Gehirnzellen im Stress - Neurobiologie

 
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Gehirnzellen im Stress - Neurobiologie
Neurobiologie

                                        Gehirnzellen im Stress
                        Von Christiane Richter-Landsberg, Olaf Goldbaum und Thomas Stahnke

  Zellulärer Stress, ausgelöst durch Fak-
  toren wie Hitze, Kälte, Umweltgifte und
  Entzündungen, führt in vielen Fällen
  zu einer Schädigung der Eiweiß-Mole-
  küle, die sich nicht mehr korrekt falten
  können und sich in der Zelle ablagern.
  Zum Schutz dagegen haben Zellen ein
  „Notfallprogramm“ entwickelt und rea-
  gieren mit der Bildung von Hitzeschock-
  proteinen oder Stressproteinen. Diese
  haben vielfältige Aufgaben und sind
  für den Schutz unserer empfindlichen
  Gehirnzellen von besonderer Bedeutung.
  Die Mechanismen, die in den Gehirnen
  von Patienten mit neurodegenerativen
  Erkrankungen, wie Alzheimer und Parkin-
  son, zu Ablagerungen von Proteinen, die
  nicht mehr abgebaut werden können,
  und zum Zelltod führen, und die Frage,
  ob Stressproteine dem entgegenwirken
  können, sind ein Forschungsschwerpunkt
  der Arbeitsgruppe Molekulare Neuro-
  biologie/Neurochemie.                                                                                                   Stressoren und biolo-
                                                                                                                          gische Signale wirken
                                                                                                                          auf Zellen ein und füh-
                                                                                                                          ren zu einer vermehr-
                                                                                                                          ten Produktion von
                                                                                                                          Hitzeschockproteinen
                                                                                                                          (HSP) oder so genann-
                                                                                                                          ten Stressproteinen.
                                                                                                                          Diese Stressproteine
                                                                                                                          dienen zellulären
                                                                                                                          Reparaturprozessen
                                                                                                                          und bieten Schutz.

                                                   I ch bin total im Stress!“ ist eine häufige
                                                     Antwort auf die Frage „Wie geht’s?“ Stress
                                                   ist das Gegenteil von Entspannung. Stress
                                                                                                   können ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen,
                                                                                                   was schwerwiegende Folgen für unsere
                                                                                                   Gesundheit hat. Stress führt zu einer Störung
                                                   bedeutet Druck oder Belastung, z.B. durch       des inneren Gleichgewichts (Homöostase) der
                                                   zu viel Arbeit, Probleme in der Familie oder    Zellen und wird durch eine Vielzahl stressaus-
  The brain is the most sensitive target for       Angstzustände. Dauerhafter Stress kann zu       lösender Faktoren erzeugt, die als Stressoren
  stress situations, including heat, environ-
                                                   physischen und psychischen Erkrankungen         bezeichnet werden. Stressoren sind z.B. Hitze,
  mental strains and viral infections. These
  stressors often lead to the appearance of
                                                   führen, zu chronischen Entzündungen,            Kälte, UV-Strahlung, freie Radikale (oxidati-
  misfolded proteins, and cause the pro-           Schlaflosigkeit und Depressionen. Unser         ver Stress), chemische Stoffe, Umweltgifte,
  duction of heat shock proteins or stress         Gesundheitszustand wird aber auch durch         Bakterien, Viren und Entzündungsfaktoren.
