Fall 6: Bruno Baulustig und die Baulust

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Professor Dr. Christoph Enders                                              Wintersemester 2013/2014
LEO Baurecht – Fälle und Lösungen

                  Fall 6: Bruno Baulustig und die Baulust

prozessual: isolierte Anfechtungsklage gegen einen Widerspruchsbescheid; Zulässigkeit und Begründetheit eines
Nachbarwiderspruchs; Verpflichtungsklage auf Erlass eines Widerspruchsbescheides
materiell-rechtlich: Rechtsgrundlage für den Widerspruchsbescheid; Zulässigkeit eines Vorhabens im
unbeplanten Innenbereich; Baugenehmigung mit stillem Dispens

Ausgangsfall
Bruno Baulustig (B) besitzt ein Grundstück mit einem zweigeschossigen Haus in der kleinen
sächsischen kreisangehörigen Gemeinde Alf. Das Grundstück befindet sich in einem Gebiet,
für welches kein Bebauungsplan existiert. Dieses Gebiet ist durch Wohnbebauung geprägt. In
unmittelbarer Umgebung des Grundstücks befinden sich noch mehrere kleine Läden, die von
den umliegenden Bewohnern frequentiert werden, ein kleines Schuhfachgeschäft mit einer
Ein-Mann-Werkstatt, sowie eine Änderungsschneiderei und drei Restaurants.
Da B in seinem gut gehenden Architektenbüro häufig bis spät in die Nacht arbeitet, empfindet
er seinen bisherigen Arbeitsweg in die Innenstadt inzwischen als zu weit. Er beschließt
deshalb, sein Architektenbüro (sechs Angestellte) dadurch in die Nähe seiner Wohnung zu
verlegen, dass er einen zweigeschossigen Anbau seines Hauses plant und hierfür die
Baugenehmigung beantragt. Der Anbau soll auf dem ebenfalls ihm gehörenden
Nachbargrundstück errichtet werden und einen eigenen Eingang erhalten; bis auf ein Zimmer
im Dachgeschoss, in das der Sohn des B einziehen will, soll der Anbau der Unterbringung
seines Architektenbüros dienen; infolge der Großaufträge, die B bearbeitet, ist ein starker und
bis in die Abendstunden währender An- und Abfahrtsverkehr von Klienten und
Rechtsanwälten zu erwarten.
Die beantragte Baugenehmigung wird dem B am 02.01.2012 erteilt; Mitte Januar 2013
beginnt er mit den Bauarbeiten. Am 05.02.2013 ficht nun allerdings der Nachbar Norbert
Nixmach (N) die Baugenehmigung, die ihm seinerzeit nicht bekannt gegeben wurde, obwohl
er im Jahre 2011 am Verfahren beteiligt war, wegen Verstoßes gegen nachbarschützende
Vorschriften mit seinem Widerspruch an. Er müsse ein solches „gewerbliches“ Unternehmen
in dem sonst ruhigen Gebiet schließlich nicht hinnehmen. Daraufhin hebt die Landesdirektion
nach Anhörung des B, der auf seiner Rechtsposition beharrt und nur hilfsweise eine
Abweichung beantragt, die Baugenehmigung auf. Dazu führt sie aus, dass auch eine
ausnahmsweise Abweichung von den gesetzlichen Vorgaben zu Gunsten des B nicht in
Betracht kommt. Der Erhalt eines insgesamt ruhigen Wohngebiets sei insoweit vorrangig.
Nunmehr erhebt B fristgerecht Klage vor dem Verwaltungsgericht: Mit einem Widerspruch
habe er nach so langer Zeit nicht mehr zu rechnen brauchen. Sein Bauvorhaben genieße daher
unabhängig von möglichen Rechtsverstößen Bestandsschutz; jedenfalls müssten ihm die im
Vertrauen auf die Genehmigung getätigten Aufwendungen ersetzt werden. Darüber hinaus sei
schon gar nicht ersichtlich, wie N durch den Anbau gestört werden könne, dieser passe sich
baulich hervorragend an das Hauptgebäude an, und die darin ausgeübte Tätigkeit rufe
gleichfalls keine unzumutbaren Belästigungen für die Nachbarschaft hervor.

Frage: Wie sind die Erfolgsaussichten der Klage zu beurteilen?

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Abwandlung
Wie im Ausgangsfall, aber nach einem halben Jahr hat die Widerspruchsbehörde noch immer
nicht über den Widerspruch des N entschieden. Zu diesem Zeitpunkt ist der Anbau bereits
fertig. B will die unsichere Lage beenden. Er erhebt Klage vor dem Verwaltungsgericht, die
Widerspruchsbehörde zum Erlass eines Widerspruchsbescheids zu verpflichten.

Frage: Wäre eine solche Klage zulässig?

Vgl. BVerwGE 94, 151; BVerwG, NVwZ 1996, S. 787; BVerwG, DVBl 1996, S. 1315; BVerwG NVwZ 2001,
1284; VGH Mannheim, ESVGH 43, 142; speziell zum Begriff des Doppelhauses: BVerwG, NVwZ 2000, S.
1055; VGH München, NVwZ-RR 2001, S. 228; Dürr, Das öffentliche Baunachbarrecht, DÖV 1994, S. 841 ff.;
zur Abwandlung: Fallbearbeitung bei Heckmann, JuS 1999, S. 986.

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         Lösung Fall 6: Bruno Baulustig und die Baulust

Ausgangsfall: Klage des B vor dem VG gegen den Widerspruchsbescheid

A. Zulässigkeit

I. Verwaltungsrechtsweg

  Erforderlich ist zunächst, dass der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist. Mangels
  aufdrängender Sonderzuweisungen richtet sich dies nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
  Hiernach ist der Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten
  nichtverfassungsrechtlicher Art eröffnet. Die streitentscheidenden Normen entstammen in
  diesem Fall dem öffentlichen Baurecht und sind damit öffentlich-rechtlicher Natur. Eine
  öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art liegt vor (da mit B ein
  Bürger beteiligt), eine abdrängende Sonderzuweisung besteht nicht.

  Der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 VwGO ist eröffnet.

II. Statthafte Klageart

  Entscheidend für die Bestimmung der statthaften Klageart ist das Begehren des Klägers.
  Im Ergebnis will der B die Baugenehmigung, einen (begünstigenden) VA (vgl. § 35
  VwVfG) erstreiten. Die vorliegende Situation unterscheidet sich jedoch insofern von der
  Situation der Verpflichtungsklage, als B die begehrte Begünstigung ursprünglich von der
  Ausgangsbehörde zugesprochen wurde. Er wurde erst durch den aufhebenden
  Widerspruchsbescheid beschwert. Für diesen Fall lässt § 79 Abs. 1 Nr. 2 VwGO die
  alleinige „isolierte Anfechtung“ des allein belastenden Widerspruchsbescheids zu; der
  ursprüngliche    begünstigende        VA     lebt     danach     wieder   auf    (vgl.   Schenke,
  Verwaltungsprozessrecht, Rdnr. 281a).

  Richtige Klageart ist folglich die Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1, 1. Alt. VwGO
  (einschränkend Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 14, Rdnr. 18: Das Wiederaufleben des
  VA ist nur dann denkbar, wenn man auch dem aufgehobenen VA noch eine latent
  fortexistierende „innere Wirksamkeit“ zugesteht, die zumindest bis zum Eintritt der
  Unanfechtbarkeit der Aufhebung durch den Widerspruchsbescheid besteht. Dogmatisch
  richtiger,   zumindest   vertretbar    ist   seiner    Ansicht    nach    in    diesem   Fall   die
  Verpflichtungsklage auf die beantragte und durch den Widerspruchsbescheid aufgehobene
  Baugenehmigung. Folgt man dieser Ansicht, so müsste man in der Begründetheit zunächst
  einen materiell-rechtlichen Anspruch des Bauherrn auf Erteilung der Baugenehmigung

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  prüfen. Nur sofern dieser besteht, hat B auch Anspruch auf Fortbestehen der ursprünglich
  erteilten Baugenehmigung. Der Widerspruchsbescheid wäre dann rechtswidrig.)

