19 2020 Mund-Nasen-Bedeckung, Wiedereröffnung von Bildungseinrichtungen, Tag der Händehygiene - Händedesinfektion - RKI

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aktuelle daten und informationen
               zu infektionskrankheiten und public health

  19 Epidemiologisches
2020 Bulletin
 7. Mai 2020

               Mund-Nasen-Bedeckung, Wiedereröffnung
               von Bildungseinrichtungen, Tag der
               Händehygiene – Händedesinfektion
Epidemiologisches Bulletin          19 | 2020       7. Mai 2020                                                           2

  Inhalt

  Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum als weitere Komponente zur Reduktion der
  Übertragungen von COVID-19                                                                                                   3
  Das RKI empfiehlt ein generelles Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in bestimmten Situationen im öffent-
  lichen Raum. Diese Empfehlung beruht auf einer Neubewertung aufgrund der zunehmenden Evidenz, dass
  ein hoher Anteil von Übertragungen unbemerkt erfolgt, und zwar bereits vor dem Auftreten von Krankheits-
  symptomen.

  Wiedereröffnung von Bildungseinrichtungen –
  Überlegungen, Entscheidungsgrundlagen und Voraussetzungen                                                                    6
  Da es bislang keine gesicherten Erkenntnisse zur Rolle von Schulen und Kindergärten im aktuellen Infek­
  tionsgeschehen gibt, ist es wichtig, eine Wiedereröffnung mit epidemiologischen Studien zu begleiten. Die
  Ergebnisse können genutzt werden, um die Effektivität der Maßnahmen besser einzuschätzen und ein Vor-
  gehen auszuwählen in Bezug auf das schrittweise Öffnen (und ggf. auch erneute Schließen) von Betreuungs-
  und Bildungseinrichtungen.

  Internationaler Tag der Händehygiene: ­
  Händedesinfektion unter den Bedingungen der SARS-CoV-2-Pandemie                                                              13
  Die aktuelle SARS-CoV-2-Pandemie führt uns zum einen den Stellenwert der Händedesinfektion zum Schutz
  der Patienten und Beschäftigten vor Augen. Zum anderen zeigt sie, wie wichtig die stete Verfügbarkeit von
  Händedesinfektionsmitteln ist, deren Wirksamkeit, Qualität und Unbedenklichkeit nachgewiesen und die
  unter praktischen Bedingungen tauglich sind.

  Das diesjährige Motto der WHO ist „nurses and midwives – clean care is in your hands“                                        20

  Erfassung der SARS-CoV-2-Testzahlen in Deutschland (Update vom 7.5.2020)                                                    21

  Impressum
  Herausgeber                                                      Allgmeine Hinweise/Nachdruck
  Robert Koch-Institut                                             Die Ausgaben ab 1996 stehen im Internet zur Verfügung:
  Nordufer 20, 13353 Berlin                                        www.rki.de/epidbull
  Telefon 030 18754 – 0
                                                                   Inhalte externer Beiträge spiegeln nicht notwendigerweise
  Redaktion                                                        die Meinung des Robert Koch-Instituts wider.
  Dr. med. Jamela Seedat
  Telefon: 030 18754 – 23 24                                       Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons
  E-Mail: SeedatJ@rki.de                                           Namensnennung 4.0 International Lizenz.

  Claudia Paape, Judith Petschelt
  E-Mail: EpiBull@rki.de

                                                                   ISSN 2569-5266

         Das Robert Koch-Institut ist ein Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit.
Epidemiologisches Bulletin     19 | 2020      7. Mai 2020                                                  3

  Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum als weitere
  Komponente zur Reduktion der Übertragungen von COVID-19
  Strategie-Ergänzung zu empfohlenen Infektionsschutz-
  maßnahmen und Zielen (3. Update)