  proteins that act as an emergency system         solche Stresseinflüsse angegriffen, die direkt   Zellulärer Stress führt in vielen Fällen zu
  to protect our sensitive brain cells. The        auf unsere Zellen wirken und sie verletzen.     einer Schädigung von Proteinen, den Eiweiß-
  role of stress proteins and cellular stress      Dieser zelluläre Stress auf molekularem         Molekülen, die aus Ketten von Aminosäuren
  responses in brain cells and their impli-        Niveau ist Thema dieses Artikels.               bestehen. Proteine sind wichtige Funktions-
  cation for neurodegenerative disorders is        Zellen sind die lebenden Bausteine unseres      träger der lebenden Zelle. Ihre Funktionen
  the focus of the present report.                 Organismus. Geraten Zellen unter Stress,        hängen von der korrekten Faltung zu dreidi-
                                                   werden sie empfindlich geschädigt und           mensionalen Strukturen ab. Falsch gefaltete

E I N B L I C K E N r. 4 4 / H e r b s t 2 0 0 6
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Gehirnzellen im Stress - Neurobiologie
EINBLICKE NR. 44                                                                                                                               5

Proteine können sich mit anderen Proteinen       Zellen und Gewebe (Trauma), auch beim           und erfüllen wichtige Funktionen bei Zell-
verknäulen, zu Klumpen (Aggregaten) verfil-       Alterungsprozess und bei degenerativen          erkennungsprozessen und der Stoffwech-
zen und in der Zelle ablagern.                   Erkrankungen des Nervensystems, wird ein        selregulation. Oligodendrozyten bilden die
                                                 verändertes Vorkommen von HSP beobach-          weiße Substanz (Myelin). Myelin wird um
Stressproteine als Zellenschutz                  tet. Die Menge an Stressproteinen ist ein       Nervenzellfortsätze (Axone) als eine Art
                                                 Messparameter für den Belastungszustand,        Isolierung gewickelt und ist zur Beschleuni-
Z    um Schutz gegen Stressoren und zu
     „zellulären Reparaturzwecken“ haben
Zellen ein Notfallprogramm entwickelt. Beim
                                                 das Gesamtausmaß an Schädigungen und die
                                                 dagegen mobilisierten Schutzmaßnahmen. So
                                                                                                 gung der Nervenreizweiterleitung von großer
                                                                                                 Bedeutung. Bei Entmarkungsprozessen (so
Einsetzen von Stress werden sehr schnell         sind Stressproteine aus medizinischer Sicht     genannten demyelinisierenden Prozessen),
Stressproteine hergestellt, die auch „Hitze-     von großer Bedeutung. Man hofft unter ande-     die vor allem bei der Multiplen Sklerose
schockproteine“ (HSP) genannt werden, da         rem, diese Proteine gezielt zu diagnostischen   eine Rolle spielen, werden sie geschädigt.
man sie ursprünglich nach Einwirkung von         Zwecken einsetzen zu können. Im Zentralen       In den entmarkten Regionen wurde eine
Temperaturerhöhungen entdeckt hatte. Einige      Nervensystem (ZNS) werden eine Reihe von        Hochregulierung von bestimmten kleinen
davon sind auch dann aktiv, wenn die Zelle       HSP konstitutiv gebildet, und der Induktion     HSP beobachtet, was auf die Beteiligung
nicht unter Stresseinwirkung steht. HSP erfül-   von HSP wird schützende Wirkung auf Ner-        von Stressfaktoren beim Krankheitsablauf
len verschiedene Aufgaben in einer Zelle. Sie    venzellen, die der Informationsübertragung      hindeutet.
