NÄHE KLARTEXT Das Magazin der Deutschen Journalistenschule Lehrredaktion 55A I Nr. 42 I 2017 - Deutsche Journalistenschule
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
EDITORIAL NÄHE KOTZT INS TREPPENHAUS. SIE RIECHT NACH KOKOSÖL UND SCHMECKT NACH KÄSE. SIE IST BRAUNES HARZ UND STRAFFES GUMMI. SIE ZERFRISST MENSCHEN, SIE VERSCHLINGT STÄDTE. NÄHE GEHT BARFUSS. SIE IST HÄSSLICH, LAUT UND KALT. SIE KRIBBELT. MANCHMAL KOMMT SIE MIT DER POST. SIE HEILT, SIE ZERSTÖRT. SIE IST EIN VERBRECHEN. IMPRESSUM NÄHE IST IMMER DA. SIE VERSTECKT SICH, NÄHE // KLARTEXT NR. 42 Das Magazin der Lehrredaktion 55A WIR HABEN SIE GEFUNDEN. Deutsche Journalistenschule HERAUSGEBER NÄHE IST IMMER EINE GESCHICHTE. Deutsche Journalistenschule e.V. Hultschiner Straße 8, 81677 München ÜBER SÜCHTIGE, FÜR DIE SIE ZUR LAST +49 89 2355740, www.djs-online.de WIRD. ÜBER EINSAME, FÜR DIE SIE ZUR post@djs-online.de QUAL WIRD. ÜBER KÄMPFER, DIE SIE STARK CHEFREDAKTION (V.I.S.D.P) Hannah Knuth, Fabian Swidrak MACHT. WEIL SIE MUTIG IST UND ANTREIBT. CHEFINNEN VOM DIENST Antonia Küpferling, Helena Ott TEXTCHEFS WIR WAREN BEI MENSCHEN, DIE UNS Matthias Bolsinger, Elisabeth Kagermeier BEWEGEN, UND DIE VON NÄHE BEWEGT BILDCHEF WERDEN: SIE SIND IN DEN WALD GEZOGEN, Erik Häußler ART DIRECTION INS ALL GEFLOGEN, SIE HABEN HÄUSER Georg mascolo, Leiter der Recherchekooperation Sarah Pache, Marlene Thiele VERSETZT UND MIT HASCH GEDEALT. von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung REDAKTION Irini Bafas, Matthias Bolsinger, Julia Haas, Erik Häußler, Elisabeth Kagermeier, Hannah Knuth, NÄHE IST AUFREGEND, NÄHE MACHT SPASS, Antonia Küpferling, Helena Ott, Sarah Pache, Johanna Sagmeister, MANCHMAL NERVT SIE, MEISTENS TUT SIE GUT. Jonas Seufert, Caspar Schwietering, Fabian Swidrak, Marlene Thiele, Vera Weidenbach SIE IST NUR EIN MOLEKÜL. BERATUNG SIE IST DAS SCHÖNSTE, WAS WIR KENNEN. Bene Benedikt (Konzept) Christian Bleher (Text) Daniel Etter (Fotografie) DIE REDAKTION Simon Hurtz (Online) Elisabeth Wallner (Layout) TITELFOTO Daniel Etter ANZEIGEN Jennifer Kalisch, DJS Schulungs- und Service UG (haftungsbeschränkt) Hultschiner Str. 8, 81677 München +49 5221 1211597 geschrieben mit der Waffe für informationsfreiheit. anzeigen@klartext-magazin.de DRUCK UND LITHOGRAFIE Lanarepro GmbH Südtirol, Peter-Anich-Straße 14, I-39011 Lana (BZ) Tel: +39 0473 498500 Setzen auch Sie ein Zeichen gegen Zensur mit ihrem WeaPen. WIR DANKEN erhältlich auf theweapen.com Natali Glisic, Nora Heinisch, Louis Kellner, Anna Mayr, Emily Schofield, Anna Schwietering, Niclas Seydack, Katrin Streicher, dem Team der DJS und der 55B
INHALT ER FOLGT IHM FREUND DURCH FEIND Ein Mann lebt seit 32 Jahren allein im Wald. Warum macht er das? Er ist 26, sie 51. Pegida bringt sie zusammen IM AUSSENDIENST LIEBE MACHEN Wenn der Job mehr verlangt. Vier absurde Anekdoten Ein Paar erzählt aus seinem Leben ohne Sex. Zwei Briefe WIE ENG IST ES DA OBEN, HERR REITER? ZUG UM ZUG Was man im All über Nähe lernt In Schweden muss eine Stadt umziehen. Geht das? DAHOME DIRIGENTIN DER LUST 226.000 Quadratmeter Amerika in der Oberpfalz. Ein Besuch Eine Sängerin verlässt die Oper, um Pornos zu drehen SIE KOTZT MICH AN. ICH MACHE MIR SORGEN HI FIVE Wie die alkoholkranke Nachbarin unseres Autors Teil seines Lebens wurde Geschichten aus dem Leben von Fünflingen MEINE ANGST SIE LIEBT MICH, SIE LIEBT MICH NICHT Wenn Nähe zur Qual wird. Wie lebt man mit Sozialphobie? Frau M. macht Cecilia Lambertis Leben zur Hölle JAGD MÄDCHENZIMMER Unterwegs mit Deutschlands erfolgreichstem Paparazzo Wie Prostituierte ihr Bordell zum Zuhause machen BONNIE & BONNIE „ICH SPÜRE JEDES KILO, DAS ER ZU VIEL HAT“ Sie waren immer zu zweit. Dann rissen 20 Kilo Hasch die Zwillinge auseinander Herr Arlt, Herr Wendl, liegen Sie gerne aufeinander? OMMMMM DER GROSSE LÖFFEL Bei Orgasmischer Meditation geht es nicht um Sex. Sicher? Ein Selbstversuch Elisa Meyer kostet 60 Euro die Stunde. Sie kuschelt SCHLUSS MIT DEM GESÜLZE 4 5
ER FOLGT IHM HEINRICH MAUCHER ZOG VOR 32 JAHREN IN DEN WALD. WEIL IHM DIE MENSCHEN ZU NAH WAREN. UND GOTT ZU FERN T E X T Marlene Thiele F O T O S Erik Häußler 6 7