  Das Robert Koch-Institut (RKI) empfiehlt ein gene-        ten Reduktion der Ausscheidung von Atemwegsvi-
  relles Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung (MNB)            ren über die Ausatemluft führt und aus Studien zur
  in bestimmten Situationen im öffentlichen Raum als        Influenza gibt es Hinweise auf eine Reduktion des
  einen weiteren Baustein, um Risikogruppen zu              Ansteckungsrisikos für gesunde Personen in Haus-
  schützen und den Infektionsdruck und damit die            halten mit einem Erkrankten.1,2
  Ausbreitungsgeschwindigkeit von COVID-19 in der
  Bevölkerung zu reduzieren. Diese Empfehlung be-           Neben anderen Faktoren ist das Fehlen von persön-
  ruht auf einer Neubewertung aufgrund der zuneh-           licher Schutzausrüstung eine Ursache für Ausbrü-
  menden Evidenz, dass ein hoher Anteil von Übertra-        che von COVID-19 in Krankenhäusern und in der
  gungen unbemerkt erfolgt, und zwar bereits vor dem        Altenpflege, die damit die Gruppen mit dem höchs-
  Auftreten von Krankheitssymptomen. Ziel dieses            ten Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf
  Beitrags ist es, eine kurze Übersicht zum fachlichen      treffen und auch zu Erkrankungen bei dringend zur
  Hintergrund der Empfehlung zu geben und zu erläu-         Behandlung und Pflege benötigtem Personal füh-
  tern, welche Dinge hierbei zu berücksichtigen sind.       ren. Auch in Deutschland wurden bereits Erkran-
                                                            kungen bei medizinischem Personal berichtet, das
  Der Hauptübertragungsweg von SARS-CoV-2, dem              in den 14 Tagen vor der Erkrankung in einer medi-
  Erreger von COVID-19, sind feine Tröpfchen aus der        zinischen Einrichtung tätig war (unter den nach
  Atemluft. Im medizinischen Bereich und in der             IfSG übermittelten COVID-19-Fällen waren min-
  Pflege ist ein enger physischer Kontakt häufig un-        destens 5.300 Personen in medizinischen Einrich-
  vermeidbar und deshalb gehören der chirurgische           tungen gemäß § 23 Abs. 3 IfSG tätig; Lagebericht
  Mund-Nasen-Schutz (MNS) und sogenannte parti-             vom 11.4.2020). MNS und FFP2-/FFP3-Masken sind
  kelfiltrierende Halbmasken (FFP2-/FFP3-Maske)             ein essenzieller Bestandteil einer sicheren Arbeits-
  zum Standard der im Arbeitsschutz und Infektions-         situation in Krankenhäusern und bei der Pflege von
  schutz eingesetzten persönlichen Schutzausrüs-            Erkrankten und hilfsbedürftigen Menschen und
  tung. Der wesentliche Unterschied zwischen einem          müssen prioritär in diesen Bereichen eingesetzt
  MNS und FFP2-/FFP3-Masken besteht nicht nur in            werden. Noch immer kommt es weltweit zu Engpäs-
  der Stärke der Filterwirkung der Atemluft, sondern        sen in Bezug auf die Verfügbarkeit von persönlicher
  im Ziel des Einsatzes. Während ein MNS primär an-         Schutzausrüstung, weshalb eine maximale Steige-
  dere Personen vor feinen Tröpfchen und Partikeln          rung der Produktion auch durch in Deutschland an-
  in der Ausatemluft desjenigen schützen soll, der ei-      sässige Firmen notwendig ist, um Übertragungen
  nen MNS trägt (Fremdschutz), ist das Ziel von             zu verhindern und Leben zu retten.
  FFP2-/FFP3-Masken der persönliche Schutz des
  Trägers vor Infektionen, einschließlich solche, die       Kommerziell und privat hergestellte MNB bestehen
  durch mikroskopisch kleine Tröpfchen (Aerosole)           meist aus handelsüblichen, unterschiedlich eng ge-
  übertragen werden. Dieser Schutz ist von zentraler        webten Baumwollstoffen und entsprechen in ihrer
  Bedeutung, um die Gesundheit von medizinischem            Funktionsweise am ehesten einem MNS. Sie sind je-
  Personal und Pflegenden zu erhalten und so eine           doch keine Medizinprodukte und unterliegen nicht
  sichere Behandlung und Pflege ohne Infektionsrisi-        entsprechenden Prüfungen oder Normen. Die Filter-
  ko zu gewährleisten. In einer aktuellen Studie konn-      wirkung von MNB auf Tröpfchen und Aerosole wur-
  te gezeigt werden, dass auch MNS zu einer relevan-        de nur in wenigen Studien untersucht und war im
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  Vergleich zu medizinischem MNS geringer.3 MNB              eingehalten werden. In einer Aktualisierung ihres
  werden aufgrund der Heterogenität der Materialien          Cochrane Reviews aus dem Jahr 2003 empfehlen
  und fehlenden Daten zur individuellen Schutzwir-           die Autoren, basierend auf Beobachtungsstudien
  kung in Studien in Deutschland nicht für den Ar-           während des SARS-Ausbruchs, den Einsatz von
  beitsschutz empfohlen. Wichtig ist, dass bei einem         Masken ebenfalls in Kombination mit anderen
  Hustenstoß sowohl die Filterwirkung von MNS als            Maßnahmen.5 Auch die hygienische Handhabung
  auch von MNB reduziert ist, d. h. dass eine (Selbst-)      und Pflege von MNB sind zu beachten. Aus diesem
  Isolation symptomatisch Erkrankter unabhängig              Grund ist darauf zu achten, dass die MNB – insbe-
  vom Einsatz von MNB trotzdem erforderlich bleibt.4         sondere beim Auf- und Absetzen – nicht berührt
                                                             wird, um eine Kontamination durch die Hände zu
  Während in einigen asiatischen Ländern das Tra-            verhindern. Generell geht eine längere Tragedauer
  gen von MNB oder MNS als Teil einer allgemeinen            auch mit einer erhöhten Kontaminationsgefahr ein-
  Präventionsstrategie während Influenzawellen ak-           her (s. Hinweise des Bundesinstituts für Arzneimit-
  zeptiert ist, würde dies in Ländern wie Deutschland        tel und Medizinprodukte (BfArM)).
  einen deutlichen Schritt weg von dem gewohnten
  Bild in der Öffentlichkeit darstellen. In einer aktu-      Wie Beobachtungen aus Ausbruchsuntersuchun-
  ellen Empfehlung stellt die Weltgesundheitsorgani-         gen und Modellierungsstudien zeigen, beruht die
  sation (WHO) fest, dass der Einsatz von MNB im             rasche Ausbreitung von SARS-CoV-2 auf einem ho-
  öffentlichen Raum nicht ausreichend evaluiert ist          hen Anteil von Erkrankungen, die initial mit nur
  und daher weder eine Empfehlung für noch gegen             leichten Symptomen beginnen, ohne die Erkrank-
  den Einsatz gegeben werden könne. Wie die WHO              ten in ihrer täglichen Aktivität einzuschränken.6–8
  betont, ist eine klare Kommunikation zu den Hin-           Bereits 1 – 3 Tage vor Auftreten der Symptome kann
  tergründen, zu Kriterien und Gründen für die ge-           es zu einer Ausscheidung von hohen Virusmengen
  troffene Entscheidung essenziell. Eine aktuelle            kommen. Eine teilweise Reduktion dieser unbe-
  Stellungnahme des Europäischen Zentrums für die            merkten Übertragung von infektiösen Tröpfchen
  Prävention und die Kontrolle von Krankheiten               durch das Tragen von MNB könnte auf Populations-
  (ECDC) kommt zu dem Schluss, dass der Einsatz              ebene zu einer weiteren Verlangsamung der Aus-
  von Gesichtsmasken als Mittel der Kontrolle von In-        breitung beitragen. Dies betrifft die Übertragung im
  fektionsquellen eingesetzt werden kann, um die             öffentlichen Raum, an denen mehrere Menschen
  Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung durch             zusammentreffen und sich dort länger aufhalten
  infizierte Personen, die noch keine Symptome ent-          (z. B. Arbeitsplatz) oder der physische Abstand von
  wickelt haben, zu verhindern. Die Centers for Di-          mindestens 1,5 m nicht immer eingehalten werden
  sease Control and Prevention (das amerikanische            kann (z. B. Einkaufssituation, öffentliche Verkehrs-
  Public-Health-Institut CDC) sprechen eine Emp-             mittel). Tätigkeiten, die mit vielen oder engeren
  fehlung für den Einsatz von MNB aus, um in Situ-           Kontakten einhergehen, sind hier von besonderer
  ationen, in denen andere Maßnahmen der physi-              Bedeutung. Da bei vielen Ansteckungen die Infek-
  schen Distanzierung nur schwierig eingehalten              tionsquelle unbekannt ist, kann eine unbemerkte
  werden können, eine Übertragung des Virus auf              Ausscheidung des Virus in diesen Fällen weder
  andere zu verhindern. Dies dient besonders dem             durch eine Verhaltensänderung (wie eine Selbstqua-
  Schutz von Menschen mit einem erhöhten Risiko              rantäne) noch durch eine frühzeitige Testung er-
  für einen schweren Krankheitsverlauf.                      kannt werden, da der Beginn der Infektiosität unbe-
                                                             kannt ist. Aus diesem Grund kann das Tragen von
  Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Einsatz       MNB im öffentlichen Raum vor allem dann im Sin-
  von MNB die zentralen Schutzmaßnahmen, wie die             ne einer Reduktion der Übertragungen wirksam
  (Selbst-)Isolation Erkrankter, die Einhaltung der          werden, wenn sich möglichst viele Personen daran
  physischen Distanz von mindestens 1,5 m, die Hus-          beteiligen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass
  tenregeln und die Händehygiene zum Schutz vor              es Personen gibt, die aufgrund von Vorerkrankun-
  Ansteckung, nicht ersetzen kann. Diese zentralen           gen den höheren Atemwiderstand beim Tragen von
  Schutzmaßnahmen müssen also weiterhin strikt               Masken nicht tolerieren können.
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  Um möglichst rasch eine nachhaltige Reduktion der               erwünschte Auswirkungen sorgsam gegeneinander
  Ausbreitungsgeschwindigkeit von COVID-19 in der                 abzuwägen. In dem System verschiedener Maßnah-
  Bevölkerung und sinkende Neuerkrankungszahlen                   men ist ein situationsbedingtes generelles Tragen
  zu erreichen, ist es notwendig, mehrere Komponen-               von MNB (oder von MNS, wenn die Produktionska-
  ten einzusetzen, die sich gegenseitig ergänzen                  pazität dies erlaubt) in der Bevölkerung ein weiterer
  (s. 2. Strategie-Update9). Dabei sind immer die Wirk-           Baustein, um Übertragungen zu reduzieren.
  samkeit der ergriffenen Maßnahmen und deren un-

  Literatur
  1   Leung NHL, et al.: Respiratory virus shedding in            7 Li R, et al.: Substantial undocumented infection fa-
      exhaled breath and efficacy of face masks. Nature              cilitates the rapid dissemination of novel coronavi-
      Medicine, 2020;1 – 20                                          rus (SARS-CoV2). Science, 2020;1 – 8

  2 Suess T, et al.: Facemasks and intensified hand hy-           8 Böhmer MM, et al.: Outbreak of COVID-19 in Ger-
      giene in a German household trial during the                   many Resulting from a Single Travel-Associated Pri-
      2009/2010 influenza A(H1N1) pandemic: adherence                mary Case. The Lancet Infectious Diseases,
      and tolerability in children and adults. Epidemiol             2020;1 – 22. Preprint
      Infect, 2011;139(12):1895 – 901
                                                                  9 Robert Koch-Institut: COVID-19: Jetzt handeln, vor-
  3 van der Sande M, Teunis P, Sabel R: Professional                 ausschauend planen. Strategie-Ergänzung zu emp-
      and home-made face masks reduce exposure to re-                fohlenen Infektionsschutzmaßnahmen und Zielen
      spiratory infections among the general population.             (2. Update). Epid Bull 2020;12:3 – 6.
      PLoS One, 2008;3(7):e2618                                      DOI 10.25646/6540.2

  4 Bae S, et al.: Effectiveness of Surgical and Cotton
      Masks in Blocking SARS-CoV-2: A Controlled Com-             Vorgeschlagene Zitierweise
      parison in 4 Patients. Ann Intern Med, 2020;1 – 2           Robert Koch-Institut: Mund-Nasen-Bedeckung im öf-
                                                                  fentlichen Raum als weitere Komponente zur Redukti-
  5 Jefferson T, et al.: Physical interventions to interrupt
                                                                  on der Übertragungen von COVID-19. Strategie-Ergän-
      or reduce the spread of respiratory viruses. Part 1 -       zung zu empfohlenen Infektionsschutzmaßnahmen
      Face masks, eye protection and person distancing:           und Zielen (3. Update).
      systematic review and meta-analysis. medRxiv,
      2020:1 – 18                                                 Epid Bull 2020;19:3 – 5 | DOI 10.25646/6731
                                                                  (Dieser Artikel ist am 14.4.2020 online vorab erschienen.)
  6 Ganyani T, et al.: Estimating the generation interval
      for COVID-19 based on symptom onset data.                   Interessenkonflikt
      medRxiv, 2020:1 – 13                                        Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt
                                                                  besteht.
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  Wiedereröffnung von Bildungseinrichtungen –
  Überlegungen, Entscheidungsgrundlagen und Voraussetzungen