sind beteiligt an Entwicklungsvorgängen, am      dienen, zugesprochen. Auch Gliazellen, zu       Im lebenden Organismus kann die Reaktion
Proteintransport zu den Zellorganellen, dem      denen die Astrozyten und Oligodendrozyten       der Zellen auf Stresssignale im zeitlichen
Abbau von Proteinen, und sie beschleunigen       gehören, profitieren davon.                      Ablauf nur schwer verfolgt werden, aber
die korrekte Faltung von neu-synthetisierten     Schwerpunkt unserer Arbeitsgruppe ist die       in Zellkulturmodellsystemen ist dies mög-
Proteinen. HSP sind zudem wichtig für die        Analyse und funktionelle Bedeutung der          lich. Auch individuelle Zelltypen können
Protein-Zusammenlagerung und Protein-Sta-        HSP in Astrozyten und Oligodendrozyten.         beobachtet werden. Wir haben in unserem
bilisierung und verhindern deren Aggregation.    Astrozyten fungieren als Stützzellen im         Labor erfolgreich Zellkultursysteme für
Stressproteine mit diesen unterstützenden        Gehirn. Sie sind von sternförmiger Gestalt      Gehirnzellen (Nervenzellen und Gliazellen)
Funktionen werden als molekulare Chape-
rone (Anstandsdamen) bezeichnet. Während
Anstandsdamen in früheren Zeiten den gezie-
menden Umgang zwischen einem Mann und
einer Frau überwachten, verhindern moleku-
lare Anstandsdamen im Reich der Moleküle,
dass Zellproteine unerwünschte Kontakte mit
anderen Proteinen eingehen. Chaperone spie-
len auch eine Rolle dabei, bereits entstandene
Proteinaggregate wieder aufzulösen.
Hitzeschockproteine werden nach ihrer
Größe, also ihrem Molekulargewicht, in
Familien eingeteilt. Es gibt fünf Hauptfami-
lien: HSP100, HSP90, HSP70, HSP60 mit
Molekulargewichten von 100.000 (HSP100)
bis 60.000 (HSP60), und die Gruppe der
kleinen HSP (sHSP), die Molekulargewichte
im Bereich von 12.000 bis 43.000 aufweisen.
Manche sind eng assoziiert mit Zellorga-
nellen, wie z.B. HSP60, das immer in den
                                                                                                                Oligodendrozyten (hier in
Mitochondrien vorzufinden ist. Andere sind                                                                       Kultur) bilden im Gehirn das
diffus im Cytoplasma der Zellen verteilt und                                                                    Myelin, die weiße Substanz.
werden unter Stressbedingungen z.B. zum                                                                         Sie haben eine weitver-
Zellkern oder zu den Strukturbestandteilen,                                                                     zweigte Zellstruktur und sind
                                                                                                                besonders empfindlich gegen
dem Cytoskelett, gebracht. Manche sind nur
                                                                                                                oxidativen Stress.
unter Stressbedingungen nachzuweisen, an-                                                                       Oben: Oligodendrozyt mit
dere liegen immer vor und werden deswegen                                                                       flächigen Membranen (grün:
als konstitutive HSP bezeichnet, treten unter                                                                   Myelinprotein; rot: Cystoske-
Stressbedingungen aber vermehrt auf.                                                                            lett; blau: Zellkern).
                                                                                                                Unten: Oligodendrozyt mit
                                                                                                                Mitochondrien. Mitochondri-
Stressproteine im Gehirn                                                                                        en, die Kraftwerke der Zellen,
                                                                                                                wandern entlang des Cytoske-

B  ei verschiedenen Krankheiten und
   pathologischen Zuständen, wie Fieber,
Entzündungen, Infektionen, Schädigung von
                                                                                                                letts bis in die feinen Ausläufer
                                                                                                                (grün: Mitochondrien; rot:
                                                                                                                Cytoskelett; blau: Zellkern)
Gehirnzellen im Stress - Neurobiologie
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etabliert, an denen wir Stressantworten auf    nase-1. Es weist enzymatische Funktionen     Ausmaß im Gewebe bei Entzündungspro-
molekularer und zellulärer Ebene erforschen.   auf und ist an den Abwehrmechanismen         zessen gebildet. Auch durch Einwirkung von
Unsere grundlegenden Arbeiten haben unter      gegen oxidativen Stress beteiligt.           Stressoren von außen (Metalle, Strahlung,
anderem ergeben, dass die Zellen im Gehirn                                                  Ozon, Umweltgifte) wird die Bildung dieser
zelltypspezifisch auf verschiedene Stress-      Zellulärer Selbstmord                        hochreaktiven Verbindungen in der Zelle
bedingungen (oxidativen Stress, Hitzestress
oder chemischen Stress) mit der Hochregu-
lierung unterschiedlicher HSP reagieren.