III. Klagebefugnis

  Nach    §   42     Abs.   2   VwGO    muss   B   geltend    machen   können,    durch   den
  Widerspruchsbescheid in seinen Rechten verletzt zu sein. B ist Adressat des ihn
  belastenden      (weil    die   ihn   begünstigende        Baugenehmigung      aufhebenden)
  Widerspruchsbescheids. Aus diesem Grund besteht die Möglichkeit, dass er zumindest in
  seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt ist (sog. Adressatentheorie). Außerdem
  hat B nach § 72 Abs. 1 SächsBO bei Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen einen
  Anspruch auf Erteilung der Baugenehmigung. Wenn ihm diese nun wieder genommen
  wird, besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass B in seinem Recht aus § 72 Abs. 1
  SächsBO verletzt ist. B ist klagebefugt. (Soweit eine Verpflichtungsklage statthaft ist,
  ergibt sich hieraus dann die Klagebefugnis, da die Möglichkeit der Verletzung in einem
  subjektiven öffentlichen Recht besteht).

IV. Passive Prozessführungsbefugnis

  Fraglich ist, wer passiv prozessführungsbefugt ist. Dies richtet sich nach § 78 Abs. 1 Nr.1
  i. V. mit § 78 Abs. 2 VwGO: Die Klage muss gegen den Rechtsträger der Behörde
  gerichtet werden, die den Widerspruchsbescheid erlassen hat. Rechtsträger der hier tätig
  gewordenen Widerspruchsbehörde, der Landesdirektion, ist der Freistaat Sachsen. Er ist
  folglich passiv prozessführungsbefugt.

V. Beteiligtenfähigkeit

  B ist als natürliche Person beteiligtenfähig nach § 61 Nr. 1, 1. Alt. VwGO. Die
  Beteiligtenfähigkeit des Freistaates Sachsen als juristische Person des öffentlichen Rechts
  richtet sich gleichfalls nach § 61 Nr. 1, 2. Alt. VwGO; § 6 Abs. 1 Satz 1 SächsVwOrgG.

VI. Prozessfähigkeit

  Die Prozessfähigkeit des B ergibt sich aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO. Der Freistaat Sachsen
  wird gemäß § 62 Abs. 3 VwGO, § 58 Abs. 1 Nr. 1 SächsJG i.V.m. § 4 Abs. 1
  SächsVertrVO durch den Präsidenten der Landesdirektion gesetzlich vertreten.

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VII. Vorverfahren

  Ein erneutes Vorverfahren ist nach § 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO entbehrlich, denn
  die Widerspruchsbehörde hat bereits entschieden (vgl. Bosch/ Schmidt, Praktische
  Einführung, § 26 III 2., S.126; Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 6, Rdnr. 22). Bei einer
  Verpflichtungsklage würde dasselbe gelten, vgl. § 68 Abs. 2 VwGO.

VIII. Klagefrist

  Laut Sachverhalt ist davon auszugehen, dass B die Klagefrist des § 74 Abs. 1 Satz 1
  VwGO eingehalten hat.

IX. Zwischenergebnis

  Die Klage des B ist zulässig.

B. Notwendige Beiladung

  Nach teilweise vertretener Auffassung gehört die Beiladung nicht zur Prüfung der
  „Erfolgsaussichten einer Klage“ des Bauherrn (ihre Prüfung wird daher im Gutachten als
  verfehlt betrachtet), sie wird aber vom Gericht (praktisch) geprüft werden müssen, um die
  Bindungswirkung zu erreichen.

  Nach § 65 Abs. 2 VwGO sind Dritte beizuladen, die an einem Rechtsverhältnis derart
  beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann.
  Gäbe das Gericht der Klage statt, so wäre auch der Nachbar N betroffen, denn der ihn
  begünstigende Widerspruchsbescheid müsste aufgehoben werden. N ist folglich derart an
  dem Rechtsverhältnis beteiligt, dass die Entscheidung des Gerichts auch ihm gegenüber
  einheitlich ergehen muss. Folglich ist N beizuladen.

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C. Begründetheit

  Die Klage des B wäre begründet, wenn die Aufhebung der Baugenehmigung rechtswidrig
  und B hierdurch in seinen Rechten verletzt wäre, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

  Im Fall der Verpflichtungsklage nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, wenn die Ablehnung der
  Erteilung rechtswidrig und B dadurch in seinen Rechten verletzt ist. Das ist dann der Fall,
  wenn er einen Anspruch auf Erteilung der Baugenehmigung hat.

I. Rechtmäßigkeit der Aufhebung

  1. Rechtsgrundlage

     Rechtsgrundlage der Aufhebung sind die §§ 68 ff. VwGO.

  Anmerkung: Rechtsgrundlage sind also nicht § 1 SächsVwVfZG, §§ 50, 48 Abs. 1 VwVfG
  [Rücknahme eines rechtswidrigen VA]. Einerseits handelt es sich bei dem Vorverfahren
  und dem möglichen Rücknahmeverfahren um zwei voneinander zu trennende
  selbstständige Verwaltungsverfahren. Andererseits ist die Landesdirektion nach § 1
  SächsVwVfZG, § 48 VwVfG (Abs. 5 regelt insoweit nur die örtliche Zuständigkeit, vgl.
  Kopp/Ramsauer, VwVfG, 6. Aufl. 2000, § 48 Rdnr. 148), § 57 Abs. 1 Satz 2, Satz 2 Nr. 1
  SächsBO unzuständig. Nach ganz h. A. wendet sich deshalb auch § 50 VwVfG
  ausschließlich an die Ausgangsbehörde (vgl. Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht,
  4. Auflage, 1995, § 64 Rdn. 6; § 61 Rdnr. 4; a. A. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 6. Aufl. 2000, §
  50 Rdnr. 30; ausführliche Nachweise zum Streitstand bei Remmert, VerwArch 91 [2000],
  S. 209 [210, Fn. 6]; Zweifel an § 68 ff.VwGO werden dabei hauptsächlich aus
  Kompetenzgründen geltend gemacht, vgl. Pestalozza, in: von Mangoldt/Klein/Pestalozza,
  GG, Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Rdnr. 109, 112, 114, 125 f., 165 ff. ). Die Landesdirektion hat
  allenfalls nach Missachtung einer schriftlichen Weisung und Fristsetzung zur Rücknahme
  gegenüber dem Landkreis ein Selbsteintrittsrecht, §§ 58 Abs. 1 und 5 Satz 1, 57 Abs. 1 Satz
  1 Nr. 2 SächsBO. Eine derartige Weisung ist dem Sachverhalt nach nicht ersichtlich. Es
  kann in der vorliegenden Situation außerdem dahinstehen, ob und inwieweit bei der
  Aufhebung des VA die Einschränkungen der Vorschriften der §§ 48, 49 VwVfG bzw. der
  entsprechenden Regelungen der Landes-VwVfG zu beachten sind (vgl. hierzu bereits Fall
  4). Denn hier hat nicht der Widerspruchsführer Widerspruch gegen den aufgehobenen VA
  erhoben, sondern ein Dritter, so dass ohnehin die Vorschrift des § 50 VwVfG zur
  Anwendung gelangen müsste.

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  2. Formelle Rechtmäßigkeit

    a) Zuständigkeit

       Hier   hat   die   Landesdirektion    den   Widerspruchsbescheid    erlassen.    Ihre
       Zuständigkeit richtet sich nach den §§ 73 Abs. 1 Nr. 1 VwGO. Die Erteilung der
       Baugenehmigung liegt gemäß § 57 Abs. 1 Satz 2, Satz 1 Nr. 1 SächsBO
       grundsätzlich im Aufgabenbereich des Landkreises als unterer Bauaufsichtsbehörde.
       Mangels gegenteiliger Angaben im Sachverhalt kann davon ausgegangen werden,
       dass dieser dem B die Baugenehmigung auch erteilt hat. Demzufolge war die
       Landesdirektion als nächst höhere Behörde (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SächsBO,
       obere Bauaufsichtsbehörde) für den Erlass des Widerspruchsbescheids zuständig.

    b) Verfahrensfehler

       Nach § 71 VwGO soll derjenige, der durch das Widerspruchsverfahren beschwert
       wird, vor Erlass des Widerspruchsbescheids gehört werden. B ist selbst der erstmalig
       durch die Aufhebung der Baugenehmigung Beschwerte (während N den
       Widerspruch geführt hat).

