GEWALT UND BULLYING - ZUUGS HFH

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GEWALT UND BULLYING - ZUUGS HFH
Gewalt und Bullying
    Aus: Scheithauer, H. & Dele Bull, H. (2007). Fairplayer.manual (3. Aufl.). Bremen: Niebank-Rusch.

Hintergründe: Gewalt und Bullying bei Jugendlichen

Schüler haben Angst - und das nicht ohne Grund. Nicht nur schlechte Zensuren oder
strenge LehrerInnen machen ihnen Sorgen, sondern sie haben Angst vor gewalttäti-
gen Übergriffen durch Mitschüler, fürchten sich davor, bedroht, erpresst oder bestoh-
len zu werden: Eine jüngst durchgeführte repräsentative Umfrage, die das Meinungs-
forschungsinstitut Emnid im Auftrag der Zeitschrift "Bravo" durchführte
(BRAVO/EMNID, 2006) und in der 1000 Schüler in Deutschland im Alter von 12 bis
17 Jahren befragt wurden ergab, dass jeder dritte Schüler Angst vor Gewalt an der
Schule hat und jeder fünfte dort selbst schon einmal angegriffen wurde. jeder dritte
hat Angst, Mitschülern zu helfen, die angegriffen werden, jeder vierte meint, dass
seine Mitschüler bei Gewalt wegsehen.
Eine bestimmte Form gewalttätigen Verhaltens stellt das so genannte Bullying dar.
Das Wort "Bullying" ist im deutschen Sprachraum relativ neu. Es bezieht sich auf
Verhaltensweisen, unter denen Schüler (oder Kinder und Jugendliche aus sich regel-
mäßig treffenden Gruppen) zu leiden haben. Unter Bullying werden "schädigende
Handlungen" wie Treten, Verspotten, soziale Ausgrenzung, Beleidigungen oder De-
mütigungen verstanden, die über einen längeren Zeitraum hinweg auftreten und de-
nen eines gemeinsam ist: die Opfer können sich dagegen nicht wehren, weil sie kör-
perlich oder psychisch unterlegen sind (Scheithauer, Hayer & Petermann, 2003). Bul-
lying tritt dabei meistens im Rahmen relativ stabiler Gruppen (z.B. Schulklasse/
Schule, Sportverein) auf.

Bullying kann auf der Verhaltensebene sehr unterschiedliche Formen annehmen:
 • Physische Bullies treten, schlagen, schubsen.
 • Verbale Bullies verspotten, beleidigen, beschimpfen, machen sich lustig.
 • Relationale Bullies ignorieren, verbreiten Gerüchte, lästern, sind also auf der Ebe-
 ne des sozialen Bullyings aktiv (vgl. Scheithauer, 2003).

Die Verbreitung und der Zugang zu Mobiltelefonen und zum Internet machen es
möglich, über SMS/MMS, E-mails oder durch das Filmen von Demütigungen mit der
Handykamera und der anschließenden Verbreitung des gefilmten Materials über das
Versenden von Mobiltelefon zu Mobiltelefon sowie durch das Einstellen ins Internet
(das sog. Happy Slapping) andere Jugendliche auch indirekt zu schädigen.
Nach einer Befragung in Niedersächsischen und Bremer Schulen, die Herbert Scheit-
hauer (jetzt Professor an der Freien Universität Berlin) in Zusammenarbeit mit der
Modul P14 “Förderbedarf emotionale und soziale Entwicklung”: Auszug für die Werkstatt aus Scheithauer (2007)   1
Universität Bremen und dem Bremer Institut für Pädagogik und Psychologie (bipp)
durchgeführt hat Jugert, Scheithauer, Notz & Petermann, 2000; Scheithauer, Hayer,
Petermann & Jugert, 2006), und aus nationalen Studien zur Auftretenshäufigkeit von
Bullying (Scheithauer, Hayer & Petermann, 2003) wissen wir, dass ca. 11-12% der
Schülerinnen und Schüler in Deutschland wiederholt Täter- oder Opfererfahrungen
machen (mind. einmal pro Woche). Übrigens, Bullying tritt nicht nur unter 11-21-
Jährigen auf. bereits im Kindergarten kann Bullying beobachtet werden (Alsaker,
2003).
In der Regel überwiegen Jungen sowohl auf der Täter- als auch auf der Opferseite.
Werden jedoch die verschiedenen Bullyingformen getrennt betrachtet, ergeben Stu-
dien, dass Jungen häufiger von direktem/physischem (offen-körperlichem) Bullying
berichten, während Mädchen häufiger verbale Bullying-Formen angeben und in eini-
gen Studien auch häufiger indirektes/relationales Bullying beschreiben als Jungen
(Täterseite). Zumindest sind Mädchen als Opfer gleich häufig oder sogar häufiger
vom relationalen Bullying betroffen Jugert et al., 2000; Scheithauer, 2003).

