HEIMAT WESTFALEN - STRUKTUR- UND FUNKTIONSWANDEL LÄNDLICHER RÄUME IN WESTFALEN
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I N H A LT 3 Editorial WHB-FACHBEREICH HEIMAT DEMOGRAFIEFIT STRUKTUR- UND FUNKTIONSWANDEL LÄNDLICHER 36 Nachwuchs finden. Online-Workshop zur neuen RÄUME IN WESTFALEN Freiwilligengeneration stieß auf reges Interesse 37 WHB-Projekt „Westfälisches Schulbuch“ geplant 4 ULRIKE GRABSKI-KIERON UND STEPHANIE ARENS Entwicklung ländlicher Räume in NRW – worauf es WHB-PROJEKTE ankommt. Ergebnisse des ARL-Arbeitskreises 38 Neues Format WHB-Adventskalender „Zukunftsperspektiven ländlicher Räume in NRW“ 39 Handreichung „Dorfideen mit Weitblick“ 16 MATTHIAS LÖB 40 Neue WHB-Publikation: Haus Windheim No.2 in Petershagen Regionale Identitäten im westfälischen Ruhrgebiet 41 Neue WHB-Publikation: Museum Peter August Böckstiegel Werther 22 FÜNF FRAGEN ZUM THEMA KULTURFÖRDERUNG NEUE MITGLIEDER IM WHB an Thomas Tenkamp 42 DaHeim – Dahlbrucher Heimatverein e. V. AUS GESCHÄFTSSTELLE UND GREMIEN WHB-FOREN 24 „Rolle vorwärts“ verliehen. Auszeichnung des 43 WHB-Forum „Natur und Umwelt“: Packen wir’s an! Westfälischen Heimatbundes geht nach Siegen-Achenbach Der Salamanderfresser 25 Nachwuchspreis „Rolle vorwärts“ 2021 verliehen. Auszeichnung des Westfälischen Heimatbundes ENGAGIERT VOR ORT geht nach Versmold-Bockhorst 44 Heimatmacher-Praxisbeispiele aus Ihrer Arbeit 26 WHB-Mitgliederversammlung am 1. Dezember 2021 in Münster NACHRICHTEN UND NOTIZEN 28 Covid-19-Maßnahmengesetz: Verlängerung 48 125 Jahre Historische Kommission und Altertumskommission für Westfalen beim LWL bis 31. August 2022 28 Vorstellung André-Marcel Siegel – Referent für den 49 Westfälischer Wortschatz von A bis Y. Letzter Band des Westfälischen Wörterbuchs erschienen Fachbereich Wandern 29 Festrede des WHB-Vorsitzenden Matthias Löb anlässlich DANK UND ANERKENNUNG der Jubiläumsfeier zum 100-jährigen Gründungsjahr des 50 Gerhard Müller Vereins für Orts- und Heimatkunde e. V. Oer-Erkenschwick 51 Rudolf Koch 30 Petition mit über 23.000 Stimmen gegen die geplante Neufassung des Denkmalschutzgesetzes NRW übergeben NEUERSCHEINUNGEN 52 Koloniale Welten in Westfalen MEINE HEIMAT WESTFALEN 52 Wat, de kann Platt? Selbstzeugnisse, Geschichten und Gedichte 31 Birgit Haberhauer-Kuschel aus dem Münsterland und dem Osnabrücker Land SERVICEBÜRO WHB 53 Das Heimat-Quiz Münsterland. 32 Projektideen für Europawoche 2022 gesucht 53 Künstlerinnen und Künstler in Westfalen. Malerei und 33 LEADER 2023-2027 Grafik im 19. und 20. Jahrhundert 34 Planspiel „Zukunft gestalten in Dorf und Region“ BUCHBESPRECHUNGEN 35 Spielerisch Heimat vermitteln – „Heimat-Box“ für Kinder 54 Städte in Westfalen. Geschichte vom Mittelalter bis zum Ende und Jugendliche des Alten Reiches HEIMAT WESTFALEN ISSN 2569-2178 / 34. Jahrgang, Ausgabe 6/2021 Herausgeber: Westfälischer Heimatbund e. V. · Kaiser-Wilhelm-Ring 3 · 48145 Münster. Vorstand im Sinne des § 26 BGB: Matthias Löb (Vorsitzender), Birgit Haberhauer-Kuschel (stellvertr. Vorsitzende) Vereinsregister des Amtsgerichts Münster, Nr. 1540 · Steuer-Nr.: 337/5988/0798 Gefördert von: Telefon: 0251 203810 - 0 · Fax: 0251 203810 - 29 E-Mail: whb@whb.nrw · Internet: www.whb.nrw Verantwortlich im Sinne des Presserechts: Dr. Silke Eilers Schrift- und Anzeigenleitung: Dr. Silke Eilers Redaktion: Dr. Silke Eilers, Dörthe Gruttmann, Frauke Hoffschulte, Sarah Pfeil, Astrid Weber Layout: Gaby Bonn, Münster Druck: Druck & Verlag Kettler GmbH · Robert-Bosch-Straße 14 · 59199 Bönen Für namentlich gezeichnete Beiträge sind die Verfasser persönlich verantwortlich. Diese Zeitschrift erscheint im Februar, April, Juni, August, Oktober, Dezember. Titelbild: Vorweihnachtliche Stimmung am Backhaus des Heimatvereins Dolberg e. V. im Jahr 2020 Foto/ Silke Eilers
e d it o r ial z ukunftsforscher sehen im mittlerweile zweiten Jahr der Corona-Pandemie deutliche Chancen für ländliche Räume und machen gar eine neue „Landlust“ aus. Das Land lockt mit neuen Ar- beits- und Wohnformen wie auch der Vorstellung eines naturverbundenen Lebens. Als Innovationstrei- ber für einen Strukturwandel in Corona-Zeiten gelten vielfach die sogenannten Megatrends Digitalisierung Foto/ Greta Schüttemeyer und Dekarbonisierung sowie eine neue Kultur demo- kratischer Beteiligung. Welche Veränderungen erleben die in sich heterogenen ländlichen Räume in sozialer, ökono- mischer und kultureller Hinsicht durch COVID 19? Sind sie „Corona-Gewinner“ und gelingt eine Transformation zu Nachhaltigkeit und Resilienz oder verstärken sich Problemlagen und Ungleichheiten? Die anstehenden Herausforderungen bedürfen einer als ganzheitlich und interdisziplinär verstandenen Politik für ländliche Räume, die raumspezifische Besonderheiten berücksichtigende und auf Kooperation setzende Strategien entwi- ckelt. Eine zentrale Rolle für die Gestaltung des Wandels in den Kleinstädten und Dörfern spielt die Engagementland- schaft. Die möglichen Auswirkungen von Corona auf die Heimatarbeit werden den WHB im kommenden Jahr im Rahmen seines Themenschwerpunktes „Lernen aus der Pandemie – Ehrenamt und Digitalisierung“ beschäftigen. Die letzte Ausgabe der Heimat Westfalen in diesem Jahr blickt zum Abschluss des inhaltlichen Fokus „Zukunft der Dörfer“ in 2020/2021 auf Struktur- und Funktionswandel ländlicher Räume in Westfalen. Prof. a. D. Dr. Ulrike Grabski-Kieron und Dr. Stephanie Arens, Leiterinnen einer Arbeitsgruppe der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft, beleuchten Perspektiven für die ländlichen Räume in NRW angesichts wachsender Stadt-Um- land-Kontexte und regional unterschiedlicher Entwicklungsdynamiken. WHB-Vorsitzender Matthias Löb befasst sich mit regionalen Identitäten im westfälischen Ruhrgebiet. Thomas Tenkamp, Geschäftsführer der Kulturstiftung der Westfälischen Provinzial Versicherung, hat uns fünf Fragen zum Thema Kulturförderung in der Region beantwortet. Der Service-Part ist wieder prall gefüllt mit unterschiedlichen Angeboten und Hinweisen wie etwa zur Europa- woche 2022 oder zur Wettbewerbsrunde von LEADER 2023-2027. Zudem stellen wir Ihnen das Online-Format des WHB-Adventskalenders vor, welcher in 2021 bürgerschaftliches Engagement in der Denkmalpflege und für Baukultur würdigt. Darüber hinaus geben wir Ihnen einen Vorgeschmack auf die im Druck befindlichen neuen Publikationen der „Westfälischen Kunststätten“ und die Handreichung „Dorfideen mit Weitblick“. Im Namen von Vorstand und Geschäftsstelle wünsche ich Ihnen besinnliche Weihnachten und ein gesundes neues Jahr! Wir hoffen auf ein Wiedersehen bei unserem für den 21. Mai 2022 in Arnsberg geplanten Westfalentag. Herzliche Grüße Ihre Dr. Silke Eilers Geschäftsführerin des WHB HEIMAT WESTFALEN – 6/2021 / 3