       Eine Anhörung ist laut Sachverhalt auch erfolgt.

    c) Form

       Nach § 73 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist der Widerspruchsbescheid zu begründen, mit
       einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen und zuzustellen.

  3. Materielle Rechtmäßigkeit

    Die Aufhebung der Baugenehmigung (im Widerspruchsverfahren) wäre materiell
    rechtswidrig, wenn der Widerspruch des N unzulässig oder unbegründet gewesen
    ist. Denn: Während im zweiseitigen Rechtsverhältnis Vertrauensschutzgesichtspunkte
    (zugunsten des Widerspruchsführers) nicht zum Tragen kommen, steht der
    Widerspruchsbehörde mit Rücksicht auf die Dritt-Rechtsposition des B nur eine
    eingeschränkte Sachherrschaft über das Verfahren zu (vgl. BVerwGE 65, 313 [318
    f.]).

    Die Aufhebung wäre daher nur rechtmäßig, wenn der Widerspruch des Nachbarn
    zulässig und begründet ist, soweit es auf eine Ermessensentscheidung der
    Widerspruchsbehörde ankommt (Ausnahme, Befreiung zugunsten des Bauherrn?), auch
    dann, wenn die Widerspruchsbehörde ermessensfehlerfrei zu Gunsten des Nachbarn

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    entschieden hat. Die Aufhebung wäre in diesem Fall insbes. rechtswidrig, wenn das
    (Ausnahme-/Befreiungs-) Ermessen der Widerspruchsbehörde zugunsten des
    Bauherrn B auf Null reduziert war (vgl. dazu BVerwGE 117, 50 [54 ff.]) .

    a) Zulässigkeit des Widerspruchs des N

       Ist ein Widerspruch des N unzulässig, so ist er zurückzuweisen; die
       Widerspruchsbehörde ist in diesem Fall nicht berechtigt, zur Sache zu entscheiden.
       Die                   Zulässigkeitsvoraussetzungen          sind          insofern
       Sachentscheidungsvoraussetzungen des Widerspruchsbescheids (Dies gilt selbst
       dann, wenn mit dem BVerwG eine Sachherrschaft der Widerspruchsbehörde
       angenommen wird, da insoweit ein Dritter – der B – schon eine Rechtsposition
       innehat, vgl. Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 9, Rdnr. 7 m. w. N.).

       Zulässig        ist     der   Widerspruch     des      N     bei   Vorliegen   der
       Sachentscheidungsvoraussetzungen.

       aa) Streitigkeit, für die der Verwaltungsrechtsweg eröffnet wäre

          Streitentscheidende Normen sind öffentlich-rechtliche, solche des BauGB und der
          SächsBO. Daher liegt eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungs-
          rechtlicher Art vor, der Verwaltungsrechtsweg ist analog § 40 Abs. 1 Satz 1
          VwGO eröffnet.

       bb) Statthaftigkeit

          Der Widerspruch des N wäre gem. § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO vor Erhebung der
          Anfechtungsklage statthaft. N müsste sich folglich gegen einen ihn belastenden
          VA wenden, vgl. § 42 Abs. 1, 1. Alt. VwGO. Der Widerspruch des N richtet sich
          gegen die Baugenehmigung, die dem B erteilt wurde. Diese stellt einen VA
          i. S. des § 1 SächsVwVfZG, § 35 VwVfG dar. Der Widerspruch ist demnach
          statthaft.

       cc) Widerspruchserhebung bei zuständiger Behörde

          Mangels weiterer SV-Angaben ist davon auszugehen, dass N sich an die
          Ausgangsbehörde, d.h. den Landkreis, oder Widerspruchsbehörde gewandt hat, §
          70 Abs. 1 VwGO.

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       dd) Beteiligtenbezogene Zulässigkeitsvoraussetzungen

         N ist nach § 1 SächsVwVfZG i.V.m. § 11 Nr. 1 VwVfG beteiligtenfähig und nach
         § 12 Nr.1 VwVfG handlungsfähig.

       ee) Widerspruchsbefugnis

         Analog § 42 Abs. 2 VwGO muss N geltend machen können, durch den
         angegriffenen VA in eigenen Rechten verletzt zu sein. Da N nicht Adressat der
         Baugenehmigung ist (dies war nur der B), ist die Adressatentheorie in diesem
         Fall nicht anwendbar.

         Auf einen Verstoß gegen § 70 SächsBO kann sich N nicht berufen, da er am
         Verfahren beteiligt war.

         Als drittschützende Normen, die verletzt sein könnten, kommen hier aber
         Normen des Bauplanungsrechts in Betracht, die die Zulässigkeit des Vorhabens
         des B regeln. Voraussetzung ist, dass es sich um ein Vorhaben nach § 29 BauGB
         handelt:

         Nach § 29 Abs. 1 BauGB ist der Anwendungsbereich der §§ 30 ff. BauGB dann
         eröffnet, wenn es sich um ein Vorhaben handelt, das die Errichtung, Änderung
         oder Nutzungsänderung von baulichen Anlagen zum Inhalt hat. Der
         Vorhabenbegriff bezieht sich einmal (Merkmal des Bauens) auf bauliche
         Anlagen, die in einer auf Dauer gedachten Weise künstlich mit dem Erdboden
         verbunden sind. Zum anderen muss das Vorhaben i. S. des § 29 Abs. 1 BauGB,
         die Errichtung, Änderung oder Nutzungsänderung, abweichend von §§ 59 Abs. 1,
         2 Abs. 1 SächsBO, von einiger bodenrechtlicher Relevanz sein (vgl. dazu
         E/Z/B, BauGB, § 29 Rdnr. 24, 28). Diese Voraussetzungen sind bei dem Anbau,
         um den es hier geht, erfüllt: dabei kann zunächst offen bleiben, ob es sich um die
         Änderung einer bestehenden baulichen Anlage handelt oder eine Neuerrichtung
         (eines Doppelhauses) vorliegt. Der Anbau ist schon angesichts seiner Größe, vor
         allem aber wegen der ihm zugedachten Funktion (dazu E/Z/B, a.a.O., Rdnr. 29)
         geeignet, die in § 1 Abs. 6 (hier etwa: Nr. 1: allgemeine Anforderungen an
         gesunde Wohn- u. Arbeitsbverhältnisse) BauGB genannten Belange in einer
         Weise zu berühren, die das Bedürfnis nach einer ihre Zulässigkeit verbindlich
         regelnden Bauleitplanung hervorruft (Verhältnis Wohnnutzung – störende
         gewerbliche/freiberufliche Nutzung).

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         Für das Baugebiet besteht selbst kein B-Plan, so dass sich die Frage der
         bauplanungsrechtlichen     Zulässigkeit    und     damit     die      möglichen
         nachbarschützenden Normen nach § 34 BauGB richtet (dass das Vorhaben
         nicht im Außenbereich liegt, ergibt sich hier daraus, dass umliegend Bebauung
         vorhanden ist, die den Eindruck der Geschlossenheit und Zusammengehörigkeit
         vermittelt und Ausdruck einer organischen Siedlungsstruktur ist, so dass ein im
         Zusammenhang bebauter Ortsteil besteht). Danach muss es sich nach Art und
         Maß in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen. Hier könnte die Eigenart
         der Umgebung einem der Baugebiete nach BauNVO entsprechen, so dass sich die
         Zulässigkeit der Art des Vorhabens nach den § 1 Abs. 2, §§ 2 ff. BauNVO richten
         könnte, vgl. § 34 Abs. 2 BauGB:

