HEIMAT WESTFALEN - STRUKTUR- UND FUNKTIONSWANDEL LÄNDLICHER RÄUME IN WESTFALEN

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HEIMAT WESTFALEN - STRUKTUR- UND FUNKTIONSWANDEL LÄNDLICHER RÄUME IN WESTFALEN
HEIMAT WESTFALEN

                                Ausgabe 6 / 2021

Struktur- und Funktionswandel
ländlicher Räume in Westfalen
HEIMAT WESTFALEN - STRUKTUR- UND FUNKTIONSWANDEL LÄNDLICHER RÄUME IN WESTFALEN
I N H A LT

 3 Editorial                                                                      WHB-FACHBEREICH HEIMAT DEMOGRAFIEFIT
   STRUKTUR- UND FUNKTIONSWANDEL LÄNDLICHER                                    36 Nachwuchs finden. Online-Workshop zur neuen
   RÄUME IN WESTFALEN                                                               Freiwilligengeneration stieß auf reges Interesse
                                                                               37 WHB-Projekt „Westfälisches Schulbuch“ geplant
 4 ULRIKE GRABSKI-KIERON UND STEPHANIE ARENS
     Entwicklung ländlicher Räume in NRW – worauf es                                WHB-PROJEKTE
     ankommt. Ergebnisse des ARL-Arbeitskreises                                38   Neues Format WHB-Adventskalender
     „Zukunftsperspektiven ländlicher Räume in NRW“                            39   Handreichung „Dorfideen mit Weitblick“
16 MATTHIAS LÖB                                                                40   Neue WHB-Publikation: Haus Windheim No.2 in Petershagen
     Regionale Identitäten im westfälischen Ruhrgebiet                         41   Neue WHB-Publikation: Museum Peter August Böckstiegel Werther

22 FÜNF FRAGEN ZUM THEMA KULTURFÖRDERUNG                                          NEUE MITGLIEDER IM WHB
     an Thomas Tenkamp                                                         42 DaHeim – Dahlbrucher Heimatverein e. V.

   AUS GESCHÄFTSSTELLE UND GREMIEN                                                WHB-FOREN
24 „Rolle vorwärts“ verliehen. Auszeichnung des                                43 WHB-Forum „Natur und Umwelt“: Packen wir’s an!
     Westfälischen Heimatbundes geht nach Siegen-Achenbach                          Der Salamanderfresser
25 Nachwuchspreis „Rolle vorwärts“ 2021 verliehen.
     Auszeichnung des Westfälischen Heimatbundes                                  ENGAGIERT VOR ORT
     geht nach Versmold-Bockhorst                                              44 Heimatmacher-Praxisbeispiele aus Ihrer Arbeit
26   WHB-Mitgliederversammlung am 1. Dezember 2021
     in Münster
                                                                                  NACHRICHTEN UND NOTIZEN
28   Covid-19-Maßnahmengesetz: Verlängerung
                                                                               48 125 Jahre Historische Kommission und Altertumskommission
                                                                                    für Westfalen beim LWL
     bis 31. August 2022
28   Vorstellung André-Marcel Siegel – Referent für den
                                                                               49 Westfälischer Wortschatz von A bis Y. Letzter Band
                                                                                    des Westfälischen Wörterbuchs erschienen
     Fachbereich Wandern
29   Festrede des WHB-Vorsitzenden Matthias Löb anlässlich                        DANK UND ANERKENNUNG
     der Jubiläumsfeier zum 100-jährigen Gründungsjahr des                     50 Gerhard Müller
     Vereins für Orts- und Heimatkunde e. V. Oer-Erkenschwick
                                                                               51 Rudolf Koch
30   Petition mit über 23.000 Stimmen gegen die geplante
     Neufassung des Denkmalschutzgesetzes NRW übergeben                           NEUERSCHEINUNGEN
                                                                               52 Koloniale Welten in Westfalen
   MEINE HEIMAT WESTFALEN
                                                                               52 Wat, de kann Platt? Selbstzeugnisse, Geschichten und Gedichte
31 Birgit Haberhauer-Kuschel                                                        aus dem Münsterland und dem Osnabrücker Land
     SERVICEBÜRO WHB                                                           53 Das Heimat-Quiz Münsterland.
32   Projektideen für Europawoche 2022 gesucht                                 53 Künstlerinnen und Künstler in Westfalen. Malerei und
33   LEADER 2023-2027                                                               Grafik im 19. und 20. Jahrhundert
34   Planspiel „Zukunft gestalten in Dorf und Region“                             BUCHBESPRECHUNGEN
35   Spielerisch Heimat vermitteln – „Heimat-Box“ für Kinder                   54 Städte in Westfalen. Geschichte vom Mittelalter bis zum Ende
     und Jugendliche                                                                des Alten Reiches

HEIMAT WESTFALEN ISSN 2569-2178 / 34. Jahrgang, Ausgabe 6/2021
Herausgeber: Westfälischer Heimatbund e. V. · Kaiser-Wilhelm-Ring 3 · 48145 Münster.
Vorstand im Sinne des § 26 BGB: Matthias Löb (Vorsitzender),
Birgit Haberhauer-Kuschel (stellvertr. Vorsitzende)
Vereinsregister des Amtsgerichts Münster, Nr. 1540 · Steuer-Nr.: 337/5988/0798                   Gefördert von:
Telefon: 0251 203810 - 0 · Fax: 0251 203810 - 29
E-Mail: whb@whb.nrw · Internet: www.whb.nrw
Verantwortlich im Sinne des Presserechts: Dr. Silke Eilers
Schrift- und Anzeigenleitung: Dr. Silke Eilers
Redaktion: Dr. Silke Eilers, Dörthe Gruttmann, Frauke Hoffschulte, Sarah Pfeil, Astrid Weber
Layout: Gaby Bonn, Münster
Druck: Druck & Verlag Kettler GmbH · Robert-Bosch-Straße 14 · 59199 Bönen
Für namentlich gezeichnete Beiträge sind die Verfasser persönlich verantwortlich.
Diese Zeitschrift erscheint im Februar, April, Juni, August, Oktober, Dezember.
Titelbild: Vorweihnachtliche Stimmung am Backhaus des Heimatvereins Dolberg e. V. im Jahr 2020
Foto/ Silke Eilers
HEIMAT WESTFALEN - STRUKTUR- UND FUNKTIONSWANDEL LÄNDLICHER RÄUME IN WESTFALEN
e d it o r ial

z
        ukunftsforscher sehen im mittlerweile zweiten
        Jahr der Corona-Pandemie deutliche Chancen
        für ländliche Räume und machen gar eine
neue „Landlust“ aus. Das Land lockt mit neuen Ar-
beits- und Wohnformen wie auch der Vorstellung
eines naturverbundenen Lebens. Als Innovationstrei-
ber für einen Strukturwandel in Corona-Zeiten gelten
vielfach die sogenannten Megatrends Digitalisierung
                                                                                                      Foto/ Greta Schüttemeyer
und Dekarbonisierung sowie eine neue Kultur demo-
kratischer Beteiligung. Welche Veränderungen erleben die in sich heterogenen ländlichen Räume in sozialer, ökono-
mischer und kultureller Hinsicht durch COVID 19? Sind sie „Corona-Gewinner“ und gelingt eine Transformation zu
Nachhaltigkeit und Resilienz oder verstärken sich Problemlagen und Ungleichheiten?
    Die anstehenden Herausforderungen bedürfen einer als ganzheitlich und interdisziplinär verstandenen Politik für
ländliche Räume, die raumspezifische Besonderheiten berücksichtigende und auf Kooperation setzende Strategien entwi-
ckelt. Eine zentrale Rolle für die Gestaltung des Wandels in den Kleinstädten und Dörfern spielt die Engagementland-
schaft. Die möglichen Auswirkungen von Corona auf die Heimatarbeit werden den WHB im kommenden Jahr im Rahmen
seines Themenschwerpunktes „Lernen aus der Pandemie – Ehrenamt und Digitalisierung“ beschäftigen.
    Die letzte Ausgabe der Heimat Westfalen in diesem Jahr blickt zum Abschluss des inhaltlichen Fokus „Zukunft
der Dörfer“ in 2020/2021 auf Struktur- und Funktionswandel ländlicher Räume in Westfalen. Prof. a. D. Dr. Ulrike
Grabski-Kieron und Dr. Stephanie Arens, Leiterinnen einer Arbeitsgruppe der Akademie für Raumentwicklung in der
Leibniz-Gemeinschaft, beleuchten Perspektiven für die ländlichen Räume in NRW angesichts wachsender Stadt-Um-
land-Kontexte und regional unterschiedlicher Entwicklungsdynamiken. WHB-Vorsitzender Matthias Löb befasst sich
mit regionalen Identitäten im westfälischen Ruhrgebiet. Thomas Tenkamp, Geschäftsführer der Kulturstiftung der
Westfälischen Provinzial Versicherung, hat uns fünf Fragen zum Thema Kulturförderung in der Region beantwortet.
    Der Service-Part ist wieder prall gefüllt mit unterschiedlichen Angeboten und Hinweisen wie etwa zur Europa-
woche 2022 oder zur Wettbewerbsrunde von LEADER 2023-2027. Zudem stellen wir Ihnen das Online-Format des
WHB-Adventskalenders vor, welcher in 2021 bürgerschaftliches Engagement in der Denkmalpflege und für Baukultur
würdigt. Darüber hinaus geben wir Ihnen einen Vorgeschmack auf die im Druck befindlichen neuen Publikationen
der „Westfälischen Kunststätten“ und die Handreichung „Dorfideen mit Weitblick“.
    Im Namen von Vorstand und Geschäftsstelle wünsche ich Ihnen besinnliche Weihnachten und ein gesundes neues
Jahr! Wir hoffen auf ein Wiedersehen bei unserem für den 21. Mai 2022 in Arnsberg geplanten Westfalentag.