  Hintergrund und Studienlage                                  Wie eingangs erwähnt zeigen gerade Kinder häufi-
  Die nachfolgenden Ausführungen legen den Fokus               ger einen sehr milden Krankheitsverlauf oder ent-
  auf Bildungs- und Betreuungseinrichtungen für das            wickeln trotz Infektion keine Krankheitszeichen. In
  Kindes- und Jugendalter.                                     drei Studien, 8–10 in denen COVID-19-positive Kinder
                                                               untersucht wurden, lag der Anteil an asymptomati-
  Kinder als Multiplikatoren im COVID-19-Pan-                  schen Kindern bei jeweils 28 %, 16 % und 4 %. In
  demiegeschehen                                               drei weiteren Studien 11–13 wurde der Anteil der Kinder
  Die Rolle von Kindern als Krankheitsüberträger in            an allen asymptomatischen SARS-COV-2-­positiven
  der COVID-19-Pandemie ist noch nicht gut unter-              Patienten mit jeweils 18%, 25 % und 27 % angegeben.
  sucht. Kinder haben häufiger als Erwachsene einen
  milden oder asymptomatischen Verlauf und werden              Aufgrund dieser relevanten Anteile asymptomati-
  daher oft nicht auf Grund von Symptomen, sondern             scher bzw. nur mild symptomatischer Fälle unter Kin-
  im Rahmen einer Kontaktpersonen-Nachverfolgung               dern können Infektionsketten durch das Isolieren von
  positiv getestet. Kinder sind somit verhältnismäßig          Erkrankten weniger effektiv durchbrochen werden.
  selten in Studien zu COVID-19 vertreten, zumal
  sich die Studienpopulation häufig aus hospitalisier-         Kindern fällt es zudem schwer, von sich aus einen
  ten Patienten zusammensetzt.                                 Abstand von mindestens 1,5 Metern einzuhalten
                                                               und sich regelmäßig und mit ausreichender Gründ-
  Es gibt aktuell nur wenige Daten zu der Fragestel-           lichkeit die Hände zu waschen. Je jünger die Kinder
  lung, ob Kinder genauso empfänglich für COVID-19             sind, desto häufiger müssen sie von Erwachsenen
  sind wie Erwachsene. Die wenigen vorliegenden                dazu angehalten und angeleitet werden.
  Daten sprechen für eine gleichgroße Empfänglich-
  keit: Eine Studie von Bi et al.1 zeigt, dass sich 7,4 %      Zusammenfassend sprechen die folgenden Faktoren
  der Kinder unter 10 Jahren, die Kontakt mit einem            dafür, dass Kinder – wie bei anderen respiratorisch
  COVID-19-Patienten hatten, infizierten. Diese Rate           übertragbaren Erkrankungen – relevant zu einer
  entspricht in etwa der durchschnittlichen Rate aller         Verbreitung von COVID-19 beitragen:
  Altersgruppen von 7,9 %. In einer Ausbruchsunter-
  suchung von Cao et al.2 zeigte sich eine proportio-          ▶▶   Kinder haben häufig einen asymptomatischen
  nale Zunahme von Fällen sowohl bei den Kindern                    oder sehr milden Verlauf, und werden dement-
  als auch bei den Erwachsenen, was ebenfalls für                   sprechend oft nicht als SARS-CoV-2-Infizierte
  eine gleiche oder ähnliche Empfänglichkeit spricht.               ­erkannt

  Es hat sich gezeigt, dass – unabhängig von der Alters­       ▶▶   Asymptomatische und präsymptomatische
  gruppe – asymptomatische oder präsymptomati-                      Über­tragungen spielen im aktuellen Infektions-
  sche Übertragungen eine wichtige Rolle spielen.                   geschehen prozentual eine wichtige Rolle
  Der Anteil präsymptomatischer Transmissionen an
  allen Übertragungen wird in Untersuchungen und               ▶▶   Asymptomatische und präsymptomatische Über-
  Modellierungen mit 6% 3, 12% 4, 44% 5 und 48–62% 6                tragungen können ohne Schutzmaßnahmen im
  beziffert. Die Viruslast im Rachen von symptomati-                Alltag nur schwer verhindert werden
  schen Patienten war verglichen mit einem asympto-
  matischen Patienten etwa gleich hoch7, was eben-             ▶▶   Vor allem jüngere Kinder können sich nicht in
  falls dafür spricht, dass asymptomatische und prä­                vollem Umfang an kontaktreduzierende und
  symptomatische Personen zum Infektionsgesche-                     ­Hygienemaßnahmen halten
  hen beitragen.
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  Es besteht damit die Gefahr, dass sich SARS-CoV-2           Repro­duktionszahl #*R t > 1 abzielte. In einem weite-
  effektiv unter Kindern und Jugendlichen in Betreu-          ren Modellierungs-Szenario, welches die Verhinde-
  ungs- und Bildungseinrichtungen ausbreitet. Auf             rung einer Überlastung des Gesundheitssystems
  Grund der verschiedenen und engen außerschuli-              zum Ziel hatte mit einem R t < 1, werden in der glei-
  schen Kontakte ist zudem von einem Multiplika­tor­          chen Publikation Schulschließungen sehr wohl als
  effekt mit Ausbreitung in den Familien und nachfol-         Teil einer erfolgreichen Strategie bewertet.
  gend in der Bevölkerung auszugehen. Diese These
  wird auch von einer Studie von Cao et al.2 unter-           Sichere Rückschlüsse von (möglichen) Effekten von
  stützt, die sich explizit mit der Transmissionsdyna-        Schulschließungen19 während Influenzapandemien
  mik von SARS-Cov-2, auch im Hinblick auf Kinder,            auf die aktuelle Situation zu ziehen ist nur sehr ein-
  beschäftigt.                                                geschränkt möglich, da Kinder bei Influenza wichti-
                                                              ge Vektoren im Transmissionsgeschehen darstellen,
  Die Rolle der Schulen und Kindergärten                      während die Rolle der Kinder im aktuellen Pande-
  Es gibt international keine publizierten Erfahrungen        miegeschehen noch nicht abschließend geklärt ist.
  für COVID-19 zur Effektivität von Schul- bzw. Kin-          Zudem ist die Basisreproduktionszahl bei Influenza
  dergartenschließungen. Dies liegt vor allem auch            niedriger.
  daran, dass in China die Schulen beim Start der
  Pandemie aufgrund von Ferien geschlossen wurden             Da es bislang keine gesicherten Erkenntnisse zur
  und erst in den letzten Wochen eine langsame, schritt­      Rolle von Schulen und Kindergärten im aktuellen
  weise und an die regionale Situation angepasste Öff-        Infektionsgeschehen gibt, ist es daher wichtig, eine
  nung erfolgt. Auch aus anderen Ländern fehlen Er-           Wiedereröffnung mit epidemiologischen Studien
  fahrungen, da Schulschließungen – wie in Deutsch-           zu begleiten, insbesondere auch um den Beitrag der
  land – zu den ersten bevölkerungsbasierten Maß-             Übertragung durch asymptomatische SARS-CoV-2-
  nahmen zur Eindämmung der Pandemie gehörten.                Träger in diesen Settings beurteilen zu können. Die
                                                              Ergebnisse der begleitenden Studien können ge-
  Damit fehlt es an Erfahrung, welche Rolle Betreu-           nutzt werden, um die Effektivität der Maßnahmen
  ungs- und Bildungseinrichtungen als mögliche                besser einzuschätzen und ein Vorgehen auszuwäh-
  „Hot­spots“ für Übertragungen im aktuellen Pande-           len sowie eine Handlungsbasis für das weitere Vor-
  miegeschehen spielen. In Modellierungen werden              gehen im Verlauf der Pandemie in Bezug auf ­das
  Schul­schließungen in Kombination mit anderen               schrittweise Öffnen (und ggf. auch erneute Schlie-
  Maßnahmen als ein wirksamer Ansatz beschrie-                ßen) von Betreuungs- und Bildungseinrichtungen
  ben 14–17. Dabei sollten die Maßnahmen regional an-         zu schaffen.
  gepasst werden. Neben der Isolierung von Erkrank-
  ten wird der Einsatz einer Tracking-App zum Auf-            Es lässt sich also festhalten:
  finden von Kontaktpersonen empfohlen, um deren
  Absonderung zeitnah einleiten zu können17 .                 ▶▶   Es gibt in Bezug auf COVID-19 international
                                                                   ­keine publizierten Erfahrungsberichte zur Effek-
  In einem Rapid Review 18 zum Thema Schulschlie-                   tivität von Schul- bzw. Kindergartenschließungen.
  ßung und Coronaviren beziehen sich die Autoren
  im Abstract v.  a. auf die Studie von Ferguson17 und        ▶▶   Es besteht auf Basis bisher publizierter Studien
  ziehen die Schlussfolgerung, Schulschließungen                   jedoch kein Grund zu der Annahme, dass sich
  wären nicht sinnvoll, da die Studie gezeigt hätte,               COVID-19 nicht effektiv unter Schüler*innen
  dass sie lediglich zu einer Senkung der Todesfälle               und – durch einen Multiplikatoreffekt – darüber
  um 2–4 % führten. Diese Modellierung bezog sich                  hinaus verbreiten kann.
  jedoch auf ein Szenario, welches auf das Erlangen
  einer „Herdenimmunität“ mit einer effektiven
                                                              #	Bei der Berechnung der effektiven Reproduktionszahl Rt
                                                                 wird, im Gegensatz zur Berechnung der Basisreprodukti-
                                                                 onszahl R0 , eine eventuelle Immunität der Bevölkerung
                                                                 und der Effekt von Gegenmaßnahmen miteinbezogen
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  ▶▶   Eine Wiedereröffnung sollte durch Studien mit               sichtlich der Reduktion der Personendichte/Ent-
       regelmäßiger, systematischer Testung begleitet              zerrung sollten auch hinsichtlich des Transports
       werden, um eine Handlungsbasis für zukünftig                (Schulbusse, ÖPNV) angestellt werden.
       zu treffende Entscheidungen zu schaffen.
                                                              ▶▶   Zuordnung zu konstanten Gruppen und Gruppen-
                                                                   räumen, damit im Erkrankungsfall eine mögliche
  Voraussetzungen für die Wieder­                                  Übertragung begrenzt wird, die für eine Kon-
  eröffnung von Betreuungs- und                                    taktpersonen-Nachverfolgung notwendigen
  ­Bildungs­einrichtungen                                          ­Informationen rasch erhoben werden können
  Aspekte des Infektionsschutzes                                    und eine gezielte Quarantäne von Gruppen er-
  Um eine weitere Verbreitung von SARS-CoV-2 zu                     folgen kann. Auch die Pausen sollten so organi-
  verhindern, müssen alle Maßnahmen eingehalten                     siert sein, das die Gruppen sich nicht durchmi-
  werden, die in der aktuellen Situation generell und               schen und der Mindestabstand gewahrt wird.
  im öffentlichen Raum empfohlen werden.
                                                              ▶▶   Mund-Nasen-Schutz: das Tragen einer MNB
  Ganz entscheidend ist es, die Voraussetzungen dafür              (Mund-Nasen-Bedeckung, „community mask“,
  zu schaffen, Neuinfektionen schnell zu erkennen,                 Alltagsmaske) oder eines MNS (Mund-Nasen-
  die Erkrankten zu isolieren und die Kontaktperso-                Schutz, sofern verfügbar) kann dazu beitragen,
  nen-Nachverfolgung rasch, effizient und vollständig              Übertragungen innerhalb der Einrichtungen,
  durchzuführen. Ziel ist es, das Infektionsrisiko in              insbesondere durch prä- und asymptomatisch
  Bildungseinrichtungen auf dem Niveau anderer All-                Infizierte, zu reduzieren und somit auch Risiko-
  tagsaktivitäten zu halten, so dass bei Einhaltung der            gruppen vor Übertragungen zu schützen (Fremd­
  infektionshygienischen Maßnahmen auch Personen                   schutz). Dies gilt vor allem in Situationen, in
  partizipieren können, die ein erhöhtes Risiko für                ­denen das Abstandsgebot nicht oder nur schwer
  ­einen schweren Krankheitsverlauf haben.                          eingehalten werden kann.20