Folgen von Bullying

"Ach, das hat noch niemandem geschadet - so lernt man, sich zu behaupten!... " Ein
populärer Mythos im Zusammenhang mit Bullying in der Schule oder in anderen
Gruppen geht davon aus, dass man ein gewisses Maß an Vorkommnissen dieser Art
benötigt um zu lernen, wie man sich behauptet - ein Mythos, wie gesagt, denn die
Folgen von Bullying sind sowohl für die Opfer als auch für die Täter massiv. Scheit-
hauer, Hayer und Petermann, (2003) haben die in einer Vielzahl von Studien ermittel-
ten Folgen zusammengefasst:

a) Mögliche Folgen für die Opfer von Bullying
 • psychosomatische Beschwerden (z.B. Kopf-/Bauchschmerzen, z.T. verbunden mit
 Fernbleiben von der Schule),
 • gestörtes Essverhalten,
 • Leistungsabfall in der Schule, Fernbleiben von der Schule,
 • Hilflosigkeit, Kontrollverlust,
 • Selbstbeschuldigungen (Z.B. "Ich habe es ja nicht anders verdient"), (in späteren
 Jahren) Beziehungsprobleme, Isolation/Einsamkeitsgefühle,
 • Angst,
 • Traurigkeit, Depression,
 • Suizidgedanken, "bullycide" (versuchte oder erfolgreiche absichtliche Selbsttötung
 infolge von massivem Bullying).

Modul P14 “Förderbedarf emotionale und soziale Entwicklung”: Auszug für die Werkstatt aus Scheithauer (2007)   2
b) Mögliche Folgen für die Täter von Bullying
 • Beziehungsprobleme (diese Form der "Interaktion" wird auch auf andere übertra-
 gen) bis hin zu Gewalttätigkeit bei Verabredungen,
 • Suizidgedanken und -versuche,
 • aggressiv-dissoziales Verhalten,
 • Delinquenz,
 • geringes prosoziales Verhalten,
 • riskante Verhaltensweisen (z.B. Autofahren ohne Führerschein),
 • unterdurchschnittliche Schulleistungen,
 • geringe Bindung an das Schulumfeld.

Doch viele der Opfer verschweigen leider ihre Erfahrungen, besonders wenn diese
keine sichtbaren Spuren hinterlassen!

Merkmale von Tätern und Opfern

Es stellt sich also die Frage, ob die Täter und Opfer weitere Merkmale aufweisen, an
denen man sie erkennen könnte. Tatsächlich liegt inzwischen eine Vielzahl an Stu-
dien vor, in denen häufig bestimmte Merkmale von Tätern und Opfern berichtet wer-
den (Scheithauer er al., 2003):

Täter von Bullying...
• sind in der Regel älter als ihre Opfer,
• idealisieren sich und ihr Verhalten,
• zeigen wenige Unsicherheiten,
• weisen geringe Ängstlichkeit auf,
• sind bei Gleichaltrigen durchschnittlich bis sehr beliebt,
• zeigen wenig Empathie und eine positive Einstellung zu Gewalt.