GOTT IST ÜBERALL 6 STUNDEN B E T E T MAUCHER in der Einsiedelei. TÄ G L I C H Maucher hat Schilder mit Psalmen und frommen Sprüchen aufgehängt ZU EHREN MARIAS baute Maucher seine erste Grotte in den Wald S echsundvierzig Hütten stehen in Heinrich Mau- Fundament bis zur Dachverkleidung ist alles an den Gebäu- kam der Tag, an dem ihm die Menschen zu nah waren und chers Wald, auch zehn Kapellen, acht Türme, den Mauchers Werk. Er baut ohne Gerüst. Er sagt: „Gott Gott zu fern. Und an dem er daran etwas ändern wollte. vier davon mit Glocken, eine Grotte und eine hilft mir dabei.“ Mauchers Sehnsucht nach Gott wuchs, als 1981 seine Kirche von der Größe eines Einfamilienhauses. Mauchers Einsiedelei liegt im bayerischen Schwaben, Mutter starb, da war er 40. Der Vater kümmerte sich um Er hat alles selbst gebaut. Alles für Maria, die heilige Mut- rund 80 Kilometer von Augsburg entfernt. Wer sie betreten den Hof, Maucher begann zu pilgern: Zweimal war er in MAUCHER ARBEITET fast täglich an seinem Dorf ter Gottes. Manche sagen, er sei verrückt. Maucher sagt: „Es will, muss durch einen Wald. Gepflasterte Wege verbinden Lourdes, dreimal in Fátima, sechsmal in Israel, er reiste nach war Gottes Wille.“ dort die Hütten, trennen sich und kommen wieder zusam- Tunesien, Polen, Belgien, Spanien, Italien. Zwei Jahre später Vor 32 Jahren ist er in den Wald gezogen. Er lebt hier men, führen über eine sprudelnde Quelle und leiten zu den starb auch der Vater. Mauchers Geschwister waren wegge- ohne fließend Wasser, ohne Strom und ohne Internet, betet Kapellen. Überall stehen Töpfe voller Stiefmütterchen, Ge- zogen, eine Frau fand er nie. Der Hof lief immer schlechter: sechs Mal am Tag. Seine Geschichte könnte vom Rückzug ranien und Plastikblumen, mindestens 500 sind es. Immer Die Kühe wurden krank, drei Tierärzte konnten ihnen nicht von den Menschen und der Suche nach Gott handeln. Statt- wieder werden die Wege von Holzbögen überbrückt, an helfen. Mit 44 konnte Maucher die Rechnungen nicht mehr dessen handelt sie von einem Mann, der allein sein will, aber vielen ist ein Brett montiert. Darauf hat Maucher Psalmen bezahlen. Er betete, versuchte dabei mit seinen Eltern im nicht kann. oder fromme Sprüche geschrieben: „Ja, selig, die das Wort Jenseits Kontakt aufzunehmen. Er verkaufte nach und nach Ein Tag im Juni. Maucher fixiert einen Nagel mit der Gottes hören und es befolgen.“ Land und Vieh. linken Hand, in der rechten hält er einen Hammer, dann Dann ging Maucher in den Wald. Auf einem Stück schlägt er zu. Das Geländer seines Zauns hat sich an einigen Maucher war ein junger Mann, Land, das er geerbt hatte, baute er eine Grotte, darin ein Stellen von den Pfeilern gelöst, das will er jetzt reparieren. der feiern ging und Autos mochte Bildnis der Mutter Gottes. Er nannte den Ort Mariental. Seine schulterlangen grauen Haare formen einen Kranz, er Sein Briefkasten steht am Waldrand. trägt einen gestutzten Vollbart, eine hellblaue, ausgeleierte Der Ort, an dem aus Heinrich Maucher ein fanatischer Got- Während Maucher an seinem Zaun arbeitet, spazieren Basecap und ein langes Gewand in marineblau, der Farbe tesjünger wurde, liegt nur wenige Kilometer von der Ein- ein alter Mann und seine Enkeltochter durch die Einsiedelei. Marias. Um seinen Hals hängt meist ein großes, hölzernes siedelei entfernt. Maucher stammt aus Maria-Baumgärtle, Mit großen Augen bestaunt das Mädchen die vielen Kreuze, Kruzifix. Immer wieder nimmt er seine Schubkarre und einer Wallfahrtsstätte mit kaum 30 Häusern. Seine Eltern die heute zwischen den Bäumen stehen. Der Rückzugsort, eilt damit in die Werkstatt, um neue Nägel und Bretter für führten einen Bauernhof mit Kühen und Land. Als ältester den Maucher sich hier geschaffen hat, fasziniert die Men- den Zaun zu holen. Maucher ist 75. Er geht barfuß, auch im Sohn war er als Hoferbe vorgesehen. schen. Winter. Über die Jahre hat sich an seinen Zehen eine dicke Maucher sagt, dass er schon immer religiös war. Wie Wenn man mit Maucher spricht, versteht man ihn Hornhaut gebildet. viele in der Region war er Ministrant, ging sonntags in die kaum. Er redet selten in ganzen Sätzen. Häufig spricht er Es vergeht kaum ein Tag, an dem Maucher nicht arbei- Kirche. Ein normaler junger Mann, sagt ein Jugendfreund. in Schlagwörtern, hastig und in starkem Schwäbisch. Auf tet. Zuletzt hat er das Dach einer Hütte neu gedeckt. Vom Einer, der Autos mochte, auf Feiern ging. Aber irgendwann viele Besucher seiner Einsiedelei macht er einen verwirrten 8 9