  Übersetzt auf das Setting von Bildungseinrichtun-           ▶▶   Identifikation und Umgang mit erkrankten
  gen sind folgende Maßnahmen besonders wichtig:                   ­Personen: Symptomatische Personen dürfen
                                                                    (auch bei milden Symptomen) die Einrichtung
  ▶▶   Hygienemaßnahmen: konsequente Hände­                         nicht betreten. Bei Auftreten von Symptomen in
       hygiene, Einhaltung der Husten- und Niesregeln,              der Unterrichts-/Betreuungszeit sind eine umge-
       keine gemeinsame Nutzung von Trinkflaschen                   hende Isolierung und die Eltern auf die Notwen-
       u. ä., regelmäßige Raumlüftung und gründliche                digkeit einer umgehenden ärztlichen Abklärung
       Raumreinigung gemäß den gültigen Hygiene­                    hinzuweisen. Quarantänemaßnahmen für die
       standards (s. auch Informationsmaterialien der               Kontaktpersonen sind umgehend und konsequent
       Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung                umzusetzen. Quarantäne und Isolierung (inkl.
       (BZgA) unter www.infektionsschutz.de).                       Aufhebungszeitpunkt/Wiederzulassung) haben
                                                                    gemäß aktuellen Empfehlungen und in enger
  ▶▶   Abstand: es gilt die generell gültige Maßgabe,               Abstimmung mit den zuständigen Gesund­heits­
       ­einen Abstand von mindestens 1,5 Metern einzu-              behörden zu erfolgen (s. Kontaktpersonen-­Nach­
        halten, sowohl innerhalb als auch außerhalb der             verfolgung bei respiratorischen Erkran­kungen
        Unterrichtsräume. An das Abstandsgebot ist                  durch das Coronavirus SARS-CoV-2, COVID-19:
        auch die maximale Anzahl der Personen im                    Kriterien zur Entlassung aus dem Krankenhaus
        Raum gekoppelt, sie hängt daher von den Vor-                bzw. aus der häuslichen Isolierung).
        aussetzungen in den vorhandenen Räumlich­
        keiten ab. Eine räumliche Entzerrung wäre bei-        ▶▶   Monitoring und Dokumentation: Es sollte ein
        spielsweise durch Halbierung der Klassen und               Monitoring und eine sorgfältige tägliche nament-
        Unterrichtung der halben Klassen jeweils an                liche Dokumentation der krankheitsbedingten
        ­jedem zweiten Tag möglich. Überlegungen hin-              An- bzw. Abwesenheiten erfolgen, darüber hin-
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       aus ist sicherzustellen, dass aktuelle und voll-        lich der Umsetzung der empfohlenen Maßnahmen
       ständige Kontaktdaten des Elternhauses bzw. der         während des Schulbetriebs, sollte initial jedoch der
       Sorgeberechtigten für eine Kontaktaufnahme              Schwerpunkt auf der Zulassung älterer Jahrgänge
       durch die Einrichtung oder durch die Gesund-            liegen, da sich diese am ehesten an Abstands- und
       heitsbehörden vorliegen.                                Hygieneregeln halten können.