                                               D    ie Hauptursache für oxidativen Stress
                                                    sind die reaktiven Sauerstoffspezies
                                               (reactive oxygen species, ROS). Hierzu
                                                                                            induziert. Reaktive Sauerstoffverbindungen
                                                                                            werden zudem als Nebenprodukte bei der
                                                                                            normalen Zellatmung in den Mitochondrien
Das heißt, dass Nervenzellen und Gliazellen    zählen das Superoxidanion-Radikal (O2•-)     gebildet. Zellen haben Abwehrmechanismen
unterschiedliche Empfindlichkeiten und ein      und das besonders gefährliche Hydroxyl-      gegen oxidativen Stress, aber bei erhöhtem
unterschiedliches Vorkommen von HSP nach       Radikal (OH•). Diese äußerst reaktiven Ra-   Stress und im Verlauf von Krankheiten und
Stress aufweisen. So haben Astrozyten, im      dikale (Verbindungen mit einem ungepaarten   während des Alterungsprozesses sind diese
Gegensatz zu Nervenzellen und Oligoden-        Elektron) oxidieren und schädigen so die     häufig nicht mehr ausreichend, so dass es
drozyten, große Mengen an dem kleinen          wichtigen Biomoleküle unseres Lebens:        zu Zellschäden und Zellverlusten kommt.
HSP25, und ihre erhöhte Resistenz gegen        die Erbsubstanz (Desoxyribonukleinsäure,     Diese Zellverluste sind besonders kritisch
verschiedene Stressoren kann vermutlich        DNA) im Zellkern, Proteine in der Zelle      für das Zentrale Nervensystem (ZNS), da
darauf zurückgeführt werden. In Oligoden-      und Lipide in den Zellmembranen. Aus         Nervenzellen und Oligodendrozyten sich
drozyten und Nervenzellen wird nach oxi-       diesem Grund werden die Auswirkungen         nicht mehr teilen und vermehren können,
dativem Stress vor allem ein anderes kleines   auch oxidativer Stress genannt. Reaktive     um die Verluste auszugleichen.
HSP hochreguliert, HSP32 oder Hämoxyge-        Sauerstoffspezies werden in verstärktem      Ein besonderer Angriffspunkt dieser reakti-

                                                                                                          Mitochondrien sind ein wich-
                                                                                                          tiger Kontrollpunkt für den
                                                                                                          apoptotischen Zelltod. Durch
                                                                                                          Stress werden gefährliche
                                                                                                          reaktive Sauerstoffverbin-
                                                                                                          dungen gebildet, die die
                                                                                                          Mitochondrien-Umhüllung
                                                                                                          (Membran) von außen oder
                                                                                                          innen angreifen und schä-
                                                                                                          digen. Durch die Verletzung
                                                                                                          wird eine Reihe von Reaktio-
                                                                                                          nen ausgelöst, Cytochrom c
                                                                                                          wird freigesetzt und Enzyme
                                                                                                          aktiviert, die zum Zelltod
                                                                                                          führen (links). Der Zellkern
                                                                                                          wird geschädigt und die DNA
                                                                                                          zerstückelt. „Gestresste“ Zellen
                                                                                                          (hier ein Astrozyt) ziehen
                                                                                                          ihre Zellfortsätze ein, runden
                                                                                                          sich ab und die Mitochond-
                                                                                                          rien wandern häufig in die
                                                                                                          Zellmitte zum Kern (rechts:
                                                                                                          grün: Zellfortsätze, gelb-rot:
                                                                                                          Mitochondrien, blau: Zellkern).