DER DRITTE WELTKRIEG Eindruck. Sie beobachten ihn mit einer Mischung aus Ent- sich Maucher dorthin zurück, um zu Gott zu sprechen. Er stehe kurz bevor, glaubt setzen und Neugier. Maucher ist ein Mann, über den sich will lieber hier beten als in der Kirche. Maucher. Indizien findet er viele, die Menschen im Umkreis Geschichten erzählen. Die ersten Jahre im Wald war Maucher allein. Dann ka- sie stehen in diesem Buch Eine dieser Geschichten handelt von Mauchers ersten men immer mehr Besucher. Familien, Sängergruppen, so- Jahren im Wald. Das Landratsamt hatte die Grotte abreißen gar Bustouristen. Sie alle wollten den Einsiedler sehen. An lassen. Maucher baute eine neue. Angeblich hatten sich die manchen Sonntagen würden 150 Menschen kommen, sagt Arbeiter geweigert, diese ebenfalls zu zerstören. Einer ihrer Maucher. Eingeladen hat er sie nicht. Er sagt, dass sie ihn Kollegen soll nach dem ersten Abriss bei einem Autounfall vom Beten und Arbeiten abhalten. Hört man ihm zu, könn- gestorben sein. Hatte Gott den Eingriff verhindern wollen? te man meinen, Maucher wolle einfach wieder allein sein. Man ließ den einsamen Mann im Wald besser in Ruhe. Aber will er das wirklich? Heute zeigt Maucher Besuchern ein blaues Büchlein, Heinrich Maucher hat vor dem Tor zur Einsiedelei wenn sie es sehen wollen. Darauf steht: „Der dritte Welt- mehrere Parkplätze angelegt und eine Garage gezimmert. krieg in Prophetie und Vorausschau.“ Auf dem Cover Die Kapellen und die Kirche nutzt er nicht, sie sind für die schweben Engel mit Fanfaren über einem Atompilz. Wäh- Gäste. Er hat ihnen Wegweiser aufgestellt: „Zur Riesenfich- rend einer Wallfahrt habe er das Buch bei einem Seher te“, „Pilger-Pfad“. Der Hammer, mit dem er den Zaun re- gekauft, sagt Maucher. Er ist seitdem überzeugt, dass der pariert, ist ein Geschenk der Besucher, die Nägel auch. Sie nächste Weltkrieg unmittelbar bevorsteht. Die Hütten, die bringen Lebensmittel und Geld, Blumen und Bilder, die die er gebaut hat, sollen die Menschen schützen. Maucher sagt, Kapellen und Hütten schmücken. Ein Augsburger kommt am Ende blieben nur die Katholiken verschont. seit 20 Jahren, um Maucher zum Einkaufen zu fahren. Vor drei Jahren hat er ihm einen kleinen Traktor geschenkt, ZWEI DUTZEND MAL JESUS Viele Menschen wollen den Einsiedler sehen. Maucher bringt damit nun Baumstämme zum Sägewerk. und eine Bayernflagge – das ist Er hat Parkplätze angelegt und eine Garage gebaut Zwei Frauen begleiten ihn regelmäßig zur Messe. die Dekoration in Mauchers Schlafzimmer Maucher bezieht 160 Euro Rente. Er hat im Laufe der Maucher baute immer weiter. Verkaufte den Hof und er- Jahre wohl gemerkt, das Gottes Hilfe allein nicht reicht. Und richtete mit dem Erlös weitere Hütten. Dann Kapellen und dass er die Menschen doch mag, obwohl er sie verlassen hat. eine Kirche. Alles mit Brettern aus Fichtenholz. Die Bäume Es ist Nachmittag, der Zaun ist gerade repariert, da fällt er selbst. kommen drei Rentner mit Fahrradhelmen auf ihn zu. Ei- Die Kirche hat eine Empore und mehrere Sitzreihen, in ner der Männer legt ein Paket mit Wurst und Käse auf den ihr stehen unzählige Plastikblumen. In seiner eigenen Hütte, Tisch, die anderen beiden werfen Münzen in einen der Op- rund zehn Quadratmeter groß, hängen Kreuze und Bilder ferstöcke. Sie fragen: „Gibt es ein neues Haus, Heinrich?“ von Jesus über dem schmalen Bett. Weiter hinten gibt es Heinrich Maucher zögert. Eigentlich wollte er jetzt be- eine kleine, dunkle Nische. Mehrere Stunden am Tag zieht ten. Dann geht er auf die Männer zu. RUND 200 KREUZE stehen im Wald. Es sind ehemalige Grabmarkierungen, die Maucher von Besuchern geschenkt bekommen hat 10 11
