NÄHE KLARTEXT Das Magazin der Deutschen Journalistenschule Lehrredaktion 55A I Nr. 42 I 2017 - Deutsche Journalistenschule

 
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Das Magazin der Deutschen Journalistenschule
Lehrredaktion 55A I Nr. 42 I 2017
NÄHE KLARTEXT Das Magazin der Deutschen Journalistenschule Lehrredaktion 55A I Nr. 42 I 2017 - Deutsche Journalistenschule
EDITORIAL
                                                                                                                   NÄHE KOTZT INS TREPPENHAUS.
                                                                                                                   SIE RIECHT NACH KOKOSÖL UND SCHMECKT
                                                                                                                   NACH KÄSE. SIE IST BRAUNES HARZ UND
                                                                                                                   STRAFFES GUMMI. SIE ZERFRISST
                                                                                                                   MENSCHEN, SIE VERSCHLINGT STÄDTE.
                                                                                                                   NÄHE GEHT BARFUSS. SIE IST HÄSSLICH,
                                                                                                                   LAUT UND KALT. SIE KRIBBELT. MANCHMAL
                                                                                                                   KOMMT SIE MIT DER POST. SIE HEILT, SIE
                                                                                                                   ZERSTÖRT. SIE IST EIN VERBRECHEN.

                                                                                                IMPRESSUM
                                                                                                                   NÄHE IST IMMER DA. SIE VERSTECKT SICH,
                                                                              NÄHE // KLARTEXT NR. 42
                                                                          Das Magazin der Lehrredaktion 55A
                                                                                                                   WIR HABEN SIE GEFUNDEN.
                                                                               Deutsche Journalistenschule

                                                                                           HERAUSGEBER             NÄHE IST IMMER EINE GESCHICHTE.
                                                                            Deutsche Journalistenschule e.V.
                                                                        Hultschiner Straße 8, 81677 München
                                                                                                                   ÜBER SÜCHTIGE, FÜR DIE SIE ZUR LAST
                                                                         +49 89 2355740, www.djs-online.de         WIRD. ÜBER EINSAME, FÜR DIE SIE ZUR
                                                                                         post@djs-online.de
                                                                                                                   QUAL WIRD. ÜBER KÄMPFER, DIE SIE STARK
                                                                            CHEFREDAKTION (V.I.S.D.P)
                                                                              Hannah Knuth, Fabian Swidrak
                                                                                                                   MACHT. WEIL SIE MUTIG IST UND ANTREIBT.
                                                                               CHEFINNEN VOM DIENST
                                                                               Antonia Küpferling, Helena Ott
                                                                                                 TEXTCHEFS         WIR WAREN BEI MENSCHEN, DIE UNS
                                                                                             Matthias Bolsinger,
                                                                                          Elisabeth Kagermeier
                                                                                                                   BEWEGEN, UND DIE VON NÄHE BEWEGT
                                                                                                   BILDCHEF        WERDEN: SIE SIND IN DEN WALD GEZOGEN,
                                                                                                   Erik Häußler
                                                                                             ART DIRECTION         INS ALL GEFLOGEN, SIE HABEN HÄUSER
                       Georg mascolo, Leiter der Recherchekooperation             Sarah Pache, Marlene Thiele
                                                                                                                   VERSETZT UND MIT HASCH GEDEALT.
                       von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung                                     REDAKTION
                                                                                Irini Bafas, Matthias Bolsinger,
                                                                                       Julia Haas, Erik Häußler,
                                                                        Elisabeth Kagermeier, Hannah Knuth,        NÄHE IST AUFREGEND, NÄHE MACHT SPASS,
                                                                               Antonia Küpferling, Helena Ott,
                                                                           Sarah Pache, Johanna Sagmeister,
                                                                                                                   MANCHMAL NERVT SIE, MEISTENS TUT SIE GUT.
                                                                         Jonas Seufert, Caspar Schwietering,
                                                                              Fabian Swidrak, Marlene Thiele,
                                                                                              Vera Weidenbach      SIE IST NUR EIN MOLEKÜL.
                                                                                                   BERATUNG
                                                                                                                   SIE IST DAS SCHÖNSTE, WAS WIR KENNEN.
                                                                                      Bene Benedikt (Konzept)
                                                                                         Christian Bleher (Text)
                                                                                       Daniel Etter (Fotografie)   DIE REDAKTION
                                                                                          Simon Hurtz (Online)
                                                                                    Elisabeth Wallner (Layout)
                                                                                                   TITELFOTO
                                                                                                    Daniel Etter
                                                                                                    ANZEIGEN
                                                                        Jennifer Kalisch, DJS Schulungs- und
                                                                            Service UG (haftungsbeschränkt)
                                                                           Hultschiner Str. 8, 81677 München
                                                                                               +49 5221 1211597
     geschrieben mit der Waffe für informationsfreiheit.
                                                                               anzeigen@klartext-magazin.de
                                                                              DRUCK UND LITHOGRAFIE
                                                                                   Lanarepro GmbH Südtirol,
                                                                                        Peter-Anich-Straße 14,
                                                                                               I-39011 Lana (BZ)
                                                                                          Tel: +39 0473 498500

Setzen auch Sie ein Zeichen gegen Zensur mit ihrem WeaPen.                                     WIR DANKEN
              erhältlich auf theweapen.com                                        Natali Glisic, Nora Heinisch,
                                                                                    Louis Kellner, Anna Mayr,
                                                                          Emily Schofield, Anna Schwietering,
                                                                                               Niclas Seydack,
                                                                                  Katrin Streicher, dem Team
                                                                                         der DJS und der 55B
NÄHE KLARTEXT Das Magazin der Deutschen Journalistenschule Lehrredaktion 55A I Nr. 42 I 2017 - Deutsche Journalistenschule
INHALT
                                                                    ER FOLGT IHM         FREUND DURCH FEIND
                     Ein Mann lebt seit 32 Jahren allein im Wald. Warum macht er das?    Er ist 26, sie 51. Pegida bringt sie zusammen

                                                              IM AUSSENDIENST            LIEBE MACHEN
                                 Wenn der Job mehr verlangt. Vier absurde Anekdoten      Ein Paar erzählt aus seinem Leben ohne Sex. Zwei Briefe

                                  WIE ENG IST ES DA OBEN, HERR REITER?                   ZUG UM ZUG
                                                      Was man im All über Nähe lernt     In Schweden muss eine Stadt umziehen. Geht das?

                                                                           DAHOME        DIRIGENTIN DER LUST
                           226.000 Quadratmeter Amerika in der Oberpfalz. Ein Besuch     Eine Sängerin verlässt die Oper, um Pornos zu drehen

                            SIE KOTZT MICH AN. ICH MACHE MIR SORGEN                      HI FIVE
             Wie die alkoholkranke Nachbarin unseres Autors Teil seines Lebens wurde     Geschichten aus dem Leben von Fünflingen

                                                                    MEINE ANGST          SIE LIEBT MICH, SIE LIEBT MICH NICHT
                            Wenn Nähe zur Qual wird. Wie lebt man mit Sozialphobie?      Frau M. macht Cecilia Lambertis Leben zur Hölle

                                                                               JAGD      MÄDCHENZIMMER
                                Unterwegs mit Deutschlands erfolgreichstem Paparazzo     Wie Prostituierte ihr Bordell zum Zuhause machen

                                                               BONNIE & BONNIE           „ICH SPÜRE JEDES KILO, DAS ER ZU VIEL HAT“
         Sie waren immer zu zweit. Dann rissen 20 Kilo Hasch die Zwillinge auseinander   Herr Arlt, Herr Wendl, liegen Sie gerne aufeinander?

                                                                        OMMMMM           DER GROSSE LÖFFEL
           Bei Orgasmischer Meditation geht es nicht um Sex. Sicher? Ein Selbstversuch   Elisa Meyer kostet 60 Euro die Stunde. Sie kuschelt

                                                                                         SCHLUSS MIT DEM GESÜLZE

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NÄHE KLARTEXT Das Magazin der Deutschen Journalistenschule Lehrredaktion 55A I Nr. 42 I 2017 - Deutsche Journalistenschule
ER
    FOLGT
    IHM
    HEINRICH MAUCHER
    ZOG VOR 32 JAHREN
    IN DEN WALD. WEIL
    IHM DIE MENSCHEN
    ZU NAH WAREN.
    UND GOTT ZU FERN

    T E X T Marlene Thiele
    F O T O S Erik Häußler

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NÄHE KLARTEXT Das Magazin der Deutschen Journalistenschule Lehrredaktion 55A I Nr. 42 I 2017 - Deutsche Journalistenschule
GOTT IST
                                                                                                                                                                                                ÜBERALL
                                                                                                                                                                                                                                      6
                                                                                                                                                                                                                                    STUNDEN
                                                                                                                                                                                                                                    B E T E T
                                                                                                                                                                                                                                    MAUCHER
                                                                                                                                                                                                in der Einsiedelei.
                                                                                                                                                                                                                                    TÄ G L I C H
                                                                                                                                                                                                Maucher hat
                                                                                                                                                                                                Schilder mit
                                                                                                                                                                                                Psalmen und
                                                                                                                                                                                                frommen
                                                                                                                                                                                                Sprüchen
                                                                                                                                                                                                aufgehängt

                                                                                                                                                                                                ZU EHREN
                                                                                                                                                                                                MARIAS
                                                                                                                                                                                                baute Maucher
                                                                                                                                                                                                seine erste Grotte
                                                                                                                                                                                                in den Wald