Struktur und Funktionswandel Entwicklung ländlicher Räume in NRW – worauf es ankommt Ergebnisse des ARL-Arbeitskreises „Zukunftsperspektiven ländlicher Räume in NRW“ von Ulrike Grabski-Kieron und Stephanie Arens Balve Ortsteil Affeln Foto/ Südwestfalen Agentur GmbH/ Hans Blossey 4 / HEIMAT WESTFALEN – 6/2021
ländlicher Räume in Westfalen e ine Arbeitsgruppe der Akademie für Raument- wicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (ARL), Lan- desarbeitsgemeinschaft NRW widmete sich der Fragestellung, welche Perspektiven sich für die ländlichen Räume in NRW angesichts wachsender Stadt-Umland-Kon- texte und regional unterschiedlicher Entwicklungsdyna- miken ergeben. Auch jene ländlichen Räume außerhalb der stadtregionalen Verflechtungsbereiche, die mit ihren spezifischen Ausgangslagen aktuell ganz unterschiedli- che Dynamiken aufweisen, wurden dabei in den Fokus genommen. Die Arbeit war von dem doppelten Bestre- Die Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (ARL) im Kurzporträt ben geleitet, sowohl den Stellenwert ländlicher Räume Grafik/ in Anlehnung an ARL 2021 für die gesamträumliche Entwicklung im Bundesland NRW als auch die eigene Dynamik vieler ländlicher Räu- me „abseits“ der Metropolregionen herauszustellen. Die aus der Tatsache, dass Feuerwehr/Brandschutz zum intensiven Debatten, die im Zuge der Überarbeitung des Zeitpunkt der Bearbeitung in den Fachdiskursen und Landesentwicklungsplanes NRW ab 2017 unter anderem in der Literatur noch wenig Beachtung fanden, zum auch zu Stellung und Perspektiven ländlicher Räume im anderen daraus, dass sich für beide Bereiche vor dem Bundesland geführt wurden, bildeten den Ausgangspunkt Hintergrund des demografischen Wandels zahlreiche für die ARL, Landesarbeitsgemeinschaft NRW, die oben Zukunftsfragen stellen, die ihrerseits Perspektiven länd- genannte Arbeitsgruppe einzusetzen. An ihr waren unter licher Räume maßgeblich beeinflussen. anderem Raum- und Planungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, Planungspraktikerinnen und –praktiker Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe sind zum einen in ei- und Mitarbeitende aus verschiedenen Fachverwaltungen nem rahmensetzenden Positionspapier, zum anderen in des Landes beteiligt. vier weiteren, den genannten Themenfeldern entspre- chenden Positionspapieren in der Reihe „Positionspapie- Handlungsempfehlungen im Sinne einer re der ARL“ veröffentlicht. Das Rahmenpositionspapier Politikberatung stellt die Bedeutung ländlicher Räume in der gesam- In ausgewählten Themenfeldern wurden nicht nur träumlichen Entwicklung des Bundeslandes heraus, skiz- Situation und Entwicklungsperspektiven ländlicher ziert Megatrends in ihrem Stellenwert für die zukünftige Räume in NRW beschrieben. Vielmehr wurden auch Entwicklung und beschreibt wesentliche Kernforderun- Anforderungen an zukünftiges Handeln skizziert und gen (ARL 2021 a). Diese werden, jeweils nach kritischen vielfältige Handlungsempfehlungen im Sinne einer Poli- Bestandsaufnahmen, themenspezifisch in den weiteren tikberatung erarbeitet. Diese sind an Politik, Raum- und Positionspapieren aufgegriffen und konkretisiert. Fachplanungen sowie an unterschiedliche Akteursgrup- pen gerichtet, die zusammen mit öffentlichen Stellen Träger der Regional- und Kommunalentwicklung in den Ausgangslage und Perspektiven ländlichen Räumen sind. Aus umfangreichen Vorarbei- ten heraus wurde den Themen Der aktuelle Struktur- und Funktionswandel ländlicher · Wirtschaft und Arbeit, Räume in NRW ist Teil der gesamträumlichen Entwick- · Wohn- und Siedlungsentwicklung, lung, von der die funktionale Raumstruktur des Landes · bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt sowie erfasst ist: Zunehmende Stadt-Umland-Verflechtungen, · Daseinsvorsorge mit dem Fokus auf Freiwillige Feuer- Wachstum der Städte und Metropolregionen, Ausbau von wehren/Brandschutz und Gesundheitsversorgung/Pflege Verkehrsinfrastrukturen sowie anhaltende Umwidmun- eine besondere Relevanz beigemessen. Im Themenfeld gen des Freiraums für Wohnen, Verkehr und Gewerbe „Daseinsvorsorge“ begründete sich die engere Bezug- sind nur einige Aspekte, die den abstrakten Begriff vom nahme auf die oben genannten Themen zum einen „Stadt-Land-Kontinuum“ erfahrbar machen. HEIMAT WESTFALEN – 6/2021 / 5
STrukTur uNd FuNkTIoNSWANdEL Arbeitsstruktur und Struktur der Ergebnispräsentation des ArL-Arbeitskreises Grafik/ Arens, Grabski-Kieron 2021 Angesichts der gerade für NRW typischen engen teil- REGIONALEN eine große Rolle, weil diesem Strukturpro- räumlichen Verflechtungen sowie der großen regiona- gramm des Landes inhärent ist, dass freiwillig zusam- len Differenziertheit ländlicher Räume gewinnt weniger mengeschlossene Regionen wie zum Beispiel die Region die Frage einer exakten teilräumlichen Abgrenzung an Südwestfalen, ihre Herausforderungen definieren und Bedeutung; vielmehr rückt jene Frage in den Vorder- eigene Strategien und konkrete innovative Lösungsan- grund, welche Positionen ländliche Räume als Teilräu- sätze entwickeln und so die Regionalentwicklung vor- antreiben und auch mitprägen „Wirtschaftliche Prosperität erwächst nicht mehr allein aus den können (Arens S., Krajewski, C. 2020). Beziehungen zu den Metropolregionen, sondern ist Ergebnis sowohl eigener Entwicklungspfade als auch eigenständiger Regional- Im Struktur- und Funktions- entwicklung. Hier spielen in NRW besonders die REGIONALEN wandel verändert sich auch die ländliche Gesellschaft: eine große Rolle.“ Städtische und ländliche Le- bensstile vermischen sich; me im gesamträumlichen Gefüge gegenwärtig und viele Menschen nehmen das Leben in ländlichen zukünftig einnehmen und welche spezifischen regiona- Wohn- und Arbeitsumfeldern als attraktiver wahr als len Kennzeichen sie aufweisen. Wirtschaftliche Prospe- früher. Viele Qualitäten ländlicher Räume, seien es rität erwächst nicht mehr allein aus den Beziehungen ihre Funktionen als Freizeit- und Erholungsräume oder zu den Metropolregionen, sondern ist Ergebnis sowohl die urbanen Qualitäten von Klein- und Mittelstädten, eigener Entwicklungspfade als auch eigenständiger Re- werden heute mit positiveren Attributen belegt als dies gionalentwicklung. Hier spielen in NRW besonders die früher geschah. 6 / HEIMAT WESTFALEN – 6/2021