  ▶▶   Schutz von Personen, die ein Risiko für einen           Es ist zu erwarten, dass es durch die bevorstehende
       schweren Krankheitsverlauf haben: Eine gene-            Wiedereröffnung und andere Deeskalationsmaß-
       relle Festlegung ist an dieser Stelle nicht mög-        nahmen mit den damit verbundenen zunehmenden
       lich, da der Schweregrad einer Erkrankung und           Kontakten aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer Zu-
       die Begleitumstände mitbeachtet werden müssen.          nahme von COVID-19-Infektionen kommen wird.
       Für Personen, die nach ärztlicher Einschätzung
       (z. B. aufgrund von schweren immunsuppressi-            Um einen unkontrollierten Wiederanstieg der Neu­
       ven Erkrankungen) nicht am Schulbetrieb teil-           infektionen zu verhindern, erfordert die Wiederer-
       nehmen können, sollten unter Vermeidung von             öffnung von Betreuungs- und Bildungseinrichtun-
       Stigmatisierung und Benachteiligung individuel-         gen daher eine vorausschauende Planung. Zu den
       le Lösungen gefunden werden                             o. g. Punkten sind Konzepte und Lösungen zu erstel­
                                                               len, zu verschriftlichen, abzustimmen und ange-
  ▶▶   Klare Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten          messen mit den zuständigen Behörden, im Kollegi-
       und eine gute Kommunikation sind erforderlich,          um und mit den Eltern zu kommunizieren. All dies
       um alle notwendigen Maßnahmen ohne Zeitver-             erfordert einen ausreichenden zeitlichen Vorlauf.
       lust umsetzen zu können. (z. B. Benennung eines         Ein Rahmen­konzept als Orientierungshilfe kann
       Hygienebeauftragten für die Aktualisierung und          hier Impulse geben (siehe z. B. Interim Guidance
       Umsetzung des Hygieneplans). Auch die Einrich-          for Administra­tors of US K-12 Schools and Child
       tung einer Corona-„Kommission“ kann, insbe-             Care Programs).
       sondere in größeren Einrichtungen, hilfreich sein.
                                                               Ein schrittweises und jahrgangsabgestuftes Vorge-
  ▶▶   Unterrichtung zu Infektionsschutzmaßnahmen,             hen kann auch dazu beitragen, den Bildungsein-
       inklusive der Unterweisung zum Zweck und der            richtungen ausreichend Zeit für die Umsetzung
       korrekten Handhabung von MNS bzw. MNB                   und ggf. Anpassung ihrer Konzepte zu geben. Diese
       (hierfür können z. B. die Materialien der BZgA          Zeit kann zudem genutzt werden, die Zusammen-
       genutzt werden www.infektionsschutz.de).                arbeit mit den Gesundheitsämtern zu etablieren
                                                               bzw. zu intensivieren. Auch die Planung und Vor­
                                                               bereitung der epidemiologischen Studien zur Ab-
  Stufenweises Vorgehen unter Berück­                          schätzung der Effekte auf das Infektionsgeschehen
  sichtigung der epidemiologischen Situation                   benötigen eine Vorlaufzeit.
  Aktuell hat sich bundesweit die effektive Reproduk-
  tionsrate (Rt) auf einen Wert um 1 stabilisiert und die      Es stellt sich die Frage, welche epidemiologischen
  Zahl der schweren Erkrankungen hat bislang zu kei-           Parameter im Sinne von „Triggern“19 für die Steue-
  ner Überlastung des Gesundheitssystems geführt.              rung des weiteren Vorgehens hinsichtlich Schul-
  Eine schrittweise und altersadaptierte Wieder­               schließungen bzw. -öffnungen geeignet sind und
  eröffnung von Betreuungs- und Bildungseinrichtun­            auf welcher Ebene diese betrachtet, bewertet und
  gen sind daher aus fachlicher Sicht vertretbar, da die       angewendet werden sollten.
  Zielstellung der proaktiven Schließung, einen Bei-
  trag zu der Eindämmung und Verlangsamung der                 Bezogen auf Schulschließungsszenarien in Zeiten
  Ausbreitung zu leisten, erreicht wurde. Aufgrund             von Influenzapandemien beschreiben Cauchemez
  der ungeklärten Rolle von Übertragungen zwischen             et al. zwei Optionen: ein synchronisiertes nationales
  Kindern und Jugendlichen im Gesamtgeschehen                  (bzw. regionales) und ein lokales reaktives Vorgehen.
  und den besonderen Herausforderungen hinsicht-               Ersteres hat den Vorteil, dass es einfacher und kon-
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  sistent ist und sich an nationalen Surveillancedaten          gung der Auslastung der Gesundheitssysteme, die
  orientiert, letzteres erlaubt eine flexiblere Steuerung,      wesentliche Entscheidungsbasis liefern, ob mit einer
  setzt jedoch eine verlässliche regionale bzw. lokale          stufenweisen Öffnung fortgefahren werden kann
  Surveillance des Infektionsgeschehens – und im                oder diese unter Umständen auch wieder zurück ge-
  Fall von COVID-19 ein flächendeckendes und nie-               nommen werden muss.
  derschwelliges Testen voraus. Die beschriebenen
  Ansätze lassen sich auch auf Entscheidungen hin-              Um die Kurve weiterhin flach zu halten, ist eine ef-
  sichtlich einer Steuerung (d.h. Schulschließung und           fektive Reproduktionszahl von unter 1 anzustreben.
  Wiedereröffnung) anwenden. Eine Erhebung unter                Es stellt sich jedoch darüber hinaus die Frage, wel-
  12 Ländern zum Vorgehen während der pandemi-                  che Anzahl an Neuinfektionen lokal „tolerabel“ im
  schen Influenza 2009 ergab, dass in allen Ländern             Sinne von handhabbar ist. Dies kann unter bestimm-
  die Empfehlungen zu Schulschließungen auf natio­              ten Voraussetzungen bedeuten, dass Rt deutlich un-
  naler (gelegentlich subnationaler) Ebene gemacht              ter 1 liegen muss, um die Anzahl der täglichen
  wurden, die konkreten Entscheidungen über den                 Neuinfektionen weiter zu reduzieren, andernorts
  Zeitpunkt und die Dauer der Schulschließungen                 sind aber möglicherweise auch Werte über 1 gut
  aber immer auf der lokalen oder regionalen Ebene              kontrollierbar und lösen noch keinen Handlungsbe-
  getroffen wurden.21                                           darf aus. Bei der schrittweisen Wiedereröffnung
                                                                wäre auch die Kopplung an eine lokal zu definieren-
  Die folgenden Punkte sprechen für die Planung und             de Anzahl der wöchentlichen Neuinfektionen pro
  nachfolgende Steuerung einer Wiedereröffnung von              100.000 Einwohner (z. B. auf Landkreisebene)
  Betreuungs- und Bildungseinrichtungen basierend               denk­bar.
  auf der lokalen epidemiologischen Situation und
  Entwicklung:                                                  Kommt es trotz begleitender Maßnahmen zu Aus-
                                                                brüchen oder einer relevanten Zunahme von Infek-
  ▶▶   In Deutschland bestehen bezüglich des COVID-19-­         tionen, die im Zusammenhang mit Übertragungen
       Infektionsgeschehens und der Krankheitslast              innerhalb von Schulen stehen, sollte, in enger Ab-
       ­aktuell erhebliche geografische Unterschiede.           stimmung mit den zuständigen örtlichen Gesund-
                                                                heitsbehörden, eine zeitweise (ggf. partielle) Schlie-
  ▶▶   Ausstattung, Auslastung und Reaktionsfähigkeit           ßung der Betreuungs- und Bildungseinrichtungen
       der Gesundheitsbehörden und Gesundheitssys-              erfolgen. Dies bis die Situation analysiert und be-
       teme variieren. Sie sind entscheidend für die            wertet ist bzw. bis die epidemiologische Lage unter
       Kontrolle und Bewältigung des Infektionsgesche­          den o. g. Voraussetzungen und unter Berücksich­
       hens. Hierbei sind eine konsequente Kontaktper-          tigung der genannten Kriterien eine (ggf. erneut
       sonen-Nachverfolgung, die Kommunikation mit              schrittweise) Wiedereröffnung erlaubt.
       positiv Getesteten, die Anordnung von
       ­Quarantänemaßnahmen und die medizinische                Neben den Erkenntnissen durch die Begleitfor-
        Versorgung schwer Erkrankter von zentraler              schung werden auch die zunehmenden Erfahrun-
        ­Bedeutung.                                             gen anderer Länder helfen einzuschätzen, welche
                                                                Rolle Kinder und Jugendliche bzw. das Setting der
  ▶▶   Auch die Unterschiede der Betreuungs- und                Betreuungs- und Bildungseinrichtungen in der In-
       ­Bildungseinrichtungen spielen eine Rolle, so            fektionsdynamik der COVID-19-Pandemie spielen.
        z. B. die räumlichen Rahmenbedingungen, An-             Mit der Zeit ist auch ein besseres Verständnis der
        zahl und Profil der Schülerschaft und des Perso-        immunologischen Vorgänge im Kindesalter zu er-
        nals, außerschulische Beschulungsmöglich­               warten. Die gewonnenen Erkenntnisse werden
        keiten und zusätzliche Betreuungsbedarfe.               dazu beitragen, die „Trigger“ genauer zu definieren
                                                                und durch genauere Modellierungen zuverlässigere
  Idealerweise sollte das konsequente und zeitnahe              Prognosen erlauben. Es ist auch zu erwarten, dass
  Monitoring sowie die Evaluation der lokalen epide-            zunehmend Erfahrungen gesammelt werden, wie
  miologischen Situation, auch unter Berücksichti-              digitale Instrumente, wie z. B. Tracking-Apps, am
Epidemiologisches Bulletin        19 | 2020       7. Mai 2020                                                      11

  besten eingesetzt werden können, um das Infek­                sofern erforderlich, gezielte Anpassungen der Maß-
  tionsgeschehen mit einer ausreichenden Auflösung              nahmen (i. S. weiterer Lockerungen oder ggf. auch
  lokal besser nachzuverfolgen. All diese Informatio-           Verschärfungen) vorzunehmen.
  nen werden Entscheidungsträger unterstützen um,