         Damit stellt sich die Frage, ob dem Nachbarn aus dem Gebot des „Einfügens“
         hinsichtlich der Art ein eigenes, ein subjektives öffentliches Recht entstehen
         kann, ob er sich auf einen möglichen Verstoß hiergegen berufen darf: Nach der
         Schutznormtheorie ist dies dann der Fall, wenn die Norm zumindest auch seinen
         Rechten zu dienen bestimmt ist und er sich darauf berufen kann (vgl. BVerwG,
         DVBl 1999, 101 [102]). Werden Baugebiete nach der BauNVO in einem
         Bebauungsplan festgesetzt, so hat diese Festsetzung nach neuerer Auffassung des
         BVerwG kraft Bundesrechts nachbarschützende Wirkung, d. h. der Nachbar darf
         sich auf die festgesetzte Gebietsart unabhängig davon berufen, ob die mögliche
         Abweichung ihn tatsächlich beeinträchtigt (vgl. BVerwGE 94, 151 [155]).
         Begründen lässt sich dies damit, dass die genannten Festsetzungen Inhalt und
         Schranken des Grundeigentums bestimmen und damit gleichzeitig auf den
         Ausgleich    möglicher   Bodennutzungskonflikte      abzielen.     „Bauplanungs-
         rechtlicher Nachbarschutz beruht damit auf dem Gedanken des wechselseitigen
         Austauschverhältnisses. Weil und soweit der Eigentümer eines Grundstücks in
         dessen Ausnutzung öffentlich-rechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, kann
         er deren Beachtung grundsätzlich auch im Verhältnis zum Nachbarn durchsetzen“
         (vgl. BVerwG, a.a.O., S. 155; BVerwG NVwZ 1996, 787, 788). Die
         Planbetroffenen werden so zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft
         verbunden.

         Aus der Verweisung in § 34 Abs. 2 BauGB hinsichtlich der Art der baulichen
         Nutzung auf die Festsetzungen der BauNVO ergibt sich, dass für solche –

                                                                                       10
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         „faktisch“ den in der BauNVO geregelten Gebieten gleichenden – Baugebiete der
         Bundesgesetzgeber einen entsprechenden Interessenausgleich vorgesehen hat, so
         dass sich der Nachbar auch hier auf die Einhaltung der Gebietsart kraft BauGB
         berufen darf (vgl. BVerwGE 94, 151 [156]; im Ergebnis ebenso Dürr, DÖV 1994,
         841 [848]; nicht nachbarschützend ist demgegenüber das Maß, BVerwG, UPR
         1995, 396): Gebietserhaltungsanspruch (BVerwG NVwZ-RR 1999, S. 105;
         BVerwG NVwZ 2004, S. 1244).

         Im hier zu bearbeitenden Sachverhalt kann das betroffene Gebiet entweder als
         (faktisches) Allgemeines Wohngebiet i. S. des § 4 BauNVO qualifiziert werden
         oder mit vertretbarer Argumentation auch noch als Reines Wohngebiet i. S. des §
         3 BauNVO (allerdings passen insoweit die Restaurants nicht hinein). Damit
         richtet sich die Zulässigkeit nach den Normen BauNVO betreffend die Art der
         baulichen Nutzung.

         § 13 BauNVO konkretisiert, inwieweit Gebäude und Räume für freie Berufe in
         diesem Gebiet zulässig sind. Die Vorschrift zielt darauf ab, dass der (Wohn-)
         Gebietscharakter gewahrt bleibt (BVerwGE 68, 324; BVerwG NVwZ 2001, 1284
         [1285]). § 13 BauNVO hat insofern an der nachbarschützenden Wirkung der
         Gebietsart teil, denn auch er betrifft die Art der baulichen Nutzung (vgl. BVerwG,
         NVwZ 1996, 787, 788). Es besteht die Möglichkeit, dass N durch die
         Genehmigung des Anbaus in seinem Recht auf Einhaltung der Gebietsart nach §§
         3 bzw. 4 i. V. mit § 13 BauNVO verletzt worden ist, denn es kann nicht völlig
         ausgeschlossen werden, dass der Anbau insofern den Anforderungen an die
         zulässige (gebietsypische) Art der baulichen Nutzung widerspricht.

         Anmerkung: Ein Rückgriff auf § 15 Abs. 1 BauNVO erübrigt sich. Der
         Nachbarschutz aus der Festsetzung des Baugebietes geht weiter als der Schutz
         des Rücksichtnahmegebotes in § 15 Abs. 1 BauNVO, der solche
         Beeinträchtigungen voraussetzt. Auf die Bewahrung der festgesetzten Gebietsart
         hat der Nachbar einen Anspruch auch dann, wenn das baugebietswidrige
         Vorhaben im Einzelfall noch nicht zu einer spürbaren und nachweisbaren
         Beeinträchtigung des Nachbarn führt (vgl. BVerwGE 94, 151, 161). Auch die
         Ausnahmen nach § 31 BauGB (zu dessen entspr. Anwendung im Bereich des § 34
         Abs. 2 BauGB, vgl. Erbguth/Wagner, Bauplanungsrecht, 3. Aufl. 1998, Rdnr. 395)
         brauchen nicht hinsichtlich ihrer nachbarschützenden Wirkungen untersucht zu
         werden. Ebenfalls muss die tatsächlich spürbare, nachweisbare Beeinträchtigung
         durch handgreifliche Betroffenheit oder besondere Intensität der
         Beeinträchtigung – anders als bei § 15 Abs. 1 BauNVO – nicht dargelegt werden.)

                                                                                        11
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       ff) Verfristung

          Die Monatsfrist des § 70 Abs. 1 VwGO, auch die Jahresfrist nach §§ 70 Abs. 2,
          58 Abs. 2 VwGO – eine Rechtsbehelfsbelehrung erfolgte nicht – werden nur bei
          ordnungsgemäßer Bekanntgabe in Lauf gesetzt, § 43 Abs. 1 VwVfG. Daran fehlt
          es. Der Widerspruch des N wäre danach nicht verfristet (vgl. Hufen, § 6, Rn. 34
          f.).

          Nach       überwiegender    Ansicht    folgen    jedoch    aus    dem      nachbarlichen
          Gemeinschaftsverhältnis        gemäß      Treu       und         Glauben      rechtliche
          Verhaltenspflichten. Auch ohne Bekanntgabe muss sich daher der Nachbar die –
          sichere – Kenntnis oder Kenntnismöglichkeit des Verwaltungsakts, z. B. durch
          sichtbare Bautätigkeit, zurechnen lassen. Unternimmt er keine rechtlichen
          Schritte, ist das Vertrauen des Bauherrn in den Bestand seiner Genehmigung
          geschützt und eine spätere Anfechtung durch den Nachbarn unzulässige
          Rechtsausübung. Deshalb gelten §§ 70, 58 Abs. 2 VwGO unmittelbar, so dass ab
          Kenntnis bzw. Kenntnismöglichkeit die Jahresfrist zu laufen beginnt (vgl.
          BVerwGE 44, 294, 298 ff.; vgl. Hufen, § 6, Rdnr. 49; Bosch/Schmidt, § 26 IV. 2.
          a. bb., S. 130). Hier hat N die Baugenehmigung nur wenige Wochen nach
          Aufnahme der Bautätigkeit und damit seiner Kenntnisnahmemöglichkeit
          angefochten (Seine frühere Beteiligung am Genehmigungsverfahren führt
          mangels      Mitteilung    eines   Ergebnisses    nicht    zu     einer    hinreichenden
          Kenntnismöglichkeit). Die Jahresfrist ist somit nicht ausgeschöpft und das
          Widerspruchsrecht noch nicht verwirkt worden.