Opfer von Bullying...
 • sind körperlich schwach oder weisen zum Teil andere äußerliche Auffälligkeiten
 auf,
 • haben ein niedriges Selbstwertgefühl,
 • sind eher ängstlich,
 • sind bei Gleichaltrigen wenig beliebt und weisen einen niedrigen sozialen Status
 auf,
 • können oftmals schlecht (soziale) Probleme lösen.

Natürlich weisen nicht nur die Jugendlichen selbst Merkmale auf, die sie eher zu Op-
fern oder Tätern werden lassen - zudem können Merkmale im sozialen Umfeld der
Jugendlichen angeführt werden, die Bullying begünstigen.

Modul P14 “Förderbedarf emotionale und soziale Entwicklung”: Auszug für die Werkstatt aus Scheithauer (2007)   3
Faktoren, die Bullying begünstigen

Im schulischen Umfeld erweist sich beispielsweise insbesondere das Klassen- bzw.
Schulklima als ausschlaggebend (siehe folgende Box) - Gleiches ließe sich auch auf
andere, sich regelmäßig treffende Gruppen (z.B. in Sportvereinen) übertragen. Auch
die Wahrnehmung von und die Reaktionen auf Bullying, beispielsweise durch die
LehrerInnen oder die Schulleitung, sowie ein Mangel an expliziten Verhaltensregeln
bestimmen wesentlich, wie häufig Bullying auftritt. Zudem ist bekannt, dass neben
dem Schulstandort (z.B. in Stadtteilen mit vielfältigen Problemen) auch die Lernkul-
tur, curriculare Strukturen oder die didaktisch-methodische Qualität des Unterrichts
Bullying begünstigen kann - je weniger Partizipation, Mitbestimmungs- und Mitge-
staltungsmöglichkeiten Schüler haben und je direktiver und frontaler der Unterricht,
desto häufiger lässt sich Bullying beobachten.

   Die Bedeutung des Klassen-(Schul-)klimas
   Die Entwicklung sozialer Kompetenzen, moralischer Sensibilität - und damit auch das Auf-
   treten von Bullying bzw. das Ausmaß an zivilcouragiertem Verhalten - hängt wesentlich
   vom Klassen(Schul-)klima ab. LehrerInnen nehmen hierbei eine zentrale Rolle ein: Sie soll-
   ten ein Klima fördern (auch in ihren Interaktionen mit den Schülern), das von Wärme und
   Akzeptanz geprägt ist (vgl. Nucci, 2001). Insbesondere im Jugendalter ist es für Schülerin-
   nen und Schüler wichtig, am Unterrichts- und Schulgeschehen aktiv teilzuhaben und Prozes-
   se mitgestalten zu können. Aktivitäten, die die gesamte Gruppe einbeziehen, sind von Be-
   deutung - sie stehen in einem Gleichgewicht zu der in immer stärkerem Ausmaß stattfinden-
   den Cliquenbildung in diesem Alter und wirkt so sozialen Ausschlussprozessen entgegen.

„...Schuld ist doch das Elternhaus!“
Eine Aussage, die zuweilen als Erklärung für das Verhalten von Jugendlichen heran-
gezogen wird. Und tatsächlich weiß man inzwischen sehr genau, dass natürlich auch
im Falle der Täter und Opfer von Bullying bestimmte familiäre Merkmale angeführt
werden können:

In den Familien der Täter von Bullying findet man häufig...
 • ein bestimmtes Erziehungsverhalten (autoritär, wenig Unterstützung, bestrafend),
 • familiäre Gewalt,
 • einen geringen Zusammenhalt und wenig "Wärme".
 • Täter, deren spätere Kinder mit höherer Wahrscheinlichkeit ebenfalls als Täter auf-
 fallen.

In den Familien der Täter von Bullying findet man häufig...
 • ein bestimmtes Erziehungsverhalten (restriktiv und überbehütend),
 • ein "Zuviel" an Unterstützung,
 • einen distanzierten, negativen und "kalten" Umgang miteinander,
 • Misshandlungen.