  Literatur
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  3   Wei WE: Presymptomatic Transmission of SARS-              12 Hu Z, Song C, Xu C, Jin G, Chen Y, Xu X, et al.:
      CoV-2 – Singapore, January 23–March 16, 2020.                ­Clinical characteristics of 24 asymptomatic
      2020                                                          infections with COVID-19 screened among close
                                                                    contacts in Nanjing, China. China. Sci China Life
  4 Du Z, Xu X, Wu Y, Wang L, Cowling BJ, Meyers LA:
                                                                    Sci 63, https://doi.org/10.1007/s11427-020-1661-4
    The serial interval of COVID-19 from publicly
                                                                    Published online 04.03.2020
    reported confirmed cases.
    medRxiv. 2020:2020.02.19.20025452                           13 Wang Y, Liu Y, Liu L, Wang X, Luo N, Li L: Clinical
                                                                   Outcomes in 55 Patients With Severe Acute
  5   He X, Lau EH, Wu P, Deng X, Wang J, Hao X, et al.:
                                                                   Respiratory Syndrome Coronavirus 2 Who Were
      Temporal dynamics in viral shedding and
                                                                   Asymptomatic at Hospital Admission in Shenz-
      transmissibility of COVID-19.
                                                                   hen, China. The Journal of Infectious Diseases.
      medRxiv. 2020:2020.03.15.20036707
                                                                   published online 17.03.2020
  6 Ganyani T, Kremer C, Chen D, Torneri A, Faes C,
                                                                14 Kim S, Kim YJ, Peck KR, Jung E: School Opening
    Wallinga J, et al.: Estimating the generation interval
                                                                   Delay Effect on Transmission Dynamics of
    for COVID-19 based on symptom onset data.
                                                                   Coronavirus Disease 2019 in Korea: Based on
    medRxiv. 2020:2020.03.05.20031815
                                                                   Mathematical Modeling and Simulation Study.
  7   Zou L, Ruan F, Huang M, Liang L, Huang H, Hong               Journal of Korean medical science.
      Z, et al.: SARS-CoV-2 Viral Load in Upper Respirato-         2020;35(13):e143-e
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                                                                15 Prem K, Liu Y, Russell TW, Kucharski AJ, Eggo RM,
      Journal of Medicine. 2020;382(12):1177-9
                                                                   Davies N, et al.: The effect of control strategies to
  8 Qiu H, Wu J, Hong L, Luo Y, Song Q, Chen D:                    reduce social mixing on outcomes of the CO-
    ­Clinical and epidemiological features of 36                   VID-19 epidemic in Wuhan, China: a modelling
     children with coronavirus disease 2019 (CO-                   study. L­ ancet Public Health. Online first
     VID-19) in Zhejiang, China: an observational                  25.03.2020
     cohort study. The Lancet Infectious Diseases.
                                                                16 Koo JR, Cook AR, Park M, Sun Y, Sun H, Lim JT, et
     Online first 25.03.2020
                                                                   al.: Interventions to mitigate early spread of
  9 Lu X, Zhang L, Du H, Zhang J, Li YY, Qu J, et al.:             SARS-CoV-2 in Singapore: a modelling study. The
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    Correspondence 18.03.2020
Epidemiologisches Bulletin      19 | 2020      7. Mai 2020                                                       12

  17 Imperial College COVID-19 Response Team, Fergu-            empfohlenen Infektionsschutzmaßnahmen und
     son, N: Impact of non-pharmaceutical interven-             Zielen (3. Update). Epid. Bull. 2020;19: 3–5
     tions (NPIs) to reduce COVID-19 mortality and
                                                             21 Cauchemez et al.: School closures during the 2009
     health­care demand. 2020
                                                                influenza pandemic: national and local experien-
  18 Viner RM, Russell SJ, Croker H, Packer J, Ward J,          ces. BMC Infectious Diseases 2014; 14:207
     Stansfield C, et al.: School closure and manage-
     ment practices during coronavirus outbreaks inclu-
     ding COVID-19: a rapid systematic review. The
     ­Lancet Child & Adolescent Health.Published             Autor
      online 6.4.2020                                        Robert Koch-Institut

  19 Cauchemez S, Ferguson NM, Wachtel C, Tegnell A,
     Saour G, Duncan B, et al.: Closure of schools
                                                             Vorgeschlagene Zitierweise
                                                             Robert Koch-Institut: Wiedereröffnung von
     during an influenza pandemic. Lancet Infect Dis.
                                                             ­Bildungseinrichtungen – Überlegungen,
     2009;9(8):473-81
                                                              ­Entscheidungsgrundlagen und Voraussetzungen.
  20 Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum als
                                                             Epid Bull 2020;19:6 – 12 | DOI 10.25646/6826
     weitere Komponente zur Reduktion der Übertra-
     gungen von COVID-19. Strategie-Ergänzung zu             (Dieser Artikel ist am 23.4.2020 online vorab erschienen.)
Epidemiologisches Bulletin      19 | 2020       7. Mai 2020                                                    13

  Händedesinfektion unter den Bedingungen der
  SARS-CoV-2-Pandemie

  Der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO)               fentlicht. Ziel der WHO war eine Richtschnur für
  2009 initiierte „Internationale Tag der Händehygi-          die lokale Herstellung von Händedesinfektionsmit-
  ene“ soll alljährlich die Aufmerksamkeit auf die            teln in Entwicklungsländern, die keinen Zugang zu
  Hände­hygiene in medizinischen und pflegerischen            kommer­ziellen Produkten haben bzw. für die diese
  Einrichtungen lenken. In der WHO-Kampagne wird              zu teuer sind, zu geben.6 Dem gingen die Entwick-
  besonders die Händedesinfektion mit alkoholischen           lung der Rezepturen und die Prüfung für die hygi-
  Einreibeprodukten als die wirksamste Einzelmaß-             enische (DIN EN 1500) und die chirurgische Hän-
  nahme zur Unterbrechung von Infektionsketten                dedesinfektion (DIN EN 12791) nach den damals wie
  hervorgehoben.1, 2                                          heute gültigen Europäischen Prüfnormen unter
                                                              praxisnahen Bedingungen in unabhängigen Prüf­
  Die aktuelle SARS-CoV-2-Pandemie führt uns zum              laboren voran.
  ­einen den Stellenwert der Händedesinfektion zum
   Schutz der Patienten und Beschäftigten vor Augen.          Mit beiden Formulierungen konnte die erforderli-
   Zum anderen zeigt sie, wie wichtig die stete Ver­füg­      che Wirksamkeit für die hygienische Händedesin-
   bar­keit von Händedesinfektionsmitteln ist, deren          fektion (DIN EN 1500) mit 3 ml in 30 s nicht erreicht
   Wirk­sam­keit, Qualität und Unbedenklichkeit nach-         werden. Eine ausreichende Wirksamkeit wurde erst
   gewiesen und die unter praktischen Bedingungen             durch eine zweifache Anwendung für insgesamt
   tauglich sind.                                             60 s, d. h. 2 × 3 ml für 2 × 30 s erreicht.7 Außerdem
                                                              konnte mit beiden Formulierungen, auch nach den
  Um dem aktuellen Mangel an Händedesinfektions-              in Deutschland eher unüblichen 5 min Anwen-
  mitteln entgegenzuwirken, dürfen in Apotheken               dungszeit, keine ausreichende Wirksamkeit für die
  aber aber auch in pharmazeutischen und chemi-               chirurgische Händedesinfektion (EN 12791) erreicht
  schen Unternehmen sowie durch juristische Perso-            werden.8
  nen des öffentlichen Rechts zeitlich befristet Hände­
  desinfektionsmittel hergestellt werden. Basis der           Diese Limitationen der WHO-Rezepturen sind in
  Herstellungserlaubnis ist eine Ausnahmezulassung            Europa wenig bekannt, da wir daran gewöhnt sind,
  in Form einer Allgemeinverfügung (AV) der Bun-              konfektionierte Händedesinfektionsmittel zu ver­wen­
  desanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin             den, die den europäischen Standards entsprechen,
  (BAuA).3 Die Allgemeinverfügung basiert auf veröf-          d. h. typischerweise eine hygienische Händedesinfek­
  fentlichten Rezepturen, z. B. der WHO und den               tion in 30 s bzw. eine chirurgische Händedesinfek-
  Standardzulassungen des Bundesinstituts für Arz­            tion in 90 s ermöglichen.
  nei­mittel und Medizinprodukte (BfArM).4, 5 In der
  Praxis ergeben sich jedoch regelmäßig Nachfragen
  zu den Eigenschaften dieser Desinfektionsmittel,            Bestandteile eines alkoholischen Hände-
  dem Einsatz und den Vor- und Nachteilen einzelner           desinfektionsmittels
  Rezep­turen. Im Folgenden wollen wir daher die              Alkoholische Händedesinfektionsmittel bestehen
  WHO-em­pfohlenen Rezepturen beispielhaft dar-               im Wesentlichen aus dem Wirkstoff, in der Regel
  stellen und auf Vorteile/Nachteile und Gemeinsam-           1-Propanol, Isopropanol (2-Propanol) und/oder
  keiten/Unterschiede zwischen typischen Rezeptu-             ­Ethanol und Wasser.9 Daneben enthalten die meis-
  ren der AV hinweisen.                                        ten Rezepturen weitere Bestandteile, die die Eigen-
                                                               schaften des Mittels beeinflussen. Dazu gehören u. a.
  Die WHO hat 2009, parallel zum „Internationalen              sogenannte Ver­gäl­lungs­mittel, „Rückfetter“, Feucht-
  Tag der Händehygiene“, zwei Rezepturen (WHO I                haltemittel, Farb- und Parfümstoffe sowie Gelie-
  und WHO II) für Händedesinfektionsmittel veröf-              rungsmittel. Die Standard­zulassungen verzichten
Epidemiologisches Bulletin       19 | 2020     7. Mai 2020                                                   14