IM P R O T O K O L L E Irini Bafas, Julia Haas, Vera Weidenbach F O T O S Daniel Etter SIE WOLLEN EINFACH NUR IHREN JOB MACHEN. AUSSENDIENST IHRE KUNDEN ABER ÜBERSCHREITEN IMMER WIEDER GRENZEN. VIER ABSURDE BEGEGNUNGEN Daniel Brown, 38, Altenpfleger Viviana Pirroni, 37, Depiladora Stefanie Thanner, 31, Friseurin Alexander Gerber, 29, Türsteher Einer meiner Lieblinge war ein grantiger alter Mann, Wenn die Leute in mein Waxingstudio kommen, habe Ich rede beim Haareschneiden nicht über das Wetter. Ich entscheide, wer in den Club kommt und schlichte 90 Kilo schwer. Für uns Pfleger war es sehr anstrengend, ich eine gewisse Macht über sie. Ich habe viele reiche Kun- Wenn wir uns schon unterhalten, dann bitte mit Inhalt. Am Streits. Oft aber muss ich für Frauen den Retter spielen: Ich ihn umzudrehen oder aus dem Rollstuhl zu heben. Er hat dinnen, die von einem Chauffeur vorgefahren werden. liebsten aber mag ich schweigende Kunden, schließlich sind soll sie vor Verehrern schützen. Manchmal ist es auch nur nur rumgemault, ist nie zu den Veranstaltungen des Senio- Menschen, die mich auf der Straße überhaupt nicht beach- wir Fremde. Dann entspannen wir beide und ich konzent- eine Masche, um mich kennenzulernen. Letztens hat mich renheims gegangen. Den ganzen Tag saß er in seinem Sessel ten würden. Doch wenn sie zum Waxing kommen, plau- riere mich auf die Arbeit. Als ich 15 war, zu Beginn meiner ein Mädchen gebeten, mit ihr zu flirten, um ihre Begleitung vor Bildern von verstorbenen Familienmitgliedern oder hat dern sie ihre Geheimnisse aus. Die Frau eines bayerischen Lehre am Tegernsee, hat sich ein Kurgast aber zu sehr ent- eifersüchtig zu machen. Er zeigte ihr zu wenig Engagement. Fernsehen geschaut. Irgendwann hatte keiner von uns Pfle- Regierungsmitglieds hat mir erzählt, dass ihr Mann letzte spannt: Während ich ihm den Kopf massierte, bewegte sich Sie suchte immer wieder meinen Blickkontakt, kam zu mir gern mehr Lust auf ihn. Da habe ich ihn nach Feierabend in Woche fremdgegangen sei. Ich weiß genau, in welchem plötzlich etwas im Schoß unter seinem Umhang auf und ab. rüber. Er saß allein auf der Couch und wartete. Ein Lächeln den Rollstuhl gesetzt und in den Englischen Garten gefah- Hotel und mit wem. Weil ihr Mann öffentlich bekannt ist, Er verzog merkwürdig das Gesicht. Am Anfang war ich un- von mir, eine Umarmung, ein paar Sekunden länger, als es ren. Er hat den ganzen Weg geflucht. Sei doch mal still, habe hat sie sonst niemanden, mit dem sie darüber sprechen kann. sicher, was passierte. Als mir klar wurde, dass er sich gerade für eine freundschaftliche Berührung normal wäre: Schon ich gesagt. Am Chinesischen Turm haben wir ein Bier ge- Der Skandal könnte ja in ein Klatschblatt gelangen. Mir aber einen runterholte, war ich total schockiert. Ich konnte nicht zahlte er ihr alle Drinks. Wenn eine Frau süß ist, spiele ich trunken. Da hat er plötzlich angefangen, von seiner Jugend vertraut sie. Ihre Wut ist aus ihr herausgebrochen, ich muss- reagieren. Zum Glück war ich nicht allein im Laden. Mei- gerne mit. Mehr als ein kleiner Flirt ist es ja nicht, ein biss- zu erzählen und dass er mit seiner Frau mal hier war. Auf te Psychologin spielen. Mit den Liebesgeschichten meiner ne Meisterin hat sofort gemerkt, was los war, und ihm den chen Spaß während der Arbeit. Wenn mir eine zu stressig dem Heimweg habe ich gefragt: War das jetzt so blöd? Nein, Kunden könnte ich mittlerweile einen Beziehungsratgeber Umhang heruntergerissen. Da saß er dann völlig entblößt, wird, drücke ich den Funkknopf im Ohr und täusche einen war nicht blöd, hat er geantwortet. schreiben. während sie zum Telefon griff und die Polizei rief. Einsatz vor. 12 13
Thomas Reiter verbrachte mehr Zeit im Weltraum als jeder andere Europäer. Ein Gespräch darüber, was man in der Ferne über Nähe lernt WIE ENG IST I N T E R V I E W Hannah Knuth und Fabian Swidrak ES DA OBEN, HERR REITER? 14
T 350 homas Reiter verließ die PINK FLOYD IM ALL Erde zweimal. Für 350 Tage, Wenn Thomas Reiter von 55 Stunden und 40 Minuten oben auf die Erde blickte, war er getrennt von Fami- hörte er oft Musik. Auf der lie und Freunden, von allem Bekann- ten – lebte nur mit seinen Kollegen russischen Raumstation MIR griff er selbst zur Gitarre TA G E L E B T E auf engstem Raum im All. Reiter, 59, kann erzählen, was dieser Kontrast mit R E IT E R IM einem Menschen macht. Es war 1995, W E LT A L L als er zur russischen Raumstation MIR flog, wo er als erster Deutscher in den Weltraum ausstieg. 