Impact Free Impact Free 34 - Januar 2021 - Journal für freie Bildungswissenschaftler - Gabi Reinmann
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[0] Impact Free Journal für freie Bildungswissenschaftler Impact Free 34 – Januar 2021 HAMBURG IMPACT FREE 34 (Januar 2021) Reinmann & Vohle
[0] Impact Free Was ist das? Impact Free ist eine Publikationsmöglichkeit für hochschuldidaktische Texte, - die als Vorversionen von Zeitschriften- oder Buch-Beiträgen online ge- hen, oder - die aus thematischen Gründen oder infolge noch nicht abgeschlossener Forschung keinen rechten Ort in Zeitschriften oder Büchern finden, oder - die einfach hier und jetzt online publiziert werden sollen. Wer steckt dahinter? Impact Free ist kein Publikationsorgan der Universität Hamburg. Es handelt sich um eine Initiative, die allein ich, Gabi Reinmann, verantworte. Es handelt sich um eine Publikationsmöglichkeit für freie Wissenschaftler, veröffentlicht auf meinem Blog (http://gabi-reinmann.de/). Herzlich willkommen sind Gastautoren, die zum Thema Hochschuldidaktik schreiben wollen. Texte von Gastautoren können dann natürlich auch in deren Blogs eingebunden werden. Und was soll das? Impact Free ist ein persönliches Experiment. Es kann sein, dass ich hier nur wenige Texte veröffentliche, es kann sein, dass es mehr werden; und vielleicht mag sich auch jemand mit dem einen oder anderen Text anschließen. Es würde mich freuen. Ich möchte hier Gedanken, die mir wichtig erscheinen, in Textform öffentlich machen: Gedanken, bei denen ich so weit bin, dass sie sich für mehr als für Blog-Posts eignen, Gedanken, die ich nicht anpassen möchte an Anforderun- gen von Gutachtern und Herausgebern – in einer Textform, bei der ich kein Corporate Design und keine sonstigen Formal-Vorgaben (Genderschreib- weise, Textlänge) beachten muss. Einfach frei schreiben – und das auch noch, ohne an irgendeinen Impact zu denken! Kontaktdaten an der Universität Hamburg: Prof. Dr. Gabi Reinmann Universität Hamburg Hamburger Zentrum für Universitäres Lehren und Lernen (HUL) Leitung | Professur für Lehren und Lernen an der Hochschule Schlüterstraße 51 | 20146 Hamburg reinmann.gabi@googlemail.com gabi.reinmann@uni-hamburg.de https://www.hul.uni-hamburg.de/ http://gabi-reinmann.de/ IMPACT FREE 34 (Januar 2021) Reinmann & Vohle
[1] VOM REFLEX ZUR Veranstaltungen ohne physische Präsenz bereit- stellen. Für Studierende, Lehrende und Unter- REFLEXIVITÄT: CHANCEN DER stützungspersonal gleichermaßen brachen bis- RE-KONSTITUIERUNG herige Routinen und vertraute Orientierungen weg. Vor diesem Hintergrund kann man wohl FORSCHENDEN LERNENS von einer Krise in der Hochschullehre sprechen. UNTER DIGITALEN Warnende Hinweise, dass die krisenbedingte Digitalisierung in der Hochschullehre von einer BEDINGUNGEN systematischen und langfristigen Planung, Ent- wicklung und Durchführung von Online-Lehre GABI REINMANN & unterschieden werden müsse, ließen nicht lange auf sich warten. Hodges, Moore, Lockee, Trust FRANK VOHLE und Bond (2020) haben hierfür die Bezeich- nung Emergency Remote Teaching vorgeschla- gen, die vielerorts aufgegriffen worden ist. Zusammenfassung Neu ist die Digitalisierung als Thema an Hoch- schulen nicht: Bereits Mitte der 1990er Jahre Der Artikel nimmt den, durch die CoVID-19- gab es eine erste E-Learning-Welle, die sich, Pandemie ausgelösten, Krisenmodus an Hoch- wenn auch nicht flächendeckend, so doch mit schulen zum Anlass, systematisch über die kreativen Einzelprojekten bis weit in die 2000er Rolle der Digitalisierung für die Hochschul- Jahre hinein erstreckte (z.B. Dittler, 2017, S. 16 lehre nachzudenken und dabei das forschende ff.). Im letzten Jahrzehnt haben Hochschulen Lernen als besonders komplexes Lehrformat in die digitalen Technologien und deren Nutzung den Blick zu nehmen. Zunächst werden substi- in der Lehre zunehmend zu einem strategischen tuierende, optimierende und transformierende Thema gemacht und einen neuen Digitalisie- Funktionen des Digitalen unterschieden und de- rungstrend eingeleitet. Förderorganisationen ren Umsetzung exemplarisch als tendenziell re- haben Forschungs- und Entwicklungspro- flexhafte Formen der Digitalisierung in der gramme zur „digitalen Hochschulbildung“ auf- Lehre erörtert. In Abgrenzung dazu wird unter gesetzt. Nichtsdestotrotz hat die Situation seit Rückgriff auf das bislang eher digitalisierungs- März 2020 eine andere Qualität und wird wohl abstinente Konzept des forschenden Lernens zu Recht als Krise im Sinne einer massiven Stö- nach der Möglichkeit einer reflexiven Digitali- rung des Systems Hochschullehre angesehen – sierung gesucht. Durch Bewusstmachung des eine Krise, die, wie wir jetzt wissen, auch noch forschenden Anteils beim forschenden Lernen länger andauern kann: Waren die Entwicklung wird am Beispiel von Student Crowd Research und Erprobung von Online-Lehre (oder Lehre gezeigt, dass die Digitalisierung nicht nur er- mit Online-Elementen) bislang eine optionale kenntnisstützende, sondern auch erkenntnis- Sache einer überschaubaren Anzahl Lehrender konstituierende Tätigkeiten beeinflusst und da- mit besonderen Interessen und Kompetenzen, bei zudem Neues schaffen kann. Dieser Grund- zeitlich versetzt und fachlich unterschiedlich gedanke wird abschließend auf die physische verteilt, mittel- bis langfristig geplant, meist Präsenz angewandt, gekoppelt mit der Frage, eingebettet in Projekte oder systematisch mit wie wir eine postpandemische Präsenz re-kon- Ressourcen versehen, ist die aktuelle Sachlage stituieren können. eine fundamental andere: Hochschullehre musste, und muss vielerorts wieder, ausschließ- Reflexhafte Digitalisierung in der lich digital umgesetzt werden und das von (na- Krise hezu) allen Lehrenden zur gleichen Zeit sowie Hochschullehre im Krisenmodus ad-hoc unter Zeitdruck und – zumindest im ers- ten Krisensemester – weitgehend selbstorgani- Wenige Wochen vor Start des Sommersemes- siert ohne große Unterstützung. Digitalisierung ters 2020 wurde bundesweit beschlossen, Hoch- der Hochschullehre in der Krise ist zweifels- schullehre aufgrund der CoVID-19-Pandemie ohne eine Notfall-Reaktion, die kaum Zeit für ausschließlich digital anzubieten. In vielen an- Planung und Konzeption lässt: Wenn Präsenz- deren Nationen dieser Welt war die Situation lehre nicht mehr möglich ist, muss diese in den ähnlich (z.B. Cohen & Sabag, 2020). Unter ho- virtuellen Raum verlagert werden und zwar flä- hem Zeitdruck mussten Hochschullehrende chendeckend in einem bislang nie dagewesenen Umfang. IMPACT FREE 34 (Januar 2021) Reinmann & Vohle
[2] Von der substituierenden zur optimierenden Im Verlauf des ersten Corona-Semesters haben Funktion des Digitalen sich viele Lehrende bemüht, ihre digitalisierten Lehrangebote nachzubessern, denn natürlich Lehrende haben in dieser Krisensituation zu- haben die ad-hoc ins Virtuelle übertragenen nächst vor allem traditionelle Lehrformate aus Präsenz-Konzepte ihre Nachteile. Vor allem der Präsenzlehre, also Vorlesungen, Seminare, einseitig synchrone oder asynchrone Modi ma- Übungen, digitalisiert. Komplexere Lehrfor- chen rasch deren Grenzen sichtbar; die nahelie- mate, darunter auch Veranstaltungen zur Förde- gende Reaktion ist, den Modus zu variieren. Mit rung forschenden Lernens, scheinen nicht im anderen Worten: Innerhalb des Emergency Re- Fokus der Ad-hoc-Digitalisierung zu sein. Es mote Teaching wird selbst in der Krise Präsenz- erscheint naheliegend, sich erst einmal auf die lehre nicht nur digital substituiert; Lehrende als überlebensnotwendig erachteten Lehrfor- versuchen trotz aller Einschränkungen im Laufe mate zu konzentrieren, um den Lehrbetrieb auf- der Zeit offenbar auch, in der Substitution ein- rechterhalten zu können. Schaut man sich an, zelne Prozesse zu optimieren (Reinmann et al., wie Lehrende im Zuge des Emergency Remote 2020). In der Planung des zweiten Corona-Se- Teaching die Krise zu bewältigen versuchen, mesters war zu beobachten, dass Lehrende von wird relativ rasch klar, warum das so ist. vorneherein so vorgegangen sind, verbunden Vorlesungen, Seminare und Übungen wurden mit der Erwartung oder Hoffnung, auch Präsen- und werden in vielen Fällen ohne größere kon- zelemente wieder integrieren zu können. zeptionelle Änderungen über den Einsatz von Substituierung und Optimierung sind Funktio- Videokonferenzsystemen vom physischen Prä- nen des Digitalen1, die schon vor der pandemie- senz-Modus in den synchronen Online-Modus bedingten Krise den Umgang mit der Digitali- überführt. Alternativ wurden und werden Vor- sierung in der Hochschullehre gekennzeichnet träge oder kurze Impulse sowie Aufgaben mit haben: Unter dem Stichwort Blended Learning Instruktionen vorab als Videos, Audios oder werden seit langem Lehr-Lernaktivitäten vom Texte produziert und Studierenden asynchron physischen in den virtuellen Raum verlegt, verfügbar gemacht (z.B. Reinmann, Bohndick, wenn dies einen didaktischen (oder ökonomi- Lübcke, Brase, Kaufmann & Groß, 2020; Kreu- schen) Gewinn verspricht. Präsenz- und Online- lich et al., 2020; Seyfeli, Elsner & Wannema- Lehre werden in unterschiedlicher Weise kom- cher, 2020). Es ist in einer Krise nachvollzieh- biniert, um etwa gemeinsam geteilte Zeit vor bar, dass Lehrende erst einmal versuchen, Ver- Ort (physische Präsenz) besser als vorher zu anstaltungskonzepte aus dem physischen in den nutzen. Das aber machten nicht alle und wohl virtuellen Raum annähernd eins-zu-eins über- kaum jemand unter Zwang; die Online- und tragen: Das Physische wird durch das Virtuelle Blended Learning-Akteure waren Lehrende mit substituiert. Eben dies ist beim forschenden Erfahrung, Motivation und den notwendigen Lernen offenkundig keine naheliegende Option: Mitteln. Das forschende Lernen allerdings war Forschend gelernt wird meist in kleinen Grup- auch in vorpandemischen Zeiten kein primärer pen, die von Lehrenden unterschiedlich angelei- Digitalisierungskandidat – von einigen Ausnah- tet, in der Regel aber relativ individuell beglei- men abgesehen (im deutschsprachigen Raum tet werden, ohne dass Wissensvermittlung oder z.B. Kergel & Heidkamp, 2016; Dehne, Knoth separates Üben einen besonders großen Anteil & Lucke, 2019). Weil es in der Folge relativ we- hätten. Präsenzveranstaltungen zu forschendem nige praktische Erfahrungen, empirische Be- Lernen folgen in der Regel anderen Schemata funde und theoretische Argumente gibt, trifft als dem mit wöchentlichen Sitzungen, wie man der aktuelle Digitalisierungszwang das for- es aus Vorlesungen, Seminaren oder Übungen schende Lernen besonders hart. Das mag ein kennt. Dazu kommen interdisziplinäre Unter- weiterer Grund dafür sein, dass forschenden schiede infolge der Art des Forschens (z.B. Ex- Lernens derzeit (noch) nicht im Fokus der Digi- perimentalforschung im Labor, Implementions- talisierung steht. und Evaluationsforschung im Feld, empirische und hermeneutische Forschung etc.). Hier wa- ren und sind zumindest keine schnell umsetzba- ren Lösungen auf rein digitaler Basis vorhan- den. 1Die Bezeichnung „das Digitale“ wird rein beschreibend verwendet, in Anlehnung etwa an Döbeli (2017). IMPACT FREE 34 (Januar 2021) Reinmann & Vohle
[3] Von der transformierenden Funktion des die substituierende Funktion des Digitalen, und Digitalen zurück zur Präsenzlehre innerhalb der Substituierung gegebenenfalls dessen optimierende Funktion, zum Tragen Inzwischen werden, immer noch mitten im pan- kommt. Komplexe Lehrformate, wie die, die demischen Geschehen, die ersten Stimmen laut, forschendes Lernen bei Studierenden fördern, die eine einfache Rückkehr in die „alte“ Prä- waren und sind in der Zwangsdigitalisierung senzlehre kritisch sehen (z.B. Schöning, 2020). kaum ein Thema3. Es ist daher zu vermuten, Die flächendeckende Digitalisierung wirft die dass forschendes Lernen (an deutschen Hoch- Frage auf, was sich gegebenenfalls grundlegend schulen) in größerem Stil erst reaktiviert wird, verändern könnte – etwa in der Vermittlungs- wenn Präsenzlehre wieder uneingeschränkt und Interaktionsqualität von Hochschullehre möglich ist. Doch können wir nach der Krise (vgl. Peters et al., 2020). Auch dieser Aspekt ei- überhaupt wieder in „die“ Präsenz zurückkeh- ner transformierenden Funktion des Digitalen ren, wie wir sie vor der Pandemie kannten? existiert schon länger, seitdem klar ist, dass di- gitale Technologien in unserer Gesellschaft all- Die bisherige hochschuldidaktische Auseinan- gegenwärtig sind und unser Denken und Han- dersetzung mit der Entwicklung digitaler Tech- deln langfristig beeinflussen. nologien und ihrem Einfluss auf die Lehre er- folgte in der Regel von innen heraus, ausgehend Im Rahmen der Hochschullehre mögen Opti- von Anlässen, die in der Hochschullehre selbst mierung und Transformation stellenweise nur gegeben waren: Probleme, Herausforderungen graduell zu unterscheiden sein: Ob eine digital oder Ideen im Zusammenhang mit Lernprozes- anders durchgeführte Handlung diese in ihrem sen, der Organisation von Lehre, der Wirksam- Kern verändert (also transformiert) oder „nur“ keit von Methoden und so weiter. In der Folge effizienter oder effektiver macht (also opti- haben wir substituierende, optimierende und miert), wird immer auch davon abhängen, wie transformierende Funktionen des Digitalen er- dieser Handlungskern definiert ist. Dazu ein kannt, ausprobiert und in der Regel in über- Beispiel: Die weit verbreiteten Inverted Class- schaubarem Ausmaß und mit mäßiger Ge- room-Konzepte (vgl. Volk, 2020) optimieren schwindigkeit praktiziert. Die CoVID-19-Pan- auf der einen Seite die Nutzung von Präsenzzeit, demie hat demgegenüber alles auf den Kopf ge- indem vermittelnde Lehraktivitäten in Form stellt – in einem ungeahnten Umfang und von Videos in den digitalen Raum verlegt wer- Tempo. Das bleibt nicht ohne Folgen auch für den. Auf der anderen Seite ändern sie ein Lehr- das künftige Verhältnis der Hochschullehre zur format wie die Vorlesung im Kern, indem sie Digitalisierung und zur physischen Präsenz. Aktivitäten und Gewohnheiten von Lehrenden Nun ist eine Krise grundsätzlich nicht nur Aus- und Studierenden beeinflussen. Wenn also digi- druck des Höhepunkts einer systemischen Stö- tale Technologien nicht nur Werkzeuge sind, rung, sondern kann auch zum Wendepunkt wer- sondern deren Entwicklung und Einsatz Denk- den: Mit ihrem weiteren Verlauf ist zumindest und Handlungsweisen bzw. -routinen verän- die Möglichkeit gegeben, dass wir von der re- dern, geht es nicht mehr nur um Substituierung flexhaften Digitalisierung im Sinne eines und Optimierung, sondern um Transformation. Emergency Remote Teaching wegkommen und Manche Autorinnen plädieren in diesem Zu- hinfinden zu einer reflexiven Digitalisierung. sammenhang dafür, auch neue Begriffe, wie Forschendes Lernen, das aus den erörterten etwa den der Digitalität zu verwenden2 (z.B. Gründen nicht in den Reigen der Lehrformate Stalder, 2016). zur Zwangsdigitalisierung passt, bietet sich als Nun ist das Gros der Lehrenden unter den der- Beispiel an, um diesen Gedanken zu entfalten. zeitigen Belastungen vermutlich nicht mit Transformationsdiskursen beschäftigt. Viel- mehr wird in der aktuellen Krise der Ruf nach Rückkehr zur Präsenz lauter: Die Pandemie hat zu einer flächendeckenden Ad-hoc-Digitalisie- rung gezwungen mit der Folge, dass vor allem 2 3 Digitalität verweist auf die Verschmelzung des Analogen Vor allem international wird allerdings inzwischen über mit dem Digitalen und deutet damit den transformativen Versuche berichtet, insbesondere naturwissenschaftliche Charakter des Digitalen an; damit verbunden ist eine um- Laborforschung (z.B. Amy, Deveau, Wang & Small, fängliche geistes- und sozialwissenschaftliche Diskussion, 2020; Burmeister, Dickinson & Graham, 2020) und Feld- auf die hier nicht näher eingegangen wird. forschung zu digitalisieren (z.B. Creech & Shriner, 2020). IMPACT FREE 34 (Januar 2021) Reinmann & Vohle
[4] Das Verhältnis forschenden zum primären Referenzpunkt der Digitalisie- rung macht. Digitale Technologien, oftmals Lernens zur Digitalisierung selbst Produkt von Forschung, halten nämlich in Die didaktische Relevanz und digitale der Regel schnell auch Einzug in die Forschung. Abstinenz forschenden Lernens Digitalisierung in der Forschung Beim forschenden Lernen wird Hochschullehre so gestaltet, dass Forschen und Lernen ineinan- Über nahezu alle Disziplinen hinweg eröffnet dergreifen. Diese Verzahnung, eingebettet in die Digitalisierung der Forschung seit Jahrzehn- übergreifende Ideale wie „Bildung durch Wis- ten immer wieder neue Handlungsspielräume. senschaft“, ist spezifisch für die Hochschule als Ein paar Beispiele mögen das illustrieren: Sozi- Ort akademischer Bildung und Forschung und alwissenschaftlerinnen erheben Daten mit digi- ein wichtiger Faktor, der die Hochschuldidaktik talen Umfrage-Tools, Geographen und Archäo- von anderen Didaktiken unterscheidet. loginnen analysieren Umweltdaten mit Geo-In- formationssystemen und Erziehungswissen- Ziel jeden Forschens ist es, Erkenntnisse zu ge- schaftler videografieren Unterricht zur digital nerieren; Ziel von Lehre ist es, nicht nur Er- gestützten Analyse. Statistische Auswertungen kenntnisse zu vermitteln, sondern Studierende erfolgen seit Jahrzehnten digital mit Standard- auch in die Lage zu versetzen, potenziell selbst Software oder hochspezialisierten Program- zum Erkenntnisgewinn beizutragen. Angestrebt men. Architekten und Ingenieurswissenschaft- wird Letzteres mit forschendem Lernen im en- lerinnen arbeiten mit Computer-Aided Designs geren Sinne, dass Studierende selbst eigene Fra- und Geisteswissenschaftler mit digitalen gestellungen beforschen. Forschendes Lernen Sammlungen und Archiven. Virtuelle Labore lässt sich vor diesem Hintergrund als ein Nuk- ermöglichen neue Formen naturwissenschaftli- leus der Hochschuldidaktik verstehen (Rein- chen Experimentierens, Big Data und selbstler- mann, 2020a). Auch andere forschungsnahe nende Algorithmen der Datenauswertung er- Lern- und Lehrformen (Huber & Reinmann, schließen neue Forschungsfelder und digitales 2019) kann man zu diesem Nukleus zählen; stu- Forschungsdatenmanagement ermöglicht Se- dentisches Forschen aber stößt eine Enkultura- kundäranalysen. Diese Beispiele zeigen, wie di- tion in Wissenschaft direkt an und ermöglicht gitale Technologien in Forschungstätigkeiten Studierenden, das Forschen selbst zu erleben. eingesetzt werden, die unmittelbar der Erkennt- Dass nun ausgerechnet das forschende Lernen nis dienen, was höchst disziplinspezifisch sein mit seiner didaktischen Relevanz für die Hoch- kann. Es handelt sich um erkenntniskonstituie- schule in der Pandemie aus den genannten rende Tätigkeiten, in welche das Digitale ent- Gründen hintanstehen muss, ist angesichts der sprechend direkt eingreift. skizzierten Digitalisierungsumstände zunächst Daneben gibt es Tätigkeiten, die man in jeder einmal nachvollziehbar. Wenn doch auch Lehr- Art von Forschung kennt und Erkenntnispro- angebote zum forschenden Lernen gemacht zesse eher stützen als konstituieren: beispiels- werden, richtet sich die Aufmerksamkeit in der weise die Recherche eines Forschungsstands, Krise vermutlich erstmal auf den Part des Ler- die Präsentation von Ergebnissen und deren nens beim forschenden Lernen – analog zu an- Publikation, Peer Review-Prozesse und ver- deren Lehrformaten4. In der Folge gehen die schiedene Formen der Zusammenarbeit. Auch Suchbewegungen in Richtung Emergency Re- solche erkenntnisstützenden Tätigkeiten werden mote Teaching und damit in die annäherungs- im Kontext der Forschung vielfach bereits in di- weise Eins-zu-eins-Übertragung vom Handeln gitaler Form umgesetzt. Dazu seien ebenfalls aus dem physischen in den virtuellen Raum. ein paar Beispiele genannt: Recherchiert wird in Eben dies ist aber, wie gezeigt wurde, keine na- Datenbanken oder digitalen Zeitschriften und heliegende Option beim forschenden Lernen. Ergebnisse werden in digitalen Literaturverwal- Allerdings erklärt das nicht die digitale Absti- tungen organisiert. Forschungspartner kommu- nenz forschenden Lernens schon vor der Pande- nizieren online synchron wie asynchron. Auch mie. Der Erklärungsnotstand wird derweil noch vor der Pandemie haben Forschende ihre Ergeb- größer, wenn man sich dem Part des Forschens nisse mitunter schon via Audio oder Video auf- beim forschenden Lernen zuwendet und dieses bereitet und online verfügbar gemacht, digital 4Diese Beobachtung beruht auf verschiedenen digitalen Workshops in der zweiten Hälfte des Jahres 2020. IMPACT FREE 34 (Januar 2021) Reinmann & Vohle
[5] oder im Open Access-Modus publiziert, Gut- geben, die Studierende in jedem Fall beherr- achten über digitale Journal- oder Konferenz- schen lernen sollten, sodass es eine Chance ist, Systeme eingeholt und abgegeben oder sich on- sich nun intensiver mit der Digitalisierung auch line an Open Peer Review-Verfahren beteiligt.5 beim forschenden Lernen zu befassen. Zu den- ken ist hier etwa an gängige Erhebungs- und Das Digitale in der Forschung hat auf erkennt- Auswertungssoftware in den Sozialwissen- niskonstituierende und -stützende Tätigkeiten schaften. Auf der anderen Seite wird man es gleichermaßen substituierende, optimierende ebenso mit digitalen Systemen und Anwendun- und transformierende Wirkungen – mit fließen- gen zu tun haben, die hoch spezialisiert sind o- den Grenzen: Prozesse in der Forschung können der deren Gebrauch eine intensive Einarbeitung infolge des Digitalen schneller, einfacher und erfordert, sodass ihr Einsatz in der Lehre ohne effizienter werden, sie können sich verändern zusätzliche Ressourcen schwierig bis unmög- und es können neue entstehen. lich wird. So oder so ist es im Kontext forschen- Nahelegende Digitalisierungsoptionen für den Lernens nicht damit getan, digitale Techno- forschendes Lernen logien im Erkenntnisprozess anzuwenden: Stu- dierende müssen darin natürlich angeleitet und Zieht man die hier nur kursorisch skizzierten begleitet werden – ein Aufwand, der wohl eben- Formen der Digitalisierung in der Forschung falls dazu beitragen dürfte, dass forschendes heran und macht diese zum primären Referenz- Lernen als Digitalisierungsziel im Emergency punkt in Fragen der Digitalisierung forschenden Remote Teaching nicht an erster Stelle steht. Lernens, dann liegt es in einem ersten Schritt nahe, digitale Optionen substituierender und Naheliegende Optionen der Digitalisierung for- optimierender Art für erkenntnisunterstützende schenden Lernens ziehen also auf der einen Tätigkeiten aus der Forschung auch für die Ge- Seite, ähnlich wie das bei anderen Lehrformaten staltung der Lehre heranziehen. Einiges davon, der Fall ist, die substituierende Funktion des Di- wie zum Beispiel Online-Recherchen, dürfte gitalen heran – vor allem da, wo es um erkennt- auch im Rahmen von Präsenzveranstaltungen nisstützende Tätigkeiten geht, die man gut vom mit forschendem Lernen schon im Einsatz ge- physischen in den virtuellen Raum verlagern wesen sein. Anderes, wie digitales Publizieren, kann. Dabei zeigen sich sogar Chancen, poten- könnte über die pandemiebedingten Erfahrun- ziell optimierende Funktionen des Digitalen zu gen von der Ausnahme zur Regel werden. Wie- nutzen und Studierende an ohnehin längst rele- der Anderes, wie etwa elektronische Kommuni- vant gewordene Formen digital gestützter For- kation, muss aktuell den Präsenz-Austausch er- schung stärker als bisher heranzuführen. Auch setzen, kann dafür aber zum Beispiel mit digita- transformierende Entwicklungen sind selbst im lem Projektmanagement verknüpft werden. (anhaltenden) Krisen-Modus denkbar: Mit der Auch die Begleitung und Beratung von Studie- Digitalisierung können sich Lehrangebote zur renden und studentischen Teams durch Leh- Förderung forschenden Lernens verändern, rende oder Tutorinnen lässt sich synchron und etwa indem Lehrende die Interaktion mit Stu- asynchron im Prinzip ähnlich digital bewältigen dierenden zu anderen Zwecken nutzen, den syn- wie das in Seminaren oder Übungen der Fall ist. chronen Austausch unter Studierenden inhalt- Bezogen auf erkenntnisstützende Tätigkeiten lich auf andere Schwerpunkte lenken oder Ab- im Prozess des Forschens unterscheiden sich läufe im Forschungszyklus neu organisieren die Möglichkeiten der Digitalisierung letztlich (vgl. Schiefner-Rohs, 2021). Was aber bei den wenig von denen, die man bei anderen Lehrfor- genannten Optionen außen vor bleibt, ist die maten heranzieht. Möglichkeit des Digitalen, neue Formen des Forschens hervorzubringen. Diese generie- Unterschiede zeigen sich dann, wenn es um er- rende Funktion des Digitalen könnte ein Anker kenntniskonstituierende Tätigkeiten geht, die für eine reflexive Digitalisierung nach der (kri- genauer nur disziplin- oder fachspezifisch zu senbedingten) reflexhaften Digitalisierung in bestimmen sind. Es ist wohl davon auszugehen, der Hochschullehre sein. Beispielhaft erörtern dass sich auch nur disziplin- oder fachspezifisch wir das am Konzept von Student Crowd Rese- klären lässt, wie praktikabel die Digitalisierung arch. im Erkenntnisprozess selbst ist: Da wird es auf der einen Seite digitale Forschungswerkzeuge 5Erwähnt sei, dass es auch Fehlentwicklungen gibt: Via Almetrics etc. das Rezeptions- und Publikationsverhalten Big Data etwa können Impact Faktoren, Zitationsindizes. von Wissenschaftlern auch negativ transformieren. IMPACT FREE 34 (Januar 2021) Reinmann & Vohle
[6] Reflexive Digitalisierung beim in selbstständiger Arbeit oder in aktiver Mitar- beit in einem übergreifenden Projekt – (mit)ge- forschenden Lernen stalten, erfahren und reflektieren“ (Huber 2009, Crowd Research S. 11). Es geht beim forschenden Lernen so- wohl um das Forschen für die Wissenschaft als Crowd Research (z.B. Vaish et al., 2017) ist im auch um Bildung des Subjekts durch Wissen- Kontext des forschenden Lernens, wie es in der schaft. Für letzteres ist zentral, dass das Indivi- Hochschullehre praktiziert wird, bislang kein duum einen ganzen Forschungszyklus durch- gängiges Konzept. Ein Forschen unter Einbe- lebt, während dies für ersteres nicht zwingend zug sehr vieler Personen, die Forschungsleis- ist. Crowd Research ist mit dieser klassischen tungen übernehmen (Crowd), ist allenfalls im Vorstellung von forschendem Lernen schwer Kontext etwa von Öffentlicher Wissenschaft o- vereinbar: In der Crowd, also im Falle sehr vie- der Bürgerwissenschaft (Citizen Science) be- ler Studierender, die sich gemeinsam an einem kannt. Citizen Science lebt davon, dass Laien in Forschungsvorhaben beteiligen, lässt sich zum den Forschungsprozess einbezogen werden, in- einen das zentrale Definitionsmerkmal des dem sie in der Regel über digitale Plattformen Durchlaufens eines ganzen Forschungszyklus Beobachtungs- oder Messdaten beisteuern oder durch den Einzelnen im Regelfall nicht realisie- sich an Datenauswertungen beteiligen, also an ren. Zum anderen bleibt offen, wie Bildungs- ausgewählten Stellen des Forschungszyklus prozesse von Subjekten möglich werden, wenn teil-haben. Für Crowd Research in diesem in der Crowd genau nicht der Einzelne im Fokus Sinne ist die Digitalisierung Voraussetzung: steht, sondern die Kollaboration Vieler (Rein- Ohne die Möglichkeit, Daten digital zu übermit- mann, Brase, Jaensch, Vohle & Groß, 2020). teln, elektronisch zu kommunizieren und online kollaborativ zu handeln, wäre Citizen Science Student Crowd Research nicht praktikabel. Hier also wird eine bestimmte Form des Forschens durch das Digitale gewis- Beim Student Crowd Research wird der Kern- sermaßen neu generiert. Zu den skizzierten gedanke von Citizen Science für Studierende Funktionen des Digitalen – das Substituieren, fruchtbar gemacht: Vielen Studierenden wird Optimieren, Transformieren – kommt also im die Möglichkeit eröffnet, im Kollektiv ein For- Kontext der Forschung eine generierende Funk- schungsprojekt durchzuführen, ohne dass Ein- tion hinzu: Das Digitale bringt Crowd Research zelne einen gesamten Forschungszyklus durch- erst hervor. Nun könnte man sich natürlich fra- laufen (müssen). Vielmehr beteiligen sich Stu- gen, warum Crowd Research als eine sozusagen dierende an verschiedenen Phasen des For- per definitionem digitalisierte Form des For- schungszyklus, haben also mit ihrer jeweils spe- schens nicht schon längst Einzug in das Reper- zifischen Forschungstätigkeit am Ganzen des toire verschiedener Lehrangebote zur Förde- Projekts teil: Sie sind Teil des Ganzen. rung forschenden Lernens gehalten hat – also in Wie bei Citizen Science, so wird auch bei Stu- vorpandemischen Zeiten der eher evolutionären dent Crowd Research ausschließlich online ge- Digitalisierung von Hochschullehre. arbeitet, kommuniziert, kooperiert. Die an ei- Dies könnte, so unsere Annahme, am – durch- nem Forschungsprojekt mitarbeitenden vielen aus gut begründeten – bildungstheoretisch fun- Studierenden sind örtlich verteilt und finden dierten Verständnis forschenden Lernens lie- sich in unterschiedlichen Konstellationen in gen. Beim forschenden Lernen an Hochschulen verschiedenen Phasen eines Forschungszyklus wird in der Regel eine seit den 1970er Jahren zusammen. Nimmt man den Crowd-Gedanken geltende Definition verwendet, die in einer Ver- ernst, kann man vorab nicht bestimmen, wer sion von Ludwig Huber aus dem Jahr 2009 zum wie lange in welchen Phasen des Forschungs- Klassiker geworden ist: „Forschendes Lernen zyklus tätig sein wird; nur zusammen – als Kol- zeichnet sich vor anderen Lernformen dadurch lektiv – lässt sich ein Forschungsvorhaben rea- aus, dass die Lernenden den Prozess eines For- lisieren. schungsvorhabens, das auf die Gewinnung von In einem BMBF-geförderten Verbundprojekt, auch für Dritte interessanten Erkenntnissen ge- an dem wir beteiligt sind, wird seit Ende 2018 richtet ist, in seinen wesentlichen Phasen – von eine digitale Forschungs- und Bildungsumge- der Entwicklung der Fragen und Hypothesen bung entwickelt und erprobt, die Student Crowd über die Wahl und Ausführung der Methoden Research (Projekt-Kürzel: SCoRe) im skizzier- bis zur Prüfung und Darstellung der Ergebnisse ten Sinne ermöglicht. SCoRe verfolgt das Ziel, die studentische Teilhabe an einem kollektiven IMPACT FREE 34 (Januar 2021) Reinmann & Vohle
[7] Forschungsprojekt soweit zu unterstützen und Konzept forschenden Lernens und damit die zu erfassen, dass Studierende ihre Tätigkeiten Vorstellung davon, wie Bildung durch Wissen- bzw. Leistungen am Ende als Credit Points in schaft über den Weg studentischen Forschens ihre Studiengänge einbringen können (z.B. gefördert werden kann, verändert; das Digitale Reinmann, Brase & Groß, in Druck). Das Pro- hat eine nun konzeptionell transformierende jekt SCoRe ist keine pandemiebedingte Ad- Funktion. Vergleicht man das mit der aktuellen hoc-Digitalisierung forschenden Lernens und Zwangsdigitalisierung, wird deutlich, dass wir damit nicht aus einer Krise heraus entstanden; hier einen gänzlich anderen Rahmen für Fragen SCoRe ist aber auch keine evolutionäre Weiter- der Digitalisierung forschenden Lernens haben, entwicklung forschenden Lernens, sondern hat die uns zu der Möglichkeit einer re-konstituie- einen gewissen disruptiven Charakter. Zwar be- renden Wirkung führt. rufen wir uns in SCoRe auf das Konzept des for- schenden Lernens, wissen aber um den Um- Die re-konstituierende Wirkung des stand, dass die digitale Realisierung mit Teil- Digitalen habe am Ganzen und einem Fokus auf dem Kol- Student Crowd Research ist ein besonderes Bei- lektiv das etablierte Verständnis forschenden spiel. Es eignet sich dafür aufzuzeigen, dass und Lernens in hohem Maße herausfordert. Student wie sich das Verhältnis zwischen Digitalisie- Crowd Research zwingt letztlich zu einer Er- rung und forschendem Lernen auch anders an- weiterung und damit Neubestimmung des defi- gehen lässt als über die krisenbedingte Suche nitorischen Kerns. nach Möglichkeiten, das Physische durch das Zieht man Hubers (2009) Definition heran, Virtuelle zu substituieren und gegebenenfalls zu dann zeichnet sich Student Crowd Research optimieren. dadurch aus, dass Studierende in einem jeweils Dazu müssen wir zunächst dem Reflex wider- festzulegenden Umfang am Prozess eines For- stehen, forschendes Lernen aus derselben Per- schungsvorhabens mitgestaltend und reflektie- spektive wie etwa Vorlesungen, Seminare oder rend teil-haben. Ein Forschungszyklus wird Übungen zu behandeln. Vielmehr gilt es, die zwar komplett von der Frage bis zur Ergebnis- Optionen des Digitalen reflexiv mit Rückbesin- präsentation durchlaufen, aber nicht von jedem nung auf das Forschen im forschenden Lernen Einzelnen, sondern von allen zusammen. Das zu durchdenken. Die oben skizzierten Möglich- kann nur dann forschendes Lernen sein, wenn keiten der Digitalisierung erkenntniskonstituie- die übergeordnete Definition eine solche Teil- render und -stützender Tätigkeiten, die auch das habe explizit vorsieht. Eine Anpassung Hubers forschende Lernen ausmachen, werden damit Definition könnte lauten: Forschendes Lernen nicht obsolet. Vielmehr, so unsere Einschät- zeichnet sich vor anderen Lernformen dadurch zung, kommt es darauf an, sich der verschiede- aus, dass die Lernenden in den Prozess eines nen Funktionen des Digitalen bewusst zu wer- Forschungsvorhabens, das auf die Gewinnung den und begründet zu entscheiden, (a) wann und von auch für Dritte interessanten Erkenntnissen wo das Digitale Lehr-Lern-Handlungen in der gerichtet ist, produktiv involviert werden und physischen Präsenz ersetzen kann (substituie- diesen in seinen wesentlichen Phasen – von der rende Funktion), (b) wie der Einsatz digitaler Entwicklung der Fragen und Hypothesen über Technologien außerhalb oder in der physischen die Wahl und Ausführung der Methoden bis zur Präsenz auch diese selbst verbessern kann (op- Prüfung und Darstellung der Ergebnisse in timierende Funktion) und (c) inwiefern Lehr- selbstständiger Arbeit oder in aktiver Mitarbeit Lernhandeln in digitalen Räumen zu grundle- in einem übergreifenden Projekt – in der Gänze genden Veränderungen in der Präsenzlehre, in oder in Teilen mitgestalten und erfahren, stets der Online-Lehre oder in der Konzeption didak- aber in ihrem Zusammenhang reflektieren. tischer Szenarien führen kann (transformie- Die digitale Umsetzung forschenden Lernens rende Funktion). als Student Crowd Research transformiert nicht Am Beispiel von Crowd Research wurde im die physische Präsenz in dazugehörigen Lehr- Kontext der Forschung eine weitere Funktion angeboten, wie dies bei verschiedenen Formen des Digitalen angerissen, nämlich die (etwas der Digitalisierung etwa von Vorlesungen, Se- Neues) generierende Funktion. Dieses Beispiel minaren oder Übungen der Fall ist, denn Student lässt die physische Präsenz gänzlich außen vor. Crowd Research braucht die Präsenzlehre nicht; Nichtsdestotrotz kann das dazugehörige Bei- vielmehr macht das Digitale Student Crowd Re- spiel für die Lehre, nämlich Student Crowd Re- search überhaupt erst möglich. Hier wird das search, dazu einladen, darüber nachzudenken, IMPACT FREE 34 (Januar 2021) Reinmann & Vohle
[8] welche besonderen Vorzüge das lokale Zusam- so deutlich fehlt. Gleichzeitig wissen wir wohl mentreffen im Falle einer verteilt stattfindenden aus Erfahrung, dass sich diese Chancen der kör- kollektiven Forschung hat. Man könnte in die- perlichen Anwesenheit im physischen Raum sem Fall von einer re-konstituierenden Wirkung weder mit Gewissheit noch von selbst entfalten. des Digitalen sprechen, die es uns ermöglicht, Es ist eine Aufgabe für Lehrende und Studie- die physische Präsenz auf einem neuen Niveau rende gleichermaßen, dieses Potenzial aktiv zu wiederherzustellen, sobald dies machbar ist. nutzen und die physische Präsenz nicht mit Ak- Damit greifen wir die zu Beginn gestellte Frage tivitäten zu füllen, die in digitalen Räumen bes- noch einmal auf, ob wir nach einer Krise wie der ser oder genauso gut realisiert werden können. derzeitigen überhaupt wieder in „die“ Präsenz Im Falle des forschenden Lernens, so unsere zurückkehren können und wollen, die wir vor Folgerung, könnte die Präsenzlehre in dem der Pandemie kannten. Die Ad-hoc-Digitalisie- Sinne re-konstituiert werden, dass man sie für rung in ihrem bislang einmaligen Umfang und das reserviert, was letztlich am schwersten ist: Tempo infolge der CoVID-19-Pandemie verän- nämlich die Arbeit an der Entwicklung einer dert nicht nur unser aktuelles Handeln, sondern forschenden Haltung, einer Neugier, die man wohl auch unseren Blick für das wertvolle Gut auch körperlich spüren muss, die im Austausch der Präsenzlehre – auch im Zusammenhang mit mit anderen gar ansteckend sein kann und darf studentischem Forschen. (vgl. Böhle & Weihrich, 2010). Ausblick: Präsenzlehre nach der Krise Literatur Was uns im Zustand der Deprivation von phy- Amy, M., Deveau, A.M., Wang, Y. & Small, sischer Anwesenheit im Zusammenhang mit der D.J. (2020). Reflections on course-based under- Hochschullehre so zu schaffen macht, scheint graduate research in organic and biochemistry sich schwer in präzise Kategorien und klare during COVID-19. Journal of Chemical Educa- Worte fassen zu lassen6. Genau das aber müss- tion, 97 (9), 3463-3469. ten wir tun, um die Frage nach der künftigen Böhle, F. & Weihrich, M. (2010). Die Körper- Gestaltung von Präsenzveranstaltungen, auch lichkeit sozialen Handelns. Soziale Ordnungen von solchen für forschendes Lernen, beantwor- jenseits von Normen und Institutionen. Biele- ten zu können. Wir assoziieren mit physischer feld: Transcript Verlag. Präsenz in der Regel Nähe und Vertrauen in Ab- grenzung zu Ferne und Fremdheit (vgl. Rein- Burmeister, A.R., Dickinson, K. & Graham, mann, 2020b). Das Körperliche und das Emoti- M.J. (2020). CUREs during and beyond onale gehen hier eine implizite Allianz ein, ge- COVID-19. Preprints, 2020090587. paart mit Möglichkeiten des Informellen und Cohen, S. & Sabag, Z. (2020). The influence of Zufälligen, die wir weniger bewusst als viel- corona epidemic on teaching methods of higher mehr unterschwellig erwarten, wenn wir mit an- education institutions in Israel. Journal of Re- deren zeitgleich im gleichen Raum sind. All search in Higher Education, 4, 44-71. dies fehlt in digitalen Umgebungen: Es gibt keine Körper, die sich intuitiv aufeinander zu- Creech, C. & Shriner, W. (2020). DIY ecology bewegen, weil man Vertrauen gewonnen hat class: Transitioning field activities to an online und in Kontakt und Austausch treten möchte; es format. Ecology and Evolution, 10, 12437- bleibt kaum Spielraum für das, was mit dem Be- 12441. griff Serendipity (vgl. Lindner, 2012) gut auf Dehne, J., Knoth, A. & Lucke, U. (2019). Stu- den Punkt gebracht wird: nämlich das Finden dieneingangsphase stärken, forschend lernen von etwas, was man nicht gesucht hat, das Ab- und digitale Medien nutzen. In G. Reinmann, E. kommen von einem vorgezeichneten Weg, das Lübcke & A. Heudorfer (Hrsg.), Forschendes ungezielte Umherschauen und unerwartete Ent- Lernen in der Studieneingangsphase. Empiri- decken. Körperlichkeit, Emotionalität, Informa- sche Befunde, Fallbeispiele und individuelle lität und Zufälligkeit verleihen der physischen Perspektiven (S. 111-125). Wiesbaden: Sprin- Präsenz diese schwer fassbare „Aura“, die jetzt ger VS. 6 Es wird aber in jedem Fall darum gerungen, wie die Essays im Band zur digitalen Präsenz von Stanisa- vljevic und Tremp (2021) anschaulich zeigen. IMPACT FREE 34 (Januar 2021) Reinmann & Vohle
[9] Dittler, U. (2017). Ein kurzer historischer Rück- Free, 31. Hamburg. URL: https://gabi-rein- blick auf die bisherigen drei Wellen des E-Lear- mann.de/wp-content/uploads/2020/08/Im- ning. In U. Dittler (Hrsg.), E-Learning 4.0. Mo- pact_Free_31.pdf bile Learning, Lernen mit Smart Devices und Reinmann, G., Bohndick, C. Lübcke, E. Brase, Lernen in Sozialen Netzwerken (S. 5-42). Ber- A., Kaufmann, M. & Groß, N. (2020). lin: de Gruyter. Emergency Remote Teaching im Sommersemes- Döbeli Honegger, B. (2017). Mehr als 1 und 0. ter 2020. Bericht zur Begleitforschung – Leh- Schule in einer digitalisierten Welt. Bern: hep. rendenbefragung. Hamburg: Hamburger Zent- rum für Universitäres Lehren und Lernen Hodges, C., Moore, S., Lockee, B, Trust, T. & (HUL). URL: https://www.hul.uni-ham- Bond, A. (2020). The difference between emer- burg.de/forschung/begleitforschung- gency remote teaching and online learning. Ed- ert/begleitforschung-bericht-2020-2.pdf ucause Review. URL: https://er.edu- cause.edu/articles/2020/3/the-difference-be- Reinmann, G., Brase, A. & Groß, N. (in Druck). tween-emergency-remote-teaching-andonline- Studentische Forschung im digitalen Raum: Ein learning Re-Design auf verschiedenen Gestaltungsebe- nen. In C. Bohndick et al. (Hrsg.), Hochschul- Huber, L. & Reinmann, G. (2019). Vom for- lehre im Spannungsfeld zwischen individueller schungsnahen zum forschenden Lernen an und institutioneller Verantwortung. Wiesbaden, Hochschulen. Wege der Bildung durch Wissen- Springer VS. schaft. Berlin: Springer VS. Reinmann, G., Brase, A., Jänsch, V., Vohle, F. Huber, L. (2009). Warum Forschendes Lernen & Groß, N. (2020). Gestaltungsfelder und -an- nötig und möglich ist. In L. Huber, J. Hellmer nahmen für forschendes Lernen in einem De- & F. Schneider (Hrsg.), Forschendes Lernen im sign-Based Research-Projekt zu Student Crowd Studium. Aktuelle Konzepte und Erfahrungen Research. Impact Free, 25. URL: https://gabi- (S. 9-35). Bielefeld: UniversitätsVerlagWebler. reinmann.de/wp-content/uploads/2020/02/Im- Kergel, D. & Heidkamp, B. (2016). Forschen- pact_Free_25.pdf des Lernen 2.0. Partizipatives Lernen zwischen Schiefner-Rohs, M. (2021). ´Digitale´ Präsenz Globalisierung und medialem Wandel. Wiesba- als Einladung zu Wissenschaft. In M. Stanisa- den: Springer VS. vljevic & P. Tremp (Hrsg.). Digitale Präsenz – Kreulich, K. et al. (2020). Hochschullehre in Ein Rundumblick auf das soziale Phänomen der Post-Corona-Zeit. Studie der bayerischen Lehre (S. 94-96). Luzern: Pädagogische Hoch- Hochschulen für angewandte Wissenschaften schule Luzern. doi: 10.5281/zenodo.429 Sommersemester 2020. URL: https://w3-medi- Schöning, B. (2020). Schöning, Benedict: Prä- apool.hm.edu/mediapool/media/baukas- senz: Zurück in die Zukunft der vergangenen ten/img_2/fidl/dokumente_121/FIDLStu- Hochschullehre? feinschwarz.net (22. Juni diePostCoronaGesamt.pdf 2020). URL: https://www.fein- Lindner, R. (2012). Serendipity und andere schwarz.net/praesenz-zurueck-in-die-zukunft- Merkwürdigkeiten. vokus, 22 (1), 5-11. der-vergangenen-hochschullehre/. Peters et al. (2020). Reimagining the new peda- Seyfeli, F. Elsner, L. & Wannemacher, K. gogical possibilities for universities post- (2020). Vom Corona-Shutdown zur Blended Covid-19, Educational Philosophy and Theory, University? ExpertInnenbefragung Digitales DOI: 10.1080/00131857.2020.1777655 Sommersemester. Baden-Baden: Tectum. URL: Reinmann, G. (2020a). Forschendes Lernen – https://www.tectum-eli- Ein Nukleus der Hochschuldidaktik. In J. brary.de/10.5771/9783828876484.pdf?down- Straub, S. Plontke, P.S. Ruppel, B. Frey, F. load_full_pdf=1 Mehrabi & J. Ricken (Hrsg.), Forschendes Ler- Stalder, F. (2016). Kultur der Digitalität. Ber- nen an Universitäten. Prinzipien, Methoden, lin: Suhrkamp. Best-Practices an der Ruhr-Universität Bo- Stanisavljevic, M. & Tremp, P. (2021). Digitale chum (S. 591-604). Wiesbaden: Springer VS. Präsenz – Ein Rundumblick auf das soziale Reinmann, G. (2020b). Präsenz – (k)ein Garant Phänomen Lehre. Luzern: Pädagogische Hoch- für die Hochschullehre, die wir wollen? Impact schule Luzern. doi: 10.5281/zenodo.429 IMPACT FREE 34 (Januar 2021) Reinmann & Vohle
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