    Exkurs:      Gegebenenfalls kann die Aufhebung eines VA auch nach Eintritt der
                 Bestandskraft begehrt werden.
                 Eine Aufhebung kann zunächst durch einen Antrag auf Wiederaufgreifen
                 des Verfahrens nach § 51 VwVfG erreicht werden (sogenanntes
                 "Wiederaufgreifen des Verfahrens im engeren Sinne"):
                 •       Zulässig ist ein solcher Antrag bei
                         -       Unanfechtbarkeit des VA, § 51 Abs. 1 VwVfG,
                         -       Fehlen groben Verschuldens, § 51 Abs. 2 VwVfG,
                         -       Einhaltung der Antragsfrist, § 51 Abs. 3 VwVfG und
                         -       schlüssiger      Darlegung    des   Wiederaufnahmegrundes
                                 (BVerwG, NJW 1982, 2204; OVG Münster, NVwZ 1986, 51).
                 •            Begründet ist ein solcher Antrag bei

                                                                                                12
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                   Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes i. S. des § 51 Abs. 1 Nr. 1 -3
                   VwVfG; Wiederaufnahmegründe sind:
                   -       nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage,
                           Beachte:    Eine    Änderung      der     höchstrichterlichen
                                       Rechtsprechung ist keine Änderung der Sach-
                                       und Rechtslage i.d.S. (vgl. BVerwG, NJW 1981,
                                       2595; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 7. Auflage, § 51
                                       Rdnr. 29 ff. m.w.N.).
                   -       Vorliegen eines neuen Beweismittels und
                           Beachte:    Eine neue Bewertung bereits bekannter
                                       Tatsachen reicht nicht aus. Der neuen Bewertung
                                       müssen auch neue Tatsachen zugrunde liegen.
                                       (vgl. BVerwG, NJW 1990, 199).
                   -       Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes i. S. des § 580 ZPO
              •           Ist ein Antrag i. S. des § 51 VwVfG zulässig und begründet,
                   muss die Behörde erneut in der Sache entscheiden, die Gegenstand
                   des VA war. Für die Frage, welche Entscheidung in der Sache zu
                   treffen ist oder - bei Ermessensentscheidungen - getroffen werden
                   kann, kommt es ausschließlich auf das in der Sache anzuwendende
                   materielle Recht im Zeitpunkt der nunmehr zu treffenden Entscheidung
                   an (vgl. BVerwG, NJW 1982, 2204; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 7.
                   Auflage, § 51 Rdnr. 18; a. A. wohl: OVG Münster, NVwZ 1986, 134).
              Darüber hinaus kann ein Antrag auf erneute Entscheidung auch
              unabhängig von den Voraussetzungen des § 51 VwVfG gestellt werden
              (sogenanntes "Wiederaufgreifen des Verfahrens i.w.S."); hier steht eine
              erneute Entscheidung grundsätzlich im Ermessen der Behörde; etwas
              anderes gilt nur dann, wenn infolge einer Ermessensreduzierung auf Null
              ausnahmsweise ein Anspruch auf erneute Entscheidung besteht (vgl.
              BVerwG NVwZ 2007, 709= Bspr Waldhoff JuS 2008, 266).
              •    Zulässig ist ein solcher Antrag bei
                   -        Unanfechtbarkeit des VA und
                   -        Vorliegen einer Beschwer des Betroffenen.
              •         Begründet ist ein solcher Antrag,
                   wenn infolge einer Ermessensreduzierung auf Null ein Anspruch auf
                   erneute Entscheidung besteht (vgl. BVerwGE 44, 333, [336]).
              •          Ist ein Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens i.w.S.
                   zulässig und begründet, muss die Behörde auch hier unter Beachtung
                   der oben genannten Maßgabe erneut in der Sache entscheiden.
              Sowohl gegen eine Ablehnung des Antrags auf Wiederaufgreifen des
              Verfahrens als auch gegen eine erneute Entscheidung durch die Behörde
              sind die allgemeinen Rechtsbehelfe gegeben (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG,
              7. Auflage, § 51 Rdnr. 53 ff. m.w.N.) Hat die Behörde einen Antrag
              abgelehnt oder ohne zureichenden Grund nicht in angemessener Frist
              darüber entschieden, so ist streitig, ob der Antragsteller (ggf. nach
              Durchführung eines Vorverfahrens)

                                                                                     13
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               •     sofort Klage auf Verpflichtung der Behörde auf Aufhebung oder
                     Änderung des VA erheben kann (so: BVerwG, NJW 1982, 2204,
                     allerdings zu einer nicht im Ermessen der Behörde stehenden
                     Entscheidung; dem folgend: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 7. Auflage, § 51
                     Rdnr. 53) oder
               •     zunächst Klage auf Verpflichtung der Behörde auf Wiederaufnahme
                     des Verfahrens erheben muss (Korber, DÖV 1982, 858 [559]).

       gg) Zwischenergebnis

         Der Widerspruch des N war zulässig.

    b) Begründetheit des Widerspruchs des N

       Der Widerspruch des N war auch begründet, sofern die Erteilung der
       Baugenehmigung rechtswidrig ist und den N in seinen Rechten verletzt, § 68 Abs. 1
       Satz 1 VwGO, § 113 Abs. 1 Satz 1 analog (vgl. Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 9
       Rdnr. 8).

       Zu beachten ist dabei, dass die Widerspruchsbehörde im Widerspruchsverfahren an
       die Stelle der Ausgangsbehörde tritt. Sie kann kraft ihrer Sachherrschaft über das
       Verfahren eigene Ermessenserwägungen anstellen und etwaige Ermessensfehler der
       Ausgangsbehörde „heilen“. Es darf hier also nicht (nur) darauf abgestellt werden, ob
       die „Erteilung der Baugenehmigung durch die Ausgangsbehörde rechtswidrig war“.
       Es kommt darauf an, ob die Widerspruchsbehörde die Baugenehmigung aufheben
       musste, weil die „Erteilung der Baugenehmigung rechtswidrig wäre“.

       Im Grundsatz ist die Entscheidung über die Erteilung der Baugenehmigung nach
       § 72 Abs. 1 SächsBO eine gebundene Entscheidung. Dennoch spielen auch
       Ermessenserwägungen eine Rolle: Ist die Baugenehmigung nur unter einer
       Ausnahme bzw. einer Befreiung i. S. des § 31 BauGB erteilbar, steht ihr Erlass
       im Ermessen der Verwaltung. Damit ist der Widerspruch des Nachbarn auch dann
       begründet (und damit die Aufhebung rechtmäßig), wenn trotz Vorliegens eines
       (Ausnahme-    bzw.    Befreiungs-)Tatbestands   die    Ausgangs-Entscheidung     der
       Bauaufsichtsbehörde (Erteilung der Baugenehmigung) unzweckmäßig war und die
       Widerspruchsbehörde     nunmehr    ihr   Ermessen     zu    Gunsten   des   Nachbarn
       rechtmäßigerweise ausüben durfte. Das setzt voraus, dass das Ausnahme-
       /Befreiungsermessen nicht zugunsten des B reduziert war.

                                                                                         14
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       Damit gibt es insgesamt drei Fallkonstellationen: Entweder die Behörde muss
       angesichts überragender Interessen ihr Ermessen zu Gunsten des Bauherrn ausüben
       (1) (Ermessensreduktion „auf Null“, etwa weil mangels gesetzlich anerkannter
       Ablehnungsgründe keine willkürfreie Ablehnung möglich ist, dazu BVerwGE 117,
       50 [54 ff.]) oder umgekehrt zu Gunsten des Nachbarn (2), etwa weil
       Nachbarrechtspositionen intensiv beeinträchtigt sind. Oder es sind zwar die
       tatbestandlichen Voraussetzungen einer Ausnahme oder Befreiung gegeben, ohne
       dass eine Ermessenreduktion besteht, so dass eine ermessensfehlerfreie Entscheidung
       in die eine wie die andere Richtung möglich ist (3). Gutachtlich ist also zunächst
       herauszuarbeiten, ob die Erteilung der Baugenehmigung überhaupt im Ermessen der
       Behörde steht, also die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ermessensnorm erfüllt
       sind, sodann, welche der drei Fallgruppen hier vorliegt. Schließlich wäre bei
       Fallgruppe (3) die Fehlerfreiheit der tatsächlichen Ermessensausübung der
       Widerspruchsbehörde (im Sachverhalt) zu prüfen.

       Mit Blick auf den Gebietserhaltungsanspruch des Nachbarn (Art der baulichen
       Nutzung) kommt aber in Fallgruppe (3) eine Ermessensausübung zugunsten des
       Bauherrn B nur ausnahmsweise in Betracht, etwa wenn vom seinem Vorhaben nicht
       die Gefahr einer späteren Wandlung des Gebietscharakters ausgeht. Zwar ist der
       Gebietserhaltungsanspruch von vornherein durch die Möglichkeit der Befreiung nach
       § 31 Abs. 2 BauGB begrenzt. Ihm kommt aber in den meisten Fällen ein nicht
       unerhebliches Gewicht zu (vgl. Wortlaut „Grundzüge der Planung“). Die Situation
       ist insofern anders als beim Anspruch (des Nachbarn) auf Einschreiten, in der die
       bloße Ausnahme-/Befreiungsmöglichkeit ausreicht, einen Einschreitensanspruch des
       Nachbarn zu verneinen.