  auf Zusatzstoffe (außer Vergällungsmitteln) und            ▶▶   „Begrenzt viruzid“ wirksam gegen behüllte Viren
  sind damit reine Wirkstoff-Wasser-Gemische.4, 5                 (wie z. B. SARS-CoV-2) nach DIN EN 14476 oder
                                                                  DVV/RKI-Leitlinie (Suspensionstest)17, 18 (DVV =
  Die WHO-Rezepturen enthalten Glyzerol (Glyze-                   Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung der
  rin), das als Feuchthaltemittel die Hautfreundlich-             ­Viruskrankheiten)
  keit verbessern soll sowie Wasserstoffperoxid (H2O2),
  um die sonst üblicherweise durch Sterilfiltration er-      ▶▶   „Begrenzt viruzid PLUS“ wirksam gegen behüllte
  reichte Bakteriensporenfreiheit zu gewährleisten.               Viren sowie die endemischen Ausbruchsviren
                                                                  Adeno-, Noro- und Rotaviren nach DIN EN 14476
                                                                  (Suspensionstest)17
  Voraussetzungen zur Deklaration der
  Wirksamkeit                                                ▶▶   „Viruzid“ wirksam gegen behüllte Viren sowie
  Grundvoraussetzung für Händedesinfektionsmittel                 die meisten unbehüllten Viren wie z. B. Entero­
  für den medizinischen Bereich ist nach deutschen                viren nach DIN EN 14476 (Suspensionstest) oder
  und europäischen Kriterien die Wirksamkeit gegen                DVV/RKI-Leitlinie (Suspensionstest)17, 18
  Bakterien (die auch Antibiotika-resistente Erreger
  einschließt) und Hefen. Darüber hinaus kann für            Daraus ergibt sich, dass Händedesinfektionsmittel
  die ­Mittel zusätzlich eine Wirkung gegen Viren aus-       nicht nur gegen behüllte Viren wie SARS-CoV-2
  gelobt werden.10, 11                                       oder auch die klassischerweise im Gesundheits­
                                                             wesen aus Personalschutzgründen relevanten Viren
  Das bedeutet, dass die bakterizide Wirksamkeit zu-         wie HIV, Hepatitis-B-Viren (HBV) und Hepatitis-­C-
  nächst in Suspensionsversuchen und dann in pra-            Viren (HCV) wirken, sondern auch den Mindest-
  xisnahen Tests mit Probanden nach DIN EN 1500              standard der bakteriziden und levuroziden Wirk-
  für die hygienische Händedesinfektion bzw. nach            samkeit erfüllen.
  DIN EN 12791 für die chirurgische Händedesin­
  fektion oder nach VAH-(Verbund für Angewandte              Im medizinischen Bereich spielt die benötigte
  Hygiene-)Methoden bestätigt werden muss.12–14              Einwirk­zeit (EWZ) des Desinfektionsmittels eine
                                                             entscheidende Rolle für die Praktikabilität. Deshalb
  Ohne eine erfolgreiche praxisnahe Prüfung gegen-           sollen Produkte für die hygienische Händedesinfek-
  über Bakterien dürfen Händedesinfektionsmittel             tion innerhalb von 30 s wirksam sein; (30 s EWZ
  nicht als solche deklariert werden, d. h. nur wenn         bedeutet, dass die Hände über die EWZ von 30 s
  die Wirksamkeit im praxisnahen Test gegeben ist,           feucht zu halten sind und das Produkt auf der ge-
  hat es Sinn weitere Wirkbereiche (z. B. gegen Viren)       samten Oberfläche der Hände zu verteilen ist, um
  zu untersuchen. Viruzidieprüfungen erfolgen vor-           die gewünschte Wirksamkeit zu erreichen. Dazu sind
  läufig nur als Suspensionstest und nicht als praxis-       mindestens 3 ml nötig.).
  naher Test, da es hierfür kein geeignetes behülltes
  Prüfvirus gibt, das man unbedenklich auf den Hän-
  den von Probanden einsetzten kann.                         Voraussetzungen und Anforderungen zur
                                                             Qualität und Unbedenklichkeit
  Diese Kriterien sind für Arzneimittel und Biozid­          Händedesinfektionsmittel können in Deutschland
  produkte gleich und leiten sich aus den folgenden          ­gegenwärtig als Arzneimittel oder als Biozidprodukt
  Normen bzw. Leitlinien ab:                                  vertrieben werden. Die Zulassung als Arzneimittel
                                                              durch das BfArM umfasst die Prüfung der Wirk-
  ▶▶   Bakterizidie: DIN EN 13727 (Suspensionstest)           samkeit, der Unbedenklichkeit und der Qualität.
       und DIN EN 1500 bzw. DIN EN 12791 (praxis­             Das bedeutet, dass für Händedesinfektionsmittel
       naher Test)13–15                                       nur Wirkstoffe in pharmazeutischer Qualität zum
                                                              Einsatz kommen dürfen. Diese Anforderung gilt
  ▶▶   Levurozidie: wirksam gegen Hefen DIN EN                auch für die WHO-Formulierungen.6 Aktuell sind
       13624 (Suspensionstest)16                             noch keine Händedesinfektionsmittel als Biozid­
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  produkt zugelassen. Alle aktuell am Markt befind­             se­Produkte können aufgrund der Anmeldung nach
  lichen Biozidprodukte, die als Händedesinfektions-            Meldeverordnung der BAuA vertrieben werden,
  mittel deklariert sind, sind zurzeit noch ohne Zulas-         wurden aber bisher keinerlei Prüfungen im Sinne
  sung sondern aufgrund von Übergangsregelungen                 einer Zulassung (u. a. Verträglichkeit, Wirksamkeit)
  verkehrsfähig.19                                              unterzogen.