S
            echsundvierzig Hütten stehen in Heinrich Mau-        Fundament bis zur Dachverkleidung ist alles an den Gebäu-     kam der Tag, an dem ihm die Menschen zu nah waren und
            chers Wald, auch zehn Kapellen, acht Türme,          den Mauchers Werk. Er baut ohne Gerüst. Er sagt: „Gott        Gott zu fern. Und an dem er daran etwas ändern wollte.
            vier davon mit Glocken, eine Grotte und eine         hilft mir dabei.“                                                 Mauchers Sehnsucht nach Gott wuchs, als 1981 seine
            Kirche von der Größe eines Einfamilienhauses.             Mauchers Einsiedelei liegt im bayerischen Schwaben,      Mutter starb, da war er 40. Der Vater kümmerte sich um
Er hat alles selbst gebaut. Alles für Maria, die heilige Mut-    rund 80 Kilometer von Augsburg entfernt. Wer sie betreten     den Hof, Maucher begann zu pilgern: Zweimal war er in            MAUCHER ARBEITET fast täglich an seinem Dorf
ter Gottes. Manche sagen, er sei verrückt. Maucher sagt: „Es     will, muss durch einen Wald. Gepflasterte Wege verbinden      Lourdes, dreimal in Fátima, sechsmal in Israel, er reiste nach
war Gottes Wille.“                                               dort die Hütten, trennen sich und kommen wieder zusam-        Tunesien, Polen, Belgien, Spanien, Italien. Zwei Jahre später
     Vor 32 Jahren ist er in den Wald gezogen. Er lebt hier      men, führen über eine sprudelnde Quelle und leiten zu den     starb auch der Vater. Mauchers Geschwister waren wegge-
ohne fließend Wasser, ohne Strom und ohne Internet, betet        Kapellen. Überall stehen Töpfe voller Stiefmütterchen, Ge-    zogen, eine Frau fand er nie. Der Hof lief immer schlechter:
sechs Mal am Tag. Seine Geschichte könnte vom Rückzug            ranien und Plastikblumen, mindestens 500 sind es. Immer       Die Kühe wurden krank, drei Tierärzte konnten ihnen nicht
von den Menschen und der Suche nach Gott handeln. Statt-         wieder werden die Wege von Holzbögen überbrückt, an           helfen. Mit 44 konnte Maucher die Rechnungen nicht mehr
dessen handelt sie von einem Mann, der allein sein will, aber    vielen ist ein Brett montiert. Darauf hat Maucher Psalmen     bezahlen. Er betete, versuchte dabei mit seinen Eltern im
nicht kann.                                                      oder fromme Sprüche geschrieben: „Ja, selig, die das Wort     Jenseits Kontakt aufzunehmen. Er verkaufte nach und nach
     Ein Tag im Juni. Maucher fixiert einen Nagel mit der        Gottes hören und es befolgen.“                                Land und Vieh.
linken Hand, in der rechten hält er einen Hammer, dann                                                                             Dann ging Maucher in den Wald. Auf einem Stück
schlägt er zu. Das Geländer seines Zauns hat sich an einigen                 Maucher war ein junger Mann,                      Land, das er geerbt hatte, baute er eine Grotte, darin ein
Stellen von den Pfeilern gelöst, das will er jetzt reparieren.              der feiern ging und Autos mochte                   Bildnis der Mutter Gottes. Er nannte den Ort Mariental.
Seine schulterlangen grauen Haare formen einen Kranz, er                                                                       Sein Briefkasten steht am Waldrand.
trägt einen gestutzten Vollbart, eine hellblaue, ausgeleierte    Der Ort, an dem aus Heinrich Maucher ein fanatischer Got-         Während Maucher an seinem Zaun arbeitet, spazieren
Basecap und ein langes Gewand in marineblau, der Farbe           tesjünger wurde, liegt nur wenige Kilometer von der Ein-      ein alter Mann und seine Enkeltochter durch die Einsiedelei.
Marias. Um seinen Hals hängt meist ein großes, hölzernes         siedelei entfernt. Maucher stammt aus Maria-Baumgärtle,       Mit großen Augen bestaunt das Mädchen die vielen Kreuze,
Kruzifix. Immer wieder nimmt er seine Schubkarre und             einer Wallfahrtsstätte mit kaum 30 Häusern. Seine Eltern      die heute zwischen den Bäumen stehen. Der Rückzugsort,
eilt damit in die Werkstatt, um neue Nägel und Bretter für       führten einen Bauernhof mit Kühen und Land. Als ältester      den Maucher sich hier geschaffen hat, fasziniert die Men-
den Zaun zu holen. Maucher ist 75. Er geht barfuß, auch im       Sohn war er als Hoferbe vorgesehen.                           schen.
Winter. Über die Jahre hat sich an seinen Zehen eine dicke            Maucher sagt, dass er schon immer religiös war. Wie          Wenn man mit Maucher spricht, versteht man ihn
Hornhaut gebildet.                                               viele in der Region war er Ministrant, ging sonntags in die   kaum. Er redet selten in ganzen Sätzen. Häufig spricht er
     Es vergeht kaum ein Tag, an dem Maucher nicht arbei-        Kirche. Ein normaler junger Mann, sagt ein Jugendfreund.      in Schlagwörtern, hastig und in starkem Schwäbisch. Auf
tet. Zuletzt hat er das Dach einer Hütte neu gedeckt. Vom        Einer, der Autos mochte, auf Feiern ging. Aber irgendwann     viele Besucher seiner Einsiedelei macht er einen verwirrten

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DER DRITTE WELTKRIEG                                                 Eindruck. Sie beobachten ihn mit einer Mischung aus Ent-        sich Maucher dorthin zurück, um zu Gott zu sprechen. Er
            stehe kurz bevor, glaubt                                        setzen und Neugier. Maucher ist ein Mann, über den sich         will lieber hier beten als in der Kirche.
     Maucher. Indizien findet er viele,                                     die Menschen im Umkreis Geschichten erzählen.                        Die ersten Jahre im Wald war Maucher allein. Dann ka-
         sie stehen in diesem Buch                                               Eine dieser Geschichten handelt von Mauchers ersten        men immer mehr Besucher. Familien, Sängergruppen, so-
                                                                            Jahren im Wald. Das Landratsamt hatte die Grotte abreißen       gar Bustouristen. Sie alle wollten den Einsiedler sehen. An
                                                                            lassen. Maucher baute eine neue. Angeblich hatten sich die      manchen Sonntagen würden 150 Menschen kommen, sagt
                                                                            Arbeiter geweigert, diese ebenfalls zu zerstören. Einer ihrer   Maucher. Eingeladen hat er sie nicht. Er sagt, dass sie ihn
                                                                            Kollegen soll nach dem ersten Abriss bei einem Autounfall       vom Beten und Arbeiten abhalten. Hört man ihm zu, könn-
                                                                            gestorben sein. Hatte Gott den Eingriff verhindern wollen?      te man meinen, Maucher wolle einfach wieder allein sein.
                                                                            Man ließ den einsamen Mann im Wald besser in Ruhe.              Aber will er das wirklich?
                                                                                 Heute zeigt Maucher Besuchern ein blaues Büchlein,              Heinrich Maucher hat vor dem Tor zur Einsiedelei
                                                                            wenn sie es sehen wollen. Darauf steht: „Der dritte Welt-       mehrere Parkplätze angelegt und eine Garage gezimmert.
                                                                            krieg in Prophetie und Vorausschau.“ Auf dem Cover              Die Kapellen und die Kirche nutzt er nicht, sie sind für die
                                                                            schweben Engel mit Fanfaren über einem Atompilz. Wäh-           Gäste. Er hat ihnen Wegweiser aufgestellt: „Zur Riesenfich-
                                                                            rend einer Wallfahrt habe er das Buch bei einem Seher           te“, „Pilger-Pfad“. Der Hammer, mit dem er den Zaun re-
                                                                            gekauft, sagt Maucher. Er ist seitdem überzeugt, dass der       pariert, ist ein Geschenk der Besucher, die Nägel auch. Sie
                                                                            nächste Weltkrieg unmittelbar bevorsteht. Die Hütten, die       bringen Lebensmittel und Geld, Blumen und Bilder, die die
                                                                            er gebaut hat, sollen die Menschen schützen. Maucher sagt,      Kapellen und Hütten schmücken. Ein Augsburger kommt
                                                                            am Ende blieben nur die Katholiken verschont.                   seit 20 Jahren, um Maucher zum Einkaufen zu fahren. Vor
                                                                                                                                            drei Jahren hat er ihm einen kleinen Traktor geschenkt,
                                          ZWEI DUTZEND MAL JESUS                 Viele Menschen wollen den Einsiedler sehen.                Maucher bringt damit nun Baumstämme zum Sägewerk.
                                          und eine Bayernflagge – das ist
                                                                              Er hat Parkplätze angelegt und eine Garage gebaut             Zwei Frauen begleiten ihn regelmäßig zur Messe.
                                          die Dekoration in Mauchers
                                          Schlafzimmer
                                                                                                                                                 Maucher bezieht 160 Euro Rente. Er hat im Laufe der
                                                                            Maucher baute immer weiter. Verkaufte den Hof und er-           Jahre wohl gemerkt, das Gottes Hilfe allein nicht reicht. Und
                                                                            richtete mit dem Erlös weitere Hütten. Dann Kapellen und        dass er die Menschen doch mag, obwohl er sie verlassen hat.
                                                                            eine Kirche. Alles mit Brettern aus Fichtenholz. Die Bäume           Es ist Nachmittag, der Zaun ist gerade repariert, da
                                                                            fällt er selbst.                                                kommen drei Rentner mit Fahrradhelmen auf ihn zu. Ei-
                                                                                 Die Kirche hat eine Empore und mehrere Sitzreihen, in      ner der Männer legt ein Paket mit Wurst und Käse auf den
                                                                            ihr stehen unzählige Plastikblumen. In seiner eigenen Hütte,    Tisch, die anderen beiden werfen Münzen in einen der Op-
                                                                            rund zehn Quadratmeter groß, hängen Kreuze und Bilder           ferstöcke. Sie fragen: „Gibt es ein neues Haus, Heinrich?“
                                                                            von Jesus über dem schmalen Bett. Weiter hinten gibt es              Heinrich Maucher zögert. Eigentlich wollte er jetzt be-
                                                                            eine kleine, dunkle Nische. Mehrere Stunden am Tag zieht        ten. Dann geht er auf die Männer zu.

                                          RUND 200 KREUZE
                                          stehen im Wald. Es sind
                                          ehemalige Grabmarkierungen,
                                          die Maucher von Besuchern
                                          geschenkt bekommen hat

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IM                  P R O T O K O L L E Irini Bafas, Julia Haas, Vera Weidenbach
                                                                                F O T O S Daniel Etter
                                                                                                                                SIE WOLLEN EINFACH NUR IHREN JOB MACHEN.