ländlicher Räume in Westfalen Viele Qualitäten ländlicher Räume als Landschafts- oder Siedlungsräume werden heute stärker wertgeschätzt. Foto/ Ulrike Grabski-Kieron Mit Blick auf die Zukunft sind vielfältige Entwicklungs- Sich verändernde Akteursgruppen, zum Beispiel. durch tendenzen für die ländlichen Räume in NRW erkennbar: Neubürgerinnen und -bürger in den Dörfern, verändern Einerseits werden die teilräumlichen Verflechtungen bereits heute Engagement- und Mitwirkungsstrukturen zunehmen, andererseits werden sich auch spezifische und bringen neue Inhalte in kooperative Governancepro- regionalökonomische Positionierungen einzelner Regio- zesse der ländlichen Entwicklung hinein. nen akzentuieren. Damit werden sich ländliche Raum- typen, auch mit kleinräumigen Entwicklungstrends, Auch von den aktuellen gesamtgesellschaftlichen Me- weiter ausdifferenzieren. gatrends bleiben ländliche Räume nicht unberührt. Als langfristige Impulsgeber für den Struktur- und Funk- Ausdifferenzierung ländlicher Raumtypen tionswandel lassen sich unter anderem die folgenden Auch andere Funktionen ländlicher Räume, zum Bei- Trends erkennen: spiel hinsichtlich Energieproduktion, Wohnen, Bio- diversität, Land- und Forstwirtschaft werden dazu · Mit der Digitalisierung und mit digitaler Transfor- beitragen. Bereits heute stoßen Flächenumwidmung mation entstehen bereits aktuell tiefgreifende Fol- und Flächenkonkurrenzen an räumliche Kapazitäts- gen für Wirtschaft, Arbeits- und Lebenswelten, für grenzen und lösen Nutzungskonflikte aus. In manchen Daseinsvorsorge, Verwaltung, Verkehr und für viele Regionen wird daraus ein erheblicher Problemdruck andere Sektoren mehr. Sich verändernde Wirtschafts- auch in der Zukunft erwachsen. Ländliche Räume sind abläufe und Arbeitsmärkte setzen Bedarfe an flexib- vom demografischen Wandel (Alterung, Migrationsge- leren und kreativeren Berufs- und Branchenprofilen schehen und anderes) unterschiedlich betroffen. Dies frei und mobilisieren Kräfte für neue Geschäftsmo- hat nicht nur Folgen für Siedlung und Wirtschaft, son- delle. Damit zeichnen sich für Wissensproduktion dern im besonderen Maße auch für die Daseinsvorsorge. und -transfer in den Regionen, mithin für Forschung, HEIMAT WESTFALEN – 6/2021 / 7
Struktur und Funktionswandel Kooperative Wissensproduktion Innovations- netzwerke U n t Regionale e Region Wissens- r Innovative Wissensakquise n komponenten Milieus e h m e n Territoriale Wissensabsorption Govemance Das Schema „Wissen- Region“ Grafik/ Grabski-Kieron, Bröckling Aus- und Weiterbildung auf allen Ebenen, neue Her- hingewiesen und die Vulnerabilität mancher Regio- ausforderungen ab. nen aufgezeigt; anhaltende Verluste an Biodiversität · Das Aufbrechen und Infrage-Stellen traditioneller Rol- und der Verbrauch natürlicher Ressourcen verschär- lenmuster (gender shift) wird zusätzliche Impulse für fen die Problemsituationen. Ländliche Räume mit die Transformation von Wirtschaft und Arbeit in länd- ihren gegenüber den Städten hohen Freiraumantei- lichen Räumen geben. len verdienen hier besondere Beachtung. Eine kon- · Bei sich wandelndem Mobilitätsbewusstsein und -ver- sequentere nachhaltige und resiliente Entwicklung halten und mit der Marktreife neuer Technologien wird ist das Gebot der Stunde. Sie wird noch mehr als sich das Verkehrsgeschehen auch in ländlichen Räumen heute zukünftig alle Lebensbereiche durchdringen. verändern. Infrastrukturentwicklung heißt dann nicht Anforderungen an Prozesse der Kreislaufwirtschaft, mehr vorrangig quantitativer Ausbau, sondern steht neue Wertschöpfungsketten, Ressourceneffizienz noch mehr als aktuell unter den Vorzeichen qualitativer und vieles mehr werden auch die Entwicklungspfa- Anpassungen. Dies gilt umso mehr auch angesichts der de ländlicher Räume maßgeblich beeinflussen. spezifischen Bedürfnisse einer alternden Gesellschaft (silver society) an Lebensqualität, Daseinsvorsorge und Corona-Pandemie als Treiber der Transformation Mobilität. Nicht zuletzt erweist sich die anhaltende Corona-Pande- · Für das Leben, Wirtschaften und Arbeiten in ländlichen mie als Treiber tiefgreifender sozioökonomischer Trans- Räumen gewinnen gleichzeitig Wertmaßstäbe einer formationen, deren langfristige Folgewirkungen erst „Work-Life-Balance“ zukünftig größere Bedeutung als noch unzureichend abzusehen sind. Bereits heute zeigt bisher. Die damit zusammenhängenden Folgen zum sich, dass ländliche Räume einerseits unter den Zeichen Beispiel für die Freizeit, das Landschaftserleben oder von Arbeiten im Homeoffice und unter sich wandelnden die Gestaltung von Lebens- und Wohnumfeldern, mit- gesellschaftlichen Wertmaßstäben für gesundes Leben hin auch für eine neue qualitätsvolle städtebauliche „Gewinner“ in der Pandemie-bedingten Transformation Entwicklung von Städten und Gemeinden, zeichnen sind; andererseits sind viele ländliche Regionen im hohen sich bereits aktuell ab und werden in Zukunft größe- Maße Betroffenheitsregionen und unterscheiden sich dar- re Aufmerksamkeit erfahren. Gleiches gilt für die sich in grundsätzlich wenig von anderen städtischen Regionen. damit verändernden Anforderungen an Gesundheits- vorsorge und -pflege. Insgesamt liegen im Politikfeld zur Entwicklung ländli- · Die Brisanz einer Vielzahl von ökologischen Problem- cher Räume vielfältige Herausforderungen für zukünfti- kreisen wird zunehmen: Jüngste Hochwasserkata- ge Politikgestaltung begründet. Neue Diskurse über die strophen haben auf die Intensität des Klimawandels Zukunft ländlicher Entwicklung und Wege der Annä- 8 / HEIMAT WESTFALEN – 6/2021
