört
                                                                die Lernverweigerungshaltung mit zur Masche, aber ernsthaft die
                                                                Chance auf einen Schulabschluss wegzuwerfen – das will dann doch
                                                                niemand, der noch einen Funken Verstand in sich hat, auch wenn er
                                                                sich so anti gibt wie Elyas. Obwohl der Sohn sie schlaflose Nächte
                                                                kostet: Elyas’ Mutter gibt nicht auf, sie redet auf die Direktorin ei-
                                                                ner Hauptschule ein wie auf ein krankes Pferd. Und damit rettet sie
                                                                ihrem Sohn den Arsch. Die Hauptschule gibt ihm doch noch eine
                                                                Chance. Eine letzte. »Entweder du ziehst mit oder du fliegst«, sagt
                                                                die Direktorin.

                                                                                                 16
1 – Klappe, die erste!

                                                                Gerade nochmal gut gegangen! Und jetzt kommt der Wendepunkt
                                                                der Cem’schen Schulkarriere: Die Hauptschule fällt Elyas leicht. Er
                                                                ist nicht doof, der Stoff erscheint ihm nach seinen Jahren auf dem
                                                                Gymnasium fast lächerlich. Brüche ausrechnen statt Parabeln zu be-
                                                                rechnen; auch ohne zu lernen hat er plötzlich nur Einsen im Zeugnis –
                                                                bis auf eine Drei in Kunst. Und der Erfolg spornt das Problemkind
                                                                an. Plötzlich ist die Motivation da, die ihm die letzten Jahre gefehlt
                                                                hat. Er gibt sich wieder Mühe. Deutsch ist sein Lieblingsfach, es gibt
                                                                Lehrer, die an ihn glauben und ihn fördern. Texte l­esen, analysie-
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                                                                ren, schreiben, das liegt ihm. Mit Sprache kann er umgehen. Ein
                                                                Deutschlehrer wird ihm sogar Jahre später, nach »Fack ju Göhte«,
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                                                                eine Mail schreiben, um ihm zu sagen, dass er Elyas’ Karriere verfolgt
                                                                hat und ihn immer in guter Erinnerung behalten hat. Elyas macht die
                                                                freiwillige zehnte Klasse, macht den Realschulabschluss. Er arbeitet
                                                                sich wieder nach oben – und landet auf der Fachoberschule. Er hat
                                                                seinen Ehrgeiz entdeckt. Privater Sieg: Im letzten Schuljahr schafft er
                                                                es von der ewigen Sechs in Mathe auf eine Zwei. Sein Abitur macht er
                                                                zwar mit drei Jahren Verzögerung, aber als Klassenbester! Mit einem
                                                                Notendurchschnitt von 2,2.
                                                                  Und in dem ganzen Schuldrama hat er vieles gelernt. Über sich
                                                                selbst. Dass er vieles schaffen kann, wenn er an sich selbst glaubt.
                                                                Auch, wenn andere die Hoffnung schon aufgegeben haben. Wenn
                                                                er sich reinhängt, kann er es schaffen. Und er hat gelernt, dass sich
                                                                Dranbleiben auszahlt. Eine Lektion fürs Leben.

                                                                                                  17
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