         AUSSENDIENST
                                                                                                                                IHRE KUNDEN ABER ÜBERSCHREITEN IMMER
                                                                                                                                WIEDER GRENZEN. VIER ABSURDE BEGEGNUNGEN

Daniel Brown, 38, Altenpfleger                                  Viviana Pirroni, 37, Depiladora                                 Stefanie Thanner, 31, Friseurin                                  Alexander Gerber, 29, Türsteher

    Einer meiner Lieblinge war ein grantiger alter Mann,            Wenn die Leute in mein Waxingstudio kommen, habe                 Ich rede beim Haareschneiden nicht über das Wetter.              Ich entscheide, wer in den Club kommt und schlichte
90 Kilo schwer. Für uns Pfleger war es sehr anstrengend,        ich eine gewisse Macht über sie. Ich habe viele reiche Kun-     Wenn wir uns schon unterhalten, dann bitte mit Inhalt. Am        Streits. Oft aber muss ich für Frauen den Retter spielen: Ich
ihn umzudrehen oder aus dem Rollstuhl zu heben. Er hat          dinnen, die von einem Chauffeur vorgefahren werden.             liebsten aber mag ich schweigende Kunden, schließlich sind       soll sie vor Verehrern schützen. Manchmal ist es auch nur
nur rumgemault, ist nie zu den Veranstaltungen des Senio-       Menschen, die mich auf der Straße überhaupt nicht beach-        wir Fremde. Dann entspannen wir beide und ich konzent-           eine Masche, um mich kennenzulernen. Letztens hat mich
renheims gegangen. Den ganzen Tag saß er in seinem Sessel       ten würden. Doch wenn sie zum Waxing kommen, plau-              riere mich auf die Arbeit. Als ich 15 war, zu Beginn meiner      ein Mädchen gebeten, mit ihr zu flirten, um ihre Begleitung
vor Bildern von verstorbenen Familienmitgliedern oder hat       dern sie ihre Geheimnisse aus. Die Frau eines bayerischen       Lehre am Tegernsee, hat sich ein Kurgast aber zu sehr ent-       eifersüchtig zu machen. Er zeigte ihr zu wenig Engagement.
Fernsehen geschaut. Irgendwann hatte keiner von uns Pfle-       Regierungsmitglieds hat mir erzählt, dass ihr Mann letzte       spannt: Während ich ihm den Kopf massierte, bewegte sich         Sie suchte immer wieder meinen Blickkontakt, kam zu mir
gern mehr Lust auf ihn. Da habe ich ihn nach Feierabend in      Woche fremdgegangen sei. Ich weiß genau, in welchem             plötzlich etwas im Schoß unter seinem Umhang auf und ab.         rüber. Er saß allein auf der Couch und wartete. Ein Lächeln
den Rollstuhl gesetzt und in den Englischen Garten gefah-       Hotel und mit wem. Weil ihr Mann öffentlich bekannt ist,        Er verzog merkwürdig das Gesicht. Am Anfang war ich un-          von mir, eine Umarmung, ein paar Sekunden länger, als es
ren. Er hat den ganzen Weg geflucht. Sei doch mal still, habe   hat sie sonst niemanden, mit dem sie darüber sprechen kann.     sicher, was passierte. Als mir klar wurde, dass er sich gerade   für eine freundschaftliche Berührung normal wäre: Schon
ich gesagt. Am Chinesischen Turm haben wir ein Bier ge-         Der Skandal könnte ja in ein Klatschblatt gelangen. Mir aber    einen runterholte, war ich total schockiert. Ich konnte nicht    zahlte er ihr alle Drinks. Wenn eine Frau süß ist, spiele ich
trunken. Da hat er plötzlich angefangen, von seiner Jugend      vertraut sie. Ihre Wut ist aus ihr herausgebrochen, ich muss-   reagieren. Zum Glück war ich nicht allein im Laden. Mei-         gerne mit. Mehr als ein kleiner Flirt ist es ja nicht, ein biss-
zu erzählen und dass er mit seiner Frau mal hier war. Auf       te Psychologin spielen. Mit den Liebesgeschichten meiner        ne Meisterin hat sofort gemerkt, was los war, und ihm den        chen Spaß während der Arbeit. Wenn mir eine zu stressig
dem Heimweg habe ich gefragt: War das jetzt so blöd? Nein,      Kunden könnte ich mittlerweile einen Beziehungsratgeber         Umhang heruntergerissen. Da saß er dann völlig entblößt,         wird, drücke ich den Funkknopf im Ohr und täusche einen
war nicht blöd, hat er geantwortet.                             schreiben.                                                      während sie zum Telefon griff und die Polizei rief.              Einsatz vor.

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Thomas Reiter verbrachte mehr Zeit
     im Weltraum als jeder andere Europäer.
     Ein Gespräch darüber, was man in der
     Ferne über Nähe lernt

                                                           WIE ENG IST
     I N T E R V I E W Hannah Knuth und Fabian Swidrak

                                                           ES DA OBEN,
                                                         HERR REITER?
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T                                                                                                                                                                                                                                                     350
            homas Reiter verließ die                                                                                                       PINK FLOYD IM ALL
            Erde zweimal. Für 350 Tage,                                                                                                    Wenn Thomas Reiter von
            55 Stunden und 40 Minuten                                                                                                      oben auf die Erde blickte,
            war er getrennt von Fami-                                                                                                      hörte er oft Musik. Auf der
lie und Freunden, von allem Bekann-
ten – lebte nur mit seinen Kollegen
                                                                                                                                           russischen Raumstation MIR
                                                                                                                                           griff er selbst zur Gitarre                                                                                TA G E
                                                                                                                                                                                                                                                       L E B T E
auf engstem Raum im All. Reiter, 59,
kann erzählen, was dieser Kontrast mit                                                                                                                                                                                                                 R E IT E R IM
einem Menschen macht. Es war 1995,                                                                                                                                                                                                                     W E LT A L L
als er zur russischen Raumstation MIR
flog, wo er als erster Deutscher in den
Weltraum ausstieg. 2006 lebte er für
ein halbes Jahr auf der internationalen
Raumstation ISS. Heute berät Thomas
Reiter den Generaldirektor der Euro-
päischen Weltraumorganisation ESA.

    Herr Reiter, gibt es auf der ISS
einen Putzplan?
Thomas Reiter: Jeden Samstag stand                                                                                                         Mission auf der russischen Raumsta-        Nummer auf der Erde anrufen. Einmal              Wie haben die Aufenthalte im
Putzen auf dem Arbeitsplan. Da muss-                                                                                                       tion MIR war während des Tschet-           pro Woche gab es außerdem eine Vi-          All Ihr Verhältnis zu Ihren Mit-
ten alle mitmachen. Es war klar fest-                                                                                                      schenien-Konflikts. Da hatten meine        deokonferenz. Dabei konnte ich meine        menschen auf der Erde verändert?
gelegt, was sauber zu machen ist. Die                                                                                                      beiden russischen Kollegen eine sehr       Familie zuhause sehen. Manchmal hat-        Ich bin entspannter geworden im Um-
Oberflächen mussten zum Beispiel                                                                                                           dezidierte Meinung, die sich nicht un-     ten sie auch Nachbarn oder Freunde          gang mit Menschen. Wenn ich an der
desinfiziert und die Luftfilter gereinigt                                                                                                  bedingt mit meiner gedeckt hat. Darü-      eingeladen. An Bord der MIR, 1995,          Supermarktkasse oder im Stau stehe
werden. So verging dann immer ein                                                                                                          ber haben wir dann einfach nicht ge-       war das nicht so einfach.                   und ungeduldig werde, erinnere ich
ganzer Vormittag.                                                                                                                          sprochen.                                       Wieso?                                 mich an das beruhigende Gefühl, das
    Können wir uns das Zusam-                                                                                                                   Wie würde man an Bord einer           Wir hatten damals nur einmal pro            ich hatte, als ich von weit weg auf un-
menleben im All vorstellen wie in                                                                                                          Raumstation überhaupt streiten?            Woche die Möglichkeit, mit unseren          sere Welt geschaut habe. Das war tief-
einer WG?                                                                                                                                  Man kann der Situation ja nicht            Familien zu sprechen. Alle zwei Wo-         greifend, intensiv, weil es jenseits des
Auf der Raumstation ist es ähnlich eng                                                                                                     entfliehen.                                chen gab es eine Videoverbindung,           normalen Erfahrungshorizontes war.
wie in einer Studentenbutze. Trotz-                                                                                                        Ich hatte erwartet, dass solche Situa-     während der meine Kollegen und ich               Haben Sie nach Ihren Missio-
dem sitzt man nicht die ganze Zeit                                                                                                         tionen auftreten, aber es ist nicht pas-   immer zusammen vor der Kamera sa-           nen gefremdelt?
aufeinander. Es gab Phasen, in denen                                                                                                       siert. Denn jeder von uns wusste, dass     ßen. Unsere Familien mussten dafür          Nein, es war schön, aber anstrengend,
ich meine Crewmitglieder kaum ge-                                                                                                          er auf den anderen angewiesen ist.         in das russische Kontrollzentrum nach       plötzlich wieder unter so vielen Men-
sehen habe, weil alle in verschiedenen                                                                                                     Wenn einer aus der Crew an einem           Moskau kommen. Wir hatten insge-            schen zu sein. Nach meiner zweiten