Gehirnzellen im Stress - Neurobiologie
EINBLICKE NR. 44                                                                                                                             7

ven Moleküle sind die „Kraftwerke“ unserer
Zellen, die Mitochondrien. Mitochondrien
sind kleine, membranumhüllte Organellen,
die die Körperzellen mit der Energie versor-
gen, die für alle physiologischen Funktionen
notwendig ist. Hier findet die Umwandlung
von organischem Material (aus der Nahrung)
mit Hilfe von molekularem Sauerstoff zu ATP
(Adenosintriphosphat), dem Brennstoff der
Zellen, statt. Bei diesem Prozess enstehen im
Inneren der Mitochondrien immer reaktive
Sauerstoffverbindungen, die in der gesunden
Zelle durch die Abwehrmechanismen abge-
fangen werden. Sind diese abgeschwächt,
werden die Verbindungen freigesetzt und
verursachen Zellschäden. Die Umhüllung
der Mitochondrien wird dabei oft verletzt.
Dies geschieht entweder durch die im Inneren
gebildeten reaktiven Verbindungen oder aber                                                             Ablagerungen von fehlgefalteten Pro-
auch durch von außen angreifende Radikale.                                                              teinen sind charakteristische Merkmale
                                                                                                        in den Gehirnen von Patienten mit
Durch die Verletzung der Mitochondrien                                                                  neurodegenerativen Erkrankungen und
wird eine Kette von Reaktionen ausgelöst,                                                               können in Zellkultursystemen erzeugt
die mit der Freisetzung von Cytochrom                                                                   werden.
c beginnt, gefolgt von der Aktivierung so                                                               Oben: Gehirnschnitt eines Alzheimer-
genannter Caspasen (Calcium-aktivierte,                                                                 Patienten. Die bräunlichen Verfär-
                                                                                                        bungen (vergrößert in der Box) sind
Protein spaltende Enzyme), und über weitere                                                             Ablagerungen unlöslicher Proteine.
komplizierte Signalwege mit dem „apoptoti-                                                              Unten: Ablagerungen mit ähnlichen
schen“ Zelltod endet. Apoptose (griechisch:                                                             Eigenschaften im Zellkulturmodell.
Abfallen, Untergang) ist eine Form des
programmierten Zelltods, der von der Zelle
aktiv ausgelöst wird; deswegen spricht man      verschiedenen Gründen besonders gefährdet.        stützt werden. Oxidative Schäden zerstören
auch vom zellulären Selbstmord. Dies steht      Es hat einen extrem hohen Energieverbrauch        die Zellmembranen und greifen speziell die
im Gegensatz zur Nekrose, bei der Zellen als    (20 Prozent der Gesamtenergiemenge geht ins       Proteine und den Aufbau des Cytoskeletts an.
Folge von besonders starken Stresseinwir-       Gehirn) und muss durch die hohe Stoffwech-        Durch Zufuhr von antioxidativen Vitaminen,
kungen anschwellen, platzen und dadurch im      selaktivität mit einer erhöhten Menge freier      wie Vitamin E, konnten wir das Ausmaß der
umliegenden Gewebe durch Freisetzung von        Radikale fertig werden. Auch können aus eini-     Schäden in der Zellkultur abmildern. HSP
Zellresten entzündliche Reaktionen und um-      gen Botenstoffen (Neurotransmitter) reaktive      und oxidativ veränderte Proteine akkumulie-
fassendere Schäden auslösen. Apoptotische       Sauerstoffverbindungen entstehen, die abge-       ren, weil sie den normalen Abbauwegen nicht
Zellen dagegen schrumpfen, die Zellmembran      fangen werden müssen. Nach Schlaganfällen         mehr zugeführt werden können. Wir haben
schnürt sich zu kleinen Bläschen ab und der     und der darauffolgenden Wiederdurchblutung        erste experimentelle Hinweise, dass auch
Zellkern verformt sich. Gleichzeitig werden     ist die Gefahr der Ausbildung von Gehirnschä-     der Abbau-Apparat selbst durch Stressoren
Enzyme aktiviert, die zu einer Zerstückelung    digungen durch oxidativen Stress besonders        geschwächt wird.