2006 lebte er für ein halbes Jahr auf der internationalen Raumstation ISS. Heute berät Thomas Reiter den Generaldirektor der Euro- päischen Weltraumorganisation ESA. Herr Reiter, gibt es auf der ISS einen Putzplan? Thomas Reiter: Jeden Samstag stand Mission auf der russischen Raumsta- Nummer auf der Erde anrufen. Einmal Wie haben die Aufenthalte im Putzen auf dem Arbeitsplan. Da muss- tion MIR war während des Tschet- pro Woche gab es außerdem eine Vi- All Ihr Verhältnis zu Ihren Mit- ten alle mitmachen. Es war klar fest- schenien-Konflikts. Da hatten meine deokonferenz. Dabei konnte ich meine menschen auf der Erde verändert? gelegt, was sauber zu machen ist. Die beiden russischen Kollegen eine sehr Familie zuhause sehen. Manchmal hat- Ich bin entspannter geworden im Um- Oberflächen mussten zum Beispiel dezidierte Meinung, die sich nicht un- ten sie auch Nachbarn oder Freunde gang mit Menschen. Wenn ich an der desinfiziert und die Luftfilter gereinigt bedingt mit meiner gedeckt hat. Darü- eingeladen. An Bord der MIR, 1995, Supermarktkasse oder im Stau stehe werden. So verging dann immer ein ber haben wir dann einfach nicht ge- war das nicht so einfach. und ungeduldig werde, erinnere ich ganzer Vormittag. sprochen. Wieso? mich an das beruhigende Gefühl, das Können wir uns das Zusam- Wie würde man an Bord einer Wir hatten damals nur einmal pro ich hatte, als ich von weit weg auf un- menleben im All vorstellen wie in Raumstation überhaupt streiten? Woche die Möglichkeit, mit unseren sere Welt geschaut habe. Das war tief- einer WG? Man kann der Situation ja nicht Familien zu sprechen. Alle zwei Wo- greifend, intensiv, weil es jenseits des Auf der Raumstation ist es ähnlich eng entfliehen. chen gab es eine Videoverbindung, normalen Erfahrungshorizontes war. wie in einer Studentenbutze. Trotz- Ich hatte erwartet, dass solche Situa- während der meine Kollegen und ich Haben Sie nach Ihren Missio- dem sitzt man nicht die ganze Zeit tionen auftreten, aber es ist nicht pas- immer zusammen vor der Kamera sa- nen gefremdelt? aufeinander. Es gab Phasen, in denen siert. Denn jeder von uns wusste, dass ßen. Unsere Familien mussten dafür Nein, es war schön, aber anstrengend, ich meine Crewmitglieder kaum ge- er auf den anderen angewiesen ist. in das russische Kontrollzentrum nach plötzlich wieder unter so vielen Men- sehen habe, weil alle in verschiedenen Wenn einer aus der Crew an einem Moskau kommen. Wir hatten insge- schen zu sein. Nach meiner zweiten Fotos: ESA/NASA Modulen der Raumstation beschäftigt Montag mal den „Blues“ hatte, ein biss- samt 40 Minuten Zeit, jeder durfte Mission gab es in Houston einen gro- waren. Wenn ich dann spätabends chen bedrückt oder introvertiert war, reihum fünf Minuten mit seiner Fami- ßen Empfang, da saß ich dann auf endlich mal zur Ruhe kam, schwebte haben die anderen immer versucht, lie sprechen. einer Bühne und musste zahlreiche ich gerne vor einem der Fenster, hörte den ein bisschen mitzureißen. Da wur- Ein halbes Jahr getrennt von Fragen beantworten. Das war zwar Musik, zum Beispiel Pink Floyd, und den dann einfach ein paar Scherze ge- Familie und Freunden, immer die- toll, aber ich war sehr geschafft, weil genoss den überwältigenden Blick auf macht. selbe Umgebung, immer dieselben ich erst seit kurzer Zeit wieder in der die Erde. Wie kann man sich denn zu- Menschen – vergeht die Zeit an Schwerkraft war. Haben Sie außer Putzen nichts rückziehen, wenn man mal Ruhe Bord einer Raumstation schneller Ein Glück, dass Astronauten gemeinsam gemacht? braucht? oder langsamer als auf der Erde? nach ihrer Rückkehr erst einmal Die Freizeit ist begrenzt, aber am Frei- flikt zwischen Israel und Libanon: Wir in unseren Köpfen behindert werden. Auf der ISS gibt es für jedes Besat- Die ersten drei Monate vergehen wie in Quarantäne müssen. tag- oder Samstagabend ließen wir die flogen über den Norden der Sahara, Aus dem Weltraum betrachtet gibt es zungsmitglied eine kleine Kajüte. im Flug. Da funktionierst du einfach Ich kam nach dieser Veranstaltung Arbeitswoche meistens gemeinsam waren hin und weg von dem Anblick, keine Landesgrenzen. Es wird einem Wenn ein Versorgungsraumschiff und alles ist toll. Danach wird dir lang- in die Quarantänestation, einen Tag ausklingen. Wir haben dann einen den Farben, und sahen dann plötzlich bewusst, dass