   Das heißt, dass entsprechende Prüfungen dieser
   Biozide auf Qualität, Wirksamkeit und Unbedenk-              Alternativen und Modifikationen der
   lichkeit noch ausstehen. In der AV der BAuA wur-             WHO-Formulierungen
   den Qualitätsanforderungen für die danach herge-             Nachdem sich bereits in der Entwicklungsphase
   stellten Produkte festgeschrieben. Danach muss der           ­gezeigt hatte, dass die WHO-empfohlenen Formu-
   Hersteller s­icherstellen, dass keine gefährlichen            lierungen weder die erforderliche Wirksamkeit für
   Stoffe in seinem Desinfektionsmittel enthalten                die hygienische Händedesinfektion, noch für die chi-
   sind, z. B. CMR-Stoffe (CMR = kanzerogen, muta-               rurgische Händedesinfektion in den gewünschten
   gen, reproduktionstoxisch) oberhalb von 0,1 % oder            Zeiten erreichen konnten, wurden Modifizierungen
   sensibilisierende Stoffe (allergieauslösende Stoffe).3        erprobt. In den Publikationen von Suchomel von
   Zum Beispiel würden bei ca. 80 Anwendungen pro                2011, 2012 und 2013 wurden Modifikationen der
   Schicht, d. h. 80 × 3 ml = 240 ml Händedesinfekti-            WHO-Rezepturen für die hygienische und die chir-
   onsmittel maximal 240 µl CMR-Stoffe auf die Haut              urgische Händedesinfektion untersucht.7, 8, 25 Dabei
   gelangen dürfen. Bei der hohen Frequenz der An-              wurde zunächst der Wirkstoffgehalt erhöht und in
   wendung von Händedesinfektionsmitteln im medi-               einem zweiten Schritt der Glyzerolgehalt reduziert.
   zinischen Bereich ist zudem eine gute Verträglich-
   keit die wesentliche Voraussetzung für eine hohe             Der wesentliche Unterschied zwischen den origina-
   Compliance.2, 9, 20 Für Arzneimittel sollte die Verträg-     len und den modifizierten WHO-Formulierungen
  lichkeit gewährleistet sein, auch wenn aufgrund des           besteht im Gehalt an dem jeweiligen Wirkstoff
  durch die Pandemie bedingten erhöhten Bedarfs                 ­(Alkohol). In beiden Fällen ist der Gehalt in der
  ­vorübergehend über eine AV des BfArM befristet bis            ­modifizierten Formulierung deutlich erhöht (5,5,
   zum 30.06.2020 Ausnahmen von den in der Zulas-                 bzw. 6,1 %), indem der Alkohol in Massenprozent
   sungsbescheinigung festgelegten Anforderungen                  und nicht in Volumenprozent angegeben wird. Der
   möglich sind.21 Ausgesetzt sind danach z. B. die               Anteil von Glyzerol wurde ebenfalls variiert, die ge-
   strengen Vorgaben für die Verpackung und die                   ringere Konzentration (0,725 % statt 1,45 %) hat aber
   ­Sporenfreiheit.                                               nur bei der chirurgischen Händedesinfektion (ins-
                                                                  besondere beim 3-Stundenwert) Einfluss auf die
  Bei nach AV-BAuA hergestellten Produkten ist die                Wirksamkeit.25 Der Gehalt an H2O2 ist in den modi-
  Überwachung der Qualität durch die Behörden er-                 fizierten gegenüber den originalen WHO-Formulie-
  schwert, da sie nur bei der Giftzentrale des Bundes­            rungen unverändert.
  instituts für Risikobewertung (BfR) gemeldet wer-
  den müssen und nicht bei den jeweiligen Landes­               Die in diesen Publikationen beschriebenen For­mu­
  behörden. Der Anwender solcher Produkte sollte                lierungen wurden späteren Veröffentlichungen zu-
  sich deshalb die von der BAuA in der AV vorgeschrie­          grunde gelegt, da die mangelhafte Wirksamkeit der
  benen Analyse­zertifikate für Ethanol bzw. 2-Propanol         Originalrezepturen den auf diesem Gebiet forschen-
  vorlegen lassen.                                              den Wissenschaftlern bekannt war. In den virolo­
                                                                gischen Tests wurde deshalb ebenfalls die Modifika-
  Infolge des Mangels an pharmazeutisch hergestell-             tion mit dem erhöhten Wirkstoff- und verringertem
  ten Produkten gelangen aber auch Mittel auf den               Glyzerolgehalt verwendet, die auch bei der Herstel-
  Markt, für deren Wirkstoffe keine Erfahrungen bei             lung, sowie bei der Anwendung deutliche Vorteile
  der Händedesinfektion vorliegen. Dazu gehören                 hat (bessere Anwendungseigenschaften und sparsa-
  durch Elektrolyse hergestellte Lösungen, die Natri-           merer Einsatz des derzeit knappen Glyzerols).22,  26,  27
  umhypochlorit und Hypochlorsäure enthalten. Die-
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  Im Unterschied zu den originalen Rezepturen lie-             ▶▶   WHO-Formulierung II modifiziert mit 75%
  gen für die modifizierten WHO-Formulierungen                      (w/w) 2-Propanol, entspricht 81,3 % (v/v)
  Nachweise der bakteriziden Wirksamkeit im praxis-
  nahen Test für eine Einwirkzeit von 30 s zur hygie-          ▶▶   70 % (v/v) 2-Propanol
  nischen Händedesinfektion vor.7 Die Modifikatio-
  nen die neben dem erhöhten Wirkstoffgehalt zu-               ▶▶   80 % (v/v) Ethanol
  sätzlich weniger Glyzerol enthalten sind zudem für
  die chirurgische Händedesinfektion geeignet, aller-           Bei den Viruzidieprüfungen mit der modifizierten
  dings nach einer Einwirkzeit von 5 min (statt der ge-         WHO-Formulierung I wurde eine geringfügig klei-
  wohnten 90 s).25                                              nere Ethanolkonzentration als in den Untersuchun-
                                                                gen zur bakteriziden Wirksamkeit eingesetzt –
   Die modifizierten Formulierungen, und nicht die              85,0 % (v/v) statt 85,5 % (v/v). Da diese Rezeptur
   Ori­­gi­nalrezepturen, wurden z. B. auch in einem           ­bereits in sehr starker Verdünnung begrenzt viruzid
   WHO-­Projekt, in dem u. a. der Einfluss der Hände-           wirksam war, können die Ergebnisse für die Bestä-
  desinfektion auf nosokomiale Infektionen in drei              tigung der Wirksamkeit der modifizierten WHO-­
  ­afri­kanischen Staaten untersucht wurde, angewen-            Formulierung I (entspricht Rezeptur 2 der AV der
   det.28                                                       BAuA) gegen behüllte Viren dienen. 70 % (v/v)
                                                                2-Propanol ist in der RKI-Liste als begrenzt viruzid
  Weitere Alternativen sind die Standardzulassungen,            eingetragen.
  die nur den jeweiligen Wirkstoff (Alkohol) in Wasser
  enthalten. Bei den Standardzulassungen ist zu be-            Die reinen alkoholischen Lösungen wurden zusätz-
  achten, dass aufgrund der AV des BfArM die in der            lich von Rabenau et al. mit Vacciniavirus und MVA
  Monografie geforderte Sporenfreiheit ausgesetzt ist          (Modified Vacciniavirus Ankara) geprüft. Dabei war
  (und auch kein H2O2 zugesetzt wird) und dass durch           Ethanol ab 50 % und 2-Propanol ab 40 % in einer
  den fehlenden Gehalt an Glyzerol eine Austrocknung           Minute wirksam, so dass die begrenzt viruzide Wirk­
  der Haut verstärkt sein könnte.                              samkeit der reinen Wirkstoff-Wasser-Ge­mische bei
                                                               80 % (v/v) Ethanol bzw. 70 % (v/v) 2-Propanol in
  Nicht unerwähnt soll bleiben, dass in der AV auch            30 s sehr wahrscheinlich gegeben ist.23
  eine 70 % (v/v) 1-Propanollösung für den ausschließ-
  lichen Einsatz durch professionelle Anwender                 Beide modifizierten WHO-Formulierungen erwie-
  ­aufgeführt ist. Aufgrund des u. a. toxikologischen          sen sich zusätzlich gegenüber den Coronaviren
   Profils kommt nach Meinung der Autoren dieser               SARS-CoV-1, MERS-CoV und SARS-CoV-2 sowie
   ­Alternative keine relevante Rolle zu.                      HCV, Influenzavirus A(H1N1), Zikavirus und Ebola-
                                                               virus in 30 s als wirksam.22

  Wirksamkeitsnachweise für Rezepturen                         Für die originalen WHO-Formulierungen und 70 %
  alkoholischer Biozidprodukte nach                            (v/v) Ethanol ist für die bakterizide Wirksamkeit im
  BAuA-­AV vom 9.4.2020 3                                      praxisnahen Test eine längere EWZ von 2  ×  30 s
  Die Wirksamkeit in 30 s ist sowohl für die bakteri-          ­erforderlich. Virologische Prüfungen zum Nach-
  zide als auch die begrenzt viruzide Wirksamkeit für           weis der „begrenzt viruziden“ Wirksamkeit liegen
  folgende Lösungen belegt: 4, 5, 7, 22                         für diese Formulierungen nicht vor. Für beide For-
                                                                mulierungen ist lediglich die Wirksamkeit gegen
  ▶▶   WHO-Formulierung I modifiziert mit 80 %                  Bovines Virusdiarrhoe-Virus (BVDV) und HCV
       (w/w)* Ethanol, entspricht 85,5 % (v/v)**                ­belegt.24

                                                               Die WHO-Formulierung I auf Ethanolbasis war
                                                               ­zudem gegen die Prüfviren des Wirkbereichs „be-
  *      w/w weight/weight (Massenprozent)                      grenzt viruzid PLUS“ (Adeno- und murines Noro­
  **     volume/volume (Volumenprozent)                         virus) wirk­sam.24
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