       Eines ausdrücklichen Antrags (des Bauherrn) auf Ausnahme oder Befreiung nach
       § 31 BauGB wird es wohl nicht bedürfen, weil die Erteilung von Ausnahme oder
       Befreiung nach § 31 BauGB auch im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren zum
       Prüfprogramm der Behörde gehört (§ 63 S. 1 Nr. 1 SächsBO, nicht § 63 S. 1 Nr. 2
       SächsBO der nicht auf § 67 Abs. 2 Satz 1 und 2 SächsBO, sondern nur auf
       umliegende   Vorschriften   verweist;   vgl.   Jäde,   in:   Jäde/Dirnberger/Böhme,
       Bauordnungsrecht Sachsen, 41. AL August 2005, § 63 Rn. 31). Die Abweichung

                                                                                        15
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       muß aber ausdrücklich zugelassen werden (sonst: Ermessensfehler – Nichtgebrauch
       – wegen Verkennung der Notwendigkeit einer förmlichen Abweichung).

       Da die Widerspruchsbehörde im vorliegenden Fall nicht zu Gunsten des Bauherrn
       entschieden hat, kommt es indes auf die – grundsätzlich denkbare – Situation, dass
       sie ohne Ermessensreduzierung zu Gunsten des Bauherrn fehlerfrei entscheiden
       kann,     nicht   an.   Die   Widerspruchsbehörde    hat   die   Baugenehmigung      im
       Widerspruchsbescheid aufgehoben; das ist rechtmäßig, wenn das Vorhaben nicht
       genehmigungsbedürftig oder nicht genehmigungsfähig und auch eine Ausnahme
       oder Befreiung dem B nicht zu erteilen war (dabei tatbestandl. Voraussetzungen und
       Ermessen zu prüfen).

       aa) Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung

         (1) Formelle Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung

               Die Baugenehmigung könnte zum einen formell rechtswidrig sein. Mangels
               Angaben im Sachverhalt ist davon auszugehen, dass die Baugenehmigung von
               dem nach § 57 Abs. 1 Satz 2, Satz 1 Nr. 1 SächsBO zuständigen Landratsamt
               des Landkreises erteilt wurde (s. o. III 1 b aa). Sonstige Verfahrensfehler sind
               nicht ersichtlich.

               Die Baugenehmigung erging ohne formelle Verstöße.

         (2) Materielle Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung

               Zum anderen müssten die materiellen Voraussetzungen für den Erlass der
               Baugenehmigung vorgelegen haben.

               (a) Genehmigungsbedürftigkeit des Vorhabens

                  Das Vorhaben des N müsste zunächst genehmigungsbedürftig sein. Nach §
                  59 Abs. 1 SächsBO bedürfen die Errichtung, die Änderung, die
                  Nutzungsänderung      und    der   Abbruch      baulicher   Anlagen    einer
                  Baugenehmigung.

                  α Bauliche Anlage

                                                                                            16
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              Das Haus muss folglich als bauliche Anlage i. S. des SächsBO zu
              qualifizieren sein. Das ist so, denn eine bauliche Anlage ist nach § 2 Abs. 1
              Satz 1 SächsBO jede mit dem Erdboden verbundene, aus Bauprodukten
              hergestellte Anlage. B beabsichtigt entweder eine Änderung dieses
              Gebäudes oder gar die Errichtung eines weiteren Gebäudes (in
              geschlossener Bauweise), so dass sein Vorhaben grundsätzlich einer
              Baugenehmigung bedarf, soweit nicht § 60 SächsBO greift (hier: –) oder es
              sich nicht nur um ein verfahrensfreies oder genehmigungsfreigestelltes
              Vorhaben handelt.

              β Ausnahme nach § 61 SächsBO – Verfahrensfreiheit

              Die Genehmigungsbedürftigkeit könnte nach § 61 SächsBO entfallen. Eine
              Ausnahme nach dieser Vorschrift liegt indes nicht vor, insbes. handelt es
              sich nicht um Errichtung/Änderung eines Gebäudes nach Nr. 1 der
              Vorschrift, auch nicht um eine anforderungsneutrale Nutzungsänderung
              nach § 61 Abs. 2 SächsBO.

              γ Ausnahme nach § 62 SächsBO – Genehmigungsfreistellung

              In Betracht kommt jedoch der Ausnahmetatbestand des § 62 SächsBO,
              wonach die Errichtung und Änderung von Vorhaben genehmigungs-
              freigestellt ist. Dies gilt nach Abs. 1 für alle Vorhaben, die nicht
              Sonderbauten     i. S. des   §   2    Abs.     4     SächsBO    sind.    Die
              Genehmigungsfreistellung scheitert hier aber daran, dass für das
              entsprechende Gebiet gar kein Bebauungsplan existiert, und es damit an
              der Voraussetzung nach § 62 Abs. 2 Nr. 1 SächsBO fehlt.

              Das Vorhaben ist genehmigungsbedürftig.

            (b) Genehmigungsfähigkeit des Vorhabens

              Eine Baugenehmigung ist nach § 72 Abs. 1 SächsBO dann zu erteilen, wenn
              dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen
              (die im bauaufsichtlichen Verfahren zu prüfen sind). Der Prüfungsumfang
              folgt aus den §§ 63, 64 SächsBO. Nach § 63 SächsBO besteht für
              genehmigungsbedürftige Vorhaben, die keine Sonderbauten nach § 2 Abs. 4
              SächsBO sind, nur eine eingeschränkte Prüfungspflicht (=Vereinfachtes
              Baugenehmigungsverfahren). Um einen Sonderbau, insbesondere ein
                                                                                        17
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              Hochhaus handelt es sich bei dem Vorhaben des B nicht (vgl. § 2 Abs. 4
              Nr. 1 SächsBO). Die Genehmigung des Anbaus könnte gegen Bau-
              planungsrecht, welches auch im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren
              zu prüfen ist (vgl. § 63 Satz 1 Nr. 1 SächsBO), verstoßen.

              α Vorhaben nach § 29 BauGB: (+) s. o. bei Widerspruchsbefugnis, S. 7 ff.

              β Zulässigkeit nach § 34 BauGB

              Im Rahmen der Klagebefugnis wurde festgestellt, dass sich das Vorhaben in
              einem Gebiet befindet, das im Zusammenhang bebaut ist und daher als
              Innenbereich gelten kann, so dass es nach § 34 BauGB zulässig ist, wenn es
              sich nach Art und Maß usw. einfügt. Wenn die Umgebungsbebauung einem
              der in der BauNVO typisierten Baugebiete entspricht, richtet sich die
              Zulässigkeit hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung allein nach § 34
              Abs. 2 BauGB i. V. mit den Vorschriften der BauNVO (vgl. Krautzberger,
              in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 6. Aufl., § 34 Rn. 46, s. o. bei
              Widerspruchsbefugnis, S. 7 ff.).

              Die Umgebung könnte hier faktisch einem Gebiet nach § 3 oder § 4
              BauNVO entsprechen (s. o.), so dass sich auch die Zulässigkeit hinsichtlich
              der Art danach bemisst. Die Umgebungsbebauung weist laut Sachverhalt
              überwiegend Wohnbebauung auf. Das könnte auf ein Reines Wohngebiet
              nach § 3 BauNVO schließen lassen. Allerdings gibt es neben den kleinen,
              die Bewohner versorgenden Läden und nicht störenden Handwerksbetriebe
              (Schuh-Werkstatt) auch noch mehrere Restaurants, also Schank- und
              Speisewirtschaften nach der BauNVO: Diese sind im Reinen Wohngebiet
              auch nicht als Ausnahmen zugelassen (vgl. § 3 Abs. 2 BauNVO), so dass
              von einem faktischen Allgemeinen Wohngebiet i. S. des § 4 BauNVO
              auszugehen ist. Die Errichtung des Anbaus ist also der Art nach zulässig,
              wenn er nach § 4 BauNVO zulässig ist.