wir dringend Lösungen Briefe von der Familie und Freunden sam bewusst, wie eng es dort oben vor Weihnachten, kein Mensch weit Film angesehen oder zusammen aus den Rauch über Beirut. Da wurden wir für die wirklich großen Probleme fin- gebracht hat oder ich Emails geschrie- ist und dass du doch auf viele Dinge und breit, und am Kühlschrank hing dem Fenster geschaut und sind bei in die Realität zurückgerissen. den müssen, wie Klimaveränderungen ben habe, waren das die Momente, verzichten musst: frisch zubereitetes ein Aufkleber: „Hi Thomas, welcome dem Ausblick ins Philosophieren ge- Fühlt man sich dieser Realität und Kriege. in denen ich allein sein wollte. Dann Essen oder den Geruch einer gerade back, food is in the fridge.“ Da dachte kommen. überhaupt noch zugehörig, wenn Waren Sie sich in solchen Ge- konnte ich die Tür zumachen und war gemähten Wiese. Nach vier Mona- ich mir: Ich komme doch jetzt nicht Worüber haben Sie in solchen man 400 Kilometer entfernt von sprächen mit Ihren Kollegen im- für mich. ten schaute ich das erste Mal auf den wirklich nach einem halben Jahr aus Momenten gesprochen? der Erde durchs All fliegt? mer einig? An Bord der ISS leben Wie haben Sie die Distanz zu Kalender, um zu sehen, wie lange die dem All zurück, um ein paar trocke- Wenn Sie da oben lesen, was auf der Definitiv, ja. Ich habe mir beim An- ja auf engem Raum Menschen aus Ihrer Familie ausgehalten? Mission noch dauert. Aber generell ist ne Sandwiches zu essen? Trotz der Erde gerade so passiert, dann fragen blick aus dem Erdorbit nicht etwa sehr verschiedenen Kulturen. Ich konnte fast jeden Tag mit meiner die Zeit unheimlich schnell vergangen. Bedenken meines Crewarztes sind Sie sich: Warum ist es für uns Men- gedacht: Jetzt schaut mal, wie ihr da Die ISS ist kein Ort, an dem man po- Familie telefonieren, und wenn es Kaum war ich wieder am Boden, fie- wir dann in ein Restaurant gegangen. schen so schwierig, miteinander auszu- unten zurecht kommt. Wir haben litische oder religiöse Sichten aus- auch nur eine Minute war, zum Bei- len mir so viele Sachen ein, die ich dort Einen Tag nach der Landung einen kommen? Als ich 2006 an Bord der ISS große Probleme auf der Erde, deren fechtet. Man entwickelt eine Sensibi- spiel in der kurzen Mittagspause. Von oben noch gerne gemacht oder mir an- frisch zubereiteten Salat zu vertilgen, war, gab es einen bewaffneten Kon- Lösungen teilweise nur von Grenzen lität für heikle Themen. Meine erste der ISS aus kann man jede beliebige geschaut hätte. hat sich überirdisch angefühlt. 16 17
DAHOME T E X T E Johanna Sagmeister F O T O S Daniel Etter GRAFENWÖHR WÄRE EINE VERSCHLAFENE KLEINSTADT IN DER OBERPFALZ, WÜRDEN DORT NICHT 22.000 US-AMERIKANER LEBEN 18 19
THINK BIG RESTART Amanda Coachiarella holt Für Asif Mubarak sieht die Oberpfalz wie ein Postkartenmotiv ihre Söhne, anders als sie es aus: sauber, grün, idyllisch. Vor drei Wochen kam er mit in den USA getan hat, häufig seiner Frau und den Kindern nach Deutschland. Davor war zu Fuß von der Schule ab. Ihr er in Korea stationiert, wo auch seine Tochter geboren wurde. Reihenhaus in der Henry- Alle zwei bis drei Jahre muss die Familie Mubarak an einen Kissinger-Straße liegt gleich neuen Standort ziehen. In der Kaserne funktioniert von der neben dem Kasernengelände Post bis zum Tanken alles so, wie Mubarak es aus seiner mit amerikanischen Heimat Texas gewohnt ist. Das hilft ihm beim Neustart. Schulen, einer Kirche und einem Gemeindezentrum. Diese Wohnsiedlung für 3600 Militärangehörige ließ das amerikanische Verteidigungsministerium vor elf Jahren bauen. Es war eines der größten Wohnbauprojekte Bayerns. Coachiarellas Mann ist als Fallschirmspringer oft auf Einsätzen oder Weiterbildungen, deshalb sei es in Grafenwöhr die meiste Zeit „just me and the kids“, erzählt die Mutter. PARALLELWELT Im bayerischen Grafenwöhr gibt es einen Ort, an dem mit Seit mehr als 70 Jahren nutzt die US-amerikanische Armee Dollar bezahlt wird, an dem der Strom mit 110 Volt fließt den Truppenübungsplatz in der Oberpfalz. In der Fläche und das Wasser gechlort ist. An dem sich amerikanische ist er größer als Düsseldorf. Zäune mit grünem Sichtschutz Supermärkte, Thrift Shops, mehrere englischsprachige trennen die stark bewachte Kaserne vom Rest der Kleinstadt. Schulen und Kindergärten aneinanderreihen. Hier leben Der Sicherheitsdienst kontrolliert am Eingangstor jeden US-Soldaten mit ihren Familien in einer Parallelwelt, die für Pass, durchsucht die Kofferräume der Autos. Auch die sie ein Stück Heimat in der Fremde ist. Soldaten müssen durch diesen Sicherheitscheck. 20 21