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Doch was nutzt diese Erkenntnis? Für Ihre Arbeit zunächst nicht sehr viel, denn Sie
sind es, die mit den Jugendlichen arbeiten müssen und wollen, ohne dass Sie auf die
Eltern der Jugendlichen verweisen können.
Und auch wenn die angeführten Befunde verdeutlichen wie wichtig es ist, mit den
Eltern zu arbeiten, ist gerade beim Bullying im schulischen Umfeld insbesondere das
Zusammenspiel zwischen
 • dem Verhalten der Täter und Opfer (sowie weiterer Mitschüler),
 • dem schulischen Umfeld und dem Verhalten der LehrerInnen als Reaktion auf
 Bullying sowie
 • dem familiären, die Bullying-Problematik verstärkenden Umfeld von Bedeutung.

Die folgende Grafik veranschaulicht den Teufelskreis, in dem alle drei Ebenen (Schü-
ler - LehrerInnen/Schule - Familie) eine bedeutende Funktion einnehmen.

Abgesehen von den Tätern und Opfern lassen sich jedoch auf der Gleichaltrigenebene
weitere wichtige Beteiligte beim Bullying anführen, denn: beim Bullying handelt es
sich um einen Gruppenprozess.
Bisher standen lediglich die Täter und Opfer von Bullying im Zentrum der Betrach-
tung. In Zwei Dritteln aller Bullying-Vorfälle sind aber mehrere Gleichaltrige betei-
ligt (Atlas & Pepler, 1998). Diese übernehmen bestimmte soziale Rollen, die letztlich
dazu führen, dass es zur Bullying-Situation kommt - und immer wieder kommen
wird.

Mehr als Täter und Opfer – der Participant-Role-Ansatz

Soziale Rollen umschreiben sozial definierte Erwartungen an das Verhalten von Per-
sonen in sozialen Situationen. Das Verhalten einer Person dient seinen Mitmenschen
als Orientierung, was sie von ihr in zukünftigen Situationen erwarten können. Zudem

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sind es die Bedürfnisse und Erwartungen der Gruppe, die festlegen, welche Rolle ei-
ne Person überhaupt einnehmen wird.
Auf dieser Erkenntnis aufbauend schließt Salmivalli (1999), dass sich aus den sozia-
len Interaktionen und den damit verbundenen sozialen Rollen so genannte "Partici-
pant Roles" ergeben, die durch eigene Verhaltensdispositionen (z.B. aggressives Ver-
halten, Befürwortung von Gewalt) als auch durch die Erwartungen Anderer (z.B. "er
ist der Stärkste") bestimmt werden. In einer frühen Studie arbeiteten Salmivalli, La-
gerspetz, Björkqvist, Östermann und Kaukiainen (1996) verschiedene Rollen in Bul-
lying-Situationen heraus. In einer solchen Situation sind meist mehrere Schüler an-
wesend, die nicht direkt am Bullying Teil haben, die aber durch ihr spezifisches (Rol-
len-)Verhalten wesentlich Einfluss auf die Situation nehmen. Es geht also nicht um
die Haltung oder die Einstellung der Jugendlichen zum Bullying generell - in Befra-
gungen geben diese oftmals an, dass sie Bullying ablehnen - , sondern vielmehr um
konkrete Verhaltensweisen der Kinder in einer Bullying-Situation, um die Rollen, die
sie einnehmen, die "Participant Roles".
In der Studie von Salmivalli und Mitarbeitern (1996) wurden die beobachteten Schü-
ler folgenden Rollen zugewiesen:

   • Täter (auch Anführer genannt): initiiert Bullying und bringt andere dazu, mitzumachen;
   • Opfer: wird wiederholt angegriffen, weiß sich nicht zu verteidigen;
   • Assistenten des Täters: machen beim Bullying mit und helfen dem Täter (halten z.B. das
   Opfer fest);
   • Verstärker des Täters: Halten sich in der Nähe auf, wenn ein Opfer angegriffen wird; er-
   mutigen den Täter, beispielsweise durch Lachen;
   • (Potenzielle) Verteidiger des Opfers: Sprechen dem Opfer Mut zu, helfen ihm, wenn es
   angegriffen wird oder versuchen, den Täter zu stoppen;
   • Außenstehende: Halten sich von Bullying-Situationen fern.