              Zulässigkeit nach § 34 Abs. 1 Abs. 1 Hs. 1 BauGB, § 4 Abs. 2, § 13 BauNVO

              Welche Vorhaben in einem Allgemeinen Wohngebiet zulässig sind, richtet
              sich nach § 4 Abs. 1 und 2 BauNVO, wonach dort nur Wohngebäude, der
              Versorgung des Gebietes dienende Läden, Schank- und Speisewirtschaften,

                                                                                         18
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              nicht störende Handwerksbetriebe und Anlagen für kirchliche, kulturelle,
              soziale, gesundheitliche und sportliche Zwecke errichtet werden dürfen.

              Für den Anbau des B enthält § 13 BauNVO eine spezielle Bestimmung, die
              die Zulässigkeit von Gebäuden und Räumen für freie Berufe regelt.

              Nach § 13 BauNVO sind für die Berufsausübung freiberuflich Tätiger und
              solcher Gewerbetreibender, die ihren Beruf in ähnlicher Art ausüben, in den
              Baugebieten nach den §§ 2 bis 4 BauNVO nur Räume zulässig, in den
              anderen Baugebieten dagegen auch Gebäude. Die Architektentätigkeit des B
              als freiberufliche Tätigkeit (vgl. § 1 Abs. 2 Satz 2 Var. 18 PartGG) wird von
              § 13 BauNVO erfasst. Sinn und Zweck der Regelung in § 13 BauNVO ist
              es, den Gebietscharakter, der bei einem Allgemeinen Wohngebiet nach § 4
              Abs. 1 BauNVO überwiegend durch Wohnnutzung geprägt ist, zu erhalten
              (hierzu BVerwG NVwZ 2001, 1284). Denn lediglich Wohngebäude sind,
              mit Ausnahmen, in einem Allgemeinen Wohngebiet zulässig. Die
              Beschränkung auf Räume macht gerade deutlich, dass trotz der
              Inanspruchnahme eines Gebäudes für freiberufliche oder gewerbliche
              Zwecke der Charakter als Wohngebäude gewahrt werden soll, d. h. die
              typische Prägung der Gebäude in den Wohngebieten durch die
              Wohnnutzung erhalten werden soll. Davon kann aber jedenfalls dann keine
              Rede mehr sein, wenn die Wohnfläche ganz überwiegend wohnfremd
              genutzt wird (vgl. BVerwG, NVwZ 1996, 787, 788: näher BVerwG NVwZ
              2001, 1284 zur 50%-Grenze). Ein ganzes Gebäude, das nur für
              (frei-)berufliche Zwecke genutzt wird, entspricht nicht mehr diesem
              Gebietscharakter.

              Es ist deshalb auch an dieser Stelle zu klären, ob es sich bei dem Anbau des
              B, der für sich betrachtet überwiegend zu wohnfremden Zwecken genutzt
              wird, um ein „Gebäude“ – hier i. S. des § 13 BauNVO – handelt oder
              lediglich um (zusätzliche) Räume im (erweiterten) Wohnhaus des B.

              § 13 BauNVO definiert nicht, ebenso wenig wie die Baugebietsvorschriften,
              auf die er Bezug nimmt, was unter einem Gebäude zu verstehen ist. Dem in
              den Vorschriften der §§ 2–9 BauNVO jeweils enthaltenen Zulässigkeits-
              katalog lässt sich immerhin entnehmen, dass der Gebäudebegriff als ein
              Anwendungsfall des allgemeinen Begriffs der (baulichen) Anlage mit
                                                                                        19
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              umfasst wird, auf den insbesondere auch § 29 BauGB abstellt. Mit Blick auf
              das anerkannte Phänomen von Doppelhäusern und angesichts der
              Tatsachen, dass der Anbau zum ursprünglichen Gebäudes bautechnisch
              abgeschlossen ist, einen eigenen Eingang erhält und zudem auf dem
              Nachbargrundstück gelegen ist, ist hier davon auszugehen, dass der Anbau
              sich nicht als eine „Anzahl von Räumen (im erweiterten ursprünglichen
              Gebäude)“ i. S. des § 13 BauNVO, sondern als „eigenständiges Gebäude“
              i. S. des § 13 BauNVO zu begreifen ist.

              Dafür spricht die in § 22 Abs. 3 BauNVO getroffene Regelung (hier wird
              ausdrücklich formuliert: „geschlossene Bauweise“ und „die Gebäude“). Vor
              allem aber kennzeichnet seine „funktionale Selbständigkeit“ den Anbau
              als eigenes „Gebäude“: Dem unbefangenen Betrachter erscheint der Anbau
              als ein „Büro-Gebäude“, das ausschließlich Büros von Freiberuflern
              beherbergt und das mit dem daneben liegenden Wohnhaus nur „baulich
              ganz besonders eng, i. S. eines Doppelhauses“ verbunden ist (vgl. zum
              Ganzen auch BVerwG, NVwZ 1996, 787 f.; VGH München, NVwZ-RR
              2001, 228)). Damit sind die Grenzen des § 13 BauNVO überschritten. Es
              handelt sich bei dem Anbau nicht mehr um „Räume“ i. S. der §§ 4 Abs. 1
              und 2, 13 BauNVO. Das Vorhaben ist damit nicht nach § 34 Abs. 1 Abs. 1
              Hs. 1 BauGB, § 4 Abs. 2, § 13 BauNVO zulässig.

              Zulässigkeit nach § 34 Abs. 1, Abs. 2; § 31 Abs. 1 und 2 BauGB

              Die Widerspruchs-Behörde könnte indessen das Vorhaben des B durch eine
              Ausnahme oder Befreiung (§ 31 BauGB mit § 34 Abs. 2 Hs. 2 BauGB)
              genehmigungsfähig machen. Sie wäre auch dazu verpflichtet, soweit – auch
              bei   Rücksicht    auf   die   Nachbarrechtsposition    des      N   –   das
              Abweichungsermessen zugunsten des Bauherrn B auf Null reduziert ist
              (s. o.; hier ist auch ein ausdrücklicher Antrag formuliert worden, auch wenn
              die Behörde die Voraussetzungen des § 31 BauGB nach § 63 Nr. 1
              SächsBO von Amts wegen zu prüfen hat). Der Ausnahmetatbestand des § 4
              Abs. 3 BauNVO scheidet indessen schon deshalb aus, weil § 13 BauNVO
              eine spezielle und abschließende Regelung der Zulässigkeit der Nutzungsart
              enthält.

                                                                                        20
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              [Im Übrigen käme nur eine Ausnahme nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO in
              Betracht. Hierfür müsste es sich bei dem Architekturbüro um einen nicht
              störenden Gewerbebetrieb handeln. Gewerbe ist jede selbständige,
              erlaubte, auf Gewinnerzielung gerichtete und auf eine gewisse Dauer
              ausgeübte Tätigkeit, mit Ausnahme der Urproduktion; künstlerischer und
              wissenschaftlicher     Tätigkeiten   und      Dienste     und      persönlicher
              Dienstleistungen „höherer Art“, die eine höhere Bildung (Hochschul-,
              Fachhochschulausbildung) erfordern (freie Berufe) sowie der bloßen
              Verwaltung eigenen Vermögens (vgl. dazu nur Landmann/ Rohmer, GewO,
              Einl., Rdnr. 32; Einl, Rdnr. 66 a. E.). Die Tätigkeit von Architekten stellt
              als freier Beruf (s. o.) keinen Gewerbebetrieb dar. Der Ausnahmetatbestand
              des § 4 Abs. 3 BauNVO ist nicht erfüllt. Das Vorhaben fügt sich daher nicht
              unter Berufung auf diese Vorschrift ein.]

              Schließlich könnte eine Befreiung i. S. des § 31 Abs. 2 BauGB zu erteilen
              sein: Durch § 34 Abs. 2 Hs. 2 BauGB wird der nicht beplante dem
              beplanten Innenbereich gleichgestellt. Es muss daher geprüft werden, ob die
              Baugenehmigung unter einer Befreiung von der „Regelbebauung“ des
              faktischen Baugebietes zu erteilen und daher der Widerspruch des N
              zurückzuweisen wäre.