Herzliche Grüße

Ihre Dr. Silke Eilers
Geschäftsführerin des WHB

                                                                                                      HEIMAT WESTFALEN – 6/2021 /   3
HEIMAT WESTFALEN - STRUKTUR- UND FUNKTIONSWANDEL LÄNDLICHER RÄUME IN WESTFALEN
Struktur und Funktionswandel

  Entwicklung ländlicher Räume in NRW –
           worauf es ankommt
             Ergebnisse des ARL-Arbeitskreises
      „Zukunftsperspektiven ländlicher Räume in NRW“

                        von Ulrike Grabski-Kieron und Stephanie Arens

Balve Ortsteil Affeln
Foto/ Südwestfalen Agentur GmbH/ Hans Blossey

4 / HEIMAT WESTFALEN – 6/2021
HEIMAT WESTFALEN - STRUKTUR- UND FUNKTIONSWANDEL LÄNDLICHER RÄUME IN WESTFALEN
ländlicher Räume in Westfalen

e
        ine Arbeitsgruppe der Akademie für Raument-
        wicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (ARL), Lan-
        desarbeitsgemeinschaft NRW widmete sich der
Fragestellung, welche Perspektiven sich für die ländlichen
Räume in NRW angesichts wachsender Stadt-Umland-Kon-
texte und regional unterschiedlicher Entwicklungsdyna-
miken ergeben. Auch jene ländlichen Räume außerhalb
der stadtregionalen Verflechtungsbereiche, die mit ihren
spezifischen Ausgangslagen aktuell ganz unterschiedli-
che Dynamiken aufweisen, wurden dabei in den Fokus
genommen. Die Arbeit war von dem doppelten Bestre-           Die Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft
                                                             (ARL) im Kurzporträt
ben geleitet, sowohl den Stellenwert ländlicher Räume
                                                             Grafik/ in Anlehnung an ARL 2021
für die gesamträumliche Entwicklung im Bundesland
NRW als auch die eigene Dynamik vieler ländlicher Räu-
me „abseits“ der Metropolregionen herauszustellen. Die       aus der Tatsache, dass Feuerwehr/Brandschutz zum
intensiven Debatten, die im Zuge der Überarbeitung des       Zeitpunkt der Bearbeitung in den Fachdiskursen und
Landesentwicklungsplanes NRW ab 2017 unter anderem           in der Literatur noch wenig Beachtung fanden, zum
auch zu Stellung und Perspektiven ländlicher Räume im        anderen daraus, dass sich für beide Bereiche vor dem
Bundesland geführt wurden, bildeten den Ausgangspunkt        Hintergrund des demografischen Wandels zahlreiche
für die ARL, Landesarbeitsgemeinschaft NRW, die oben         Zukunftsfragen stellen, die ihrerseits Perspektiven länd-
genannte Arbeitsgruppe einzusetzen. An ihr waren unter       licher Räume maßgeblich beeinflussen.
anderem Raum- und Planungswissenschaftlerinnen und
-wissenschaftler, Planungspraktikerinnen und –praktiker      Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe sind zum einen in ei-
und Mitarbeitende aus verschiedenen Fachverwaltungen         nem rahmensetzenden Positionspapier, zum anderen in
des Landes beteiligt.                                        vier weiteren, den genannten Themenfeldern entspre-
                                                             chenden Positionspapieren in der Reihe „Positionspapie-
Handlungsempfehlungen im Sinne einer                         re der ARL“ veröffentlicht. Das Rahmenpositionspapier
Politikberatung                                              stellt die Bedeutung ländlicher Räume in der gesam-
In ausgewählten Themenfeldern wurden nicht nur               träumlichen Entwicklung des Bundeslandes heraus, skiz-
Situation und Entwicklungsperspektiven ländlicher            ziert Megatrends in ihrem Stellenwert für die zukünftige
Räume in NRW beschrieben. Vielmehr wurden auch               Entwicklung und beschreibt wesentliche Kernforderun-
Anforderungen an zukünftiges Handeln skizziert und           gen (ARL 2021 a). Diese werden, jeweils nach kritischen
vielfältige Handlungsempfehlungen im Sinne einer Poli-       Bestandsaufnahmen, themenspezifisch in den weiteren
tikberatung erarbeitet. Diese sind an Politik, Raum- und     Positionspapieren aufgegriffen und konkretisiert.
Fachplanungen sowie an unterschiedliche Akteursgrup-
pen gerichtet, die zusammen mit öffentlichen Stellen
Träger der Regional- und Kommunalentwicklung in den
                                                             Ausgangslage und Perspektiven
ländlichen Räumen sind. Aus umfangreichen Vorarbei-
ten heraus wurde den Themen                                  Der aktuelle Struktur- und Funktionswandel ländlicher
· Wirtschaft und Arbeit,                                     Räume in NRW ist Teil der gesamträumlichen Entwick-
· Wohn- und Siedlungsentwicklung,                            lung, von der die funktionale Raumstruktur des Landes
· bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt sowie           erfasst ist: Zunehmende Stadt-Umland-Verflechtungen,
· Daseinsvorsorge mit dem Fokus auf Freiwillige Feuer-       Wachstum der Städte und Metropolregionen, Ausbau von
  wehren/Brandschutz und Gesundheitsversorgung/Pflege        Verkehrsinfrastrukturen sowie anhaltende Umwidmun-
eine besondere Relevanz beigemessen. Im Themenfeld           gen des Freiraums für Wohnen, Verkehr und Gewerbe
„Daseinsvorsorge“ begründete sich die engere Bezug-          sind nur einige Aspekte, die den abstrakten Begriff vom
nahme auf die oben genannten Themen zum einen                „Stadt-Land-Kontinuum“ erfahrbar machen.