ländlicher Räume in Westfalen Industriegelände der Firma EJOT in Bad Berleburg. EJOT wurde 1922 gegründet und ist mit über 3.000 Mitarbeitern führend bei hochwer- tigen Federungs- und Fahrwerkssystemen sowie technischen Spezialfedern für anspruchsvolle Anwendungen. Damit ist das Unterneh- men einer von mehr als 150 Weltmarktführern in Südwestfalen. Foto/ Südwestfalen Agentur GmbH/Dominik Ketz herung und Auseinandersetzung, die die aktuellen Ent- Im Folgenden werden die Handlungsfelder und einige wicklungstrends kritisch aufgreifen, sind nötig. Diesen dieser Empfehlungen beispielhaft skizziert. Aspekten sah sich die ARL-Arbeitsgruppe verpflichtet. Handlungsfeld „Ländliche Räume als Kernforderungen und Empfehlungen Standorte von Wirtschaft und Arbeit“ in den ausgewählten Handlungs- feldern – die ARL bezieht Stellung Ländliche Räume als Wirtschaftsstandort haben maßgeb- lichen Anteil an der Wirtschaftskraft des Landes NRW. Die Analyse der Ausgangslage und die kritische Aus- Perspektivisch werden sie sich auf den teilräumlich dif- einandersetzung mit den beobachteten Trends in der ferenzierten Entwicklungspfaden zwischen der Etablie- räumlichen Entwicklung boten der ARL-Arbeitsgrup- rung und dem Ausbau regionaler Wertschöpfungsketten pe den maßgeblichen Orientierungsrahmen, um einerseits und der Ausrichtung auf internationale Märkte sich zu den Perspektiven ländlicher Räume in NRW „Die Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume als Wirtschaftsstandorte zu positionieren, Kernfor- erfordert in Anbetracht der sich aktuell zeigenden Grenzen des Wachs- derungen in den ausge- wählten Themenfeldern tums und der mannigfaltigen sozioökonomischen wie ökologischen zu formulieren und Hand- Herausforderungen veränderte Paradigmen räumlicher Entwicklung lungsempfehlungen auszu- und neue Formen kooperativen Entscheidungshandelns.“ (ARL 2021b) sprechen. Diese richten sich an verschiedene Adressatengruppen aus Politik, Re- andererseits weiterentwickeln. Die klein- und mittelstän- gional- und Kommunalentwicklung und Fachressorts, dische Wirtschaftsstruktur bleibt maßgeblicher Träger die im Handlungsfeld ländlicher Raumentwicklung dieser Entwicklung mit Potentialen und Kapazitäten für tätig sind. gezielten Strukturwandel und Innovation. HEIMAT WESTFALEN – 6/2021 / 9
Struktur und Funktionswandel Gewerbeflächenbedarf im ländlichen Raum Foto/ Ulrike Grabski-Kieron Dies gilt gerade auch hinsichtlich der digitalen Transfor- maanpassung oder Infrastrukturbedarfe neuer Mo- mation und den damit ausgelösten Veränderungen von bilität, veränderte Arbeitsstrukturen genauso wie sie Produktionsprozessen und Arbeitsorganisation. ökologischen Flächenbedarfen hinsichtlich Klima- und Hochwasserschutz und Biodiversität maßgebliche Be- Zukunftsperspektiven liegen aber auch darin begrün- deutungen beimisst. det, die sich immer deutlicher zeigenden Grenzen des Wachstums, wie sie sich an ökosystemaren Grenzen, Städte und Gemeinden sollten Initiativen mit Ausstrah- an Grenzen der Flächenverfügbarkeiten für Standort- lung für die gesamte Region entfalten, damit diese als entwicklung oder an Grenzen gesellschaftlicher Ak- attraktive Wirtschaftsräume und als Räume angeneh- zeptanz zeigen, bewusst anzunehmen. Das heißt auch men Arbeitens und Lebens wahrgenommen werden. Wirtschaftsentwicklung an einem anderen Wachs- In einer kommunalen Entwicklungspolitik, die urba- tumsbegriff auszurichten als bisher. Ein konsequentes ne Qualitäten fördert, Baukultur wahrt und Grünaus- Handeln in den definierten Spielräumen des Planungs- stattung und Landschaft an den Ortsrändern erlebbar rechts, ein abgestimmtes Entscheidungshandeln aller macht, liegt unter anderem auch ein Schlüssel, Fach- Akteure, zum Beispiel auch in interkommunaler Zu- kräfte mit ihren Familien anzuziehen und junge Leute sammenarbeit und regionalen Vernetzungsstrukturen, zum Dableiben oder Wiederkehren zu bewegen. Zeit- sind dafür unter anderem eine wichtige Vorausset- gemäßen Ausbildungs- und Weiterbildungskapazitäten zung. Akteurinnen und Akteure der Landes,- Regio- in den ländlichen Räumen kommt eine ebenso große nal- und Kommunalpolitik müssen mehr als bisher Bedeutung zu. Die digitale Transformation bietet Chan- die Entwicklung der ländlichen Räume als ganzheitli- cen, Ausbildungsformate und -methoden weiterzuent- ches Politikfeld begreifen, in dem Raumordnungs- und wickeln und kann helfen, Tendenzen von Schließungen Ressortpolitiken gebündelt sind. Hier abgestimmte entgegenzuwirken. Chancen dazu sollten konsequent Rahmenbedingungen für die ländliche Entwicklung genutzt werden. sollten auf teilräumliche Strategieentwicklung genau- so wie auf effektive Projektstrukturen zur Konkretisie- Land- und Forstwirtschaft mit ihren vor- und nachge- rung und Umsetzung ausgerichtet sein. lagerten Bereichen werden auch in der Zukunft in vie- len Regionen wesentliche Wirtschaftssektoren bleiben. Für die zukünftige Entwicklung von Wirtschaftsflä- Die bereits heute erreichte große Differenzierung wird chen sollte nicht allein die quantitative, sondern vor in der Zukunft wertvolle Basis sein, um den nötigen allem eine qualitative Flächenentwicklung Maßstab Anpassungsprozessen (unter anderem Klimawandel, werden. Sie integriert unter anderem bauliche Kli- Biodiversität, Tierwohl) in einem maßvoll flankierten 10 / HEIMAT WESTFALEN – 6/2021
ländlicher Räume in Westfalen Strukturwandel zu begegnen. Dazu müssen Politik, eine größere Bedeutung zugemessen werden als bisher. Akteurinnen und Akteure auf verschiedenen Ebenen, Die letzten Hochwasserkatastrophen haben einmal mehr allen voran Kammern, Verbände, Naturschutz- und gezeigt, dass es in der Zukunft mehr als bisher darum ge- Verbraucherschutzorganisationen, Bildungseinrich- hen muss, Flächenentwicklung und Bauplanung langfri- tungen und nicht zuletzt Partner und Partnerinnen stig daran auszurichten, sich an veränderte ökologische in den Regionen und vor Ort, beitragen. Ein neuer „Ge- Rahmenbedingungen anzupassen. Planerisches Leitziel sellschaftsvertrag“ zwischen Land- und Forstwirtschaft in diesem Sinne sollte es sein, größtmögliche Wider- und der Gesellschaft ist unerlässlich, nicht nur um standsfähigkeit, das heißt Resilienz gegenüber solchen Kommunikationsstrukturen zu verbessern, sondern Bedrohungen zu entwickeln. Dies gilt für Städte und Dör- auch, um gesellschaftliche Impulse für den Struktur- fer im gleichen Maße. wandel in diesem Sektor aufzunehmen. Der Aufbau regionaler Ernährungssysteme wird gerade für NRW Um den skizzierten Anforderungen wirksam zu begeg- mit seinen engen Stadt-Land-Verf lechtungen neue nen, erhalten sowohl ein strategischer Planungs- und Perspektiven der Wirtschaftsentwicklung in diesem Entwicklungsansatz wie zum Beispiel eine integrierte Wirtschaftssektor eröffnen. kommunale Entwicklungsplanung, als auch die inter- kommunale Kooperation einen besonderen Stellenwert. Darüber hinaus kann ein aktives und nachgehaltenes Flä- Handlungsfeld „Wohnen und Siedlungs- chenressourcenmanagement auf kommunaler oder auf entwicklung in ländlichen Räumen“ Kreisebene helfen, Innen- und Außenentwicklung unter Maßgabe des „Drucks auf die Fläche“ sinnvoll abzustim- Zukünftige Entwicklung von Wohn- und Siedlungsflä- men und als strategisches Instrument Wirkungen unter chen verlangt mehr als heute nach einer integrierten anderem für Ressourcenschonung und Konfliktminde- Vorgehensweise: Es gilt, nicht nur kommunale Einzelin- rung zu entfalten. Kleine ländliche Kommunen, deren teressen in der Flächenausweisung vor dem Hintergrund Personalkapazitäten dafür zu eng sind oder denen Fach- von Angebot und Nachfrage zu wahren, sondern viel- kompetenzen fehlen, sollten auf diesem Wege durch die mehr Tendenzen im interkommunalen und kleinregio- Landespolitik unterstützt werden. nalen Umfeld aufzugreifen und bei Entscheidungen zu Flächenausweisungen und Wohnungsangeboten zu be- Zukünftige Konzeptionen des Wohnungsbaus soll- rücksichtigen. Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit ten sich nicht nur an den Daten des demografischen sind als Leitprinzipien mehr denn je unerlässlich. Jedoch Wandels orientieren, sondern den sich verändernden Lebensstilen und Alltag- „Die Wohn- und Siedlungsflächenentwicklung in den Kommunen ländli- spraktiken jeweiliger Zielgruppen Rechnung cher Räume trifft auf differenzierte Ausgangslagen und erfordert lokal tragen. Qualitätsvoller angepasste Strategien, die sowohl Wachstumssteuerung als auch Schrump- Wohnungsbau auf dem fungsanpassung berücksichtigen. Das Thema „Wohnen und Siedlungsent- Lande benötigt gleicher- maßen Konzepte einer wicklung“ darf deshalb nicht isoliert als sektorale Perspektive betrachtet daran angepassten Ar- werden, und ganzheitliche und strategische Planungsansätze müssen chitektur wie auch einer gestärkt sowie die Kommunen bei der Anwendung der planerischen Steue- Grün- und Freiraumpla- rungsinstrumente unterstützt werden.“ (ARL 2021c) nung, die die Zeichen der Zeit aufnimmt und die zu Konfliktlösungen stehen sie mit Blick auf die Zukunft nicht mehr allein für beiträgt. Ein der Flächenausweisung und Baupro- sich: Im Zeichen der Klimawandel-Verwundbarkeit von jekt-Entwicklung vorgeschalteter strategischer Pla- Standorten und ganzer Regionen sollte darüber hinaus nungsansatz ist auch hier unabdingbar. Kommunen, dem Aspekt der Resilienz auf allen Ebenen der Planung kommunale und regionale Wohnungsunternehmen HEIMAT WESTFALEN – 6/2021 / 11
Struktur und Funktionswandel in ein solches Engagement einbringen. Das Zeitbudget dafür ist bei diesen Alltagspraktiken einfach nicht mehr da. Es bleibt abzuwarten, ob und wie sich zum Beispiel die Arbeit im Homeoffice auf Zeitbudget und die Bereit- schaft, sich zu engagieren, auswirken wird. Vor diesen genannten Hintergründen ist und bleibt bür- gerschaftliches Engagement unverzichtbar und benötigt Der Struktur- und Funktionswandel schafft veränderte Bedarfe umso mehr nicht nur Anerkennung, sondern auch aner- für Wohn- und Siedlungsflächen. kannte Strukturen, Ausstattung und Förderungen etwa Foto/ Ulrike Grabski-Kieron analog denen der kommunalen Wirtschaftsförderungs- gesellschaften. Denn bürgerschaftliches Engagement sowie private Investoren sind unverzichtbare Partner. bildet ein starkes Fundament für die soziale und gesell- Die Rufe nach kleinregionaler und regionaler Weitsicht schaftliche Entwicklung vor Ort und entwickelt damit und neuen inhaltlichen Planungsperspektiven sollten eine vergleichbare Relevanz für das kommunale Ge- nicht den Blick darauf verstellen, dass bereits das vor- meinwesen wie die kommunale Wirtschaftsförderung. handene Arsenal kommunaler Steuerungsinstrumente eine Fülle formal-rechtlicher und informeller Möglich- Politik und Verwaltung auf allen Ebenen sollten daher keiten für eine in diesem Sinne zielgerechte lokale Pla- auch vergleichbare Rahmenbedingungen wie die Sicher- nung bietet. Diese gilt es auszuschöpfen. stellung einer entsprechenden finanziellen und personel- len Ausstattung schaffen. Einen ersten Schritt um hier voranzukommen, wurde auf Landesebene mit der 2021 Handlungsfeld „Bürgerschaftliches veröffentlichten Engagementstrategie des Landes NRW Engagement und Ehrenamt als Stand- getan (Landesregierung NRW 2021). ortfaktor für ländliche Räume Um dies zu erreichen, benötigt bürgerschaftliches Enga- Die Bedeutung bürgerschaftlichen Engagements und des gement nicht nur eine gute Datengrundlage; vielmehr Ehrenamts als tragende Säule gerade für ländliche Räu- muss Engagement auch zur Chefsache in den Kommu- me ist unbestritten und wird in Politik wie Wissenschaft nen werden, mehr noch: es muss in eine Engagement- häufig betont. Bürgerschaftliches Engagement trägt strategie vor Ort eingebettet werden, die gemeinsam mit engagierten Gruppen und „Für die zukunftsfähige Gestaltung ländlicher Räume in NRW muss Bürgerinnen und Bürgern erar- beitet wird. Eine solche Strategie bürgerschaftliches Engagement in seiner Wahrnehmung, Wertschät- kann auch interkommunal ge- zung und Wertigkeit der kommunalen Wirtschaftsförderung gleich- dacht werden und einen Fokus gestellt werden.“ (ARL 2021d) darauf legen, Engagement als kulturellen Bestandteil ländli- durch die Sicherung von Angeboten der Daseinsvorsorge cher Räume und ländlicher Entwicklung zu unterstrei- und von soziokulturellen Angeboten zu einem großen chen. In diesem Sinne gilt es vor allem, gemeinsam Ziele Teil zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse festzulegen, Ressourcen zugunsten des Engagements zu bei und ist zugleich Treiber sozialer Innovationen. Diese bündeln und Unterstützung bei Organisationsstruktu- Substitutionslogik, also die Übernahme von eigentlich ren, Finanzen und Weiterbildung im Sinne eines Kom- staatlichen Aufgaben, hat in ländlichen Räumen eine petenzaufbaus von Vereinen und Initiativen, aber auch lange Tradition. Allerdings behindern der demografi- Verwaltungen zu entwickeln. sche Wandel wie auch veränderte Lebenssituationen mit größerer beruflicher Mobilität oder mit multilokalen Unterstützungsstrukturen sollten hier räumlich Lebensentwürfen, dass sich vermehrt Menschen vor Ort im Sinne von Engagement-Hubs gebündelt werden. 12 / HEIMAT WESTFALEN – 6/2021