                                                                                                                         Fotos: ESA/NASA
Modulen der Raumstation beschäftigt                                                                                                        Montag mal den „Blues“ hatte, ein biss-    samt 40 Minuten Zeit, jeder durfte          Mission gab es in Houston einen gro-
waren. Wenn ich dann spätabends                                                                                                            chen bedrückt oder introvertiert war,      reihum fünf Minuten mit seiner Fami-        ßen Empfang, da saß ich dann auf
endlich mal zur Ruhe kam, schwebte                                                                                                         haben die anderen immer versucht,          lie sprechen.                               einer Bühne und musste zahlreiche
ich gerne vor einem der Fenster, hörte                                                                                                     den ein bisschen mitzureißen. Da wur-           Ein halbes Jahr getrennt von           Fragen beantworten. Das war zwar
Musik, zum Beispiel Pink Floyd, und                                                                                                        den dann einfach ein paar Scherze ge-      Familie und Freunden, immer die-            toll, aber ich war sehr geschafft, weil
genoss den überwältigenden Blick auf                                                                                                       macht.                                     selbe Umgebung, immer dieselben             ich erst seit kurzer Zeit wieder in der
die Erde.                                                                                                                                       Wie kann man sich denn zu-            Menschen – vergeht die Zeit an              Schwerkraft war.
    Haben Sie außer Putzen nichts                                                                                                          rückziehen, wenn man mal Ruhe              Bord einer Raumstation schneller                 Ein Glück, dass Astronauten
gemeinsam gemacht?                                                                                                                         braucht?                                   oder langsamer als auf der Erde?            nach ihrer Rückkehr erst einmal
Die Freizeit ist begrenzt, aber am Frei-    flikt zwischen Israel und Libanon: Wir   in unseren Köpfen behindert werden.                   Auf der ISS gibt es für jedes Besat-       Die ersten drei Monate vergehen wie         in Quarantäne müssen.
tag- oder Samstagabend ließen wir die       flogen über den Norden der Sahara,       Aus dem Weltraum betrachtet gibt es                   zungsmitglied eine kleine Kajüte.          im Flug. Da funktionierst du einfach        Ich kam nach dieser Veranstaltung
Arbeitswoche meistens gemeinsam             waren hin und weg von dem Anblick,       keine Landesgrenzen. Es wird einem                    Wenn ein Versorgungsraumschiff             und alles ist toll. Danach wird dir lang-   in die Quarantänestation, einen Tag
ausklingen. Wir haben dann einen            den Farben, und sahen dann plötzlich     bewusst, dass wir dringend Lösungen                   Briefe von der Familie und Freunden        sam bewusst, wie eng es dort oben           vor Weihnachten, kein Mensch weit
Film angesehen oder zusammen aus            den Rauch über Beirut. Da wurden wir     für die wirklich großen Probleme fin-                 gebracht hat oder ich Emails geschrie-     ist und dass du doch auf viele Dinge        und breit, und am Kühlschrank hing
dem Fenster geschaut und sind bei           in die Realität zurückgerissen.          den müssen, wie Klimaveränderungen                    ben habe, waren das die Momente,           verzichten musst: frisch zubereitetes       ein Aufkleber: „Hi Thomas, welcome
dem Ausblick ins Philosophieren ge-              Fühlt man sich dieser Realität      und Kriege.                                           in denen ich allein sein wollte. Dann      Essen oder den Geruch einer gerade          back, food is in the fridge.“ Da dachte
kommen.                                     überhaupt noch zugehörig, wenn                Waren Sie sich in solchen Ge-                    konnte ich die Tür zumachen und war        gemähten Wiese. Nach vier Mona-             ich mir: Ich komme doch jetzt nicht
    Worüber haben Sie in solchen            man 400 Kilometer entfernt von           sprächen mit Ihren Kollegen im-                       für mich.                                  ten schaute ich das erste Mal auf den       wirklich nach einem halben Jahr aus
Momenten gesprochen?                        der Erde durchs All fliegt?              mer einig? An Bord der ISS leben                           Wie haben Sie die Distanz zu          Kalender, um zu sehen, wie lange die        dem All zurück, um ein paar trocke-
Wenn Sie da oben lesen, was auf der         Definitiv, ja. Ich habe mir beim An-     ja auf engem Raum Menschen aus                        Ihrer Familie ausgehalten?                 Mission noch dauert. Aber generell ist      ne Sandwiches zu essen? Trotz der
Erde gerade so passiert, dann fragen        blick aus dem Erdorbit nicht etwa        sehr verschiedenen Kulturen.                          Ich konnte fast jeden Tag mit meiner       die Zeit unheimlich schnell vergangen.      Bedenken meines Crewarztes sind
Sie sich: Warum ist es für uns Men-         gedacht: Jetzt schaut mal, wie ihr da    Die ISS ist kein Ort, an dem man po-                  Familie telefonieren, und wenn es          Kaum war ich wieder am Boden, fie-          wir dann in ein Restaurant gegangen.
schen so schwierig, miteinander auszu-      unten zurecht kommt. Wir haben           litische oder religiöse Sichten aus-                  auch nur eine Minute war, zum Bei-         len mir so viele Sachen ein, die ich dort   Einen Tag nach der Landung einen
kommen? Als ich 2006 an Bord der ISS        große Probleme auf der Erde, deren       fechtet. Man entwickelt eine Sensibi-                 spiel in der kurzen Mittagspause. Von      oben noch gerne gemacht oder mir an-        frisch zubereiteten Salat zu vertilgen,
war, gab es einen bewaffneten Kon-          Lösungen teilweise nur von Grenzen       lität für heikle Themen. Meine erste                  der ISS aus kann man jede beliebige        geschaut hätte.                             hat sich überirdisch angefühlt.

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NÄHE KLARTEXT Das Magazin der Deutschen Journalistenschule Lehrredaktion 55A I Nr. 42 I 2017 - Deutsche Journalistenschule
DAHOME

         T E X T E Johanna Sagmeister
         F O T O S Daniel Etter         GRAFENWÖHR WÄRE EINE VERSCHLAFENE
                                        KLEINSTADT IN DER OBERPFALZ, WÜRDEN DORT
                                        NICHT 22.000 US-AMERIKANER LEBEN

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THINK BIG                                                                                       RESTART
     Amanda Coachiarella holt                                                                        Für Asif Mubarak sieht die Oberpfalz wie ein Postkartenmotiv
     ihre Söhne, anders als sie es                                                                   aus: sauber, grün, idyllisch. Vor drei Wochen kam er mit
     in den USA getan hat, häufig                                                                    seiner Frau und den Kindern nach Deutschland. Davor war
     zu Fuß von der Schule ab. Ihr                                                                   er in Korea stationiert, wo auch seine Tochter geboren wurde.
     Reihenhaus in der Henry-                                                                        Alle zwei bis drei Jahre muss die Familie Mubarak an einen
     Kissinger-Straße liegt gleich                                                                   neuen Standort ziehen. In der Kaserne funktioniert von der
     neben dem Kasernengelände                                                                       Post bis zum Tanken alles so, wie Mubarak es aus seiner
     mit amerikanischen                                                                              Heimat Texas gewohnt ist. Das hilft ihm beim Neustart.
     Schulen, einer Kirche und
     einem Gemeindezentrum.
     Diese Wohnsiedlung für
     3600 Militärangehörige
     ließ das amerikanische
     Verteidigungsministerium
     vor elf Jahren bauen. Es
     war eines der größten
     Wohnbauprojekte Bayerns.
     Coachiarellas Mann ist
     als Fallschirmspringer
     oft auf Einsätzen oder
     Weiterbildungen, deshalb sei
     es in Grafenwöhr die meiste
     Zeit „just me and the kids“,
     erzählt die Mutter.
                                     PARALLELWELT
                                     Im bayerischen Grafenwöhr gibt es einen Ort, an dem mit         Seit mehr als 70 Jahren nutzt die US-amerikanische Armee
                                     Dollar bezahlt wird, an dem der Strom mit 110 Volt fließt       den Truppenübungsplatz in der Oberpfalz. In der Fläche
                                     und das Wasser gechlort ist. An dem sich amerikanische          ist er größer als Düsseldorf. Zäune mit grünem Sichtschutz
                                     Supermärkte, Thrift Shops, mehrere englischsprachige            trennen die stark bewachte Kaserne vom Rest der Kleinstadt.
                                     Schulen und Kindergärten aneinanderreihen. Hier leben           Der Sicherheitsdienst kontrolliert am Eingangstor jeden
                                     US-Soldaten mit ihren Familien in einer Parallelwelt, die für   Pass, durchsucht die Kofferräume der Autos. Auch die
                                     sie ein Stück Heimat in der Fremde ist.                         Soldaten müssen durch diesen Sicherheitscheck.

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POPCORN
                                                 Im Sekretariat machen die Lehrer Popcorn, in der Kantine gibt es Tacos. Manche
                                                 Kinder glauben in den ersten Wochen ihres Aufenthalts, dass sie immer noch in
                                                 den USA sind. Dann fragen sie ihre Lehrer, warum die Menschen außerhalb der
                                                 Kaserne so komisch reden. Einen verpflichtenden Deutschkurs für die Kinder gibt
                                                 es nicht, dafür das Fach „Host Nation“, in dem sie etwas über die deutsche Kultur
                                                 lernen sollen. Ansonsten wird nach US-Lehrplan unterrichtet. Die Elementary
                                                 School auf dem Netzaberg – eine von sechs amerikanischen Schulen in
                                                 Grafenwöhr – hat 830 Schüler.

                                                                                                                 KEEP ROLLING
                             STREETSTYLE                                                                         Walter Brunner mag die freundliche
         „Like in the South“ möchte Josh mit                                                                     Art der Amerikaner. Deshalb ist er
           seinen goldenen Grillz aussehen –                                                                     vor 25 Jahren von Nürnberg nach
       ganz wie die Rapper aus New Orleans,                                                                      Grafenwöhr gezogen. Als Präsident
           Atlanta oder Miami. Sie haben den                                                                     des Kontakt-Clubs versucht der
        Trend geprägt, Josh möchte ihn nach                                                                      88-Jährige, Deutsche und Amerikaner
         Deutschland bringen. Seine falschen                                                                     zusammenzubringen. Doch die
      Goldzähne kann Josh nur tragen, wenn                                                                       jungen Soldaten interessieren sich
     er ohne Uniform außerhalb der Kaserne                                                                       nicht mehr für die Stammtische,
          unterwegs ist. Bei der Armee ist der                                                                   Museumsbesuche oder Filmabende,
                      Zahnschmuck verboten.                                                                      die er organisiert. Zum wöchentlichen
                                                                                                                 Bowlingtreff kamen zuletzt zwölf
                                                                                                                 Deutsche und ein Amerikaner. Die
                                                                                                                 Soldaten hätten keine Lust, ihre
                                                                                                                 Freizeit in der Provinz zu verbringen,
                                                                                                                 sagt Brunner. Sie würden lieber in
                                                                                                                 Großstädte fahren. Auch die häufigen
                                                                                                                 Umzüge der Soldaten erschwerten
                                                                                                                 den Austausch. So bleibt Brunner die
                                                                                                                 einzige Konstante im Club.

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SIE MACHT     SEIT DREI JAHREN HAT UNSER AUTOR EINE
              ALKOHOLKRANKE NACHBARIN. ER WOLLTE NIE

MICH
              TEIL IHRES LEBENS SEIN – UND WAR ES DOCH
              SEIT DER ERSTEN BEGEGNUNG

WÜTEND.                                                                                                 T E X T & F O T O Erik Häußler

ICH HELFE
IHR.
SIE KOTZT     A
                            ls ich Frau R. das letzte Mal   nicht, wie es ihr geht. Ich will nicht      über sie und die anderen lachen mit.
                            sah, spuckte sie Blut. Sie      mit ihr reden, schon gar nicht plau-        Diese Frau müsste mich nicht weiter
                            rief um Hilfe, ich holte die    dern wie mit einer normalen Nachba-         kümmern, sie könnte einfach die lusti-
                            Sanitäter. „Wie viel haben      rin. Denn das ist Frau R. nicht. Ich will   ge Party-Geschichte bleiben.
              Sie heute getrunken?“, fragte einer der       nur wissen, ob sie noch lebt.                    Frau R. aber ist mehr. Sie macht

MICH AN.
              beiden Frau R. „Nicht viel“, antwortete            Die Klingel ist kaputt, also klopfe    mich wütend. Ich helfe ihr. Sie kotzt
              sie, ihre Stimme klang piepsig.               ich. Zunächst so zögerlich, als wollte      mich an. Ich mache mir Sorgen.
                   „Nur eine Flasche Wodka“. Stille         ich gar nicht, dass sie mich hört. Ich           Drei Monate nach meinem Einzug
              im Raum.                                      lausche. Nichts. Ich klopfe kräftiger.      kamen die Sorgen zum ersten Mal. Es
                   „Trinken Sie häufiger?“                  Niemand rührt sich.                         war Juli. Die Wohnungstür von Frau

ICH MACHE
                   „Seit 30 Jahren.“                             Seit über drei Jahren wohne ich        R. stand einen Spalt offen, Schluchzen
                   „Wissen Sie, dass Sie daran sterben      im selben Haus wie Frau R. Sie im ers-      drang in das Treppenhaus. „Mama,
              können?“, schrie der Sanitäter sie an.        ten, ich im fünften Stock. Gleich nach      Mama“, rief eine kindliche Stimme fle-
              Mein Magen krampfte.                          meinem Einzug wurde ich vor ihr ge-         hend. Ich blieb auf den Stufen stehen.
                   Es war einer dieser intimen Mo-          warnt. Werde bei ihr ein Paket abge-        Hatte Frau R. eine Tochter? Die Rufe
              mente aus dem Leben meiner alko-              geben, stehe sie beim Abholen meist         waren so laut, dass sie auf der Straße

MIR SORGEN.
              holkranken Nachbarin, die mich seit           sturzbesoffen an der Tür, erzählte          zu hören waren. Niemand kümmerte
              Jahren begleiten. Nie wollte ich ein          mein neuer Mitbewohner. Er lachte.          sich. Was, wenn Frau R. tot in ihrer
              Teil davon sein und war es doch seit               Sechs Wochen nach meinem Ein-          Wohnung lag und ihre Tochter sie
              dem Tag, als ich ihr Nachbar wurde.           zug begegnete ich ihr das erste Mal. Im     leblos gefunden hatte? Ich drückte vor-
              Ich kenne diese Frau nicht und war ihr        Innenhof kam mir eine Frau mit dicker       sichtig die Wohnungstür weiter auf.
              doch schon so nah. Ich weiß, wie sie          Brille, faltigem Gesicht und kurzer,        „Hallo, brauchst du Hilfe?“ Keine Re-
              zwischen den Beinen aussieht, kenne           brauner Dauerwelle entgegen. Eine           aktion. Hineingehen wollte ich nicht.
              aber nicht einmal ihren Vornamen. Ich         Frisur, wie sie viele alte Damen tragen,    Ich rief die Polizei. Als die zwei Beam-
              weiß, wie ihr Kot riecht, aber nicht, ob      nur ungepflegter. Grußlos ging sie an       ten die Wohnung betraten, fanden sie
              sie eine Familie hat oder mit wem sie         mir vorbei. Ich schaute ihr erschro-        nur Frau R. Es waren ihre Rufe gewe-
              ihren Geburtstag feiert. 53 Jahre soll        cken hinterher und wusste sofort, dass      sen, die ich gehört hatte.
              sie alt sein, das hatte sie der Polizei ge-   sie es war: Frau R. war von der Hüfte            Die Polizisten nahmen Frau R. mit.
              sagt. Ich hätte sie auf 68 geschätzt.         bis zu den Füßen nackt.                     Danach sah ich sie länger nicht. Viel-
                   Drei Monate nach unserer letzten              Von dieser ersten Begegnung er-        leicht war sie in Therapie. Das sagten
              Begegnung stehe ich vor ihrer Woh-            zähle ich noch heute, wenn ich erkläre,     auch die anderen Nachbarn immer
              nungstür. Ich habe seither nichts von         wer die verrückte Alte im ersten Stock      dann, wenn es für längere Zeit ruhig
              ihr gehört, sie nicht gesehen. Ich weiß       ist, die zu viel trinkt. Ich lache dann     war um Frau R.

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72
Als sie wieder da war, merkte ich                                                    und eine Blümchenbluse, unter der
schnell, dass es ihr nicht besser ging.                                              ihr Badeanzug zu sehen war. Hinter
Es ist die Wohnungstür, die jeden                                                    ihr lief ein Mann mit Drei-Tage-Bart,
neuen Absturz ankündigt. Sie steht ei-                                               er lächelte. Sie grüßte euphorisch. Die
nen Spalt offen. Dann strömt der süß-                                                beiden verließen Händchen haltend
lich-modrige Geruch aus der Woh-
nung ins Treppenhaus.
                                                     STUFEN                          das Haus.
                                                                                          Ich sah den Mann nicht wie-
                                                     TRENNEN
     In den Wochen nach ihrer Rück-                  I HR LEB EN                     der. Wenige Wochen danach stand
kehr wurden meine Mitbewohner und                    VON SEINEM                      die Wohnungstür erneut einen Spalt
ich nachts aus dem Schlaf geklingelt,                                                offen. Frau R. auf dem Weg in den
weil Frau R. sich ausgesperrt hatte.                                                 nächsten Abgrund. Wimmernd saß
Vier, fünf Mal hintereinander, bis wir                                               sie im Treppenhaus. „Können Sie mich
die Klingel abstellten. Jede Nacht das-                                              in die Wohnung bringen?“, fragte sie.
selbe. Ihr Verhalten kotzte mich an,                                                 Der Geruch von Alkohol und Unge-
sollte sie halt aufhören zu saufen. Auch                                             pflegtheit umgab sie. Sie griff mein
Frau R. war wütend und riss die Blu-                                                 Handgelenk, zog sich langsam daran
men aus dem Beet vor unserem Haus.                                                   hoch und hakte sich unter. Es war das
     „Wir sind für solche Fälle nicht                                                erste Mal, dass ich ihre faltige, lederne
zuständig“, sagte ein Polizist. „Küm-                                                Haut berührte. „Wo soll es denn hin-
mern Sie sich doch, Sie sind schließlich                                             gehen?“, fragte ich. „Ins Schlafzimmer“,
Nachbarn.“                                                                           stammelte sie.
     Frau R. ist keine Nachbarin für
mich. Sie ist eine Last. Manchmal                                                     Die Nachbarn von Frau R. wollen
schäme ich mich für diesen Gedanken,                                                  nicht in der Lokalzeitung landen
meistens aber nicht. Natürlich half ich    Parkettboden. Sie hatte in ihren Flur
ihr trotzdem, wenn sie weinend vor         gemacht und den Kot verschmiert. Ich      Ich wollte das nicht. Wieder eine
mir im Treppenhaus lag, zwei Schnäp-       zog die Tür zu und ließ die Frau mit      Grenze überschreiten, wieder näher
se und ein Bier neben sich. Sonst tat es   dem Gestank allein. Ihre Sucht, ihre      ran an die Fremde. Ich tat es trotzdem.
keiner. Die anderen Nachbarn stiegen       Probleme, ihr Leben.                      Mit tapsigen Schritten ging sie an mei-
über ihre dünnen Beine hinweg oder              An anderen Tagen glaubte ich, auf    ner Seite, vorbei an leeren Schnapsfla-
knallten die Türen zu.                     Frau R. aufpassen zu müssen. Als ich      schen, bis sie am Bettrand Halt fand.
                                           das erste Mal einen unrasierten Frem-     Sie krabbelte auf die Matratze, die
  Frau R. hat häufig Untermieter.          den vor ihrer Wohnung traf, war ich       Schlappen behielt sie an. Ich schaltete
     Auch sie helfen ihr nicht             misstrauisch. Er wolle schauen, wie es    das Licht aus, zog die Wohnungstür
                                           der Dame gehe, der er am Nachmittag       hinter mir zu und atmete tief durch.
Frau R. hat offensichtlich niemanden       auf der Straße geholfen habe, sagte er.        Nur wenige Wochen später
aus der Familie, der sich um sie küm-      Es war kurz nach ein Uhr nachts, ich      spuckte Frau R. Blut.
mert. Als ich sie fragte, wer einen Er-    blieb neben ihm im Treppenhaus ste-            Jetzt stehe ich vor ihrer Woh-
satzschlüssel zur Wohnung habe, fiel       hen. Frau R. öffnete im Seiden-Nacht-     nungstür, will wissen, was mit ihr
ihr niemand ein. Ein Nachbar sagte,        hemd die Tür, begrüßte den Fremden        ist. „Ich will keiner dieser Menschen
die Wohnung gehöre ihrer Mutter.           trunken und bat ihn zu sich herein. Er    sein, deren Nachbarin stirbt und über
Auch eine Schwester soll sie haben.        war nicht der einzige Fremde, der sie     Wochen unbemerkt in der Wohnung
Gesehen habe ich beide noch nie. Frau      nachts besuchte.                          liegt“, hat die Studentin aus dem zwei-
R. hat auch häufig Untermieter, Stu-            Nüchtern war Frau R. nie, wenn       ten Stock einmal gesagt. Auch ich den-
denten oder Kurzzeit-Praktikanten,         ich sie angetroffen habe. Ich redete      ke oft so. Ich sorge mich aus Egoismus.
wie sie das regelt, weiß ich nicht. Ich    nur mit ihr, wenn sie hilflos war. Ein    Ich will nicht in der Lokalzeitung lan-
weiß nur: Auch denen ist die Dame          Gespräch entstand trotzdem nie. Ich       den.
egal. Selbst wenn Frau R. so laut um       fragte, wie es ihr gehe, wo ihre Unter-        Nach meinem dritten Klopfen öff-
Hilfe ruft, dass ich es im Treppenhaus     mieter seien. Ich versuchte, freundlich   net sich die Tür. Es ist nicht Frau R.,
höre, sagen ihre Mitbewohner, sie hät-     zu sein – und klang dabei, als redete     die vor mir steht, sondern ein Unter-
ten nichts gehört.                         ich mit einem Kind. Mit ihr, die mei-     mieter. Frau R. sei weg, seit zweiein-
     Manchmal gehöre auch ich zu           ne Mutter sein könnte. Begegnete ich      halb Monaten, sagt er. Sie sei im Ge-
diesen Ignoranten. Dann, wenn ich          ihr Tage nach einem Zusammenbruch         fängnis gewesen, zu häufig habe sie
das Leben von Frau R. einfach nicht        wieder, wechselten wir nicht mehr als     Schnaps geklaut. Inzwischen liege sie
mehr sehen kann. Einmal stieg mir          einen kargen Gruß. Ich glaube, dass       im Krankenhaus. „Ich weiß nicht ein-
ein beißender Gestank in die Nase, als     sie nicht einmal weiß, in welchem Zu-     mal, ob sie noch lebt.“ Seine Stimme
ich die Tür zum Treppenhaus öffnete.       stand ich sie schon erlebt habe.          stockt. „Sie ist eine gute Frau, die ein-
Mir wurde schlecht. Ihre Wohnungs-              Nur einmal sah ich meine Nachba-     fach zu viel trinkt“, sagt er. „Das wird
tür stand offen und ich sah mehrere
tellergroße, braune Flecken auf dem
                                           rin glücklich. Es war Sommer. Frau R.
                                           hatte einen Strohhut auf, trug Shorts
                                                                                     schon wieder“, antworte ich. Obwohl
                                                                                     ich weiß, dass es nicht stimmt.             JETZT SPONSOR WERDEN
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SIE IST ANFANG 40, WILL SICH VERLIEBEN,
     FREUNDE FINDEN. ABER SIE SCHAFFT ES NICHT.
              AUS EINEM LEBEN MIT SOZIALPHOBIE

               ANGST
               MEINE
                                 M
                                  P R O T O K O L L Antonia Küpferling

                                                eine Angst kommt
                                                nicht als Gefühl, sie
                                                kommt in Form von
                                                Bedenken. Oft bin ich
                                 von einer Idee spontan begeistert,
                                 will etwas Neues ausprobieren. Einen
                                 Menschen kennenlernen. Dann kom-
                                 men von Tag zu Tag mehr Zweifel.
                                 Dann sage ich mir: Du bist nicht gut
                                 genug für andere. Und wage nichts.
                                 Wenn ich etwas unternehme, dann al-
                                 lein. Ich schäme mich dafür.
                                      Dabei kann ich mutig sein: Ich war
                                 klettern und beim Bungee Jumping.
                                 Meine Angst ist keine vor der Gefahr.
                                 Es ist eine Angst vor Beziehungen, vor
                                 dem, was zwischen Menschen passiert.
                                 Vor Nähe.

                                         Kindergeburtstage
                                      brachten sie zum Weinen

                                 An eine Zeit ohne meine Angst kann
                                 ich mich nicht erinnern. Sie war schon
                                 da, als ich ein Kind war. Wegen ihr
                                 hatte ich keine Freunde. Niemanden,
                                 der mich ins Kino begleitete. Also ging
                                 ich allein. Zu Kindergeburtstagen lu-
                                 den andere ihre besten Freunde ein.
                                 Die Gäste auf meinen Geburtstagen:
                                 Cousins, Tanten und Onkel. Kinder
                                 von Bekannten, die meine Eltern ein-
                                 geladen hatten. An diesen Tagen war
                                 ich traurig. Oft weinte ich.
                                                                                                     A
                                                                           Mutter war ganz anders als ich, sie
                                                                           hatte viele Freunde. „Mama“ kann ich
                                                                           sie nicht nennen, das hat sie nicht ver-
                                                                           dient. Denn verstanden hat sie mich
                                                                           und meine Angst nie. Das Fahrradfah-
                                                                           ren hat sie mir unter Ohrfeigen bei-
                                                                           gebracht. Ich glaube, dass ein Mensch
                                                                           vieles verkraften kann, wenn er we-
                                                                           nigstens einen Menschen hat, der ihm
                                                                           Halt gibt. Der ihm ein Anker ist. Ich
                                                                           hatte ihn nicht. Stattdessen hatte ich
                                                                           eine Mutter, die mir immer wieder
                                                                           das Gefühl gegeben hat, ich sei nicht in
                                                                           Ordnung.
                                                                                Meine Angst lässt mich keine Be-
                                                                           ziehungen eingehen. Mit Mitte 20 hat-
                                                                           te ich einen Partner, das war eine Aus-
                                                                           nahme. Als ich ihn kennenlernte, hatte
                                                                           ich Panikattacken, ging immer wieder
                                                                           einen Schritt zurück. Aber er hatte
                                                                           sehr viel Geduld. In dieser Beziehung
                                                                           erlebte ich Nähe. Dieses warme Gefühl
                                                                           des Vertrauens. Seitdem nie wieder.
                                                                           Leider lebten wir uns auseinander, si-
                                                                           cher auch wegen meiner Angst. Ich
                                                                           würde gerne wieder einen Mann fin-
                                                                           den. Ich glaube, ich könnte sein Leben
                                                                           trotz allem bereichern. Es kann aber
                                                                           gut sein, dass das nicht mehr klappt.
                                                                                Meine Angst ist auch heute noch
                                                                           da. Noch immer denke ich, nicht gut
                                                                           genug zu sein. Ich wünsche mir Nähe.
                                                                           Aber ich bin gut darin, sie zu zerstö-
                                                                           ren. Ich kann oft nicht anders.
                                                                                                                      Ich habe vor einiger Zeit begonnen,
                                                                                                                      Grundschullehramt zu studieren. An
                                                                                                                      der Uni habe ich mal eine Studentin
                                                                                                                      kennengelernt, mit der ich mich gut
                                                                                                                      verstanden habe. Wir haben uns privat
                                                                                                                      getroffen. Sie erzählte von ihrer Fa-
                                                                                                                      milie und ihren Freunden. Was hätte
                                                                                                                      ich ihr erzählen sollen? Ich habe nichts
                                                                                                                      davon.

                                                                                                                           Trotz ihrer Ängste arbeitet
                                                                                                                                sie als Erzieherin

                                                                                                                      In solchen Situationen fange ich an zu
                                                                                                                      überlegen, was ich jetzt tun muss, da-
                                                                                                                      mit Vertrauen entsteht. Ich versuche
                                                                                                                      dann krampfhaft zu tun, was von mir
                                                                                                                      erwartet wird, und nicht das, was ich
                                                                                                                      gerne tun würde. Ich bin dann nicht
                                                                                                                      mehr ich selbst und wirke angestrengt.
                                                                                                                      Mein Gesprächspartner merkt das. Das
                                                                                                                      entfernt mich von den Menschen, die
                                                                                                                      mir vielleicht hätten nah kommen
                                                                                                                      können. Auch von meiner Kommili-
                                                                                                                      tonin.
                                                                                                                          Freundschaften würden mir Kraft
                                                                                                                      geben. Aber ich habe keine Kraft,
                                                                                                                      Freundschaften zu schließen. Von
                                                                                                                      selbst kommt niemand zu mir. Es ist
                                                                                                                      ein Teufelskreis.
                                                                                                                          Meine Angst lässt mich nur in
                                                                                                                      meinem Beruf in Ruhe. Vor meinem
                                                                                                                      Studium habe ich als Erzieherin ge-
                                                                                                                      arbeitet. Das klingt für viele sicher
                                                                                                                                                                 seltsam: Ausgerechnet ich mit meiner
                                                                                                                                                                 Angst. Aber im Beruf schaffe ich, was
                                                                                                                                                                 ich als Privatperson leider nicht schaf-
                                                                                                                                                                 fe: Ich baue Beziehungen auf. Man
                                                                                                                                                                 sagt mir nach, ich sei lebendig und
                                                                                                                                                                 eloquent. Kinder mögen mich. Ich bin
                                                                                                                                                                 freundlich zu ihnen und warmherzig.
                                                                                                                                                                 Wenn eines von ihnen ausgegrenzt
                                                                                                                                                                 oder beschimpft wird, schreite ich ein.
                                                                                                                                                                 Kein Kind soll erleben, was ich erlebt
                                                                                                                                                                 habe.
                                                                                                                                                                      Neulich war ich spazieren und
                                                                                                                                                                 habe mitbekommen, wie ein Vater
                                                                                                                                                                 seinen Sohn angebrüllt hat. Der hat-
                                                                                                                                                                 te lediglich einen Ball durch eine Al-
                                                                                                                                                                 lee gekickt. Du bist ein Spinner, hat
                                                                                                                                                                 der Vater geschrien. Der Junge stand
                                                                                                                                                                 schuldbewusst da. Da habe ich den Va-
                                                                                                                                                                 ter angesprochen und ihm gesagt, dass
                                                                                                                                                                 ich das nicht in Ordnung finde.
                                                                                                                                                                      Meine Angst wird mich nicht ver-
                                                                                                                                                                 lassen. Da hilft auch keine Therapie.
                                                                                                                                                                 Aber ich habe gelernt, mit ihr umzu-
                                                                                                                                                                 gehen. Im Laufe der Jahre habe ich viel
                                                                                                                                                                 über mich nachgedacht. Früher habe
                                                                                                                                                                 ich mich gefragt, was mit mir nicht
                                                                                                                                                                 stimmt. Jetzt möchte ich mich endlich
                                                                                                                                                                 so akzeptieren, wie ich bin. Akzeptie-
                                                                                                                                                                 ren, dass mein Leben eben anstrengen-
                                                                                                                                                                 der ist als das anderer Menschen, die
                                                                                                                                                                 keine sozialen Ängste haben. Dass ich
                                                                                                                                                                 vieles nicht kann, was andere können.
                                                                                                                                                                      Heute kann ich mir meine Angst
                                                                                                                                                                 verzeihen. Meistens.

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Hans Paul ist obdachlos
und hat eine
Briefkastenfirma
in Übersee.
Ein Tag mit Deutschlands
erfolgreichstem
Paparazzo

                           T E X T Vera Weidenbach
                           F O T O S Louis Kellner

                                                     31
500
                                            häufiger an der Eisdiele vorbei. Ihre       kein Haus. Er schläft in einem umge­
                                            Nachbarin hat heute morgen erzählt,         bauten Auto mit Matratze oder in
                                            dass der schwarze Van in der Einfahrt       einem seiner alten Vans. Sie stehen
METER                                       stehe. Sie könnten zuhause sein. Seit
                                            er weiß, dass Bettina Wulff Werbung
                                                                                        in verschiedenen Ländern, auf ver-
                                                                                        schiedenen Kontinenten. Paul schläft
MAXIMAL                                     für eine Fahrradhelm-Initiative macht,      darin vor den Haustüren der Stars.
BIS ZUM                                     ist Paul hinter ihr her: Er will sie ohne   Das Auto hat ein Loch in der Seite,
P R O M I                                   Helm erwischen. Ein Foto allein rei-        durch das er unbemerkt sein Objektiv
                                            che heute nicht mehr, um Auflage zu         stecken kann. Eine feste Adresse hat
                                            machen, sagt Paul, man müsse die Ge-        Paul nicht. Damit ihn die Klagen der
                                            schichte dahinter gleich mitliefern. An     Stars gegen die Fotos nicht erreichen.
                                            diesem Tag ist es die Story der Gattin      Hin und wieder schläft er in Obdachlo-
                                            eines ehemaligen Bundespräsidenten,         senheimen, manchmal lässt er sich auch
                                            die sich nicht an die moralischen Stan-     einen Brief dorthin schicken. „Ich bin
                                            dards hält, die sie öffentlich vertritt.    ein überzeugter Obdachloser“, sagt er.
                                                 Er sei der letzte seiner Art, sagt
                                            Paul. Den Beruf des Paparazzos wer-         Seine Oldtimer-Sammlung steht in

E
                                            de es nicht mehr lange geben. Schon          einer Tiefgarage irgendwo in L.A.
           r hätte sie fast erwischt.       heute seien 80 Prozent der Fotos ab-
           Christian und Bettina Wulff,     gesprochen, die er und seine Kollegen       Am Geld liegt es nicht. Ein exklusi-
           auf dem Fahrrad, beide ohne      von den Stars machen. Sie vereinbaren       ves Foto von einem Star bringt ihm
           Helm. Hans Paul überholte        den Ort und die Geschichte, der neue        6000 Euro und mehr ein. Manche Bil-
sie auf dem Moped und warf sich fünf-       Freund ist dabei oder die Kinder. Aus-      der werden von Zeitschriften auf der
hundert Meter weiter ins Gebüsch.           sehen muss aber alles wie ein echtes        ganzen Welt gekauft, dann können
Nahm die Kamera in die Hand, leg-           Paparazzi-Foto. Für Paul ist bei diesen     es über 100.000 Euro werden. Seine
te den Finger auf den Auslöser. Zehn        Geschichten zwar der Abschuss sicher        Sammlung mit alten Porsches steht in
Minuten lag er so da. Aber sie kamen        und damit das Honorar, aber er hasst        einer Tiefgarage in Los Angeles. Er
nicht. Sie waren in eine andere Rich-       sie. Die Kunst des Paparazzos, sagt er,     hat eine Agentur mit Fotografen, die
tung abgebogen. Das Foto, das ihm           sterbe dadurch aus.                         auf der ganzen Welt Stars für ihn „ab-
mehrere tausend Euro gebracht hätte:                                                    schießen“, wie es im Paparazzi-Jargon
verpasst.                                         Mir ist es ganz lieb, wenn            heißt. Die Agentur regelt den Vertrieb.
                                                                                                                                   Ein echter Paparazzo schießt seine Fotos aus dem Hinterhalt. Hans Paul möchte möglichst unerkannt bleiben
     Eine Woche später. Ein Junimor-              die Leute mich für einen              Sie ist als Briefkastenfirma irgendwo
gen in Großburgwedel, einer Klein-                komischen Vogel halten.               in Übersee gemeldet, um den Klagen
stadt bei Hannover. Man sieht es den                                                    zu entgehen. Das ist praktisch für Paul:
faden Klinkerhäusern nicht an, aber         Dem Haus der Wulffs nähert sich Paul        Er muss sich nicht mit Anwälten her-
hier wohnen Geld und Prominenz.             nur, wenn es sein muss. Die Bodygu-         umschlagen.
Paul sitzt in einer Eisdiele. Nicht um      ards kennen sein Gesicht, sie könnten           Plötzlich bremst Paul auf einem
ein Eis zu essen, nicht um zu quat-         die Polizei rufen. „Einem Paparazzo         Feldweg, stellt einen Fuß auf den Bo-
schen. Sondern um zu jagen. Paul will       kann man nur das Handwerk legen,            den, lässt den Motor laufen. Zwei
das Foto. Er ist Paparazzo.                 wenn man behauptet, er sei ein Stal-        Radler nähern sich. Er holt einen Feld-    schwieriger geworden, sagt Paul. Die         oft auf Veranstaltungen sehe. Das sei      Moment, in dem alles andere egal wird,
     Mit verschränkten Armen sitzt er       ker“, sagt Paul. Ein echter Paparazzo       stecher aus der Innentasche seines Ja-     Stars stellen Selfies ins Netz, die Illus-   ihm noch gar nicht aufgefallen, sagt       in dem nur noch dieses Bild zählt.
da. Paul ist 63 Jahre alt. Sein Körper      belästige niemanden. Er schießt Fotos       cketts und schaut hindurch. Es sind        trierten füllen ganze Seiten mit Ins-        der Bürgermeister. Als das Gespräch            In Fuhrberg ist ein kleines Bier-
ist drahtig und seine Haare sind weiß.      aus dem Hinterhalt. Die Stars bemer-        nicht die Wulffs.                          tagram-Geschichten. Die Paparazzi            langsam einschläft und keine Neuig-        zelt aufgebaut. Im Schritttempo rollt
Seine Augen sind immer in Bewegung.         ken es erst, wenn sie die Illustrierte          Für einen echten Paparazzo ist         stehen nur noch an den roten Teppi-          keiten mehr zu holen sind, wird Paul       Paul daran vorbei, die Bodyguards
Sieht er jemanden, der ihm bekannt          aufschlagen.                                die Recherche immer langwierig. Das        chen oder an den Haustüren der Stars.        unruhig. Er verabschiedet sich, steigt     könnten in der Nähe sein. Der Pa-
vorkommt, stehen sie plötzlich still, fo-       Paul hat in der Eisdiele genug ge-      Durchhaltevermögen hat Paul wäh-           Wenn einer von ihnen herauskommt,            aufs Moped. Bekanntschaften schließt       parazzo scannt die Gesichter. Er
kussieren. Dann spricht er langsamer,       hört. Er steht auf, streicht das blau-      rend seiner Zeit als Reporter bei Bou-     blitzen sie ihm ins Gesicht. Paul nennt      er nur für ein Foto.                       kennt keines. Ob das die Feier zum
zieht die Wörter in die Länge. Wenn         weiß gestreifte Jackett glatt. Im Vor-      levardzeitungen gelernt.                   diese neue Paparazzi-Generation                  Es ist schon später Nachmittag,        Ortsjubiläum sei, fragt er eine Pas-
er niemanden erkennt, lassen die Au-        beigehen nickt er einer älteren Dame            Damals habe er mal eine Geschich-      „Shooter“. Ihre Fotos zeigen die Pro-        Paul umkreist noch einmal das Haus         santin. Nein, hier nicht, sagt sie.
gen wieder los und suchen weiter.           zu. Er zieht die Blicke der Leute auf       te über ein Bordell in Köln gemacht,       mis aber nicht in einer privaten Situ-       der Wulffs, ist kurz davor aufzuge-            Den ganzen Tag war Hans Paul auf
Seine Kamera hat er in einer schäbigen      sich. „Mir ist es ganz lieb, wenn die       fotografierte dafür eine 17-jährige        ation. Das schaffe man nur aus dem           ben, als er eine letzte heiße Spur ent-    der Jagd nach einem einzigen Foto. Er
Umhängetasche verpackt. Das Moped,          Leute mich für einen komischen Vogel        Prostituierte. Wenig später las er in      Hinterhalt.                                  deckt. Die Nachbarin der Wulffs läuft      hat es nicht bekommen. Er sagt über
ein chinesischer Nachbau einer alten        halten und mich nicht so ernst neh-         einer Meldung, dass sie sich umge-              Paul fährt weiter durch Großburg-       die Straße entlang. Heute sei doch ein     sich, dass er sein Geld mit Unsinn ver-
Honda Dax, steht ganz in der Nähe.          men“, sagt er. Dann steigt er auf sein      bracht hatte. Ihr Gesicht war in der       wedel. Vor einem kleinen Gasthaus            großes Fest in Fuhrberg, sagt sie, Orts-   dient. Dass er sich manchmal fragt,
Den Schlüssel hat er stecken lassen.        Moped, fährt in Richtung Springhorst-       Zeitung. Das konnte er nicht mit sich      im Ortszentrum sitzen drei Männer,           jubiläum. Fuhrberg ist eine kleine Ge-     was er eigentlich mache. Aber Paul
Paul will bereit sein.                      see. Die Wege dort sind beliebt bei         vereinbaren. Heute verletze er mit         darunter der Bürgermeister. Der Pa-          meinde unweit von Großburgwedel,           wird in diesem Leben nicht mehr auf-
     Er wechselt ein paar Worte auf Ita-    Radlern.                                    seinen Bildern niemandem mehr, be-         parazzo setzt sich dazu. Nach wenigen        dort war Christian Wulff einmal Spar-      hören. Die Sucht nach dem Abschuss
lienisch mit dem Kellner. Der ist einer         Im Fahrtwind atmet Paul tief            hauptet Paul. Schlimmstenfalls wer-        Minuten lenkt er das Gespräch auf die        gelbotschafter. Paul gibt Gas.             packt ihn immer wieder.
seiner Informanten. Für einen erfolg-       durch. Das Gefühl der Freiheit sei der      de er von einem Prominenten ver-           Wulffs. Wie der Bau ihres neuen Hau-             Noch einmal rast er an den Fel-            Morgen, sagt er, wolle er nach
reichen Hinweis steckt er ihm meistens      Grund, warum er Paparazzo wurde,            klagt. Seit das Internet den Paparazzi     ses vorangehe, will Paul wissen, und         dern vorbei. Es ist die letzte Chan-       London. Die Clooneys haben Nach-
einen Fünfziger zu. Die Wulffs radeln       sagt er. Er hat keine Wohnung und           Konkurrenz macht, sei alles noch           warum man die Wulffs nicht mehr so           ce, das Foto zu schießen. Es ist der       wuchs bekommen.

32                                                                                                                                                                                                                                                            33
A                                                                                                                                                                        SONJA UND ANKE SIND
              ls Sonja Düring eines Mor-
              gens die Tür öffnet, stür-
              men Polizisten in schwar-
              zen Sturmhauben und                                                                                                                                        ZWILLINGE. 42 JAHRE MACHEN
schusssicheren Westen ihr Haus. Ihre
Zwillingsschwester Anke hastet da-
rauf in den Keller, packt den Karton                                                                                                                                     SIE ALLES GEMEINSAM.
mit den Haschisch-Platten und rennt
durch die Hintertür in den Garten.                                                                                                                                       BIS AUFFLIEGT, DASS SIE 20 KILO
Polizisten, die das Gebäude in Fran-
ken von außen sichern, kreisen sie ein.
Handschellen klicken. Wenige Minu-                                                                                                                                       HASCH IN IHREM HAUS LAGERN.
ten später führen die Beamten Anke
zu einem Van. Die Türen fallen zu, der                                                                                                                                   DIE GESCHICHTE EINER
Van fährt fort. Sonja wird in einem an-
deren Wagen weggebracht.
     Ein Drogenhund erschnüffelt                                                                                                                                         TRENNUNG
kurz darauf einen zweiten Karton Ha-
schisch auf dem Dachboden. Insgesamt
20 Kilogramm der braunen, knetar-
tigen Masse haben die Schwestern im
Haus versteckt. Es sei der größte Dro-
genfund seiner Dienstzeit, wird der
zuständige Staatsanwalt später auf ei-
ner Pressekonferenz über den 8. April
2015 sagen.
     Sonja und Anke haben sich am
                                           Foto: privat

Abend vor der Verhaftung das letzte
Mal gesehen. Am Tag danach liegen
zwischen ihnen 110 Kilome­ter – so                                                                                                                                       T E X T Helena Ott
weit sind die beiden Haftanstalten

                                           BONNIE                                                                             & BONNIE
voneinander entfernt, in die sie ge-
bracht werden. Anke kommt nach
Nürn­­berg, Sonja nach Würzburg. Noch
wissen sie nicht, dass vor ihnen die
längste Trennung ihres Lebens liegt.
     Es ist ein Tag im Juni 2017. Sonja
und Anke sitzen mit steifen Oberkör-
pern an einem Holztisch im Besucher-
raum der Justizvollzugsanstalt (JVA)       Fragt man die Schwestern, warum und      Aber er erfährt von der Trennung          sich Sonja. Anke sich auch. Zusammen       macht sich Sorgen um Sonja, weiß          einen Brief an „Radio Z”, den Nürn-
Aichach und schildern den Morgen           von wem sie Drogen im Wert von           zweier Menschen, die ihr ganzes Le-       verließen sie die Realschule, um auf       nicht, ob sie die Trennung von ihrem      berger Gefangenensender. An einem
ihrer Verhaftung. Die zweieiigen           100.000 Euro kauften, schweigen sie.     ben gemeinsam verbracht haben. Er         die Hauptschule zu gehen. Zusammen         Kind übersteht.                           Sonntag zwischen 18 und 20 Uhr hört
Zwillinge sind leicht zu unterscheiden:    In ihrem Freundeskreis sei bekannt       erfährt, wie Geschwisterliebe Men-        gründeten sie einen Schreinerbetrieb.                                                Anke Sonjas Gruß im Radio. Dazu
Sonja hat blonde Locken und blaue          gewesen, dass man bei den Zwillingen     schen dazu bewegen kann, große Op-        Zusammen dealten sie mit Drogen.           In Untersuchungshaft schreiben sie        hat sich die Schwester für sie ein Lied
Augen. Anke hat braune Augen und           Gras kaufen könne, sagt ein Freund       fer für einander zu bringen.                   Der Richter erwähnt bei der Ur-           sich jede Woche einen Brief           von Rosenstolz gewünscht: „Ich geh in
glatte, rot-braun gefärbte Haare.          der beiden. Doch dass sie mit solchen         Bis zu ihrer Verhaftung hatten die   teilsverkündung ihr bis dahin „blüten-                                               Flammen auf“.
                                           Mengen dealten, habe niemand ge-         Schwestern von den 42 Jahren ihres        weißes Zentralregister”. Heute steht       Sechs Wochen vor der Verhaftung               Die beiden schreiben sich ein-
331 Tage schlafen die Schwestern           wusst. Möglich, dass die beiden Schul-   Lebens nur zweieinhalb Monate ge-         dort auf einer Seite: „Vorsätzliches,      war Sonja Mutter geworden. Sie muss-      mal pro Woche Briefe. Sie hätten
     in verschiedenen Zellen               den hatten. 2012 waren Anke und          trennt verbracht. Seit dem Auszug aus     unerlaubtes Handeltreiben mit Betäu-       te das Baby bei ihrem Verlobten zu-       so mehr kommuniziert als vor der
                                           Sonja in ein Haus gezogen, hatten es     dem Elternhaus teilten sie sich immer     bungsmitteln.“                             rücklassen. Immer wieder beschwert        Haft: „Wenn wir zusammen sind, re-
Die beiden teilen sich hier eine           selbst renoviert und umgebaut.           eine Wohnung, zuletzt bewohnte jede             In den ersten Tagen der Unter-       sie sich, dass sie ihr Kind nicht sehen   den wir nicht viel, da spüren wir uns
20 Quadratmeter große Doppelzelle               Wenn Sonja und Anke von der         ein Stockwerk des gemeinsam gekauf-       suchungshaft in Nürnberg sitzt Anke        darf. In Bayern gibt es in Gefängnissen   einfach”, sagt Anke. Gefühlsausbrü-
mit zwei Stockbetten, TV, Wasserko-        Zeit vor der Haft erzählen, huscht       ten Hauses. Ohne einander hätten sie      die meiste Zeit auf der zwei Zentime-      nur zehn Mutter-Kind-Plätze. Zu die-      che seien früher selten gewesen. In
cher und Leselampe. Wenn sie dort          manchmal ein Lächeln über ihre           weniger Spaß, fühlten sich weniger        ter dünnen Schaumstoffmatratze. Sie        ser Zeit sind alle belegt.                der Untersuchungshaft ändert sich
nicht eingeschlossen sind oder arbei-      Mundwinkel. Doch das täuscht nicht       stark, weniger sicher, sagt Anke. Für     versucht, die Geräusche ihrer fünf Zel-         Sonja pumpt also in Würzburg         das. „Wir saßen oft auf der Zelle und
ten, spielen sie Tischtennis, trainieren   über die Leere hinweg, die die Mona-     einen guten Freund der Zwillinge, der     lennachbarinnen auszublenden. Schon        ihre Muttermilch ab. Die Milch wird       weinten”, sagt Anke. Sie sagt nicht
im Geräteraum oder backen Brötchen,        te in ihre Gesichter gezeichnet haben.   beide seit dem Teenie-Alter kennt,        das Kaffeeschlürfen der anderen macht      tiefgefroren, alle zwei Wochen bringt     „ich“, sondern „wir“, als wären sie
weil ihnen das Gefängnisessen nicht        Monate, in denen sie sich nicht hören,   sind Sonja und Anke wie eine Per-         sie fast wahnsinnig. Eigentlich ist Anke   sie der Bruder der Zwillinge zum Kind.    damals nicht getrennt gewesen. Die
schmeckt. Eine Stunde pro Tag dürfen       sehen, trösten konnten.                  son. „Wenn nur eine der beiden einen      die kontaktfreudigere der Schwestern.      Von ihrem Bruder erfährt Sonja auch,      Tage vergehen langsam, sind bestimmt
sie im Freien verbringen, bei gutem             Wer mit den Zwillingen spricht,     Freund hatte, ging das nie lange gut”,    Im Gefängnis isoliert sie sich, spricht    wie schlecht es Anke geht. Um ihrer       vom Warten darauf, dass die Schlüssel
Wetter liegen sie dann in der Sonne.       erfährt wenig über ihr Verbrechen.       sagt er. Zu Beginn der Haft verlobte      nicht mit anderen Gefangenen. Sie          Schwester Mut zu machen, schickt sie      an der Zellentür klappern: Hofgang.

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