der DNA im Zellkern führen. Diese Zerstü-       groß, und es gibt zahlreiche Hinweise, dass
ckelung oder DNA-Fragmentierung kann man        oxidativer Stress an vielen Erkrankungen des      Abfalltonne und
biochemisch nachweisen, da intakte DNA          Nervensystems ursächlich beteiligt ist (z.B.
nach Auftrennung im elektrischen Feld auf       Multiple Sklerose, Alzheimer, Parkinson,
                                                                                                  Wiederverwertung
Agarose-Trägern als eine hochmolekulare
dicke Bande zu erkennen ist, während die
DNA in apoptotischen Zellen als so ge-
                                                Amyotrophe Lateralsklerose).
                                                In einer Reihe von Arbeiten, die in internatio-
                                                nal renommierten Zeitschriften veröffentlicht
                                                                                                  M     issgefaltete, irreparable und somit
                                                                                                        unerwünschte Proteine werden mit
                                                                                                  Hilfe der molekularen Anstandsdamen (Cha-
nannte DNA-Leiter aufgetrennt wird, deren       wurden (Journal of Neurochemistry, Glia),         perone) zur „Abfalltonne“, dem Proteasom,
„Sprossen“ die einzelnen Stücke repräsen-       hat unsere Arbeitsgruppe nachgewiesen,            gebracht. Proteasomen bestehen aus vielen
tieren. Zellen, die durch den programmierten    dass Oligodendrozyten nach Einwirkung             verschiedenen Proteinen, die sich zu einem
Zelltod absterben, werden von benachbarten      von oxidativem Stress besonders empfind-           fässchenartigen Komplex zusammengelagert
Fresszellen (Makrophagen; im Gehirn die         lich reagieren und über die mitochondriale        haben. Die Struktur und Bedeutung dieser
Microglia) vernichtet, dadurch treten keine     Todeskaskade apoptotischen „Selbstmord“           Protein abbauenden Fässchen wurde in den
Entzündungsprozesse auf.                        einleiten. Oligodendrozyten haben eine            letzen Jahren aufgeklärt und die maßgeblich
Das Gehirn ist im Vergleich zu anderen          weitverzweigte Zellstruktur, empfindliche          daran beteiligten Forscher erhielten im Jahre
Organen nur schwach mit antioxidativen          flächige Membranen, die von einem stark            2004 den Nobelpreis für Chemie (Aaron
Abwehrmechanismen ausgerüstet und aus           ausgebildeten Zellskelett (Cytoskelett) unter-    Ciechanover, Avram Hershko, Irvin Rose). In
Gehirnzellen im Stress - Neurobiologie
8                                                                                                                              EINBLICKE NR. 44

diesem Multi-Protein-Komplex werden etwa         eine Störung des proteasomalen Abbaus sind       stehung beteiligt sind, sondern langfristig
80 Prozent aller zellulären Proteine entsorgt.   vermutlich beteiligt.                            auch zu der Entwicklung neuer Strategien,
Die Proteine werden in kurze Fragmente           Wir haben als eine der ersten Forschungsgrup-    die zur Krankheitsbekämpfung geeignet sind,
(Peptidbruchstücke) geschnitten, die Bruch-      pen zeigen können, dass in Oligodendrozy-        beizutragen.
stücke wieder entlassen und der Zelle zur        tenkulturen die Proteine Tau und α-Synuclein
Wiederverwertung zur Verfügung gestellt.         vorkommen, die auch in den Gehirnen der
Das Proteasom dient also der Proteinentsor-      Erkrankten nachgewiesen wurden, und dass
gung und ist vergleichbar mit einer Recyc-       diese Proteine durch Stressoren verändert wer-
linganlage. Wenn das System überlastet oder      den. Durch oxidativen Stress, Hemmung des          Die AutorInnen
verstopft ist und daher nicht mehr richtig       Proteasoms sowie durch Änderung des Phos-
funktionieren kann, hat das für die Zellen und   phorylierungszustands des Tau Proteins ist es
den gesamten Organismus schwerwiegende           uns gelungen, in den Zellkulturmodellsyste-
Folgen. Unerwünschte Proteine häufen             men Ablagerungen zu erzeugen, die denen
sich in der Zelle an. Stressproteine werden      in vivo sehr ähnlich sind. Zudem haben wir
als Konsequenz vermehrt gebildet, diese          Zell-Linien (dauerhafte Zellkulturen) entwi-
bemühen sich vergeblich, die Aggregate zu        ckelt, die als Modellsysteme zur Analyse der
verhindern oder aufzulösen, umgeben die          molekularen Mechanismen verwendet werden
Aggregate und vergrößern sie zusätzlich.         können, die durch Stresssituationen ausgelöst
Während kleine Ablagerungen vermutlich           werden und an der Aggregatbildung beteiligt
anfänglich dem Schutz der Zellen dienen,         sind. Über diese Arbeiten haben wir im Jour-       Prof. Dr. Christiane Richter-Landsberg
indem durch die Aggregatbildung toxische         nal of Neuroscience berichtet, einer von der       (Mitte) leitet die Arbeitsgruppe Molekulare
                                                                                                    Neurobiologie/Neurochemie am Institut für
Proteine von anderen Bestandteilen im Cy-        größten internationalen neurowissenschaftli-       Biologie und Umweltwissenschaften. Nach
toplasma abgeschirmt werden, verstopfen          chen Vereinigung (Society for Neuroscience)        dem Studium der Pharmazie in Marburg
große „Proteinschollen“ die Zelle, behindern     herausgegebenen Fachzeitschrift. Unsere            promovierte sie im Fach Biologie in Göttin-
zelluläre Vorgänge (z.B. Transportvorgänge       Forschungsaktivitäten richten sich derzeit         gen. Nach längeren Auslandsaufenthalten,
                                                 darauf, die Hypothese zu testen, dass eine         u.a. in Harvard und Stanford, habilitierte sie
in Nervenzellen vom Zellkörper zur Synapse;
                                                                                                    sich an der Universität Bremen in Moleku-
Wanderung der Mitochondrien und dadurch          vermehrte Zufuhr von Stressproteinen, z.B.         larer Neurobiologie. 1993 wurde sie an die
ausgelöste mangelnde Energieversorgung           der kleinen HSP, die Auflösung der Aggregate        Universität Oldenburg berufen. Im Rahmen
der Zelle in den entfernteren Regionen) und      beschleunigen und somit eine Verbesserung          eines von der DFG geförderten Forschungs-
führen zum Zelltod.                              der Überlebens- und Regenerationsfähigkeit         vorhabens kooperiert die Wissenschaftlerin
                                                                                                    mit einer Arbeitsgruppe an der University of
                                                 der Zellen bewirken kann. Wir wollen der
                                                                                                    Pennsylvania. Ihr Schwerpunkt in der Lehre
Alzheimer und Parkinson                          Frage nachgehen, inwieweit dies auch zu            ist die Zellbiologie und Neurobiologie. Ihr

A    lois Alzheimer hat im Jahr 1901 zum ers-    einem Schutz vor weiteren Stresssituationen        Forschungsinteresse richtet sich auf die
     ten Mal die nach ihm benannte Krankheit     beitragen kann.                                    Entwicklung und Differenzierung von
                                                                                                    Nervenzellen und Glia, Stressantworten
beschrieben. In den Gehirnen von Patienten,                                                         und die Bedeutung von Stressproteinen in
die an Alzheimer erkrankt waren, sind mit        Ausblick                                           Gehirnzellen, wobei speziell die myelinbil-
histopathologischen Methoden in Gewebe-
schnitten typische Ablagerungen von Prote-
inen zu erkennen, die ein bestimmtes zel-
                                                 E   rkrankungen des zentralen Nervensystems
                                                     führen in vielen Fällen zu schwerwiegen-
                                                 den Beeinträchtigungen der geistigen Leis-
                                                                                                    denden Oligodendrozyten im Vordergrund
                                                                                                    stehen.
                                                                                                    Dr. Olaf Goldbaum (r.) studierte Biologie
                                                                                                    in Oldenburg. Seine Diplomarbeit mit
luläres Protein (das mit dem Cytoskelett         tungsfähigkeit, von der vor allem Gedächtnis,      dem Thema „Stressproteine in Gliazellen“,
assoziierte Protein Tau) enthalten. Zusätzlich   Sprache, Orientierungs- und Urteilsvermögen        die er in der Arbeitsgruppe Molekulare
sind in diesen Ablagerungen HSP nach-            betroffen sind. Stressfaktoren und auch            Neurobiologie/Neurochemie anfertigte,
zuweisen. Auch bei einer Reihe anderer           Alterungsprozesse sind ursächlich an der           wurde mit dem Instituts-Preis als beste Di-
                                                 Krankheitsentstehung beteiligt. Das Risiko         plomarbeit des Jahres 1999 ausgezeichnet.
Erkrankungen, die mit Gedächtnisverlust
                                                                                                    Er promovierte 2003 und arbeitet seitdem
(Demenz) einhergehen, und Erkrankungen,          des Einzelnen, selbst einmal an Demenz zu er-      als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in dem
die hauptsächlich Störungen des Bewe-            kranken, steigt mit dem Lebensalter an. Allein     von der DFG geförderten Projekt „Vorkom-
gungsapparates beinhalten, wie Parkinson         in Deutschland leiden gegenwärtig fast eine        men, Funktion und Pathologie des mit den
(hier ist das zelluläre Protein α-Synuclein      Million Menschen über 65 Jahren unter den          Microtubuli assoziierten Proteins Tau in
                                                                                                    Oligodendrozyten“.
verantwortlich), werden Proteinaggregate         Folgen dieser so genannten Demenz-Erkran-
                                                                                                    Dr. Thomas Stahnke (l.) studierte Biologie in
beobachtet. Diese Ablagerungen können            kungen, zwei Drittel davon an der Alzheimer-       Oldenburg, wo er seine Diplom- und Dok-
in Neuronen (Alzheimer, Parkinson) be-           Erkrankung. Jährlich treten etwa 200.000 neue      torarbeit in der Arbeitsgruppe Molekulare
obachtet werden oder auch in Gliazellen          Fälle auf. Falls keine Verbesserung oder ein       Neurobiologie/Neurochemie anfertigte.
und hier spezifisch in Oligodendrozyten          Erfolg in der Prävention oder Therapie dieser      Seit 2005 arbeitet er als Wissenschaftlicher
                                                                                                    Mitarbeiter in einem von der Hertie-Stiftung
(Corticobasale Demenz, Progressive supra-        Erkrankungen erzielt werden kann, wird sich        geförderten Projekt. Schwerpunkte seines
nukleare Blickparese, Multiple systemische       die Gesamtzahl der Demenzkranken bis zum           Forschungsinteresses sind die Signalwege,
Atrophie). Die molekularen Mechanismen,          Jahr 2050 auf mehr als zwei Millionen erhöht       die die Ausbildung des Myelins fördern
die zu den Proteinablagerungen führen, und       haben. Wir hoffen mit unseren grundlegenden        und bei krankhaften Prozessen, wie z.B. der
                                                                                                    Multiplen Sklerose, gestört sind.
die Ursachen der Erkrankungen sind weitge-       Forschungsarbeiten nicht nur zum Verständnis
hend unbekannt. Oxidativer Stress und auch       der Mechanismen, die an der Krankheitsent-
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