POPCORN Im Sekretariat machen die Lehrer Popcorn, in der Kantine gibt es Tacos. Manche Kinder glauben in den ersten Wochen ihres Aufenthalts, dass sie immer noch in den USA sind. Dann fragen sie ihre Lehrer, warum die Menschen außerhalb der Kaserne so komisch reden. Einen verpflichtenden Deutschkurs für die Kinder gibt es nicht, dafür das Fach „Host Nation“, in dem sie etwas über die deutsche Kultur lernen sollen. Ansonsten wird nach US-Lehrplan unterrichtet. Die Elementary School auf dem Netzaberg – eine von sechs amerikanischen Schulen in Grafenwöhr – hat 830 Schüler. KEEP ROLLING STREETSTYLE Walter Brunner mag die freundliche „Like in the South“ möchte Josh mit Art der Amerikaner. Deshalb ist er seinen goldenen Grillz aussehen – vor 25 Jahren von Nürnberg nach ganz wie die Rapper aus New Orleans, Grafenwöhr gezogen. Als Präsident Atlanta oder Miami. Sie haben den des Kontakt-Clubs versucht der Trend geprägt, Josh möchte ihn nach 88-Jährige, Deutsche und Amerikaner Deutschland bringen. Seine falschen zusammenzubringen. Doch die Goldzähne kann Josh nur tragen, wenn jungen Soldaten interessieren sich er ohne Uniform außerhalb der Kaserne nicht mehr für die Stammtische, unterwegs ist. Bei der Armee ist der Museumsbesuche oder Filmabende, Zahnschmuck verboten. die er organisiert. Zum wöchentlichen Bowlingtreff kamen zuletzt zwölf Deutsche und ein Amerikaner. Die Soldaten hätten keine Lust, ihre Freizeit in der Provinz zu verbringen, sagt Brunner. Sie würden lieber in Großstädte fahren. Auch die häufigen Umzüge der Soldaten erschwerten den Austausch. So bleibt Brunner die einzige Konstante im Club. 22 23
SIE MACHT SEIT DREI JAHREN HAT UNSER AUTOR EINE ALKOHOLKRANKE NACHBARIN. ER WOLLTE NIE MICH TEIL IHRES LEBENS SEIN – UND WAR ES DOCH SEIT DER ERSTEN BEGEGNUNG WÜTEND. T E X T & F O T O Erik Häußler ICH HELFE IHR. SIE KOTZT A ls ich Frau R. das letzte Mal nicht, wie es ihr geht. Ich will nicht über sie und die anderen lachen mit. sah, spuckte sie Blut. Sie mit ihr reden, schon gar nicht plau- Diese Frau müsste mich nicht weiter rief um Hilfe, ich holte die dern wie mit einer normalen Nachba- kümmern, sie könnte einfach die lusti- Sanitäter. „Wie viel haben rin. Denn das ist Frau R. nicht. Ich will ge Party-Geschichte bleiben. Sie heute getrunken?“, fragte einer der nur wissen, ob sie noch lebt. Frau R. aber ist mehr. Sie macht MICH AN. beiden Frau R. „Nicht viel“, antwortete Die Klingel ist kaputt, also klopfe mich wütend. Ich helfe ihr. Sie kotzt sie, ihre Stimme klang piepsig. ich. Zunächst so zögerlich, als wollte mich an. Ich mache mir Sorgen. „Nur eine Flasche Wodka“. Stille ich gar nicht, dass sie mich hört. Ich Drei Monate nach meinem Einzug im Raum. lausche. Nichts. Ich klopfe kräftiger. kamen die Sorgen zum ersten Mal. Es „Trinken Sie häufiger?“ Niemand rührt sich. war Juli. Die Wohnungstür von Frau ICH MACHE „Seit 30 Jahren.“ Seit über drei Jahren wohne ich R. stand einen Spalt offen, Schluchzen „Wissen Sie, dass Sie daran sterben im selben Haus wie Frau R. Sie im ers- drang in das Treppenhaus. „Mama, können?“, schrie der Sanitäter sie an. ten, ich im fünften Stock. Gleich nach Mama“, rief eine kindliche Stimme fle- Mein Magen krampfte. meinem Einzug wurde ich vor ihr ge- hend. Ich blieb auf den Stufen stehen. Es war einer dieser intimen Mo- warnt. Werde bei ihr ein Paket abge- Hatte Frau R. eine Tochter? Die Rufe mente aus dem Leben meiner alko- geben, stehe sie beim Abholen meist waren so laut, dass sie auf der Straße MIR SORGEN. holkranken Nachbarin, die mich seit sturzbesoffen an der Tür, erzählte zu hören waren. Niemand kümmerte Jahren begleiten. Nie wollte ich ein mein neuer Mitbewohner. Er lachte. sich. Was, wenn Frau R. tot in ihrer Teil davon sein und war es doch seit Sechs Wochen nach meinem Ein- Wohnung lag und ihre Tochter sie dem Tag, als ich ihr Nachbar wurde. zug begegnete ich ihr das erste Mal. Im leblos gefunden hatte? Ich drückte vor- Ich kenne diese Frau nicht und war ihr Innenhof kam mir eine Frau mit dicker sichtig die Wohnungstür weiter auf. doch schon so nah. Ich weiß, wie sie Brille, faltigem Gesicht und kurzer, „Hallo, brauchst du Hilfe?“ Keine Re- zwischen den Beinen aussieht, kenne brauner Dauerwelle entgegen. Eine aktion. Hineingehen wollte ich nicht. aber nicht einmal ihren Vornamen. Ich Frisur, wie sie viele alte Damen tragen, Ich rief die Polizei. Als die zwei Beam- weiß, wie ihr Kot riecht, aber nicht, ob nur ungepflegter. Grußlos ging sie an ten die Wohnung betraten, fanden sie sie eine Familie hat oder mit wem sie mir vorbei. Ich schaute ihr erschro- nur Frau R. Es waren ihre Rufe gewe- ihren Geburtstag feiert. 53 Jahre soll cken hinterher und wusste sofort, dass sen, die ich gehört hatte. sie alt sein, das hatte sie der Polizei ge- sie es war: Frau R. war von der Hüfte Die Polizisten nahmen Frau R. mit. sagt. Ich hätte sie auf 68 geschätzt. bis zu den Füßen nackt. Danach sah ich sie länger nicht. Viel- Drei Monate nach unserer letzten Von dieser ersten Begegnung er- leicht war sie in Therapie. Das sagten Begegnung stehe ich vor ihrer Woh- zähle ich noch heute, wenn ich erkläre, auch die anderen Nachbarn immer nungstür. Ich habe seither nichts von wer die verrückte Alte im ersten Stock dann, wenn es für längere Zeit ruhig ihr gehört, sie nicht gesehen. Ich weiß ist, die zu viel trinkt. Ich lache dann war um Frau R. 24 25
72 Als sie wieder da war, merkte ich und eine Blümchenbluse, unter der schnell, dass es ihr nicht besser ging. ihr Badeanzug zu sehen war. Hinter Es ist die Wohnungstür, die jeden ihr lief ein Mann mit Drei-Tage-Bart, neuen Absturz ankündigt. Sie steht ei- er lächelte. Sie grüßte euphorisch. Die nen Spalt offen. Dann strömt der süß- beiden verließen Händchen haltend lich-modrige Geruch aus der Woh- nung ins Treppenhaus. STUFEN das Haus. Ich sah den Mann nicht wie- TRENNEN In den Wochen nach ihrer Rück- I HR LEB EN der. Wenige Wochen danach stand kehr wurden meine Mitbewohner und VON SEINEM die Wohnungstür erneut einen Spalt ich nachts aus dem Schlaf geklingelt, offen. Frau R. auf dem Weg in den weil Frau R. sich ausgesperrt hatte. nächsten Abgrund. Wimmernd saß Vier, fünf Mal hintereinander, bis wir sie im Treppenhaus. „Können Sie mich die Klingel abstellten. Jede Nacht das- in die Wohnung bringen?“, fragte sie. selbe. Ihr Verhalten kotzte mich an, Der Geruch von Alkohol und Unge- sollte sie halt aufhören zu saufen. Auch pflegtheit umgab sie. Sie griff mein Frau R. war wütend und riss die Blu- Handgelenk, zog sich langsam daran men aus dem Beet vor unserem Haus. hoch und hakte sich unter. Es war das „Wir sind für solche Fälle nicht erste Mal, dass ich ihre faltige, lederne zuständig“, sagte ein Polizist. „Küm- Haut berührte. „Wo soll es denn hin- mern Sie sich doch, Sie sind schließlich gehen?“, fragte ich. „Ins Schlafzimmer“, Nachbarn.“ stammelte sie. Frau R. ist keine Nachbarin für mich. Sie ist eine Last. Manchmal Die Nachbarn von Frau R. wollen schäme ich mich für diesen Gedanken, nicht in der Lokalzeitung landen meistens aber nicht. Natürlich half ich Parkettboden. Sie hatte in ihren Flur ihr trotzdem, wenn sie weinend vor gemacht und den Kot verschmiert. Ich Ich wollte das nicht. Wieder eine mir im Treppenhaus lag, zwei Schnäp- zog die Tür zu und ließ die Frau mit Grenze überschreiten, wieder näher se und ein Bier neben sich. Sonst tat es dem Gestank allein. Ihre Sucht, ihre ran an die Fremde. Ich tat es trotzdem. keiner. Die anderen Nachbarn stiegen Probleme, ihr Leben. Mit tapsigen Schritten ging sie an mei- über ihre dünnen Beine hinweg oder An anderen Tagen glaubte ich, auf ner Seite, vorbei an leeren Schnapsfla- knallten die Türen zu. Frau R. aufpassen zu müssen. Als ich schen, bis sie am Bettrand Halt fand. das erste Mal einen unrasierten Frem- Sie krabbelte auf die Matratze, die Frau R. hat häufig Untermieter. den vor ihrer Wohnung traf, war ich Schlappen behielt sie an. Ich schaltete Auch sie helfen ihr nicht misstrauisch. Er wolle schauen, wie es das Licht aus, zog die Wohnungstür der Dame gehe, der er am Nachmittag hinter mir zu und atmete tief durch. