INFO - Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung

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INFO                         03/2011

SCHWERPUNKT
Unterstützung auf
dem Weg zu einer
freieren Gesellschaft   3

VORDENKEN
Die Neuvermessung
von Fortschritt und
Wohlergehen         21

MITWIRKEN
Risiken den
Verantwortlichen
überlassen              35

TEILHABEN
50 Jahre Anwerbe-
abkommen                47

VERNETZEN
Konturen einer
politischen Union       57
INFO - Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung
2     AUGUST –­ SEPTEMBER – OKTOBER – NOVEMBER 2011

           Inhalt
                    FES-INFO 3/2011                                                                       TEXT­BEI­TRÄ­GE
                                                                                                          IN DIE­SER AUS­GA­BE

                    SCHWERPUNKT                                                                           Merin Abbas, Heba Ahmed, Henrike
                                                                                                          Allendorf, Vasyl Andriyko, Christine
                    Unterstützung auf dem Weg zu                                                          Arbogast, Frederik Beck, Astrid Becker, Jacob
                    einer freieren Gesellschaft –                                                         Birkenhäger, Julia Bläsius, Marc Bohn, Jonas
                    Aktivitäten der FES in der arabischen Welt........................ 3                  Brandhorst, Elisabeth Braune, Sara Brombart,
                                                                                                          Michael Bröning, Matthes Buhbe, Florian
                    Dialog mit allen offenhalten –                                                        Dähne, Oliver Dalichau, Olena Davlikanova,
                    „Vom arabischen Frühling zur gerechten Demokratie“...... 4                            Knut Dethlefsen, Sina Dürrenfeldt, Felix
                    Der Menschenrechtspreis 2011 –                                                        Eikenberg, Helmut Elischer, Samir Farah,
                    Symbolfiguren des Freiheitskampfes.................................. 6                Roland Feicht, Michael Fischer, Pit Gey, Judith
                                                                                                          Gouverneur, Martin Gräfe, Sergio Grassi,
                                                                                                          Rainer Gries, Hendrijke Grunow, Björn
                    GESELLSCHAFTLICHES ENGAGEMENT /                                                       Hacker, Mirko Herberg, Ralf Hexel, Kathrin
                    SOZIALE DEMOKRATIE                                                                    Hofmann, Peter Hurrelbrink, Daniela Iller,
                                                                                                          Hanna Israel, Matthias Jobelius, Martin Johr,
                    Die Neuvermessung von Fortschritt und Wohlergehen –                                   Friederike Kamm, Peter König, Alberto
                    Suche nach neuem Leitfaden wirtschaftspolitischen                                     Koschützke, Julia Kühne, Michael Langer,
                    Handelns ....................................................................... 21   Hajo Lanz, Linda Larsson, Emil Lieser, Annette
                                                                                                          Lohmann, Thomas Mättig, Henrik Meyer,
                    Von New York bis Tel Aviv – Aktivisten aus
                                                                                                          Michael Meier, Nicole Nestler, Rolf Paasch,
                    aller Welt diskutieren mit Sigmar Gabriel......................... 23                 Tim Petschulat, Markus Pins, Christoph
                    Zeit für Gerechtigkeit! –                                                             Pohlmann, Werner Rechmann, Simone
                    Eine internationale Themenwoche..................... ab Seite 25                      Reperger, Stefanie Ricken, Ilka Ritter, Ingrid
                                                                                                          Ross, Alexander Rüsche, Constantin Schäfer,
                    „Im Geist des guten Willens für den Frieden“ –                                        Christina Schildmann, Franziska Schmidt,
                    40 Jahre Friedensnobelpreis an Willy Brandt.................... 32                    Horst Schmidt, Severin Schmidt, Marcus
                                                                                                          Schneider, Markus Schreyer, Franziska
                                                                                                          Schröter, Carla Schulte-Reckert, Michael
                    WIRTSCHAFT, ARBEIT, SOZIALES                                                          Schultheiß, Günther Schultze, Wenzel
                    Risiken den Verantwortlichen überlassen –                                             Seibold, Sabine Seiffert, Bastian Sendhardt,
                    Konferenz über die Regulierung der Finanzmärkte.......... 35                          Beyhan Sentürk, Sebastian Sperling, Susanne
                                                                                                          Stollreiter, Ulrich Storck, Sandra Tauer,
                    Potenziale besser nutzen –                                                            Stephan Thalhofer, Markus Troemmer, Maria
                    Mittel zur Deckung des Fachkräftebedarfs....................... 38                    Usacheva, Achim Vogt, Ringo Wagner
                    Nigeria: Jobs statt Deregulierung –                                                   Helmut Weber, Frederic Werner, Sidonie
                                                                                                          Wetzig, Lothar Witte, Christoph Wittmaack
                    „Africa Industrialisation Day“.......................................... 41
                    Wirkung verfehlt? –
                    Bilanz nach 10 Jahren Riester-Rente................................ 44                IMPRESSUM
                                                                                                          He­raus­ge­ber:
                    INTEGRATION, BILDUNG, KULTUR                                                          Fried­rich-Ebert-Stif­tung
                                                                                                          Kom­mu­ni­ka­ti­on und Grund­satz­fra­gen
                    „Ich kam als Ausländer,                                                               Go­des­ber­ger Al­lee 149
                    dabei wollte ich nur Mensch sein“ –                                                   D-53175 Bonn
                    50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei................... 47                         Te­le­fon: 0228/883–0
                                                                                                          In­ter­net: www.fes.de
                    Beratung und Hilfe annehmen –                                                         E-Mail: pres­se@fes.de
                    Migrationsfamilien in Deutschland.................................. 49
                    Alt und arm –                                                                         Re­dak­ti­on: Pe­ter Do­nais­ki,
                    Gerechte Rentenpolitik in Europa.................................... 52               Pres­se­stel­le Ber­lin
                                                                                                          Hi­ro­shi­ma­stra­ße 17, D-10785 Ber­lin
                                                                                                          Te­le­fon: 030/269 35–7038
                    EUROPA UND DIE WELT                                                                   Te­le­fax: 030/269 35–9244
                                                                                                          E-Mail: pe­ter.do­nais­ki@fes.de
                    Konturen einer politischen Union.................................... 57
                    Nationalstaatliche Egoismen zurückstellen –                                           Satz, Lay­out, Herstellung:
                    EU als demokratisches Erbe der Menschheit.................... 58                      Pub­lix, H. Eschen­bach, Ber­lin
                                                                                                          Druck: Saarländische Druckerei &
                    Die Türkei vor neuer Verfassung...................................... 65              Verlag GmbH, Saarwellingen
                    Eine Miniatur der chinesisch-                                                         Titelseite unter Verwendung
                    deutschen Beziehungen.................................................. 66            von Bildmaterial von
                                                                                                          fotolia.com
                    Wahlen in der Demokratischen Republik Kongo –                                         Ti­telgestaltung / Montage:
                    Der schwierige Weg zur Demokratie?............................. 70                    Wolfgang Rabe, Berlin

                                                                                                          Prin­ted in Ger­ma­ny, Januar 2012
                    PUBLIKATIONEN
                                                                                                          Ge­druckt auf 90 g matt ge­stri­chen
                    Neue Publikationen der FES............................................. 73            ISSN 0942-1351ISSN 0942-1351

FES   I N F O       3 / 2 0 1 1
INFO - Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung
SCHWERPUNKT       3

REVOLUTION – UND DANN?

UNTERSTÜTZUNG AUF DEM WEG ZU                                                                                    Einleitung zum
                                                                                                                Schwerpunktthema

EINER FREIEREN GESELLSCHAFT
D I E A K T I V I T Ä T E N D E R F R I E D R I C H - E B E R T- S T I F T U N G
I N D E R A R A B I S C H E N W E LT

Es besteht heute kein Zweifel daran, dass sich in          nicht verstanden zu haben. Auch sind Teile der
der arabischen Welt ein Veränderungsprozess                Reformwelle in die Königreiche Marokko und
Bahn gebrochen hat, den einerseits niemand                 Jordanien hineingeschwappt und haben dort
für möglich hielt, dessen Verlauf und Ergebnisse           Veränderungsprozesse beschleunigt, die das Sys-
aber nur schwerlich vorauszusagen sind. Die                tem ansonsten ausgesessen oder zumindest doch
Umsturzbewegungen waren weder ideologisch                  zögerlicher umgesetzt hätte. Auch wenn heute
noch religiös motiviert, sondern wurzeln in er-            die ganze Welt auf die Kernländer der arabischen
ster Linie in der aussichtslos schlechten wirt-            Revolution blickt, darf man doch nicht außer
schaftlichen und sozialen Lage der Mehrheit der            Acht lassen, die sich auch im Libanon, in Palästi-
Bevölkerungen, deren Wut über mangelnde Frei-              na wie auch im Südsudan vollziehenden Verän-
heit und Würde sich mit einem Schrei auf den               derungsprozesse entsprechend zu würdigen.
Straßen entlud.                                            Mit dem Sturz der Despoten in Tunesien und
Eine Region, die sich weitestgehend durch ihre             Ägypten allein sind nicht automatisch die von
autoritär „verordnete Ruhe“ auszeichnete, hat              ihnen geschaffenen intransparenten und pater-
sich binnen eines Jahres in einen Landstrich „or-          nalistischen Systeme überwunden. Es ist eine
dentlicher Unruhe“ verwandelt: vermeintlich                Zeit des Wandels, in der die Hoffnung nach mehr
stabile, berechenbare politische Systeme in Tu-            Freiheiten, nach Partizipation und Pluralismus
nesien oder Ägypten fielen – widerspenstig zwar            nicht enttäuscht werden darf. Für die Menschen
– wie Kartenhäuser in sich zusammen. Ben Ali               muss sich zukünftig eine Demokratiedividende
und Mubarak wurden davongejagt, Gaddafi ist                abzeichnen, die über den eigentlichen Wahlakt
tot, Saleh im Jemen lässt langsam los, Assad ist           hinausgeht. Die Regierungen in der Region ste-
bereits Vergangenheit, bloß scheint er dies noch           hen deshalb vor enormen Herausforderungen.

                                                                                                3 / 2 0 1 1         I N F O   FES
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4       SCHWERPUNKT

                             Sie müssen nicht nur die Forderungen der De-        sprochen. Eine Organisationenlandschaft, die
                             monstranten, sondern auch die Grundbedürf-          selbst wiederum, und das darf nicht vergessen
                             nisse der Bevölkerung erfüllen. Dabei müssen        werden, in Tunesien und Ägypten einen gewal-
                             wir sie nach Kräften unterstützen.                  tigen Transformationsprozess durchläuft.
                             Die Zielmarken des Engagements der Friedrich-       Im Tunesien und Ägypten von heute kann ein
                             Ebert-Stiftung sind in weiten Teilen deckungs-      Modell arabischer Demokratie von morgen ent-
                             gleich mit den Forderungen derer, die mas-          stehen, das sein Licht in alle Ecken der Region des
                             senhaft auf den Straßen für Veränderungen           Nahen/Mittleren Ostens und Nordafrikas werfen
                             demonstriert haben: Neue, demokratisch legi-        kann. Grundsteine dafür hat die FES durch ihre
                             timierte politische Systeme müssen entstehen,       langjährige Zusammenarbeit mit der Zivilgesell-
                             deren Führung in freien und fairen Wahlen die       schaft, mit Parteien und Gewerkschaften in der
                             Aufgabe zur Gestaltung einer neuen Ordnung          Region gelegt. Die Förderung von Pluralismus
                             übertragen wird, die sich an Maßstäben wie          und Partizipation war in der Vergangenheit ein
                             Rechtstaatlichkeit, Demokratie, Chancengleich-      schwieriges Unterfangen, einfach wird es auch
                             heit und sozialer Gerechtigkeit wird messen las-    heute nicht sein, aber sowohl wir, als auch un-
                             sen müssen.                                         sere Partnerorganisationen verfügen in der ara-
                             Neben der Bereitstellung von Erfahrungen und        bischen Neuzeit über erheblich mehr Freiheiten,
                             Wissen über institutionelle oder systemische Al-    unsere gemeinsamen Ziele zu verwirklichen.
                             ternativen müssen wir jedoch insbesondere dafür     Wir treten mit unserem Unterstützungsangebot
                             Sorge tragen, dass der Prozess der Entscheidungs-   an Gesellschaften heran, die sich ihrer Despoten
                             findung möglichst partizipativ und inklusiv voll-   entledigt und ihr neues Selbstbewusstsein er-
                             zogen wird, d. h. es muss Orte, Plattformen und     kämpft und entdeckt haben. Wir sollten daher
                             Mechanismen geben, die eine umfassende Betei-       in aller Bescheidenheit und Zurückhaltung all
                             ligung der Bevölkerung gewährleisten. Damit ist     diejenigen nach Kräften unterstützen, die sich
                             die wichtige Rolle der Medien, insbesondere aber    selbst auf den Weg zu einer freieren Gesellschaft
                             diejenige der Gruppen der Zivilgesellschaft, der    gemacht haben.
                             politischen Parteien und Gewerkschaften ange-

Bestandsaufnahme
                             DIALOG MIT ALLEN OFFENHALTEN
                             V O M A R A B I S C H E N F R Ü H L I N G Z U R G E R E C H T E N D E M O K R AT I E ?
                             Es wäre falsch, die Proteste in Kairo mit denen     Mit Blick auf die Rolle Europas bezüglich po-
                             in New York oder Santiago de Chile gleichzuset-     litischer Transformationsprozesse in der ara-
                             zen. Genauso falsch wäre es jedoch, Gemeinsam-      bischen Welt, stimmten der SPD-Außenpolitiker
                             keiten zu übersehen. Denn 2011 ging weltweit vor    Dr. Rolf Mützenich und Michael Meyer-Resende
                             allem die Jugend auf die Straße, um „Gerechtig-     von Democracy Reporting International überein,
                             keit“ einzufordern, so Jochen Steinhilber, Leiter   dass Europa sich zügeln müsse, die Welt nach sei-
                             des FES-Arbeitsbereichs Globale Politik und Ent-    nem eigenen Bild formen zu wollen. Denn nach
                             wicklung zum Auftakt der Veranstaltung „Vom         Jahren zweifelhafter politischer Allianzen Euro-
                             Arabischen Frühling zur gerechten Demokratie?“      pas mit den Herrschern Nordafrikas steht fest:
                                                                                               Das Konzept der Demokratieförde-
                                                                                               rung ist in der Region nicht leicht
                                                                                               glaubhaft vermittelbar.
                                                                                               „Es begann mit einem Schrei nach
                                                                                               Gerechtigkeit, dann folgte eine Ra-
                                                                                               dikalisierung der Protestbewegung
                                                                                               und die Forderung nach demokra-
                                                                                               tischen Staatskonzepten“, so der
          Auch in Berlin
       berichteten arabi-                                                                      tunesische Gewerkschaftsaktivist
        sche Jugendliche                                                                       Habib Guisa über die Entwicklung
      über die Ziele ihrer
             Revolution.                                                                       in Tunesien. Neben Gewerkschafts-

FES     I N F O              3 / 2 0 1 1
INFO - Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung
SCHWERPUNKT        5

vertretern sei die Jugend der wichtigste Träger      geschehe, werde die tunesische Revolutionsbe-
der Revolution. Vor allem 150.000 diplomierte        wegung diese „zivilisatorischen“ Errungenschaf-
Studenten, die vielfach arbeitslos wurden, hätten    ten mit allen Mitteln verteidigen.
den Arabischen Frühling in seiner Heimat ge-         Der Frage, inwiefern Tunesien nach dem Wahl-
tragen. Die Ereignisse seien beispielhaft für eine   erfolg der Ennahda um die Früchte seiner revo-
demokratische Revolution, ohne Ideologie oder        lutionären Arbeit gebracht wird, thematisierte
Führerkult. Welche zentrale Rolle dabei soziale      auch Rolf Mützenich. Der SPD-Außenpolitiker
Gerechtigkeit gespielt habe, zeige einer der wich-   gehört nicht zu denjenigen, die ein undifferen-
tigsten tunesischen Slogans, der in der gesamten     ziertes Bild eines islamistischen Schreckgespens-
arabischen Welt übernommen wurde: „Arbeit ist        tes zeichnen. Die Nichtanerkennung des Ha-
eine Notwendigkeit, ihr Diebe“.                      mas-Wahlsiegs in Palästina 2006 habe Europa
Soziale Ungleichgewichte, Proteste gegen die         geschadet, die EU habe erheblich an Überzeu-
autoritäre Regierung, eine schwere wirtschaft-       gungskraft verloren. Man müsse den Dialog auch
liche Krise – das „Regime war am Ende“, so Guisa     zu denjenigen Kräften offen halten, mit denen
weiter. Tunesien komme nun seine große Verfas-       man viele Werte nicht teile. Viele Bundestagsab-
sungs- und Demokratietradition zugute.               geordnete hätten Hochachtung vor den Errun-
Nun sei Tunesien jedoch bedroht durch einen          genschaften der arabischen Freiheitsbewegung.
politischen wie einen religiösen Autoritarismus.     Es gelte zugleich, Demut aufgrund früherer Ko-
Insofern sei für die Modernisten der Wahlsieg        operation mit den autoritären Regimen zu üben.
der Ennahda enttäuschend. Man müsse jedoch           Durch die Ereignisse der letzten Monate, als unter
Ennahda eine Chance geben und abwarten, ob           anderem kopftuchtragende Frauen, etwa auf dem
die islamische Partei das demokratisch-moderni-      Tahrir-Platz, für persönliche und kollektive Frei-
stische Projekt des Arabischen Frühlings mit sei-    heiten auf die Straßen gingen, habe zudem die
nen Säulen Säkularismus, Rechte der Frauen und       europäische Bevölkerung ein differenziertes Bild
Soziale Gerechtigkeit akzeptiert. Falls dies nicht   vom Islam bekommen.

                                                                                                           Podiumsdiskussion
REVOLUTION – UND DANN?
T R A N S F O R M AT I O N I N Ä G Y P T E N , M A R O K K O U N D T U N E S I E N

Nach dem revolutionären Aufbruch im Frühjahr         und unsicheren Weg zu einer demokratischen
2011 sind die konkreten Wege in die demokra-         Transformation. Bestehende Gemeinsamkeiten
tische Zukunft in allen nordafrikanischen Staa-      und Unterschiede herauszuarbeiten und mit
ten politisch hoch umstritten. Wann soll gewählt     einem Fachpublikum zu diskutieren, war keine
werden? Welches Wahlsystem soll angewendet           leichte Aufgabe für die drei Verfassungsrechtler/
werden? Was soll gewählt werden – Parlament,         innen, die an den derzeitigen Transformations-
Präsident oder verfassungsgebende Versamm-           prozessen in ihren Ländern aktiv beteiligt sind.
lung? Muss die Verfassung zuerst verändert und       Prof. Dr. Amina El Messaoudi (Marokko), Prof.
dann ein Parlament gewählt werden, oder um-          Dr. Nour Farahat (Ägypten) und Prof. Dr. Farhat
gekehrt? Und grundsätzlicher: Sind die autokra-      Horchani (Tunesien) gelang es unter Moderati-
tischen Rechtssysteme reformierbar oder müssen       on der Bundesministerin der Justiz a.D., Prof. Dr.
Verfassung und Recht ganz neu gedacht werden?        Herta Däubler-Gmelin, gemeinsam mit fast 200
Wer bringt sich mit welchen Vorschlägen in die       Teilnehmer/innen einen kritischen Blick auf die
Debatte ein und wer findet Gehör?                    aktuellen Entwicklungen zu werfen.
Marokko, Ägypten und Tunesien gehen hier             Vorbereitet wurde die Podiumsdiskussion ge-
jeweils unterschiedliche Wege. Sie unterschei-       meinsam mit der Arbeitsstelle Politik des Vorde-
den sich in ihrer Rechtskultur, ihrer politischen    ren Orients der Freien Universität Berlin, der Gra-
Struktur und insbesondere auch im Grad der ge-       duate School Muslim Cultures and Societies, dem
sellschaftlichen Umbrüche. Was sie verbindet,        Zentrum Moderner Orient sowie der Deutschen
sind die kontroversen, gesellschaftlichen Debat-     Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient.
ten um die nächsten Schritte auf dem langen

                                                                                           3 / 2 0 1 1        I N F O    FES
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6         SCHWERPUNKT

       Preisverleihung
                               SYMBOLFIGUREN DES FREIHEITSKAMPFES
                               DER MENSCHENRECHTSPREIS 2011

                               „Ich kann mich gut erinnern an den Übergang        Ägypten, die mit dem Menschenrechtspreis der
                               von der Ohnmacht in die Ermächtigung, die          Friedrich-Ebert-Stiftung ausgezeichnet wurden.
                               Vollmacht von Bürgern. Irgendwann war es dann      Der Mut der an den Protesten in Tunesien und
                               plötzlich da, dieses schönste Wort der deutschen   Ägypten beteiligten Menschen und ihr Ein-
                               Politikgeschichte: „Wir sind das Volk“. Und        satz für Freiheit, gleiche Rechte und ein Leben
                               Menschen, die das erlebt haben, sagen zu Euch      in Würde, waren entscheidend für den Erfolg
                                                                                                          der Proteste. Stellvertre-
                                                                                                          tend für die Protestbewe-
                                                                                                          gungen in Tunesien und
                                                                                                          Ägypten wurden Slim
                                                                                                          Amamou (geb. 1977 in Tu-
                                                                                                          nis) und posthum Khaled
                                                                                                          Said (geb. 1982, gest. 2010
                                                                                                          in Ägypten) mit dem FES-
                                                                                                          Menschenrechtspreis
                                                                                                          2011 ausgezeichnet. Beide
                                                                                                          sind als Internetaktivisten
                                                                                                          und Blogger in ihren Län-
                                                                                                          dern zu wichtigen Ak-
                                                                                                          teuren und Symbolfiguren
                                                                                                          des Freiheitskampfes ge-
            Der Preisträger                                                                               worden.
        Slim Amamou und                                                                                   Künstlerisch eingerahmt
          die Schwester des
        ermordeten Khaled                                                                                 wurde die Preisverleihung
         Said, die den Preis                                                                              einerseits durch eine Ka-
             stellvertretend
       entgegen nahm, vor                                                                                 rikaturen-Ausstellung mit
      dem Graffiti-Portrait                                                                               Zeichnungen       verschie-
             ihres Bruders.
                                                                                                          dener Künstler aus der ara-
                               am Mittelmeer: „Ihr seid das Volk“.“ Mit diesen    bischen Welt. Zum anderen malte der deutsche
                               Worten spannte Dr. Joachim Gauck den Bogen         Fotorealist und Graffiti-Künstler Andreas von
                               zwischen den Freiheitsbewegungen in der DDR        Chrzanowski aka Case während der Preisverlei-
                               und der arabischen Welt. Es war die Laudatio       hung ein Portrait von Khaled Said auf zwei Origi-
                               für zwei mutige junge Männer aus Tunesien und      nalstücke der Berliner Mauer. Diese Kunstaktion
                                                                                  wäre ohne die Unterstützung durch Don Karl
                                                                                  von From Here To Frame Publishing sowie Patri-
           Kurz notiert        SCHUTZ VON MENSCHENRECHTEN                         ce Lux von berlinbrands nicht möglich gewesen.
                               Die Bemühungen um den Aufbau einer hand-
                               lungsfähigen Zivilgesellschaft in den Staaten      DAS GESICHT DER REVOLUTION
                               von Marokko bis Jemen, die authentische de-        Khaled Said (*1982, † 2010), ägyptischer Inter-
                               mokratische Reformen sowie den Schutz von          netaktivist und Blogger, wurde am 6. Juni 2010
                               Menschenrechten vorantreibt, werden seit Jah-      in Alexandria von zwei Polizisten brutal zu Tode
                               ren aktiv vom FES Büro Genf unterstützt. Im        geprügelt. Er hatte u. a. Videos ins Internet gestellt,
                               Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Fortbildung    die Polizisten bei Misshandlungen und Drogenge-
                               von arabischen Menschenrechtsaktivisten. Im        schäften zeigten. Das Foto von Saids Leiche wurde
                               Anschluss an ein Grundlagentraining zum UN-        im Internet veröffentlicht und führte zur Gründung
                               Menschenrechtssystem lädt die FES zu einem         der Bewegung „Wir alle sind Khaled Said“. Diese
                               einwöchigen Seminar nach Genf ein; so auch         Bewegung war Auslöser der folgenden massiven Pro-
                               im November 2011 eine Gruppe aus zehn ara-         teste. Seither ist Khaled Said eine Symbolfigur und
                               bischen Staaten.                                   das Gesicht der Revolution in Ägypten geworden.

FES       I N F O              3 / 2 0 1 1
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SCHWERPUNKT              7

SCHLUSS MIT                                                                                                Jugendworkshop

„FRÜHER WAR ALLES BESSER“!
D I E P O L I T I S C H E PA R T I Z I PAT I O N V O N J U N G E N M E N S C H E N I N Ä G Y P T E N
Nach Jahrzehnten der autoritären Herrschaft ver-     mierenden politischen Jugendkoalitionen, -ini-
trieb in Ägypten eine friedliche Protestbewegung     tiativen aber auch Einzelpersonen dabei, sich in
Präsident Hosni Mubarak überraschend von der         den beginnenden politischen Prozess einzubrin-
Macht. Damit wurde der Weg freigemacht für           gen. Dazu wurde etwa ein Dialog mit deutschen
eine neue Etappe in der Geschichte des Landes,       Bürgerinitiativen organisiert, um Erfahrungen
das seitdem seinen Weg in eine Zukunft mit mehr      mit erfolgreichen Strategien der Bürgerbeteili-
Demokratie und sozialer Gerechtigkeit sucht. Die     gung auszutauschen.
Kräfte der Vergangenheit sind weiterhin stark        Viele junge Menschen befinden sich im heutigen
und sträuben sich gegen Veränderungen. Man-          Ägypten in einem Doppelkampf: vereint gegen
che Beobachter meinen, Ägypten habe sich ver-        die Überreste des alten Systems, sowie einzeln
ändert, ohne dass sich wirklich etwas verändert      oder in kleinen Gruppen im Wettbewerb mit den
habe. Andere hingegen sind voller Optimismus         anderen politischen Kräften. Zudem sehnen sich
und haben Vertrauen, dass der schwierige Re-         manche in der älteren Generation nach den al-
formprozess am Ende er-
folgreich sein wird.
Die Friedrich-Ebert-Stif-
tung ist seit 35 Jahren in
Ägypten aktiv. Sie hat
seit dem Sturz Mubaraks
schnell auf die neuen und
sich stetig weiter wandeln-
den Rahmenbedingungen
reagiert. Während erfolg-
reiche bestehende Arbeits-
linien weitergeführt wur-
                                                                                                           Workshop der
den, wurden auch neue                                                                                      FES mit jungen
Schwerpunkte gesetzt.                                                                                      Kandidatinnen und
                                                                                                           Kandidaten der
Bereits am 24. Januar 2011                                                                                 ägyptischen Parla-
hatte die FES in Zusam-                                                                                    mentswahlen.
menarbeit mit der Universität Kairo politisch in-    ten Zeiten der sogenannten Stabilität zurück. Die
teressierte Studenten und Politikern zusammen-       Antwort von jungen Menschen auf solche Revo-
gebracht. Die Arroganz und Selbstgefälligkeit        lutionsbremser ist eindeutig und klar: Schluss
der Vertreter der Regierungspartei war bei die-      mit „Früher war alles besser! Jetzt ist es Zeit für
ser Veranstaltung kaum zu übertreffen. Ebenso        ein neues Ägypten!“
greifbar waren die Frustration und Wut der jun-      Die Friedrich-Ebert-Stiftung begleitet junge poli-
gen Ägypterinnen und Ägypter, von denen viele        tisch aktive Ägypter und Ägypterinnen in dieser
ankündigten, am nächsten Tag demonstrieren           wichtigen politischen Phase, indem sie die Frage
zu wollen. Am 25. Januar 2011 brach dann tat-        des gesellschaftspolitischen Engagements zwi-
sächlich die sogenannte Revolution los, die von      schen Partei und politischer Bewegung themati-
jungen, gebildeten Menschen initiiert wurde.         siert.
Nach dem Sturz Mubaraks fand sich die Mehr-          Ein Workshop über das neue Wahlgesetz und die
heit dieser jungen Aktivisten unerwartet in einer    neue politische Parteienlandschaft in Zusam-
völlig neuen politischen Landschaft ohne Kom-        menarbeit mit der Universität Kairo diente Mitte
pass wieder. Die meisten hatten bisher kaum po-      September dazu, junge Kandidatinnen und Kan-
litische Erfahrung gesammelt, waren jedoch fest      didaten auf die Wahlen für das ägyptische Parla-
entschlossen, am Wandel mitzuwirken. In dieser       ment vorzubereiten.
Situation unterstützte die FES die sich neu for-

                                                                                           3 / 2 0 1 1          I N F O         FES
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8         SCHWERPUNKT

            Vernetzung
                              JAHRZEHNTE DER EISZEIT ÜBERWUNDEN
                              ÄGYPTENS ARBEITNEHMER FORDERN IHRE RECHTE

                              Neben der Jugend, waren die Arbeitnehmerin-            des Regimes konnte sich die freie Gewerkschafts-
                              nen und Arbeitnehmer für den Erfolg der ägyp-          bewegung endlich entfalten. Auch wenn sich die
                              tischen Protestbewegung entscheidend. Es waren         rechtlichen Rahmenbedingungen noch nicht
                              gerade die zahllosen lokalen Streiks im gesamten       geändert haben: Die Vertretungen der Arbeit-
                              Land, die zwar weniger Medienaufmerksamkeit            nehmerinnen und Arbeitnehmer lassen sich
                              als der Tahrir-Platz erhielten, aber im Endeffekt      nicht mehr ihr Recht nehmen, sich unabhängig
                              dem Regime deutlich machte, dass es sich nicht         und demokratisch zu organisieren. Dabei stehen
                              nur um einen lokalen Protest im Zentrum von            sie nach Jahrzehnten der gewerkschaftlichen
                              Kairo handelte, sondern um einen breiten Volks-        Eiszeit in Ägypten vor enormen Herausforde-
                              aufstand.                                              rungen. Die FES unterstützt diese neue Bewe-
                              Da die Gewerkschaften in Ägypten vom Regime            gung auf vielfältige Weise.
                              gleichgeschaltet waren, hatten sie keinen An-          Dazu gehören Bildungsarbeit für neue Gewerk-
                                                                                     schaftsmitglieder, Aufklärung über ILO-Kern-
                                                                                     arbeitsnormen, Arbeitnehmerrechte und das
                                                                                     Konzept des gewerkschaftlichen Pluralismus
           Die Delegation
            unabhängiger                                                             oder die Beratung bei der Gründung des unab-
      ägyptischer Gewerk-                                                            hängigen Dachverbandes EFITU (Egyptian Fe-
      schaften überreichte
        DGB Chef Michael                                                             deration of Independent Trade Unions), z. B.
        Sommer bei ihrem                                                             bei der Ausarbeitung der Satzung. Aber auch bei
      Besuch in Berlin eine
         Trommel, die auf                                                            der internationalen Vernetzung durch Informa-
       dem Tahrir Platz zu                                                           tionsprogramme für ägyptische Gewerkschaf-
         Beginn des Jahres
      zur Revolution geru-
                                                                                     ter in Deutschland und Brüssel sowie deutsche
                 fen hatte.                                                          Gewerkschafter in Ägypten oder durch die Ein-
                              teil an dessen Sturz. Unter Mubarak gab es kei-        bindung in die globale Gewerkschaftsarbeit der
                              ne echte Interessenvertretung von Arbeitneh-           FES, insbesondere mit Global Union Federations.
                              merinnen und Arbeitnehmern, vielmehr waren             Eine wirksame Interessenvertretung der arbei-
                              die Gewerkschaften ein Kontrollinstrument des          tenden Ägypterinnen und Ägypter ist entschei-
                              Staatsapparats. Sie beteiligten sich nicht daran,      dend, um den Demokratisierungsprozess in der
                              die zahllosen sozialen und wirtschaftlichen Pro-       Gesellschaft zu verankern. Nur so kann sicherge-
                              bleme des Landes anzugehen. Trotzdem hatten            stellt werden, dass bei der Mehrheit der Bevölke-
                              sich bereits einige wenige unabhängige Gewerk-         rung eine Verbesserung der Lebensbedingungen
                              schaften gegründet. Nach dem Zusammenbruch             spürbar wird.

               Planspiel
                              KNOSPEN DES TUNESISCHEN FRÜHLINGS
                              Z U K U N F T S W E R K S TAT T T U N E S I S C H E R S T U D E N T I N N E N

                              Dass die Hauptaufgabe der Frauen darin bestehe,        tig ihre Meinung zu sagen. Erst seit der Revoluti-
                              bei der Familie und den Kindern zu sein, fand          on vor ein paar Monaten müssen sie nicht mehr
                              unter den etwa dreißig tunesischen und auslän-         fürchten, dafür verfolgt zu werden.
                              dischen Teilnehmern nur eine Unterstützerin.           Um diesen Jugendlichen ein Forum zu bieten,
                              Alle hatten sich im Raum positioniert auf einem        veranstaltete die FES Ende September in Tu-
                              Spektrum zwischen „Ja“ und „Nein“. Jetzt konn-         nesien ein viertägiges Planspiel, durchgeführt
                              te die Debatte losgehen. Mit bewundernswertem          vom Berliner Unternehmen planpolitik. Dabei
                              Eifer ließen die Studentinnen und Studenten            wurde zunächst zwei Tage lang ein Wahlkampf
                              sich schon in dieser Aufwärmphase von der noch         simuliert – eine Woche vor dem offiziellen Wahl-
                              ungewohnten Diskussionskultur in den Bann              kampfauftakt zur Wahl der verfassungsgebenden
                              ziehen und genossen es sichtlich, einmal so rich-      Versammlung. An Kreativität mangelte es den

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SCHWERPUNKT        9

internationalen Studenten ganz sicher nicht.          die Jugendlichen eine weitreichende Reform des
Trotz französisch-arabisch-deutsch-englischer         Bildungssektors im Vordergrund, die mit einer
Sprachakrobatik wurden ideenreiche Wahlpla-           Erneuerung der Verwaltung einhergehen sollte.
kate und -werbespots entwickelt, um spielerisch       Wichtig waren ihnen auch die demokratische
die Stimmen der zahlreichen Interessengruppen         Kontrolle von Justiz und Parteien sowie die Ab-
zu umwerben. Auch ein Programm musste von             schaffung jeglicher Form von Zensur. Darüber
jeder Partei erarbeitet und vorgestellt werden.       hinaus sollten gesellschaftliches Engagement
Dass sich am Ende, nach zähen Koalitionsver-          und kulturelle Aktivitäten gefördert und demo-
handlungen eine Vier-Parteien-Koalition unter         kratische Werte vermittelt werden.
Ausschluss der stärksten Fraktion zusammen-           Dem Bedürfnis der Jugendlichen nach konstruk-
fand, war nicht nur den Taktikern eine Lehre.         tiver Debatte haftete noch der revolutionäre Elan
Im Anschluss diente eine Zukunftswerkstatt            an, mit dem sie den Präsidenten Ben Ali Anfang
den tunesischen Studenten dazu, Visionen für          des Jahres aus seinem Amt gejagt hatten. Inwie-
die Zukunft ihres Landes zu entwerfen. Nach-          fern sie es schaffen werden, ihre Visionen der tu-
dem erst einmal dem Ärger über die aktuellen          nesischen Gesellschaft zum Tragen zu bringen,
Verhältnisse Luft gemacht wurde, konnten Ide-         hängt nun entscheidend von der weiteren Ent-
alvorstellungen entwickelt und mögliche Um-           wicklung der politischen Kultur des Landes ab.
setzungen erarbeitet werden. Hierbei stand für

RELIGION UND RECHTSSTAAT                                                                                   Verfassungs-
                                                                                                           diskussion
A N A LY S E S TA AT L I C H E R R E C H T S F O R M E N

Seit dem überraschend deutlichen Wahlsieg der         so auch de facto zu verankern, sah der Jurist Yad
gemäßigt islamistischen Ennahda bei den ersten        Ben Achour, Vorsitzender der „Haute Instance“.
freien und demokratischen Wahlen in der Ge-           Dieses Quasi-Parlament unter Einbeziehung ver-
schichte Tunesiens am 23. Oktober, stellt sich die    schiedener Kräfte der Zivilgesellschaft hatte, ge-
Frage nach der Rolle von Religion im Rechtsstaat      meinsam mit der von der Regierung eingesetzten
mit neuer Aktualität: In der am 22. November          staatlichen Kommission, in den letzten Monaten
erstmals zusammengetretenen Verfassungsge-            den Prozess des politischen Wandels in Tunesien
benden Versammlung, stellt Ennahda mit 89             weiter vorangetrieben.
von 217 Sitzen die stärkste Kraft, und es gibt wohl   Intensiv wird beispielsweise über den ersten Ar-
wenig, was in Tunesien derzeit so intensiv und        tikel der Verfassung diskutiert, in dem es heißt:
emotional diskutiert wird, wie die Frage nach         „Tunesien ist ein freier, unabhängiger und sou-
der Ernsthaftigkeit von Ennahdas Bekenntnis zu        veräner Staat, seine Religion ist der Islam, seine
einem säkularen Rechtsstaat.                          Sprache Arabisch und seine Organisationsform
„Religion und Politik im Rechtsstaat – Erfah-         die Republik.“
rungen im Vergleich“, das Thema des diesjäh-          In zwei Panels wurden verschiedene staatliche
rigen Forum Réalités am 17. und 18. November          Rechtsformen überwiegend muslimischer und
in Hammamet, das die Friedrich-Ebert-Stiftung         überwiegend christlicher Staaten wie die Türkei,
seit rund zehn Jahren gemeinsam mit der Wo-           der Iran, Malta, Polen und Frankreich in ihrem
chenzeitschrift Réalités veranstaltet, war vor die-   historischen Kontext analysiert, um Schluss-
sem Hintergrund von besonderer Relevanz und           folgerungen für Tunesien daraus abzuleiten. Es
erfreute sich auch in den heimischen Medien           stellte sich heraus, dass nicht alle Beispiele als
größter Aufmerksamkeit. Das Forum Réalités ist        Modell für Tunesien gelten können, gleichwohl
seit Jahren als ein prominentes Diskussionsfo-        lassen sich unterschiedliche Lehren daraus ab-
rum bekannt, in dem bereits unter dem im Janu-        leiten. Die tunesische Zivilgesellschaft bereitet
ar gestürzten Regime Ben Alis immer wieder aufs       sich unterdessen darauf vor, gegenüber der Ver-
Neue ausgelotet wurde, was öffentlich diskutiert      fassungsgebenden Versammlung ggf. als Korrek-
werden konnte. Eine große Herausforderung             tiv und Mahner für bürgerliche Freiheiten auf-
den Rechtsstaat nun in der neuen Verfassung           zutreten.

                                                                                           3 / 2 0 1 1         I N F O    FES
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10      SCHWERPUNKT

  Politischer Dialog
                        INFORMIEREN, AUSBILDEN
                        UND DEBATTIEREN
                        DRÄNGENSTE FRAGEN DES ÜBERGANGS

                        Die tunesische Revolution hat eine Vielzahl von    anstehenden Entscheidungen des Übergangs:
                        Freiräumen geschaffen, damit jede und jeder        Verfassung und Staatsbürgerschaft; Gleich-
                        seine Vorschläge, wie das Tunesien der Zukunft     stellung und Wahlrecht; Unabhängigkeit des
                        aussehen soll, unbeeinträchtigt darstellen und     Richteramtes, sowie den Themen Vielfältigkeit,
                        mit anderen debattieren kann. Unter dem Mot-       Macht und Demokratie. Der Enthusiasmus und
                        to „Informieren, Ausbilden und Debattieren:        die Energie, mit welcher sich die vielen Teilneh-
                        Für einen erfolgreichen demokratischen Über-       menden an diesen Veranstaltungen beteiligten,
                        gang“, beschäftigte sich die „Association des      sind nur ein Ausdruck des lange unterdrückten
                        Femmes pour la Recherche et le Développement“      Bedürfnisses der tunesischen Bevölkerung, sich
                        (AFTURD) in Partnerschaft mit der FES bereits in   aktiv am politischen Dialog zu beteiligen.
                        sieben Treffen mit den drängendsten Fragen und

     Medienworkshop
                        BESSER SENDEN
                        Z U R R O L L E D E R M E D I E N I N D E R D E M O K R AT I E
                        Die tunesischen Medien hätten es weder ge-         mations- und Kommunikationswesens über die
                        schafft, die Bedeutung und Funktion der ersten     erforderlichen rechtlichen Grundlagen.
                        Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung         Die Analyse der vorgestellten Modelle nahm fünf
                        zu vermitteln, noch die Vielzahl der politischen   Aspekte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in
                        Akteure angemessen und ausgewogen zu Wort          den Blick: das Mandat, die Eigentumsverhält-
                        kommen zu lassen, so die Kritik der Teilnehmer     nisse, Steuerung, Finanzierung und Verankerung
                        eines zweitägigen Workshops über die „Rolle        in der Verfassung. Der Direktor für Außenbezie-
                        und Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rund-       hungen des staatlichen Senders ERTT überprüfte
                        funks in der Demokratie“. Der Medienberater        mit besonders großem Eifer die einzelnen vorge-
                        Hendrik Bussiek, der über umfassende Erfahrung     stellten Modelle auf ihre Übertragbarkeit in den
                        bei der Transformation der südafrikanischen        tunesischen Kontext. Schließlich einigten sich
                        Medien in ein öffentlich-rechtliches System        die Teilnehmer darauf, das deutsche Modell als
                        verfügt, und Olaf Steenfadt von der European       Grundlage für weitere Überlegungen auszuwäh-
                        Broadcasting Union, berieten die Arbeitsgruppe     len und erarbeiteten eine gemeinsame Roadmap
                        der Nationalen Instanz für die Reform des Infor-   für das weitere Vorgehen.

         Kurz notiert   MEDIENCOACHING
                        Bei über 100 zugelassenen Parteien, die sich im    tischen Parteien Ettakatol bzw. dem „Pôle démocra-
                        Vorfeld der Wahlen zur Verfassungsgebenden Ver-    tique et moderniste“ Gelegenheit, ihr Auftreten vor
                        sammlung in Tunesien gebildet hatten, war allen    der Kamera zu erproben und zu perfektionieren.
                        klar, dass ein überzeugender Medienauftritt
                        ausschlaggebend für den Erfolg sein könnte.
                        Vor dem Startschuss für den offiziellen
                        Wahlkampf hatte die Friedrich-Ebert-
                        Stiftung ein professionelles Mediencoaching
                        für Spitzenkandidatinnen und -kandidaten
                        organisiert.
                        Der französische Medientrainer Jean-Michel
                        Boissière gab in zwei jeweils mehrtägigen
                        Seminaren Kandidaten der sozialdemokra-

FES     I N F O         3 / 2 0 1 1
SCHWERPUNKT            11

DER „ARABISCHE FRÜHLING“ IN BILDERN                                                                      Ausstellung

K A R I K AT U R E N A U S S T E L L U N G A U S D E M N A H E N O S T E N U N D N O R D A F R I K A

Junge Menschen aus Nordafrika, alles Teilneh-       eine Bewegung etabliert, die sich für politische
mer des Young Leaders Nachwuchsförderpro-           Reformen und mehr Demokratie einsetzt: Die
gramms der FES, die selbst an den Protestbewe-      Bewegung des 20. Februar. Deutlich wurde aber
gung beteiligt waren, berichteten im Rahmen         auch, dass trotz jüngster Reformen und kleiner
der Präsentation einer Karikaturenausstellung in    positiver Schritte in die richtige Richtung das
Berlin von den bahnbrechenden Veränderungen         Königreich Marokko noch weit von einer par-
in ihren Heimatländern.                             lamentarischen Monarchie entfernt ist, wie sie
Im Fall Tunesiens wurde darauf hingewiesen,         von zahlreichen zivilgesellschaftlichen Kräften
dass die Selbstverbrennung des tunesischen Ge-      gefordert wird.
müsehändlers Mohamed Bouazizi, die häufig
als Ausgangspunkt für den Arabischen Frühling
bezeichnet wird, zwar als Katalysator wirkte,
aber keineswegs den Beginn der oppositionellen
Aktivitäten gegen Präsident Ben Ali darstellte.
Vielmehr hätten Menschenrechtsaktivisten, Ge-
werkschaften und weitere zivilgesellschaftliche
Akteure durch ihr Engagement über Jahre den                                                              Dokumente der
                                                                                                         Umbruchzeit:
Boden für die Massenproteste und Unruhen be-                                                             Ausstellung mit 60
reitet, die dann zum Sturz des Regimes führten.                                                          Illustrationen aus
                                                                                                         Zeitschriften in
Anders als in Tunesien blieb in Marokko ein po-                                                          Nordafrika und dem
litischer Umsturz aus. Allerdings hat sich dort                                                          Nahen Osten.

BLICK ZURÜCK: VON 1989 BIS 2011
G E M E I N S A M K E I T E N I M R E V O L U T I O N Ä R E N WA N D E L

Die Umbrüche in der arabischen Welt seit Anfang 2011 haben die politische Weltkarte grundlegend
verändert. Die Revolutionen scheinen eine ähnliche Tragweite zu haben wie diejenigen in Osteur-
opa, die sich in den 80er Jahren abzeichneten und zum Ende der Sowjetunion führten. Damals wie
heute stellt sich die Frage, ob und wie es möglich ist, erkämpfte Freiheiten und Rechte zu sichern und
stabile demokratische Regierungssysteme zu etablieren. Gibt es Erfahrungen aus den Demokratisie-
rungsprozessen in Osteuropa, die für die Staaten des „arabischen Frühlings“ hilfreich sein können?
Eine internationale Konferenz des FES-Büros, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst sowie
der Deutschen Botschaft Beirut brachte Aktivisten, Journalisten und Wissenschaftler aus der Region
und Osteuropa zusammen. Die Berichte über persönliche Erfahrungen von Aktivisten rundeten da-
bei das von Wissenschaftlern und Medienvertretern gezeichnete Bild ab. Trotz aller fundamentalen
Unterschiede zwischen den Ereignissen in Osteuropa und der arabischen Welt sahen die Konferenz-
teilnehmer Gemeinsamkeiten. So entstanden die Proteste immer aus der Gesellschaft heraus, wie
Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik unterstrich. Auch der Domino-Effekt der
Proteste sei vergleichbar.
Gäste aus Georgien und der Ukraine betonten vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen, dass
der schnelle Aufbau von effektiven demokratischen Insitutionen notwendig sei, um ein Wiederer-
starken autokratischer Kräfte in den ersten Jahren nach der Revolution zu verhindern. Auch aus dem
Fall Libanon lässt sich für viele arabische Länder eine Erkenntnis gewinnen: Die Geschichte des Ze-
dernstaats zeigt, wie schwierig es ist, eine Demokratie in einem ethnisch und konfessionell sehr stark
gespaltetenen Land zu etablieren. Insgesamt wurde jedoch erkennbar, dass die Übertragung der Er-
fahrungungen auf andere Länder nur begrenzt möglich ist.

                                                                                         3 / 2 0 1 1          I N F O         FES
12    SCHWERPUNKT

     Übergreifende
  Meinungsbildung    WANDEL STATT UMSTURZ
                     MAROKKOS SONDERWEG

                     Die marokkanische Variante des arabischen Früh-     und Provinzen seinen Anfang nahm und schließ-
                     lings hat weder Regime noch Herrscher gestürzt,     lich auf nationaler Ebene zusammenfloss: Hun-
                     doch auch die Marokkaner gingen für ihre Rech-      derte von jugendlichen Aktivisten diskutierten
                     te auf die Straße und setzen die Monarchie unter    in Sitzungen, Versammlungen und Großveran-
                     Handlungsdruck. Die Massenproteste der Ma-          staltungen ihre Zukunftsvorstellungen. Von der
                     rokkaner wurden in einem rasanten politischen       Breite der politischen Mitwirkung – zu der die
                     Erneuerungsprozess aufgefangen, in dem die          FES ihren Beitrag leisten konnte – zeugen über
                     Verfassung des Landes umfassend reformiert und      180 Memoranden, die letztlich bei der Verfas-
                     zum Jahresende 2011 eine neue politische Füh-       sungskommission eingereicht wurden.
                     rung gewählt wurde. Überraschend beteiligungs-      Auch nach dem hitzigen Frühjahr blieb wenig
                     orientiert waren die vom König selbst im März       Zeit zum Durchatmen: der neu gegründete Na-
                     angekündigten Mechanismen der Verfassungs-          tionale Menschenrechtsrat wandte sich an die
                     reform: Erstmalig waren die Marokkaner – und        Stiftung, um mithilfe internationaler Expertise
                     insbesondere die Jugend als Träger der Proteste –   seinem Auftrag gerecht zu werden, erstmalig die
                     aufgerufen, an der Gestaltung der Reform mitzu-     Wahlbeobachtung im aufgeheizten politischen
                     wirken. Die jugendlichen Demonstranten sollten      Klima sicherzustellen.
                     nun in Konferenzräumen eilig ihre Frustration in    Die nächste Etappe im Erneuerungsprozess – die
                     konstruktive Reformvorschläge umwandeln.            vorgezogenen Parlamentswahlen im November
                     So wurde die FES Ansprechpartner für zahlreiche     – flankierte die FES mit Analysen zum neuen le-
                     Gruppierungen und Netzwerke und unterstützte        gislativen Rahmen sowie zur Berücksichtigung
                     die Bemühungen, jugendliche Akteure in die De-      des Gleichberechtigungs-Grundsatzes.
                     batten einzubeziehen.                               Zentrales Ziel ist es, insbesondere die jugend-
                     In nur zwei Monaten wurde ein umfassendes           lichen Initiatoren des politischen Wandels aktiv
                     Abstimmungsverfahren zur übergreifenden Mei-        einzubinden und damit zu seiner Glaubwürdig-
                     nungsbildung organisiert, das in Kommunen           keit in der gesamten Bevölkerung beizutragen.

Bestandsaufnahme
                     HOFFNUNGSLOSIGKEIT ÜBERWINDEN
                     ENTWURF FÜR EINEN NEUEN GESELLSCHAFTSVERTRAG IN MAROKKO
                     Eine der Ursachen für die Aufstände und Umstür-     ausschüsse und der (sozial)partnerschaftliche
                     ze, die die arabischen Welt erschüttern, sind die   Entwurf eines neuen Gesellschaftsvertrags.
                     gravierenden sozialen Ungerechtigkeiten. Dabei
                     trägt der Mangel an sozialer Absicherung wesent-
                                                                         BEZIEHUNGEN VERTIEFEN
                     lich zum Gefühl der Hoffnungslosigkeit bei. Die
                     FES Marokko arbeitet mit den verantwortlichen       Als sich die marokkanische Protestbewegung im
                     Ministerien, den Sozialversicherungsträgern         Februar formierte, waren Gewerkschafter von
                     und Expertengruppen an einer umfassenden            Anfang an mit im Boot. Allerdings war insbe-
                     Bestandsaufnahme der Gesetzesgrundlagen,            sondere dem größten marokkanischen Dach-
                     Institutionen und Mechanismen der sozialen          verband UMT an verantwortungsvoller Mitge-
                     Sicherungssysteme. Als Endprodukt entsteht          staltung gelegen: Er unterstützte die vom König
                     eine interaktive, mehrsprachige CD, die Politi-     eingeleitete Verfassungsreform und stellte sich
                     kern Fakten für die Gestaltung ihrer Reformpo-      gegen den von Demonstranten ausgerufenen
                     litik an die Hand gibt. Daneben bemüht sich die     Boykott des Reformprozesses. Michael Sommer
                     FES, den zum Interessensausgleich notwendigen       sagte als Generalsekretär des Internationalen
                     Dialog zwischen staatlichen Entscheidungsträ-       Gewerkschaftsbundes, dem von der FES nach
                     gern, Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft      Berlin eingeladenen UMT-Vorsitzenden Miloudi
                     in Gang zu bringen. Zu den ersten Ergebnissen       Moukharik zu, die Beziehungen zu dem marok-
                     zählen neu geschaffene Wirtschafts- und Sozial-     kanischen Mitgliedsverband zu vertiefen.

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SCHWERPUNKT               13

ES REICHT MIT DEM SCHWEIGEN!                                                                                 Besuch in
                                                                                                             Deutschland
JEMENITISCHE FRIEDENSNOBELPREISTRÄGERIN KARMAN IN BERLIN

Wer sich im Jemen unter der Herrschaft von            und Vorsitzenden des Gesprächskreises Naher
Ali Abdallah Salih für Menschenrechte und die         Osten und Nordafrika der SPD-Bundestagsfrak-
Gleichberechtigung von Frauen einsetzt, muss          tion, Günter Gloser, die Herausforderungen und
ein dickes Fell besitzen. Das Nobelpreiskomitee       Risiken der derzeitigen Lage vor Ort. Gloser hatte
ehrte 2011 unter anderem eine junge Frau, die         sich in den vergangenen Jahren mehrfach selbst
ihre Durchsetzungsfähigkeit und ihren Mut jah-        ein Bild der Entwicklungen im Jemen gemacht
relang unter Beweis gestellt hatte, mit dem Frie-     und sich mit Beratungseinsätzen für die FES im
densnobelpreis: Tawakkul Karman.                      Jemen engagiert. Schnell wurde bei der Diskussi-
Die 33-jährige Mutter dreier Kinder ist eine der
führenden Persönlichkeiten der jemenitischen
Revolution und des friedlichen Widerstands ge-
gen das Regime des Despoten Salih.
Karman ist als Frauen- und Menschenrechtle-
rin geschätzt, gleichzeitig ruft ihre führende
Mitgliedschaft in der tribalistisch-islamischen
Islah-Partei regelmäßig Misstrauen unter zivilen
Aktivisten hervor. Gerade diese Doppelrolle als                                                              Bei der FES in Berlin
Frauenrechtlerin und gläubige Muslimin hebt                                                                  traf die Nobelpreis-
                                                                                                             trägerin Tawakkul
ihre Bedeutung hervor. In gewisser Weise perso-                                                              Karman u. a. auch
nifiziert sie die Möglichkeit der Verbindung von                                                             mit dem Nahost-
                                                                                                             experten der SPD-
Islam und persönlichen Freiheitsrechten, wie sie                                                             Bundestagsfraktion,
derzeit auch im Westen nicht selten als unverein-                                                            Günter Gloser,
                                                                                                             zusammen.
bar dargestellt wird. Bereits 2005 nahm die FES
die Kooperation mit Karman und ihrer Organisa-        on klar, dass der momentane Stillstand in der po-
tion Women Journalists Without Chains auf und         litischen Entwicklung des Jemen eine trügerische
unterstützte deren Engagement für Meinungsfrei-       Stabilität darstellt. Karman ist jedoch überzeugt
heit und Frauenrechte.                                davon, dass der Aufbruch des Jemen in eine plu-
Nur wenige Tage vor ihrer offiziellen Auszeich-       ralistische, friedliche und insbesondere der Rolle
nung in Stockholm hat Karman die Einladung            der Frau gerecht werdende Zukunft unumkehrbar
der FES zu einem Deutschlandbesuch angenom-           ist. So plant die revolutionäre Jugendbewegung
men und damit ihrer engen, partnerschaftlichen        schon bald eine neue politische Partei zu grün-
Verbindung Ausdruck verliehen. Die Preisträge-        den, in der auch Frau Karman eine tragende Rolle
rin erörterte mit dem deutschen Außenpolitiker        spielen will.

MACHTSPIELE ALTER ELITEN                                                                                     Trainings-
                                                                                                             workshops
V E R S T Ä N D N I S F Ü R D E M O K R AT I S C H E S P I E L R E G E L N I M J E M E N S C H A F F E N
Nach Ben Ali, Mubarak und Gaddafi, ist der je-        krisentypischer Versorgungsprobleme, perma-
menitische Präsident Ali Abdallah Saleh der           nenter Stromausfälle und sicherheitsbedingter
vierte Autokrat der Region, den der „Arabische        Einschränkungen, unterstützt das Büro der FES
Frühlingswind“ aus dem Amt geweht hat.                in Sanaa die Vorbereitungen für einen demo-
Die Übergangsregelung sieht vor, dass die Macht       kratischen Neubeginn aktiv. Das Interesse an
an den Vizepräsidenten übergeben wird, der mit        Beratung und Unterstützung ist auf der jemeni-
Hilfe einer Übergangsregierung innerhalb von          tischen Seite greifbar. Hunderttausende, zuvor
drei Monaten Neuwahlen organisieren soll. Im          meist politisch nicht aktive junge Erwachsene
Gegenzug wird Saleh, der in dieser Zwischen-          demonstrieren seit Januar für Menschenrechte,
zeit Präsident ohne Machtbefugnisse bleibt,           demokratische Reformen und die Verbesserung
Immunität und Reisefreiheit zugesichert. Trotz        ihrer Situation. Auch das brutale Eingreifen re-

                                                                                             3 / 2 0 1 1           I N F O           FES
14      SCHWERPUNKT

                       gimetreuer Kräfte seit März 2011 mit hunderten        searbeit standen auf dem Programm. Die stark
                       von Todesopfern führte nicht zum Stillstand           nachgefragten Trainings zielen darauf, das Ver-
                       der Proteste. Dennoch mussten die jungen Ak-          ständnis für demokratische Spielregeln zu ver-
                       tivisten erleben, wie die von ihnen begonnene         tiefen. Gleichzeitig wurde den Teilnehmerinnen
                       friedliche Revolution zu einem Machtspiel alter       und Teilnehmern vermittelt, unter den im Je-
                       Eliten wurde und vielerorts ihren gewaltfreien        men herrschenden Bedingungen selbst politisch
                       Charakter einbüßte. Während sich manche in-           tätig zu werden und den Wandel mitzugestalten.
                       zwischen frustriert abgewandt haben, suchen           Diese Programme werden auch 2012 fortgesetzt.
                       andere weiter einen Weg, ihren politischen For-       Auch laufende Programme zur Verbesserung der
                       derungen effektiver Nachdruck zu verleihen,           Menschenrechtslage in Gefängnissen oder zur
                       ohne sich dabei von etablierten Eliten manipu-        Aktivierung der parlamentarischen Kontroll-
                       lieren zu lassen.                                     funktion gehören in den Kontext der politischen
                       Um der Resignation etwas entgegenzusetzen und         Neustrukturierung des Landes. Zusätzlich sind
                       politisches Engagement zu unterstützen, führte        Aktivitäten im Bereich der anstehenden Verfas-
                       die FES im November 2011 eine Serie von Trai-         sungsreform geplant. Um einer Spaltung des Je-
                       ningsworkshops durch: Möglichkeiten partizi-          men vorzubeugen, wird derzeit vor allem über
                       pativer Demokratie, Rolle politischer Parteien        die konstitutionell verankerte Einführung eines
                       und demokratischer Institutionen, Wahlkampf           föderalen Systems debattiert.
                       und demokratische Kontrolle, Lobby- und Pres-

      Gesetzesreform
                       UNERWARTETE FRÜCHTE
                       E I N E Z U K U N F T F Ü R D I E PA R T E I E N D E M O K R AT I E I N J O R D A N I E N

                       Jordanien zählt wie Marokko zu den sogenann-          2011 haben den Bemühungen des Königshauses
                       ten Reform-Monarchien. Hier wie dort haben die        wieder neuen Schwung verliehen.
                       beiden Könige mit ihrem Amtsantritt vor etwas         Dabei brachte der „Arabische Frühling“ auch
                       mehr als einem Jahrzehnt weitreichende Verän-         unerwartete Früchte für die Arbeit der Friedrich-
                       derungen angekündigt. In Jordanien blieben die-       Ebert-Stiftung: Gemeinsam mit dem Partner-
                       se Reformen jedoch in Ansätzen stecken, immer         institut Al Badeel Center arbeitete die FES seit
                       wieder gab es Rückschläge bei der Demokratisie-       geraumer Zeit an Reformvorschlägen für zwei be-
                       rung. Erst die Umbrüche in der Arabischen Welt        sonders umstrittene Gesetze – das Wahlrecht und
                                                                             das Parteiengesetz.
                                                                             Über Monate hinweg hatten Experten und Ak-
        Kurz notiert   PA R L A M E N T S R E F O R M                        tivisten in den Vorjahren in zahllosen Runden
                                                                             diskutiert, gestritten und an Entwürfen gefeilt,
                       Auch die besten Gesetze nützen wenig, wenn ele-       die dann Abgeordneten vorgestellt worden wa-
                       mentare Grundlagen für die parlamentarische           ren. Doch der Erfolg hielt sich in Grenzen: Die
                       Arbeit fehlen. Dazu zählt insbesondere die Ge-        politischen Blockaden machten zunächst wenig
                       schäftsordnung des Parlaments. In Jordanien soll      Hoffnung, dass substanzielle Reformen in diesen
                       diese nun modernen Erfordernissen angepasst           beiden Bereichen durchsetzbar sein könnten. Das
                       werden. Ein Komitee unter dem Vorsitz des sozi-       Parteiengesetz war ohnehin erst 2008 restriktiver
                       aldemokratischen Abgeordneten Bassam Hadda-           gefasst worden und das Wahlrecht trug eher ei-
                       din erarbeitete einen detaillierten Reforment-        ner kontroversen Machtarithmetik denn dem
                       wurf. Das Büro der FES in Amman ermöglichte           Wunsch nach Repräsentation Rechnung.
                       einen Erfahrungsaustausch mit dem deutschen           Die Situation änderte sich mit den auch in Jorda-
                       Bundestag. Der Wissenschaftliche Dienst des           nien aufkommenden Protesten schlagartig. Im
                       deutschen Parlaments analysierte den Entwurf          März 2011 setzte König Abdullah II. ein Natio-
                       und machte Vorschläge, um die Anwendbarkeit           nales Dialogkomitee ein, dessen Mandat explizit
                       der Geschäftsordnung in der parlamentarischen         die Erarbeitung von Reformvorschlägen just für
                       Praxis zu erhöhen.                                    das Wahlrecht und das Parteiengesetz beinhalte-

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te, von einer parallel tagenden zweiten Kommis-     die Zahl der notwendigen Gründungsmitglieder
sion wurden zudem Vorschläge für Verfassungs-       einer politischen Partei deutlich gesenkt, ein –
änderungen zusammengetragen.                        vorerst kleiner – Teil der Parlamentsabgeordneten
Mit einem Mal waren die Experten des Al Badeel      soll künftig über Listen gewählt werden.
Center gefragte Gesprächspartner. Unterstützt       Im Rahmen einer weiteren Tagung, die von der
durch die Friedrich-Ebert-Stiftung wurden die       FES gemeinsam mit jordanischen Partnern or-
Vorschläge aktualisiert und dem Nationalen Dia-     ganisiert wird, wollen nun Vertreter der Zivilge-
logkomitee sowie erneut den Parlamentariern         sellschaft Empfehlungen für die 2012 geplanten
vorgestellt. Den Aktivisten ging es insbesondere    Parlaments- und Kommunalwahlen erarbeiten.
darum, die Voraussetzungen für die Gründung         Dabei geht es vor allem um die Arbeit der ersten
politischer Parteien zu verbessern und das bisher   unabhängigen Wahlkommission, die vom Kö-
geltende Mehrheitswahlrecht durch Elemente          nig im Rahmen der Verfassungsreform eingesetzt
des Verhältniswahlrechtes gerechter zu machen.      wurde, und die künftigen Arbeitsmöglichkeiten
Beide Forderungen fanden schließlich Eingang in     unabhängiger Wahlbeobachter.
die Empfehlungen des Dialogkomitees: So wird

BLICK NACH VORN:
WACHSTUM DURCH WIND UND SONNE
Die Zeit des Wandels in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas bietet auch erhebliche
Chancen, die Region klima- und energiepolitisch gerechter und nachhaltiger zu gestalten. Dazu will
das FES-Regionalprogramm „Nachhaltige Energiepolitik“ aktiv beitragen.
Die Folgen des Klimawandels bedrohen Arme und sozial Benachteiligte am stärksten. Sie sind es, die
am stärksten betroffen sind, wenn Stürme einfache Behausungen hinwegfegen, oder Dürren die Ern-
ten bedrohen. Eine auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz ausgerichtete Politik, ist daher auch abseits
von globalen Klimagipfeln eine Frage von sozialer Gerechtigkeit.
Im Zentrum des FES-Programms stehen Politikempfehlungen, die auf die Förderung erneuerbarer
Energien zielen. Studien belegen das erhebliche Potenzial an neuen Arbeitsplätzen und positiver
Industrieentwicklung, das ein massiver Ausbau von Solar- und Windenergie in der Region mit sich
bringen würde.
In diesem Sinne haben bereits die inhaltlichen Vorbereitungen für eine Regionalkonferenz begon-
nen, auf der konkrete Politikmaßnahmen für eine gerechte und nachhaltige Energieversorgung prä-
sentiert werden. Energieeffizienzmaßnahmen bis hin zu „Green Jobs“ werden dabei im Mittelpunkt
stehen. Darüber hinaus wurde mit dem Gulf Research Center in Dubai eine Kooperation auf den Weg
gebracht, die eine nachhaltige Energiepolitik auf der arabischen Halbinsel fördern soll, wo bislang
Energieeffizienz so gut wie keine Rolle spielte.

ANGST VOR ISLAMISIERUNG DER REGION                                                                      Konferenz

AUSWIRKUNGEN DES ARABISCHEN FRÜHLINGS AUF ISRAEL

Den arabischen Revolutionen gegenüber               in Tunesien und die Vorhersagen für die ägyp-
herrscht in Israel ein sorgenvoller, wenn nicht     tischen Wahlen bestärken diese Einstellung. Der
ablehnender Ton. Die Angst vor einer Islamisie-     Euphorie über demokratische Transformationen
rung der Region, welche Israels Isolation noch      setzt Israel routinierten Pessimismus entgegen.
weiter verschärfen oder bestehende Friedensab-      Dabei herrscht eine nur wenig differenzierte
kommen gefährden könnte ist beinahe allen           Betrachtung der verschiedenen Bewegungen
politischen Lagern gemein. Das Wahlergebnis         des politischen Islams in der Region vor – zu

                                                                                        3 / 2 0 1 1         I N F O   FES
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