                                                                                                   HEIMAT WESTFALEN – 6/2021 /   5
HEIMAT WESTFALEN - STRUKTUR- UND FUNKTIONSWANDEL LÄNDLICHER RÄUME IN WESTFALEN
STrukTur uNd FuNkTIoNSWANdEL

Arbeitsstruktur und Struktur der Ergebnispräsentation des ArL-Arbeitskreises
Grafik/ Arens, Grabski-Kieron 2021

Angesichts der gerade für NRW typischen engen teil-             REGIONALEN eine große Rolle, weil diesem Strukturpro-
räumlichen Verflechtungen sowie der großen regiona-             gramm des Landes inhärent ist, dass freiwillig zusam-
len Differenziertheit ländlicher Räume gewinnt weniger          mengeschlossene Regionen wie zum Beispiel die Region
die Frage einer exakten teilräumlichen Abgrenzung an            Südwestfalen, ihre Herausforderungen definieren und
Bedeutung; vielmehr rückt jene Frage in den Vorder-             eigene Strategien und konkrete innovative Lösungsan-
grund, welche Positionen ländliche Räume als Teilräu-           sätze entwickeln und so die Regionalentwicklung vor-
                                                                                        antreiben und auch mitprägen
„Wirtschaftliche Prosperität erwächst nicht                  mehr allein aus den        können (Arens S., Krajewski, C.
                                                                                        2020).
Beziehungen zu den Metropolregionen, sondern ist Ergebnis
sowohl eigener Entwicklungspfade als auch eigenständiger Regional-                           Im Struktur- und Funktions-
entwicklung. Hier spielen in NRW besonders die REGIONALEN                                    wandel verändert sich auch
                                                                                             die ländliche Gesellschaft:
eine große Rolle.“
                                                                                             Städtische und ländliche Le-
                                                                                             bensstile vermischen sich;
me im gesamträumlichen Gefüge gegenwärtig und                       viele Menschen nehmen das Leben in ländlichen
zukünftig einnehmen und welche spezifischen regiona-                Wohn- und Arbeitsumfeldern als attraktiver wahr als
len Kennzeichen sie aufweisen. Wirtschaftliche Prospe-              früher. Viele Qualitäten ländlicher Räume, seien es
rität erwächst nicht mehr allein aus den Beziehungen                ihre Funktionen als Freizeit- und Erholungsräume oder
zu den Metropolregionen, sondern ist Ergebnis sowohl                die urbanen Qualitäten von Klein- und Mittelstädten,
eigener Entwicklungspfade als auch eigenständiger Re-               werden heute mit positiveren Attributen belegt als dies
gionalentwicklung. Hier spielen in NRW besonders die                früher geschah.

6 / HEIMAT WESTFALEN – 6/2021
HEIMAT WESTFALEN - STRUKTUR- UND FUNKTIONSWANDEL LÄNDLICHER RÄUME IN WESTFALEN
ländlicher Räume in Westfalen

Viele Qualitäten ländlicher Räume als Landschafts- oder Siedlungsräume werden heute stärker wertgeschätzt.
Foto/ Ulrike Grabski-Kieron

Mit Blick auf die Zukunft sind vielfältige Entwicklungs-          Sich verändernde Akteursgruppen, zum Beispiel. durch
tendenzen für die ländlichen Räume in NRW erkennbar:              Neubürgerinnen und -bürger in den Dörfern, verändern
Einerseits werden die teilräumlichen Verflechtungen               bereits heute Engagement- und Mitwirkungsstrukturen
zunehmen, andererseits werden sich auch spezifische               und bringen neue Inhalte in kooperative Governancepro-
regionalökonomische Positionierungen einzelner Regio-             zesse der ländlichen Entwicklung hinein.
nen akzentuieren. Damit werden sich ländliche Raum-
typen, auch mit kleinräumigen Entwicklungstrends,                 Auch von den aktuellen gesamtgesellschaftlichen Me-
weiter ausdifferenzieren.                                         gatrends bleiben ländliche Räume nicht unberührt. Als
                                                                  langfristige Impulsgeber für den Struktur- und Funk-
Ausdifferenzierung ländlicher Raumtypen                           tionswandel lassen sich unter anderem die folgenden
Auch andere Funktionen ländlicher Räume, zum Bei-                 Trends erkennen:
spiel hinsichtlich Energieproduktion, Wohnen, Bio-
diversität, Land- und Forstwirtschaft werden dazu                 ·   Mit der Digitalisierung und mit digitaler Transfor-
beitragen. Bereits heute stoßen Flächenumwidmung                      mation entstehen bereits aktuell tiefgreifende Fol-
und Flächenkonkurrenzen an räumliche Kapazitäts-                      gen für Wirtschaft, Arbeits- und Lebenswelten, für
grenzen und lösen Nutzungskonflikte aus. In manchen                   Daseinsvorsorge, Verwaltung, Verkehr und für viele
Regionen wird daraus ein erheblicher Problemdruck                     andere Sektoren mehr. Sich verändernde Wirtschafts-
auch in der Zukunft erwachsen. Ländliche Räume sind                   abläufe und Arbeitsmärkte setzen Bedarfe an flexib-
vom demografischen Wandel (Alterung, Migrationsge-                    leren und kreativeren Berufs- und Branchenprofilen
schehen und anderes) unterschiedlich betroffen. Dies                  frei und mobilisieren Kräfte für neue Geschäftsmo-
hat nicht nur Folgen für Siedlung und Wirtschaft, son-                delle. Damit zeichnen sich für Wissensproduktion
dern im besonderen Maße auch für die Daseinsvorsorge.                 und -transfer in den Regionen, mithin für Forschung,

                                                                                                             HEIMAT WESTFALEN – 6/2021 /   7
HEIMAT WESTFALEN - STRUKTUR- UND FUNKTIONSWANDEL LÄNDLICHER RÄUME IN WESTFALEN
Struktur und Funktionswandel

                                                                                                      Kooperative
        Wissensproduktion                                                                             Innovations-
                                                                                                      netzwerke
                                                                                       U
                                                                                       n
                                                                                       t
                                                                 Regionale             e
                                               Region            Wissens-              r               Innovative
        Wissensakquise                                                                 n
                                                                 komponenten                           Milieus
                                                                                       e
                                                                                       h
                                                                                       m
                                                                                       e
                                                                                       n              Territoriale
        Wissensabsorption                                                                             Govemance

Das Schema „Wissen- Region“
Grafik/ Grabski-Kieron, Bröckling

    Aus- und Weiterbildung auf allen Ebenen, neue Her-         hingewiesen und die Vulnerabilität mancher Regio-
    ausforderungen ab.                                         nen aufgezeigt; anhaltende Verluste an Biodiversität
·   Das Aufbrechen und Infrage-Stellen traditioneller Rol-     und der Verbrauch natürlicher Ressourcen verschär-
    lenmuster (gender shift) wird zusätzliche Impulse für      fen die Problemsituationen. Ländliche Räume mit
    die Transformation von Wirtschaft und Arbeit in länd-      ihren gegenüber den Städten hohen Freiraumantei-
    lichen Räumen geben.                                       len verdienen hier besondere Beachtung. Eine kon-
·   Bei sich wandelndem Mobilitätsbewusstsein und -ver-        sequentere nachhaltige und resiliente Entwicklung
    halten und mit der Marktreife neuer Technologien wird      ist das Gebot der Stunde. Sie wird noch mehr als
    sich das Verkehrsgeschehen auch in ländlichen Räumen       heute zukünftig alle Lebensbereiche durchdringen.
    verändern. Infrastrukturentwicklung heißt dann nicht       Anforderungen an Prozesse der Kreislaufwirtschaft,
    mehr vorrangig quantitativer Ausbau, sondern steht         neue Wertschöpfungsketten, Ressourceneffizienz
    noch mehr als aktuell unter den Vorzeichen qualitativer    und vieles mehr werden auch die Entwicklungspfa-
    Anpassungen. Dies gilt umso mehr auch angesichts der       de ländlicher Räume maßgeblich beeinflussen.
    spezifischen Bedürfnisse einer alternden Gesellschaft
    (silver society) an Lebensqualität, Daseinsvorsorge und   Corona-Pandemie als Treiber der Transformation
    Mobilität.                                                Nicht zuletzt erweist sich die anhaltende Corona-Pande-
·   Für das Leben, Wirtschaften und Arbeiten in ländlichen    mie als Treiber tiefgreifender sozioökonomischer Trans-
    Räumen gewinnen gleichzeitig Wertmaßstäbe einer           formationen, deren langfristige Folgewirkungen erst
    „Work-Life-Balance“ zukünftig größere Bedeutung als       noch unzureichend abzusehen sind. Bereits heute zeigt
    bisher. Die damit zusammenhängenden Folgen zum            sich, dass ländliche Räume einerseits unter den Zeichen
    Beispiel für die Freizeit, das Landschaftserleben oder    von Arbeiten im Homeoffice und unter sich wandelnden
    die Gestaltung von Lebens- und Wohnumfeldern, mit-        gesellschaftlichen Wertmaßstäben für gesundes Leben
    hin auch für eine neue qualitätsvolle städtebauliche      „Gewinner“ in der Pandemie-bedingten Transformation
    Entwicklung von Städten und Gemeinden, zeichnen           sind; andererseits sind viele ländliche Regionen im hohen
    sich bereits aktuell ab und werden in Zukunft größe-      Maße Betroffenheitsregionen und unterscheiden sich dar-
    re Aufmerksamkeit erfahren. Gleiches gilt für die sich    in grundsätzlich wenig von anderen städtischen Regionen.
    damit verändernden Anforderungen an Gesundheits-
    vorsorge und -pflege.                                     Insgesamt liegen im Politikfeld zur Entwicklung ländli-
·   Die Brisanz einer Vielzahl von ökologischen Problem-      cher Räume vielfältige Herausforderungen für zukünfti-
    kreisen wird zunehmen: Jüngste Hochwasserkata-            ge Politikgestaltung begründet. Neue Diskurse über die
    strophen haben auf die Intensität des Klimawandels        Zukunft ländlicher Entwicklung und Wege der Annä-

8 / HEIMAT WESTFALEN – 6/2021
HEIMAT WESTFALEN - STRUKTUR- UND FUNKTIONSWANDEL LÄNDLICHER RÄUME IN WESTFALEN
ländlicher Räume in Westfalen

Industriegelände der Firma EJOT in Bad Berleburg. EJOT wurde 1922 gegründet und ist mit über 3.000 Mitarbeitern führend bei hochwer-
tigen Federungs- und Fahrwerkssystemen sowie technischen Spezialfedern für anspruchsvolle Anwendungen. Damit ist das Unterneh-
men einer von mehr als 150 Weltmarktführern in Südwestfalen.
Foto/ Südwestfalen Agentur GmbH/Dominik Ketz

herung und Auseinandersetzung, die die aktuellen Ent-              Im Folgenden werden die Handlungsfelder und einige
wicklungstrends kritisch aufgreifen, sind nötig. Diesen            dieser Empfehlungen beispielhaft skizziert.
Aspekten sah sich die ARL-Arbeitsgruppe verpflichtet.

                                                                   Handlungsfeld „Ländliche Räume als
Kernforderungen und Empfehlungen                                   Standorte von Wirtschaft und Arbeit“
in den ausgewählten Handlungs-
feldern – die ARL bezieht Stellung                                 Ländliche Räume als Wirtschaftsstandort haben maßgeb-
                                                                   lichen Anteil an der Wirtschaftskraft des Landes NRW.
Die Analyse der Ausgangslage und die kritische Aus-                Perspektivisch werden sie sich auf den teilräumlich dif-
einandersetzung mit den beobachteten Trends in der                 ferenzierten Entwicklungspfaden zwischen der Etablie-
räumlichen Entwicklung boten der ARL-Arbeitsgrup-                  rung und dem Ausbau regionaler Wertschöpfungsketten
pe den maßgeblichen Orientierungsrahmen, um                        einerseits und der Ausrichtung auf internationale Märkte
sich zu den Perspektiven
ländlicher Räume in NRW „Die Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume als Wirtschaftsstandorte
zu positionieren, Kernfor- erfordert in Anbetracht der sich aktuell zeigenden Grenzen des Wachs-
derungen in den ausge-
wählten Themenfeldern
                             tums und der mannigfaltigen sozioökonomischen wie ökologischen
zu formulieren und Hand- Herausforderungen veränderte Paradigmen räumlicher Entwicklung
lungsempfehlungen auszu- und neue Formen kooperativen Entscheidungshandelns.“ (ARL 2021b)
sprechen. Diese richten sich
an verschiedene Adressatengruppen aus Politik, Re- andererseits weiterentwickeln. Die klein- und mittelstän-
gional- und Kommunalentwicklung und Fachressorts, dische Wirtschaftsstruktur bleibt maßgeblicher Träger
die im Handlungsfeld ländlicher Raumentwicklung dieser Entwicklung mit Potentialen und Kapazitäten für
tätig sind.                                         gezielten Strukturwandel und Innovation.

                                                                                                            HEIMAT WESTFALEN – 6/2021 /   9
HEIMAT WESTFALEN - STRUKTUR- UND FUNKTIONSWANDEL LÄNDLICHER RÄUME IN WESTFALEN
Struktur und Funktionswandel

                                                                                               Gewerbeflächenbedarf
                                                                                               im ländlichen Raum
                                                                                               Foto/ Ulrike Grabski-Kieron

Dies gilt gerade auch hinsichtlich der digitalen Transfor-   maanpassung oder Infrastrukturbedarfe neuer Mo-
mation und den damit ausgelösten Veränderungen von           bilität, veränderte Arbeitsstrukturen genauso wie sie
Produktionsprozessen und Arbeitsorganisation.                ökologischen Flächenbedarfen hinsichtlich Klima- und
                                                             Hochwasserschutz und Biodiversität maßgebliche Be-
Zukunftsperspektiven liegen aber auch darin begrün-          deutungen beimisst.
det, die sich immer deutlicher zeigenden Grenzen des
Wachstums, wie sie sich an ökosystemaren Grenzen,            Städte und Gemeinden sollten Initiativen mit Ausstrah-
an Grenzen der Flächenverfügbarkeiten für Standort-          lung für die gesamte Region entfalten, damit diese als
entwicklung oder an Grenzen gesellschaftlicher Ak-           attraktive Wirtschaftsräume und als Räume angeneh-
zeptanz zeigen, bewusst anzunehmen. Das heißt auch           men Arbeitens und Lebens wahrgenommen werden.
Wirtschaftsentwicklung an einem anderen Wachs-               In einer kommunalen Entwicklungspolitik, die urba-
tumsbegriff auszurichten als bisher. Ein konsequentes        ne Qualitäten fördert, Baukultur wahrt und Grünaus-
Handeln in den definierten Spielräumen des Planungs-         stattung und Landschaft an den Ortsrändern erlebbar
rechts, ein abgestimmtes Entscheidungshandeln aller          macht, liegt unter anderem auch ein Schlüssel, Fach-
Akteure, zum Beispiel auch in interkommunaler Zu-            kräfte mit ihren Familien anzuziehen und junge Leute
sammenarbeit und regionalen Vernetzungsstrukturen,           zum Dableiben oder Wiederkehren zu bewegen. Zeit-
sind dafür unter anderem eine wichtige Vorausset-            gemäßen Ausbildungs- und Weiterbildungskapazitäten
zung. Akteurinnen und Akteure der Landes,- Regio-            in den ländlichen Räumen kommt eine ebenso große
nal- und Kommunalpolitik müssen mehr als bisher              Bedeutung zu. Die digitale Transformation bietet Chan-
die Entwicklung der ländlichen Räume als ganzheitli-         cen, Ausbildungsformate und -methoden weiterzuent-
ches Politikfeld begreifen, in dem Raumordnungs- und         wickeln und kann helfen, Tendenzen von Schließungen
Ressortpolitiken gebündelt sind. Hier abgestimmte            entgegenzuwirken. Chancen dazu sollten konsequent
Rahmenbedingungen für die ländliche Entwicklung              genutzt werden.
sollten auf teilräumliche Strategieentwicklung genau-
so wie auf effektive Projektstrukturen zur Konkretisie-      Land- und Forstwirtschaft mit ihren vor- und nachge-
rung und Umsetzung ausgerichtet sein.                        lagerten Bereichen werden auch in der Zukunft in vie-
                                                             len Regionen wesentliche Wirtschaftssektoren bleiben.
Für die zukünftige Entwicklung von Wirtschaftsflä-           Die bereits heute erreichte große Differenzierung wird
chen sollte nicht allein die quantitative, sondern vor       in der Zukunft wertvolle Basis sein, um den nötigen
allem eine qualitative Flächenentwicklung Maßstab            Anpassungsprozessen (unter anderem Klimawandel,
werden. Sie integriert unter anderem bauliche Kli-           Biodiversität, Tierwohl) in einem maßvoll flankierten

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ländlicher Räume in Westfalen

Strukturwandel zu begegnen. Dazu müssen Politik,            eine größere Bedeutung zugemessen werden als bisher.
Akteurinnen und Akteure auf verschiedenen Ebenen,           Die letzten Hochwasserkatastrophen haben einmal mehr
allen voran Kammern, Verbände, Naturschutz- und             gezeigt, dass es in der Zukunft mehr als bisher darum ge-
Verbraucherschutzorganisationen, Bildungseinrich-           hen muss, Flächenentwicklung und Bauplanung langfri-
tungen und nicht zuletzt Partner und Partnerinnen           stig daran auszurichten, sich an veränderte ökologische
in den Regionen und vor Ort, beitragen. Ein neuer „Ge-      Rahmenbedingungen anzupassen. Planerisches Leitziel
sellschaftsvertrag“ zwischen Land- und Forstwirtschaft      in diesem Sinne sollte es sein, größtmögliche Wider-
und der Gesellschaft ist unerlässlich, nicht nur um         standsfähigkeit, das heißt Resilienz gegenüber solchen
Kommunikationsstrukturen zu verbessern, sondern             Bedrohungen zu entwickeln. Dies gilt für Städte und Dör-
auch, um gesellschaftliche Impulse für den Struktur-        fer im gleichen Maße.
wandel in diesem Sektor aufzunehmen. Der Aufbau
regionaler Ernährungssysteme wird gerade für NRW            Um den skizzierten Anforderungen wirksam zu begeg-
mit seinen engen Stadt-Land-Verf lechtungen neue            nen, erhalten sowohl ein strategischer Planungs- und
Perspektiven der Wirtschaftsentwicklung in diesem           Entwicklungsansatz wie zum Beispiel eine integrierte
Wirtschaftssektor eröffnen.                                 kommunale Entwicklungsplanung, als auch die inter-
                                                            kommunale Kooperation einen besonderen Stellenwert.
                                                            Darüber hinaus kann ein aktives und nachgehaltenes Flä-
Handlungsfeld „Wohnen und Siedlungs-                        chenressourcenmanagement auf kommunaler oder auf
entwicklung in ländlichen Räumen“                           Kreisebene helfen, Innen- und Außenentwicklung unter
                                                            Maßgabe des „Drucks auf die Fläche“ sinnvoll abzustim-
Zukünftige Entwicklung von Wohn- und Siedlungsflä-          men und als strategisches Instrument Wirkungen unter
chen verlangt mehr als heute nach einer integrierten        anderem für Ressourcenschonung und Konfliktminde-
Vorgehensweise: Es gilt, nicht nur kommunale Einzelin-      rung zu entfalten. Kleine ländliche Kommunen, deren
teressen in der Flächenausweisung vor dem Hintergrund       Personalkapazitäten dafür zu eng sind oder denen Fach-
von Angebot und Nachfrage zu wahren, sondern viel-          kompetenzen fehlen, sollten auf diesem Wege durch die
mehr Tendenzen im interkommunalen und kleinregio-           Landespolitik unterstützt werden.
nalen Umfeld aufzugreifen und bei Entscheidungen zu
Flächenausweisungen und Wohnungsangeboten zu be-           Zukünftige Konzeptionen des Wohnungsbaus soll-
rücksichtigen. Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit       ten sich nicht nur an den Daten des demografischen
sind als Leitprinzipien mehr denn je unerlässlich. Jedoch  Wandels orientieren, sondern den sich verändernden
                                                                                       Lebensstilen und Alltag-
„Die Wohn- und Siedlungsflächenentwicklung in den Kommunen ländli-                     spraktiken jeweiliger
                                                                                       Zielgruppen Rechnung
cher Räume trifft auf differenzierte Ausgangslagen und erfordert lokal                 tragen. Qualitätsvoller
angepasste Strategien, die sowohl Wachstumssteuerung als auch Schrump- Wohnungsbau auf dem
fungsanpassung berücksichtigen. Das Thema „Wohnen und Siedlungsent-                    Lande benötigt gleicher-
                                                                                       maßen Konzepte einer
wicklung“ darf deshalb nicht isoliert als sektorale Perspektive betrachtet
                                                                                       daran angepassten Ar-
werden, und ganzheitliche und strategische Planungsansätze müssen                      chitektur wie auch einer
gestärkt sowie die Kommunen bei der Anwendung der planerischen Steue- Grün- und Freiraumpla-
rungsinstrumente unterstützt werden.“ (ARL 2021c)                                      nung, die die Zeichen
                                                                                       der Zeit aufnimmt und
                                                                                       die zu Konfliktlösungen
stehen sie mit Blick auf die Zukunft nicht mehr allein für beiträgt. Ein der Flächenausweisung und Baupro-
sich: Im Zeichen der Klimawandel-Verwundbarkeit von jekt-Entwicklung vorgeschalteter strategischer Pla-
Standorten und ganzer Regionen sollte darüber hinaus nungsansatz ist auch hier unabdingbar. Kommunen,
dem Aspekt der Resilienz auf allen Ebenen der Planung kommunale und regionale Wohnungsunternehmen

                                                                                               HEIMAT WESTFALEN – 6/2021 /   11
Struktur und Funktionswandel

                                                               in ein solches Engagement einbringen. Das Zeitbudget
                                                               dafür ist bei diesen Alltagspraktiken einfach nicht mehr
                                                               da. Es bleibt abzuwarten, ob und wie sich zum Beispiel
                                                               die Arbeit im Homeoffice auf Zeitbudget und die Bereit-
                                                               schaft, sich zu engagieren, auswirken wird.

                                                               Vor diesen genannten Hintergründen ist und bleibt bür-
                                                               gerschaftliches Engagement unverzichtbar und benötigt
Der Struktur- und Funktionswandel schafft veränderte Bedarfe   umso mehr nicht nur Anerkennung, sondern auch aner-
für Wohn- und Siedlungsflächen.                                kannte Strukturen, Ausstattung und Förderungen etwa
Foto/ Ulrike Grabski-Kieron                                    analog denen der kommunalen Wirtschaftsförderungs-
                                                               gesellschaften. Denn bürgerschaftliches Engagement
sowie private Investoren sind unverzichtbare Partner.          bildet ein starkes Fundament für die soziale und gesell-
Die Rufe nach kleinregionaler und regionaler Weitsicht         schaftliche Entwicklung vor Ort und entwickelt damit
und neuen inhaltlichen Planungsperspektiven sollten            eine vergleichbare Relevanz für das kommunale Ge-
nicht den Blick darauf verstellen, dass bereits das vor-       meinwesen wie die kommunale Wirtschaftsförderung.
handene Arsenal kommunaler Steuerungsinstrumente
eine Fülle formal-rechtlicher und informeller Möglich-         Politik und Verwaltung auf allen Ebenen sollten daher
keiten für eine in diesem Sinne zielgerechte lokale Pla-       auch vergleichbare Rahmenbedingungen wie die Sicher-
nung bietet. Diese gilt es auszuschöpfen.                      stellung einer entsprechenden finanziellen und personel-
                                                               len Ausstattung schaffen. Einen ersten Schritt um hier
                                                               voranzukommen, wurde auf Landesebene mit der 2021
Handlungsfeld „Bürgerschaftliches                              veröffentlichten Engagementstrategie des Landes NRW
Engagement und Ehrenamt als Stand-                             getan (Landesregierung NRW 2021).
ortfaktor für ländliche Räume
                                                          Um dies zu erreichen, benötigt bürgerschaftliches Enga-
Die Bedeutung bürgerschaftlichen Engagements und des      gement nicht nur eine gute Datengrundlage; vielmehr
Ehrenamts als tragende Säule gerade für ländliche Räu-    muss Engagement auch zur Chefsache in den Kommu-
me ist unbestritten und wird in Politik wie Wissenschaft  nen werden, mehr noch: es muss in eine Engagement-
häufig betont. Bürgerschaftliches Engagement trägt        strategie vor Ort eingebettet werden, die gemeinsam
                                                                                 mit engagierten Gruppen und
„Für die zukunftsfähige Gestaltung ländlicher Räume in NRW muss Bürgerinnen und Bürgern erar-
                                                                                 beitet wird. Eine solche Strategie
bürgerschaftliches Engagement in seiner Wahrnehmung, Wertschät- kann auch interkommunal ge-
zung und Wertigkeit der kommunalen Wirtschaftsförderung gleich- dacht werden und einen Fokus
gestellt werden.“ (ARL 2021d)                                                    darauf legen, Engagement als
                                                                                 kulturellen Bestandteil ländli-
durch die Sicherung von Angeboten der Daseinsvorsorge cher Räume und ländlicher Entwicklung zu unterstrei-
und von soziokulturellen Angeboten zu einem großen chen. In diesem Sinne gilt es vor allem, gemeinsam Ziele
Teil zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse festzulegen, Ressourcen zugunsten des Engagements zu
bei und ist zugleich Treiber sozialer Innovationen. Diese bündeln und Unterstützung bei Organisationsstruktu-
Substitutionslogik, also die Übernahme von eigentlich ren, Finanzen und Weiterbildung im Sinne eines Kom-
staatlichen Aufgaben, hat in ländlichen Räumen eine petenzaufbaus von Vereinen und Initiativen, aber auch
lange Tradition. Allerdings behindern der demografi- Verwaltungen zu entwickeln.
sche Wandel wie auch veränderte Lebenssituationen mit
größerer beruflicher Mobilität oder mit multilokalen Unterstützungsstrukturen sollten hier räumlich
Lebensentwürfen, dass sich vermehrt Menschen vor Ort im Sinne von Engagement-Hubs gebündelt werden.

12 / HEIMAT WESTFALEN – 6/2021
ländlicher Räume in Westfalen

LEADER-Regionen könnten hier eine passende räumli-         lichen System ergibt sich eine spezifische Problematik.
che Größe und „erweiterte“ LEADER-Regionalmanage-          Sie verlangt auch nach spezifischen, das heißt maßge-
ments auch Angebotsplattform darstellen. Die eher in       schneiderten Lösungskonzepten. In der Zukunft spielen
städtischen Räumen angesiedelten Freiwilligenagentu-       in diesem Sinne hybride und passgenaue Konzepte eine
ren könnten Vorbild und Partner gleichermaßen sein.        wichtige Rolle. Das bedeutet auch, Daseinsvorsorge als
Dafür gilt es besonders, die Möglichkeiten der Digita-     Aufgabe öffentlich-privater Partnerschaften zu verstehen.
lisierung zu prüfen und zu nutzen, um Synergien und        Regionen und vor allem Kommunen müssen sich darin
eine Professionalisierung der Strukturen zu fördern,       als Akteursnetzwerke zusammen mit privaten Institu-
aber auch, um Engagement von Menschen mit starker          tionen, Verbänden, mit Trägern zivilgesellschaftlichen
lokaler Bindung, die aber nicht mehr oder nicht immer      Engagements und vielen mehr verstehen und eine aktive
vor Ort sind, „ortsungebunden“ weiter einzubeziehen.       Rolle einnehmen.

Für die dafür notwendigen kreativen und innovativen        In diesem Sinne versteht sich auch der Westfälische Heimat-
Prozesse ist dabei zentral, auch Freiräume für unorgani-   bund e. V. (WHB) als Sprachrohr und Initiator neuer Konzepte
siertes und projektbezogenes Engagement zu schaffen.       und Netzwerke zur Stärkung des ländlichen Raumes. In seinem
Denn gerade Initiativen und informellen Engagements        Themenschwerpunkt „Zukunft der Dörfer“ 2020/2021 fordert der
wird eine hohe Impulswirkung zugeschrieben. Vereine        WHB eine Gesamtstrategie für gleichwertige Lebensverhältnisse
bieten in ihrer oft stark organisierten Form dann die      in Stadt und Land, für den Erhalt der Lebensqualität vor Ort sowie
langfristigeren Strukturen, die für die Umsetzung von      für eine aktive Zivilgesellschaft.
Projekten benötigt werden. Beide Formen ergänzen sich
also, beide Formen bieten vor allem die Möglichkeit,       Dies gilt umso mehr, weil „Daseinsvorsorge“ mit vie-
selbstwirksam zu werden und das eigene Lebensumfeld        len der bereits skizzierten Herausforderungen ver-
und damit die ländlichen Räume mitzugestalten.             knüpft ist: Bereits heute hat sich beispielsweise die
                                                           Erkenntnis durchgesetzt, dass die Attraktivität von
                                                           Wirtschaftsstandorten in ländlichen Räume, zum
„Daseinsvorsorge“ mit dem Fokus                            Beispiel um junge aufstrebende Unternehmen oder
auf Feuerwehr/Brandschutz und                              Fachkräfte mit ihren Familien anzuziehen, unter an-
Gesundheit/Pflege als zentrale                             derem auch von Angeboten der Daseinsvorsorge vor
                                                           Ort oder in der Region abhängt. Eine gesicherte Da-
Handlungsfelder für ländliche Räume
                                                           seinsvorsorge ist also ein wichtiger Standortfaktor,
Eine gesicherte Daseinsvorsorge „in der Fläche“ mit funk-  und ihm wird in der Zukunft vor dem Hintergrund
tionierenden Einrichtungen und Dienstleistungen ist für    der Konkurrenz von Regionen ein größeres Gewicht
die Menschen in den ländlichen Räumen ein Stück Le-        zukommen als aktuell.
bensqualität. Für Kommunen
und für Institutionen der Raum- „Kommunen und interkommunale Kooperationen müssen Antworten
ordnung ist sie verpflichtender
Planungs-und Handlungsauf- geben auf ein sich änderndes Angebot sowie sich ändernde Bedarfe,
trag, genau diese Angebote Ansprüche und Nachfragen in vielen Feldern der Daseinsvorsorge.
in allen Teilen des Landes im Sie müssen sich deshalb in ländlichen Räumen für neue und vielfach
Sinne einer Gleichwertigkeit
                                   hybride Konzepte der Daseinsvorsorge öffnen und hierbei eine aktive
der Lebensbedingungen sicher-
zustellen. Die Dringlichkeit planende Rolle übernehmen.“ (ARL 2021e)
dieser Aufgabe stellt sich in un-
terschiedlichen Typen ländlicher Räume differenziert Im Bereich „Brandschutz/Feuerwehr“ sollten zukunfts-
dar. Je nach Betroffenheit im demografischen Wandel, je weisende Konzepte die mehrdimensionale Bedeutung
nach regionalem Entwicklungspfad und je nach Stärke der Feuerwehren in den ländlichen Räumen aufgreifen:
gerade auch der Klein- und Mittelstädte im zentralört- Freiwillige Feuerwehren stehen einerseits vor größer

                                                                                                   HEIMAT WESTFALEN – 6/2021 /   13
Struktur und Funktionswandel

werdenden Aufgaben im Katastrophenschutz, wie die           und lokaler Zusammenarbeit mit allen Partnern gilt es,
jüngsten Hochwasserereignisse gezeigt haben, ande-          Dienstleistungen entsprechend sich verändernder Bedar-
rerseits sind sie Träger gesellschaftlichen Engagements     fe effizient zu strukturieren und mit Unterstützung di-
und für die ländliche Soziokultur unerlässlich. Der nicht   gitaler Möglichkeiten neu zu konzipieren. Mit Blick auf
kleiner werdenden Aufgabenvielfalt stehen bereits heute     die Zukunft sind eine starke regionale Vernetzung der
Probleme gegenüber, diese Aufgaben auch zukünftig zu        Partner und neue, aufeinander abgestimmte Aufgaben-
erfüllen: Sich verändernde Lebensstile verlangen ein an-    teilungen dazu unerlässlich.
deres Zeitmanagement für Beruf und Familie einerseits
und für ein Feuerwehr-Engagement andererseits, mul-
tilokale Lebensführungen lassen dafür keine Zeit; für
                                                            Zusammenfassung
junge Menschen fehlen Anreize, sich in die Feuerwehr
vor Ort einzubringen und vieles mehr.                       Perspektiven ländlicher Räume in Nordrhein-Westfalen
                                                            erschließen sich nicht nur allein aus der Blickrichtung
Mehrdimensionale Bedeutung der Feuerwehren                  auf die Verflechtungsbeziehungen zu den Metropolregio-
Mit Blick auf die Zukunft sind Führungskräfte der Feuer-    nen und zu den großen Städten. Mit ihren spezifischen
wehr und der Rettungsdienste, aber auch Fachverbände,       Ausgangslagen, Entwicklungspfaden und Potentialen
Kommunen, Kreise und Regionen nicht nur vor die Auf-        weisen viele ländliche Regionen vielmehr ihre eigenen
gabe gestellt, jene Chancen, die sich durch die digitale    Entwicklungsdynamiken auf. Beide Ausgangslagen muss
Transformation zum Beispiel für attraktivere und effi-      Politik für die ländlichen Räume berücksichtigen. Sie
zientere Organisationsstrukturen und Arbeitsteilungen       stellt sich als ein umfassendes, das heißt ressortübergrei-
ergeben, wahrzunehmen und zu nutzen. Es wird auch           fendes Politikfeld dar. Es wird mit Blick auf die Zukunft
darum gehen, zukunftssichere Lösungen durch inter-          darauf ankommen, in Formen privat-öffentlicher Part-
kommunale Kooperationen zu stärken. Andere Hand-            nerschaften raum- und problemangepasste Strategien
lungsfelder kommen hinzu: Dazu zählen zum Beispiel          und Konzepte zu entwickeln, um Antworten auf anste-
eine kluge Werbung für junge Menschen und auch für          hende Herausforderungen zu finden. Eine ARL-Arbeits-
Frauen oder die Entwicklung neuer Konzepte im Sinne         gruppe hat zentrale Forderungen und Handlungsfelder
einer Teil-Verberuflichung der Freiwilligen Feuerwehren.    erarbeitet, denen zur zukünftigen Entwicklung ländli-
                                                            cher Räume in NRW eine wesentliche Bedeutung zuge-
Auch im Handlungsfeld „Gesundheitsversorgung/Pflege“        messen wird. Handlungsfelder und -empfehlungen sind
werden vom ARL-Arbeitskreis eine Vielzahl von Akteuren      an ein breites Spektrum von Akteuren und Zielgruppen
adressiert: Landespolitik, Kommunen, Kreise und Regio-      adressiert. Es ist wünschenswert, dass die skizzierten
nen, Verbände, Sozialträger und die kassenärztlichen        Kernforderungen in weitere Diskurse einfließen und
Vereinigungen stehen hier in erster Reihe, jedoch auch      fortgeschrieben werden.
andere, wie die Kirchen, Wirtschaftsförderungen und
Wohnungsunternehmen. Kommunen und Regionen sind             Prof. a. D. Dr. Ulrike Grabski-Kieron, Dipl.Geogr. (*1956),
die „zentralen“ Aushandlungs- und Kooperationsarenen.       bis 2017: Professorin für Orts-, Regional- und Landesent-
                                                            wicklung/ Raumplanung am Institut für Geographie, Univer-
Proaktive Bemühung um Fachpersonal und                      sität Münster. Mitglied der Akademie für Raumentwicklung
Praxisnachfolgen                                            in der Leibniz-Gemeinschaft (ARL); seit 2018 in verschiede-
Hier müssen sich Kommunen und Regionen mehr als             nen wissenschaftlichen und wissenschaftsnahen Engage-
früher als handelnde Akteure verstehen und eine aktive      ments tätig.
Rolle einnehmen, zum Beispiel wenn es um die Gewin-
nung von Fachpersonal, um Praxisnachfolgen oder um          Dr. Stephanie Arens (*1971) Dipl.Geogr., MA Raumpla-
die langfristige Sicherung von Versorgungs- oder Pflege-    nung/Regionalentwicklung; Südwestfalen Agentur GmbH,
einrichtungen geht. Kompetenzen im Gesundheitswe-           Leiterin Bereich Regionale Entwicklung; seit 2018 als Proku-
sen und in der Pflege sind neu zu bewerten und an sich      ristin. Mitglied in der Akademie für Raumentwicklung in der
ändernde Aufgabenprofile anzupassen. In regionaler          Leibniz-Gemeinschaft (ARL).

14 / HEIMAT WESTFALEN – 6/2021
ländlicher Räume in Westfalen

Die Freiwillige Feuerwehr aus Brochterbeck präsentiert sich auf der Frühjahrsschau der örtlichen Handels- und Gewerbebetriebe an
einem verkaufsoffenen Wochenende im März 2015.
Foto/ Greta Schüttemeyer © LWL-Medienzentrum für Westfalen

Literatur
ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (Hrsg., 2021):       ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (Hrsg.,
Die ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft. In:             2021e): Ländliche Räume in NRW – Räume mit Zukunftsperspektiven.
www.arl-net.de/de/content/aufgaben-und-ziele-der-arl (abgerufen am: 05.12.2021).    Schwerpunktthema Daseinsvorsorge. In: Positionspapiere aus der ARL, Nr.
                                                                                    132 (in Druck), demnächst auch online unter: www.arl-net.de/content/pu-
ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibnizgemeinschaft (Hrsg.,               blikationen
2021a): Rahmen-Positionspapier „Ländliche Räume in NRW: Räume mit
Zukunftsperspektiven“. In: Positionspapiere aus der ARL Nr. 128. Hannover           Arens, Stephanie/Ulrike. Grabski-Kieron (2021): Zukunftsperspektiven ländlicher
(in Druck), demnächst online unter: www.arl-net.de/content/publikationen            Räume in NRW. Die Landesarbeitsgemeinschaft NRW der Akademie für Raum-
                                                                                    entwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (ARL) bezieht Stellung. In: RaumPla-
ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (Hrsg., 2021b)       nung – Fachzeitschrift für räumliche Planung und Forschung. 2021, 212/3–4,
Ländliche Räume in NRW – Räume mit Zukunftsperspektiven. Schwerpunktthema           S. 61–65.
Wirtschaft und Arbeit. In: Positionspapiere aus der ARL Nr. 129. Hannover
(in Druck), demnächst auch online unter: www.arl-net.de/content/publikationen       Arens, Stephanie/Krajewski, Christian (2020): „Südwestfalen: Zukunftsgestaltung
                                                                                    in einem prosperierenden ländlichen Raum mit demografischen Herausforderun-
ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (Hrsg., 2021c):      gen: digital – nachhaltig – authentisch.“ In: Land in Sicht. Ländliche Räume in
Ländliche Räume in NRW – Räume mit Zukunftsperspektiven. Schwerpunktthema           Deutschland zwischen Prosperität und Peripherisierung. Hrsg. Christian Krajew-
Wohn- und Siedlungsentwicklung. In: Positionspapiere aus der ARL, Nr. 130 (in       ski, Klaus Wiegandt. Bonn 2020 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische
Druck), demnächst auch online unter: www.arl-net.de/content/publikationen           Bildung; 10362), S. 389–405.

ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (Hrsg.,2021d)        Landesregierung NRW: Engagementstrategie für das Land Nordrhein-West-
Ländliche Räume in NRW – Räume mit Zukunftsperspektiven. Schwerpunktthema           falen; online unter: www.land.nrw/tags/engagementstrategie, abgerufen am:
Bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt. In: Positionspapiere aus der ARL, Nr.   11.12.2021).
131 (in Druck), demnächst auch online unter: www.arl-net.de/content/publikationen

                                                                                                                                     HEIMAT WESTFALEN – 6/2021 /   15
STrukTur uNd FuNkTIoNSWANdEL

                               rEgIoNALE IdENTITäTEN
                            IM WESTFäLIScHEN ruHrgEbIET
                                                             voN MATTHIAS Löb

zeche Hugo in gelsenkirchen-buer
Foto/ Siegbert Kozlowski © LWL-Medienzentrum für Westfalen

16 / HEIMAT WESTFALEN – 6/2021
ländlicher Räume in Westfalen

d
         ie Einladung zu einer Festrede zum 100-jährigen
         Jubiläum des Vereins für Orts- und Heimatkun-
         de e. V. Oer-Erkenschwick bot den Anlass, einmal
über das Konstrukt einer regionalen Identität nach-
zudenken und dann auch jeweils über den Landesteil
„Westfalen“ und das „Ruhrgebiet“ zu sprechen. Wo liegt
die Zukunft meiner Stadt? Wie, mit welchen Themen
beheimate ich Menschen? Zugespitzt kann man formu-
lieren: Sollte man beispielsweise im Ruhrgebiet die stol-
ze montanindustrielle Vergangenheit nutzen, um von
dort zu neuen Ufern aufzubrechen? Oder sollte man
einen größeren geschichtlichen und räumlichen Bogen
schlagen und sich eher in einem gesamtwestfälischen
Kontext einordnen? Einfach gedacht lassen sich zwei
Formen von regionaler Identität unterscheiden:              Trinkhalle an der Polsumer Straße in Gelsenkirchen-Hassel
                                                            Foto/ Nantke Neumann © LWL-Medienzentrum für Westfalen

Mentales Konzept einer regionalen Identität
Da ist zum einen die Frage, ob sich Menschen aufgrund
einer gemeinsamen Geschichte, verbindender Merkma-          Region mehr Durchschlagskraft beim politischen Lob-
le oder zum Beispiel auch eines gemeinsamen Dialekts        bying und bei einem wirtschaftlich motivierten Regio-
einer gewissen Region zugehörig fühlen. Die Frage, die      nalmarketing zu erzielen.
sich daran anschließt, wäre, ob sich dies auch im Alltag
oder im praktischen Leben zeigt. Im Folgenden wird
dies als „mentales Konzept“ einer regionalen Identität
                                                            Westfalen: Region und Identität
bezeichnet.
                                                            Geschichtlich betrachtet, hat die Region „Westfalen“ klar
Politisch-strategisches Konzept einer                       ihren Niederschlag in unseren Verwaltungsstrukturen ge-
regionalen Identität                                        funden und es gibt auch einen historischen Auftrag, die
Einfacher zu fassen ist demgegenüber ein regionales         westfälische Identität zu pflegen. Von Westfalen als poli-
Identitätskonzept, welches als politisch-strategisches      tischem Raum in den heutigen Grenzen – später ergänzt
Konzept bezeichnet werden kann. Hier legt eine Institu-     um das Fürstentum Lippe – sprechen wir ab dem Jahr
tion oder ein Zusammenschluss von Meinungsbildnern          1815, als der preußische Staat sein Territorium in zehn
eine regionale Kulisse fest, die dann mit bestimmten ge-    Provinzen einteilte. Eine dieser Provinzen war die Provinz
wünschten Attributen versehen wird. Sehr erfolgreich        Westfalen, eine andere die Rheinprovinz.
haben das zum Beispiel die beiden Regionen Ostwest-             Im 19. Jahrhundert entwickelte sich sodann in einer
falen-Lippe und Südwestfalen umgesetzt. Beides sind         ungeahnten Geschwindigkeit eine ländliche Region in-
Kunstregionen, in denen die Kommunen und die dort           mitten dieser beiden Provinzen, damals noch bestehend
lebenden Menschen weder geschichtlich noch mentali-         aus vielen kleinen Dörfern. Motor dieser Entwicklung wa-
tätsbezogen in besonderer Weise miteinander verbunden       ren Kohle, Eisen und Stahl. Das Ruhrgebiet wuchs.
waren. Man kann allerdings nach über 25 Jahren erfolg-          Die Geschichte bis zur Vereinigung der beiden preu-
reichem Regionalmarketing in OWL oder nach etwa acht        ßischen Provinzen zu einem neuen Bundesland gehört
Jahren in Südwestfalen feststellen, dass den Menschen       zum geschichtlichen und kulturellen Erbe Nordrhein-
die Begriffe zumindest geläufig sind. Ob daraus dann        Westfalens. Und es gehört auch zu dieser Geschichte,
auch eine emotionale Zugehörigkeit erwächst, das steht      dass es nach jahrelangen Diskussionen eine ganz bewus-
dann oft auf einem anderen Blatt. Dieses politisch-stra-    ste Entscheidung war, die Unterschiedlichkeit Rheinland
tegische Konzept hat in erster Linie den Zweck, durch       einerseits, Westfalen-Lippe andererseits auch zu pflegen.
Zusammenarbeit und bestenfalls Arbeitsteilung in einer      Dies war letztlich auch der Grund, warum in historischer

                                                                                                            HEIMAT WESTFALEN – 6/2021 /   17
Struktur und Funktionswandel

                                                             liche Kulturpflege – auch wieder in Tradition der preu-
                                                             ßischen Provinzialverbände – den Landschaftsverbänden
                                                             übertragen worden ist, und zwar nicht als freiwillige,
                                                             sondern sogar als pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe.
                                                             Dort, wo es in anderen Bundesländern Landesmuseen
                                                             oder staatliche Galerien gibt, ist das breite Spektrum der
                                                             Museen, die das kulturelle Erbe sammeln, bewahren, er-
                                                             forschen und vermitteln sollen, den Landschaftsverbän-
                                                             den überantwortet worden.

                                                             Aber zurück zum mentalen Konzept: Erwächst aus der
                                                             geschilderten geschichtlichen Entwicklung bereits eine
                                                             „Westfälische Identität“, so etwas wie ein Westfalenbe-
                                                             wusstsein? Ganz so schlicht ist es nicht. Mit den gängigen
                                                             Westfalen-Klischees lässt sich zwar kabarettistisch, im Kar-
                                                             neval und vielleicht in Abgrenzung zum Rheinland gut
                                                             arbeiten. Westfalen ist jedoch viel zu groß und hat eine
                                                             viel zu wechselvolle Geschichte auch der Ein- und Auswan-
                                                             derung, als dass es nur eine Identität geben könnte.

                                                             Zusammengefasst lässt sich sagen:
                                                             · Der Begriff Identität ist durchaus im Plural zu denken.
                                                               Man kann sich also „mental“ mehreren (Teil-)Regionen
                                                               zugehörig fühlen.
Rekultivierte Halde Prosper mit dem sogenannten Tetraeder
Bottrop in Bottrop-Boy                                       · Die einzelnen Identitäten spielen in unterschiedlichen
Foto/ Anna Feldmeyer © LWL-Medienzentrum für Westfalen         Kontexten eine Rolle. Wenn ein Bayer einen Westfalen
                                                               fragt, woher er kommt, dann wird er vermutlich sagen
Kontinuität zu den preußischen Provinzialverbänden             „aus Westfalen“, denn damit kann dieser etwas anfan-
1953 die Landschaftsverbände sozusagen erneut aus der          gen. Wenn der Westfale in Frankreich gefragt wird,
Taufe gehoben wurden. Bei der Gründung des neuen Bin-          dann sagt er eher „Nordrhein-Westfalen“ oder einfach
destrichlandes spielte es insbesondere aus westfälischer       „im Westen Deutschlands“.
Sicht eine große Rolle, inwieweit die landschaftliche
Selbstverwaltung im künftigen Verwaltungsaufbau Nor-         · Die Zuschreibung bestimmter vermeintlicher „Stammes-
drhein-Westfalens berücksichtigt wurde.                        merkmale“ oder charakterlicher Eigenheiten als „typisch
                                                               westfälisch“ beruht oft auf Klischees und Stereotypen,
Seit 1815 ist Vieles geschehen: Das Ruhrgebiet ist zu ei-      die sich spätestens seit der rasanten Entwicklung im
nem der größten Ballungsräume Europas gewachsen,               20. Jahrhundert nicht mehr aufrechterhalten lassen.
alle unsere Teilregionen haben massive wirtschaftliche
Strukturbrüche erlebt und die Bevölkerung Westfalens         · Aber trotz alldem gibt es im Alltag, in Kontakten
hat sich seitdem verachtfacht. Durch Zuzug von Men-            mit Kommunen, Verbänden und Menschen immer wie
schen aus allen Teilen der Welt sind vielfältige Einflüsse     der auch das Erlebnis einer Identifikation mit dieser
nach Westfalen gelangt, die Leben, Denken und Sprache          Region Westfalen.
in unserer Region mitgeformt haben. Und dennoch – der
historische Auftrag an Landesregierung und Landtag lau-      Beim Blick auf ein politisch-strategisches Konzept ei-
tet: Pflege der landsmannschaftlichen Besonderheiten.        ner Region Westfalen ist ein LWL-Direktor befangen,
Ein Ausdruck dessen ist die Tatsache, dass die landschaft-   denn es ist Aufgabe des Landschaftsverbandes Westfa-

18 / HEIMAT WESTFALEN – 6/2021
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