              In Betracht kommt hier allein § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB, soweit die
              Abweichung „städtebaulich vertretbar“ ist. In keinem Fall dürfen aber die
              „Grundzüge     der    Planung“   berührt    werden:     Die   Zulassung    von
              Bürogebäuden     im    Allgemeinen    Wohngebiet        verstößt   gegen    die
              Gebietstypik (vgl. § 13 BauNVO) und damit gegen die Grundzüge der
              Planung. Außerdem wäre die Befreiung jedenfalls nicht i. S. des § 31
              Abs. 2, Hs. BauGB „ … auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen
              mit den öffentlichen Belangen vereinbar … “. Der Tatbestand des § 31
              Abs. 2 BauGB ist nicht erfüllt. Die Widerspruchsbehörde hat zutreffend
              erkannt, dass der erwartete An- und Abfahrt-Verkehr in einem Allgemeinen
              Wohngebiet nicht hingenommen werden kann, deshalb eine Befreiung
              zulässigerweise abgelehnt.

              Anmerkung: Darauf, dass die Ausgangsbehörde hier eine „faktische
              Befreiung“ erteilt hat, kommt es nicht an. Insoweit ist die
              Genehmigungserteilung allerdings außerdem ermessensfehlerhaft, worauf
                                                                                          21
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                sich der Nachbar aufgrund seines Gebietserhaltungsanspruchs berufen
                kann.
                Zwischenergebnis:

                Das Vorhaben des B war danach nach § 34 BauGB unzulässig.

                γ Zwischenergebnis

                Das Vorhaben des B war damit nicht genehmigungsfähig.

              (c) Zwischenergebnis

                Die Baugenehmigung darf dem B nicht erteilt werden.

          (3) Zwischenergebnis

              Die Erteilung einer Baugenehmigung an B wäre insgesamt rechtswidrig.

        bb) Rechtsverletzung

          Die rechtswidrige Erteilung der Baugenehmigung (unter Befreiung von den
          Regelanforderungen) würde den Nachbarn in seinem Gebietserhaltungsanspruch
          aus §§ 34 Abs. 2 BauGB, §§ 4, 13 BauNVO (hilfsweise in seinem Anspruch auf
          Rücksichtnahme, § 31 Abs. 2 Hs. 2 BauGB) verletzen.

     c) Zwischenergebnis

        Der Widerspruch des N war damit begründet.

  4. Zwischenergebnis

     Die Aufhebung der Baugenehmigung durch Widerspruchsbescheid war damit formell
     und materiell rechtmäßig.

II. Rechtsverletzung des B

  Weil die Aufhebung der Baugenehmigung rechtmäßig war, kann B hierdurch auch nicht in
  seinem Recht aus § 72 Abs. 1 SächsBO verletzt sein.

III. Zwischenergebnis

  Die Klage des B ist damit unbegründet

D. Ergebnis

                                                                                     22
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  Die Klage des B hat keine Aussicht auf Erfolg.

Fallabwandlung: Zulässigkeit der Klage des B

I. Verwaltungsrechtsweg

  Erforderlich ist zunächst, dass der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist. Mangels auf- oder
  abdrängender Sonderzuweisungen richtet sich dies nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
  Hiernach ist der Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten
  nichtverfassungsrechtlicher Art eröffnet. Die streitentscheidenden Normen entstammen in
  diesem Fall dem Baurecht und sind damit öffentlich-rechtlicher Natur. Eine öffentlich-
  rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art liegt vor, der Verwaltungsrechtsweg
  nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist eröffnet.

II. Statthafte Klageart

  Entscheidend für die Bestimmung der statthaften Klageart ist das Begehren des Klägers. B
  begehrt den Erlass eines Widerspruchsbescheids, den die Behörde bisher unterlassen hat.
  Dieser ist ein VA gem. § 1 SächsVwVfZG i.V.m. § 35 VwVfG (vgl. auch 79 Abs. 1 Nr. 1
  VwGO) (vgl. VGH Mannheim, ESVGH 43, 142). Statthafte Klageart ist somit die
  Verpflichtungsklage gem. § 42 Abs. 1, 2. Alt. VwGO.

III. Klagebefugnis

  Nach § 42 Abs. 2 VwGO muss B geltend machen können, durch die Unterlassung des VA
  in eigenen Rechten verletzt zu sein. Fraglich ist, welches Recht des B durch den
  Nichterlass des Widerspruchsbescheids verletzt sein könnte.

  1. § 73 Abs. 1 Satz 1 VwGO

     Grundsätzlich gibt es kein einklagbares subjektives Recht auf Erlass eines
     Widerspruchsbescheids. Ein solches lässt sich nicht aus § 73 Abs. 1 Satz 1 VwGO,
     wonach im Fall der Nichtabhilfe ein Widerspruchsbescheid „ergeht“, herleiten.

     § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO regelt aus kompetenzrechtlichen Gründen (Art. 74 Abs. 1 Nr.
     1 GG) das Widerspruchsverfahren nur als Vorverfahren eines Verwaltungsprozesses
     und normiert damit nur eine prozessuale Verpflichtung der Behörde. Diesen
     prozessualen Charakter teilt die Bescheidungspflicht nach § 73 Abs. 1 Satz 1 VwGO,
     womit auf deren Erfüllung kein subjektiv einklagbares Recht i. S. des § 42 Abs. 2
     VwGO besteht.
                                                                                          23
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    Dies zeigt auch die Regelung des § 75 VwGO, die für den Fall der Untätigkeit der
    Widerspruchsbehörde nur bestimmt, dass nach Ablauf der dort genannten Frist der
    materielle Anspruch als das Sachbegehren unmittelbar, d.h. ohne Durchführung eines
    Vorverfahrens mit der entsprechenden Klage verfolgt werden kann.

    Schließlich führt auch die Verletzung einer wesentlichen Verfahrensvorschrift im
    Vorverfahren, wenn der Widerspruchsbescheid hierauf beruht, gem. § 79 Abs. 2 Satz 2
    VwGO nur zur Aufhebung des Widerspruchsbescheids; ein Verpflichtungsausspruch
    gegenüber der Widerspruchsbehörde, einen neuen Widerspruch zu erlassen, erfolgt
    nicht. Die dahingehende, nur prozessuale Verpflichtung der Widerspruchsbehörde
    besteht aufgrund der weiterhin gegebenen Abhängigkeit des Widerspruchs besteht
    aufgrund der weiterhin gegebenen Abhängigkeit des Widerspruchs.

    § 73 Abs. 1 Satz 1 VwGO enthält folglich kein subjektives Recht auf Erlass eines
    Widerspruchsbescheids.

    (a. A.: Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl. 2000, vor § 68, Rdnr. 13; : Der Bürger hat im
    Hinblick auf den Rechtsschutzzweck des Vorverfahrens und weil im Rechtsstaat den
    Verpflichtungen der Verwaltung [„ergeht“] grundsätzlich subjektive Rechte der Bürger
    entsprechen, einen mit der Verpflichtungsklage verfolgbaren Anspruch auf Erlass des
    Widerspruchsbescheids.)

  2. Materieller Anspruch

    Zu beachten ist hier jedoch, dass der mit der Klage geltend gemachte Anspruch auf
    Erlass eines den Nachbarwiderspruch zurückweisenden Widerspruchsbescheids bei
    genauer Sicht nicht der soeben beschriebene und verneinte allgemeine Anspruch auf
    Erlass eines Widerspruchsbescheids ist, sondern das rechtstechnische Gewand für den
    dahinterstehenden materiellen Anspruch.

    Bei Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen hat B einen Anspruch auf Erlass der
    beantragten Baugenehmigung nach § 72 Abs. 1 SächsBO. Dieser Anspruch ist auf eine
    bestandskräftige   Baugenehmigung    gerichtet,   denn   nur   eine   bestandskräftige
    Baugenehmigung ist eine vollwertige i.S.v. Art 14 Abs. 1 GG, § 72 Abs. 1 SächsBO.
    Das Eintreten der Bestandskraft wurde aber bisher durch die Einlegung des
    Nachbarwiderspruchs verhindert. Dieses Manko kann der Bauherr nur mit Erhebung der
    hier in Frage stehenden Klage beheben (vgl. VGH Mannheim, ESVGH 43, 142, 144).

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