ländlicher Räume in Westfalen LEADER-Regionen könnten hier eine passende räumli- lichen System ergibt sich eine spezifische Problematik. che Größe und „erweiterte“ LEADER-Regionalmanage- Sie verlangt auch nach spezifischen, das heißt maßge- ments auch Angebotsplattform darstellen. Die eher in schneiderten Lösungskonzepten. In der Zukunft spielen städtischen Räumen angesiedelten Freiwilligenagentu- in diesem Sinne hybride und passgenaue Konzepte eine ren könnten Vorbild und Partner gleichermaßen sein. wichtige Rolle. Das bedeutet auch, Daseinsvorsorge als Dafür gilt es besonders, die Möglichkeiten der Digita- Aufgabe öffentlich-privater Partnerschaften zu verstehen. lisierung zu prüfen und zu nutzen, um Synergien und Regionen und vor allem Kommunen müssen sich darin eine Professionalisierung der Strukturen zu fördern, als Akteursnetzwerke zusammen mit privaten Institu- aber auch, um Engagement von Menschen mit starker tionen, Verbänden, mit Trägern zivilgesellschaftlichen lokaler Bindung, die aber nicht mehr oder nicht immer Engagements und vielen mehr verstehen und eine aktive vor Ort sind, „ortsungebunden“ weiter einzubeziehen. Rolle einnehmen. Für die dafür notwendigen kreativen und innovativen In diesem Sinne versteht sich auch der Westfälische Heimat- Prozesse ist dabei zentral, auch Freiräume für unorgani- bund e. V. (WHB) als Sprachrohr und Initiator neuer Konzepte siertes und projektbezogenes Engagement zu schaffen. und Netzwerke zur Stärkung des ländlichen Raumes. In seinem Denn gerade Initiativen und informellen Engagements Themenschwerpunkt „Zukunft der Dörfer“ 2020/2021 fordert der wird eine hohe Impulswirkung zugeschrieben. Vereine WHB eine Gesamtstrategie für gleichwertige Lebensverhältnisse bieten in ihrer oft stark organisierten Form dann die in Stadt und Land, für den Erhalt der Lebensqualität vor Ort sowie langfristigeren Strukturen, die für die Umsetzung von für eine aktive Zivilgesellschaft. Projekten benötigt werden. Beide Formen ergänzen sich also, beide Formen bieten vor allem die Möglichkeit, Dies gilt umso mehr, weil „Daseinsvorsorge“ mit vie- selbstwirksam zu werden und das eigene Lebensumfeld len der bereits skizzierten Herausforderungen ver- und damit die ländlichen Räume mitzugestalten. knüpft ist: Bereits heute hat sich beispielsweise die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Attraktivität von Wirtschaftsstandorten in ländlichen Räume, zum „Daseinsvorsorge“ mit dem Fokus Beispiel um junge aufstrebende Unternehmen oder auf Feuerwehr/Brandschutz und Fachkräfte mit ihren Familien anzuziehen, unter an- Gesundheit/Pflege als zentrale derem auch von Angeboten der Daseinsvorsorge vor Ort oder in der Region abhängt. Eine gesicherte Da- Handlungsfelder für ländliche Räume seinsvorsorge ist also ein wichtiger Standortfaktor, Eine gesicherte Daseinsvorsorge „in der Fläche“ mit funk- und ihm wird in der Zukunft vor dem Hintergrund tionierenden Einrichtungen und Dienstleistungen ist für der Konkurrenz von Regionen ein größeres Gewicht die Menschen in den ländlichen Räumen ein Stück Le- zukommen als aktuell. bensqualität. Für Kommunen und für Institutionen der Raum- „Kommunen und interkommunale Kooperationen müssen Antworten ordnung ist sie verpflichtender Planungs-und Handlungsauf- geben auf ein sich änderndes Angebot sowie sich ändernde Bedarfe, trag, genau diese Angebote Ansprüche und Nachfragen in vielen Feldern der Daseinsvorsorge. in allen Teilen des Landes im Sie müssen sich deshalb in ländlichen Räumen für neue und vielfach Sinne einer Gleichwertigkeit hybride Konzepte der Daseinsvorsorge öffnen und hierbei eine aktive der Lebensbedingungen sicher- zustellen. Die Dringlichkeit planende Rolle übernehmen.“ (ARL 2021e) dieser Aufgabe stellt sich in un- terschiedlichen Typen ländlicher Räume differenziert Im Bereich „Brandschutz/Feuerwehr“ sollten zukunfts- dar. Je nach Betroffenheit im demografischen Wandel, je weisende Konzepte die mehrdimensionale Bedeutung nach regionalem Entwicklungspfad und je nach Stärke der Feuerwehren in den ländlichen Räumen aufgreifen: gerade auch der Klein- und Mittelstädte im zentralört- Freiwillige Feuerwehren stehen einerseits vor größer HEIMAT WESTFALEN – 6/2021 / 13
Struktur und Funktionswandel werdenden Aufgaben im Katastrophenschutz, wie die und lokaler Zusammenarbeit mit allen Partnern gilt es, jüngsten Hochwasserereignisse gezeigt haben, ande- Dienstleistungen entsprechend sich verändernder Bedar- rerseits sind sie Träger gesellschaftlichen Engagements fe effizient zu strukturieren und mit Unterstützung di- und für die ländliche Soziokultur unerlässlich. Der nicht gitaler Möglichkeiten neu zu konzipieren. Mit Blick auf kleiner werdenden Aufgabenvielfalt stehen bereits heute die Zukunft sind eine starke regionale Vernetzung der Probleme gegenüber, diese Aufgaben auch zukünftig zu Partner und neue, aufeinander abgestimmte Aufgaben- erfüllen: Sich verändernde Lebensstile verlangen ein an- teilungen dazu unerlässlich. deres Zeitmanagement für Beruf und Familie einerseits und für ein Feuerwehr-Engagement andererseits, mul- tilokale Lebensführungen lassen dafür keine Zeit; für Zusammenfassung junge Menschen fehlen Anreize, sich in die Feuerwehr vor Ort einzubringen und vieles mehr. Perspektiven ländlicher Räume in Nordrhein-Westfalen erschließen sich nicht nur allein aus der Blickrichtung Mehrdimensionale Bedeutung der Feuerwehren auf die Verflechtungsbeziehungen zu den Metropolregio- Mit Blick auf die Zukunft sind Führungskräfte der Feuer- nen und zu den großen Städten. Mit ihren spezifischen wehr und der Rettungsdienste, aber auch Fachverbände, Ausgangslagen, Entwicklungspfaden und Potentialen Kommunen, Kreise und Regionen nicht nur vor die Auf- weisen viele ländliche Regionen vielmehr ihre eigenen gabe gestellt, jene Chancen, die sich durch die digitale Entwicklungsdynamiken auf. Beide Ausgangslagen muss Transformation zum Beispiel für attraktivere und effi- Politik für die ländlichen Räume berücksichtigen. Sie zientere Organisationsstrukturen und Arbeitsteilungen stellt sich als ein umfassendes, das heißt ressortübergrei- ergeben, wahrzunehmen und zu nutzen. Es wird auch fendes Politikfeld dar. Es wird mit Blick auf die Zukunft darum gehen, zukunftssichere Lösungen durch inter- darauf ankommen, in Formen privat-öffentlicher Part- kommunale Kooperationen zu stärken. Andere Hand- nerschaften raum- und problemangepasste Strategien lungsfelder kommen hinzu: Dazu zählen zum Beispiel und Konzepte zu entwickeln, um Antworten auf anste- eine kluge Werbung für junge Menschen und auch für hende Herausforderungen zu finden. Eine ARL-Arbeits- Frauen oder die Entwicklung neuer Konzepte im Sinne gruppe hat zentrale Forderungen und Handlungsfelder einer Teil-Verberuflichung der Freiwilligen Feuerwehren. erarbeitet, denen zur zukünftigen Entwicklung ländli- cher Räume in NRW eine wesentliche Bedeutung zuge- Auch im Handlungsfeld „Gesundheitsversorgung/Pflege“ messen wird. Handlungsfelder und -empfehlungen sind werden vom ARL-Arbeitskreis eine Vielzahl von Akteuren an ein breites Spektrum von Akteuren und Zielgruppen adressiert: Landespolitik, Kommunen, Kreise und Regio- adressiert. Es ist wünschenswert, dass die skizzierten nen, Verbände, Sozialträger und die kassenärztlichen Kernforderungen in weitere Diskurse einfließen und Vereinigungen stehen hier in erster Reihe, jedoch auch fortgeschrieben werden. andere, wie die Kirchen, Wirtschaftsförderungen und Wohnungsunternehmen. Kommunen und Regionen sind Prof. a. D. Dr. Ulrike Grabski-Kieron, Dipl.Geogr. (*1956), die „zentralen“ Aushandlungs- und Kooperationsarenen. bis 2017: Professorin für Orts-, Regional- und Landesent- wicklung/ Raumplanung am Institut für Geographie, Univer- Proaktive Bemühung um Fachpersonal und sität Münster. Mitglied der Akademie für Raumentwicklung Praxisnachfolgen in der Leibniz-Gemeinschaft (ARL); seit 2018 in verschiede- Hier müssen sich Kommunen und Regionen mehr als nen wissenschaftlichen und wissenschaftsnahen Engage- früher als handelnde Akteure verstehen und eine aktive ments tätig. Rolle einnehmen, zum Beispiel wenn es um die Gewin- nung von Fachpersonal, um Praxisnachfolgen oder um Dr. Stephanie Arens (*1971) Dipl.Geogr., MA Raumpla- die langfristige Sicherung von Versorgungs- oder Pflege- nung/Regionalentwicklung; Südwestfalen Agentur GmbH, einrichtungen geht. Kompetenzen im Gesundheitswe- Leiterin Bereich Regionale Entwicklung; seit 2018 als Proku- sen und in der Pflege sind neu zu bewerten und an sich ristin. Mitglied in der Akademie für Raumentwicklung in der ändernde Aufgabenprofile anzupassen. In regionaler Leibniz-Gemeinschaft (ARL). 14 / HEIMAT WESTFALEN – 6/2021
ländlicher Räume in Westfalen Die Freiwillige Feuerwehr aus Brochterbeck präsentiert sich auf der Frühjahrsschau der örtlichen Handels- und Gewerbebetriebe an einem verkaufsoffenen Wochenende im März 2015. Foto/ Greta Schüttemeyer © LWL-Medienzentrum für Westfalen Literatur ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (Hrsg., 2021): ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (Hrsg., Die ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft. In: 2021e): Ländliche Räume in NRW – Räume mit Zukunftsperspektiven. www.arl-net.de/de/content/aufgaben-und-ziele-der-arl (abgerufen am: 05.12.2021). Schwerpunktthema Daseinsvorsorge. In: Positionspapiere aus der ARL, Nr. 132 (in Druck), demnächst auch online unter: www.arl-net.de/content/pu- ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibnizgemeinschaft (Hrsg., blikationen 2021a): Rahmen-Positionspapier „Ländliche Räume in NRW: Räume mit Zukunftsperspektiven“. In: Positionspapiere aus der ARL Nr. 128. Hannover Arens, Stephanie/Ulrike. Grabski-Kieron (2021): Zukunftsperspektiven ländlicher (in Druck), demnächst online unter: www.arl-net.de/content/publikationen Räume in NRW. Die Landesarbeitsgemeinschaft NRW der Akademie für Raum- entwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (ARL) bezieht Stellung. In: RaumPla- ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (Hrsg., 2021b) nung – Fachzeitschrift für räumliche Planung und Forschung. 2021, 212/3–4, Ländliche Räume in NRW – Räume mit Zukunftsperspektiven. Schwerpunktthema S. 61–65. Wirtschaft und Arbeit. In: Positionspapiere aus der ARL Nr. 129. Hannover (in Druck), demnächst auch online unter: www.arl-net.de/content/publikationen Arens, Stephanie/Krajewski, Christian (2020): „Südwestfalen: Zukunftsgestaltung in einem prosperierenden ländlichen Raum mit demografischen Herausforderun- ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (Hrsg., 2021c): gen: digital – nachhaltig – authentisch.“ In: Land in Sicht. Ländliche Räume in Ländliche Räume in NRW – Räume mit Zukunftsperspektiven. Schwerpunktthema Deutschland zwischen Prosperität und Peripherisierung. Hrsg. Christian Krajew- Wohn- und Siedlungsentwicklung. In: Positionspapiere aus der ARL, Nr. 130 (in ski, Klaus Wiegandt. Bonn 2020 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Druck), demnächst auch online unter: www.arl-net.de/content/publikationen Bildung; 10362), S. 389–405. ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (Hrsg.,2021d) Landesregierung NRW: Engagementstrategie für das Land Nordrhein-West- Ländliche Räume in NRW – Räume mit Zukunftsperspektiven. Schwerpunktthema falen; online unter: www.land.nrw/tags/engagementstrategie, abgerufen am: Bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt. In: Positionspapiere aus der ARL, Nr. 11.12.2021). 131 (in Druck), demnächst auch online unter: www.arl-net.de/content/publikationen HEIMAT WESTFALEN – 6/2021 / 15
STrukTur uNd FuNkTIoNSWANdEL rEgIoNALE IdENTITäTEN IM WESTFäLIScHEN ruHrgEbIET voN MATTHIAS Löb zeche Hugo in gelsenkirchen-buer Foto/ Siegbert Kozlowski © LWL-Medienzentrum für Westfalen 16 / HEIMAT WESTFALEN – 6/2021