Eine größere Anzahl von Jugendlichen lässt sich dabei keiner dieser Rollen eindeutig
zuweisen.
Wie verteilen sich nun die Jugendlichen auf die einzelnen Rollen? Olweus, Limber
und Mihalic (1999) berichten beispielsweise im Rahmen einer Studie von:

                                                                                 • 12% Täter,
                                                                                 • 8% Opfer,
                                                                                 • 7% Assistenten,
                                                                                 • 20% Verstärker,
                                                                                 • 17% potenzielle Ver-
                                                                                 teidiger und
                                                                                 • 24% Außenstehende.

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Bei der Zugehörigkeit zu den verschiedenen Rollen lassen sich in allen bisher durch-
geführten Studien zudem Geschlechterunterschiede erkennen. In der Stichprobe von
Salmivalli et al. (1996) beispielsweise fanden sich unter den Mädchen wesentlich
mehr Verteidiger und auch mehr Außenseiter. Dagegen waren fast nur Jungen Ver-
stärker der Täter und deren Assistenten. Unter den jungen fanden sich auch mehr Tä-
ter. Bei den Opfern gab es keine wesentlichen Unterschiede.

   Reine Jungensache?
   Es gibt verschiedene Erklärungen für ein Überwiegen der Jungen bei den Tätern und für eine
   aktivere Beteiligung der Jungen an Bullying-Situationen (vgl. Scheithauer, 2003; Scheithau-
   er, Hayer & Petermann, 2003). Betrachtet man die Struktur von Jungengruppen, fällt auf,
   dass es sich um relativ große Gruppen handelt. Jungen nutzen aggressives Verhalten - oder
   Verhalten, das für Außenstehende so aussieht - um eine soziale Rangordnung herzustellen.
   Ein eher aggressives Verhalten wird mit der männlichen Geschlechterrolle assoziiert. Dies
   führt letztlich sogar zu einer Akzeptanz oder sogar Idealisierung aggressiven oder "rauhen"
   Verhaltens. Mädchen bilden dagegen kleinere Grüppchen, mit intimeren, engeren Freund-
   schaften. Von ihnen wird verstärkt, der weiblichen Geschlechterrolle entsprechend, prosozi-
   ales Verhaltenerwartet. Dies könnte ein Grund dafür sein, warum Jungen dazu tendieren,
   sich eher aggressiver zu verhalten als Mädchen und deshalb auch häufiger als Täter oder As-
   sistenten im Zusammenhang mit Bullying auffallen. Hinzu kommt, dass Mädchen den Jun-
   gen gegenüber einen Entwicklungsvorsprung aufweisen und früher ausgeprägte Formen des
   Sozialverhaltens und empathischen Verhaltens zeigen. In diesem Zusammenhang ist zudem
   zu beachten, dass Mädchen womöglich andere Formen aggressiven Verhaltens wählen, die
   nicht direkt auffallen, wie zum Beispiel indirekte, soziale oder relationale Aggression. Die
   Akzeptanz von unauffällig verbreiteten Gerüchten, bösem Klatsch und Tratsch ist norma-
   lerweise höher als die von körperlich aggressivem Verhalten.

Besonders interessant erweist sich die Gruppe der (potenziellen) Verteidiger des Op-
fers: Ein Schüler mit hoher sozialer Reputation hat eher die Möglichkeit einzugreifen.
Da er von seinen Mitschülern gemocht und respektiert wird, ist es bei ihm wahr-
scheinlicher, dass Andere auf ihn hören und er nicht selbst angegriffen wird. Diese
Schüler weisen meist auch eine starke Eingebundenheit in die Gruppe auf, sie haben -
ihren festen Platz im sozialen Gefüge ihres Klassenverbandes. In dieser Position fällt
es sicherlich leichter, sich für andere einzusetzen, als von einem unsicheren Status
aus, wenn man selbst Gefahr läuft, zum Opfer zu werden. Das Eingreifen von Schü-
lern hängt zudem von weiteren Faktoren ab, wie beispielsweise dem Status des Schü-
lers, der Opfer wird, oder seiner Eingebundenheit in die Peer-Gruppe.

Warum wird nicht eingegriffen?

Nun stellt sich die Frage, warum in Gewalt- und Bullying-Situationen letztlich nicht
eingegriffen wird. Welche Bedingungen führen dazu, dass Außenseiter zu nicht-
handelnden Außenseitern werden und potenzielle Verteidiger nicht eingreifen?
Wenn Personen bestimmte soziale Rollen, wie sie auch im Zusammenhang mit Bul-
lying beobachtet werden können, eingenommen haben oder ihnen diese von der
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Gruppe zugeschrieben werden, ist es für sie schwierig, die Rolle zu wechseln. Der
Versuch, sich anders zu verhalten als von den anderen Mitgliedern einer Gruppe er-
wartet, wird beispielsweise schlichtweg nicht akzeptiert und ein Abweichen von den
Erwartungen sanktioniert (Salmivalli, 1999). Als besonders schwierig erweist sich
dieser Rollenwechsel übrigens für die Opfer. Selbst in einer völlig neuen Umgebung
laufen sie Gefahr, wieder in die Rolle des Opfers zu "schlüpfen" (Salmivalli et al.,
1996). Die Angst vor neuen Obergriffen in einer neuen sozialen Situation wird durch
die bisherigen, negativen Erfahrungen beeinflusst. Rabiner und Coie (1989) haben
gezeigt, dass die negativen Erwartungen eines Schülers Einfluss auf die Meinung der
Mitschüler haben. Diese Tatsache verdeutlicht die Unsinnigkeit eines Klassen- oder
Schulwechsels von Opfern als Maßnahme gegen Bullying. Es ist daher keine Lösung,
das betroffene Kind in eine neue Klasse zu versetzen. Die Probleme sollten vielmehr
dort angegangen werden, wo sie entstanden sind (Salmivalli, 1999).
Neben dem dargestellten Participant-Role-Ansatz lassen sich weitere entwicklungs-
psychologische und sozialpsychologische Erklärungen für das fehlende Eingreifen
anführen.
Zunächst ist das "Nicht-Wahrnehmen" einer Notfallsituation und von Verantwortung
zu nennen. Aufgrund mangelnden Verantwortungsbewusstseins, Schuldzuschreibun-
gen ("der hat doch selbst Schuld...") und fehlender Sensibilität, eine Situation als
Notfall oder als Situation, in der jemand Anderes Hilfe benötigt, wahrzunehmen,
wird nicht eingegriffen. Je weniger sich Jugendliche mit Gleichaltrigen und der Ge-
samtgruppe identifizieren, umso weniger kann man davon ausgehen, dass sie sich für
Einzelne aus der Gruppe einsetzen. Verstärkt wird dieses Defizit durch den soge-
nannten Bystander-Effekt: je mehr Personen in einer Notsituation anwesend sind,
umso weniger Eingreifverhalten wird beobachtet (Darley & Latané, 1968). Für diese
sozialpsychologischen Phänomene kann man zudem auf der Ebene der Jugendlichen,
die nicht eingreifen oder sogar in der Bullying-Situation unterstützen, entwicklungs-
psychologische Gründe anführen. Hierzu zählen mangelnde sozial-emotionale Kom-
petenzen (Defizite der Perspektivenübernahme und Mangel an Empathie; z.B. Ar-
senio & Lemerise, 2001) sowie unzureichend entwickelte soziale Normen, die die
Basis für prosoziales Verhalten darstellen (Fehr & Fischbacher, 2004).

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