ländlicher Räume in Westfalen d ie Einladung zu einer Festrede zum 100-jährigen Jubiläum des Vereins für Orts- und Heimatkun- de e. V. Oer-Erkenschwick bot den Anlass, einmal über das Konstrukt einer regionalen Identität nach- zudenken und dann auch jeweils über den Landesteil „Westfalen“ und das „Ruhrgebiet“ zu sprechen. Wo liegt die Zukunft meiner Stadt? Wie, mit welchen Themen beheimate ich Menschen? Zugespitzt kann man formu- lieren: Sollte man beispielsweise im Ruhrgebiet die stol- ze montanindustrielle Vergangenheit nutzen, um von dort zu neuen Ufern aufzubrechen? Oder sollte man einen größeren geschichtlichen und räumlichen Bogen schlagen und sich eher in einem gesamtwestfälischen Kontext einordnen? Einfach gedacht lassen sich zwei Formen von regionaler Identität unterscheiden: Trinkhalle an der Polsumer Straße in Gelsenkirchen-Hassel Foto/ Nantke Neumann © LWL-Medienzentrum für Westfalen Mentales Konzept einer regionalen Identität Da ist zum einen die Frage, ob sich Menschen aufgrund einer gemeinsamen Geschichte, verbindender Merkma- Region mehr Durchschlagskraft beim politischen Lob- le oder zum Beispiel auch eines gemeinsamen Dialekts bying und bei einem wirtschaftlich motivierten Regio- einer gewissen Region zugehörig fühlen. Die Frage, die nalmarketing zu erzielen. sich daran anschließt, wäre, ob sich dies auch im Alltag oder im praktischen Leben zeigt. Im Folgenden wird dies als „mentales Konzept“ einer regionalen Identität Westfalen: Region und Identität bezeichnet. Geschichtlich betrachtet, hat die Region „Westfalen“ klar Politisch-strategisches Konzept einer ihren Niederschlag in unseren Verwaltungsstrukturen ge- regionalen Identität funden und es gibt auch einen historischen Auftrag, die Einfacher zu fassen ist demgegenüber ein regionales westfälische Identität zu pflegen. Von Westfalen als poli- Identitätskonzept, welches als politisch-strategisches tischem Raum in den heutigen Grenzen – später ergänzt Konzept bezeichnet werden kann. Hier legt eine Institu- um das Fürstentum Lippe – sprechen wir ab dem Jahr tion oder ein Zusammenschluss von Meinungsbildnern 1815, als der preußische Staat sein Territorium in zehn eine regionale Kulisse fest, die dann mit bestimmten ge- Provinzen einteilte. Eine dieser Provinzen war die Provinz wünschten Attributen versehen wird. Sehr erfolgreich Westfalen, eine andere die Rheinprovinz. haben das zum Beispiel die beiden Regionen Ostwest- Im 19. Jahrhundert entwickelte sich sodann in einer falen-Lippe und Südwestfalen umgesetzt. Beides sind ungeahnten Geschwindigkeit eine ländliche Region in- Kunstregionen, in denen die Kommunen und die dort mitten dieser beiden Provinzen, damals noch bestehend lebenden Menschen weder geschichtlich noch mentali- aus vielen kleinen Dörfern. Motor dieser Entwicklung wa- tätsbezogen in besonderer Weise miteinander verbunden ren Kohle, Eisen und Stahl. Das Ruhrgebiet wuchs. waren. Man kann allerdings nach über 25 Jahren erfolg- Die Geschichte bis zur Vereinigung der beiden preu- reichem Regionalmarketing in OWL oder nach etwa acht ßischen Provinzen zu einem neuen Bundesland gehört Jahren in Südwestfalen feststellen, dass den Menschen zum geschichtlichen und kulturellen Erbe Nordrhein- die Begriffe zumindest geläufig sind. Ob daraus dann Westfalens. Und es gehört auch zu dieser Geschichte, auch eine emotionale Zugehörigkeit erwächst, das steht dass es nach jahrelangen Diskussionen eine ganz bewus- dann oft auf einem anderen Blatt. Dieses politisch-stra- ste Entscheidung war, die Unterschiedlichkeit Rheinland tegische Konzept hat in erster Linie den Zweck, durch einerseits, Westfalen-Lippe andererseits auch zu pflegen. Zusammenarbeit und bestenfalls Arbeitsteilung in einer Dies war letztlich auch der Grund, warum in historischer HEIMAT WESTFALEN – 6/2021 / 17
Struktur und Funktionswandel liche Kulturpflege – auch wieder in Tradition der preu- ßischen Provinzialverbände – den Landschaftsverbänden übertragen worden ist, und zwar nicht als freiwillige, sondern sogar als pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe. Dort, wo es in anderen Bundesländern Landesmuseen oder staatliche Galerien gibt, ist das breite Spektrum der Museen, die das kulturelle Erbe sammeln, bewahren, er- forschen und vermitteln sollen, den Landschaftsverbän- den überantwortet worden. Aber zurück zum mentalen Konzept: Erwächst aus der geschilderten geschichtlichen Entwicklung bereits eine „Westfälische Identität“, so etwas wie ein Westfalenbe- wusstsein? Ganz so schlicht ist es nicht. Mit den gängigen Westfalen-Klischees lässt sich zwar kabarettistisch, im Kar- neval und vielleicht in Abgrenzung zum Rheinland gut arbeiten. Westfalen ist jedoch viel zu groß und hat eine viel zu wechselvolle Geschichte auch der Ein- und Auswan- derung, als dass es nur eine Identität geben könnte. Zusammengefasst lässt sich sagen: · Der Begriff Identität ist durchaus im Plural zu denken. Man kann sich also „mental“ mehreren (Teil-)Regionen zugehörig fühlen. Rekultivierte Halde Prosper mit dem sogenannten Tetraeder Bottrop in Bottrop-Boy · Die einzelnen Identitäten spielen in unterschiedlichen Foto/ Anna Feldmeyer © LWL-Medienzentrum für Westfalen Kontexten eine Rolle. Wenn ein Bayer einen Westfalen fragt, woher er kommt, dann wird er vermutlich sagen Kontinuität zu den preußischen Provinzialverbänden „aus Westfalen“, denn damit kann dieser etwas anfan- 1953 die Landschaftsverbände sozusagen erneut aus der gen. Wenn der Westfale in Frankreich gefragt wird, Taufe gehoben wurden. Bei der Gründung des neuen Bin- dann sagt er eher „Nordrhein-Westfalen“ oder einfach destrichlandes spielte es insbesondere aus westfälischer „im Westen Deutschlands“. Sicht eine große Rolle, inwieweit die landschaftliche Selbstverwaltung im künftigen Verwaltungsaufbau Nor- · Die Zuschreibung bestimmter vermeintlicher „Stammes- drhein-Westfalens berücksichtigt wurde. merkmale“ oder charakterlicher Eigenheiten als „typisch westfälisch“ beruht oft auf Klischees und Stereotypen, Seit 1815 ist Vieles geschehen: Das Ruhrgebiet ist zu ei- die sich spätestens seit der rasanten Entwicklung im nem der größten Ballungsräume Europas gewachsen, 20. Jahrhundert nicht mehr aufrechterhalten lassen. alle unsere Teilregionen haben massive wirtschaftliche Strukturbrüche erlebt und die Bevölkerung Westfalens · Aber trotz alldem gibt es im Alltag, in Kontakten hat sich seitdem verachtfacht. Durch Zuzug von Men- mit Kommunen, Verbänden und Menschen immer wie schen aus allen Teilen der Welt sind vielfältige Einflüsse der auch das Erlebnis einer Identifikation mit dieser nach Westfalen gelangt, die Leben, Denken und Sprache Region Westfalen. in unserer Region mitgeformt haben. Und dennoch – der historische Auftrag an Landesregierung und Landtag lau- Beim Blick auf ein politisch-strategisches Konzept ei- tet: Pflege der landsmannschaftlichen Besonderheiten. ner Region Westfalen ist ein LWL-Direktor befangen, Ein Ausdruck dessen ist die Tatsache, dass die landschaft- denn es ist Aufgabe des Landschaftsverbandes Westfa- 18 / HEIMAT WESTFALEN – 6/2021
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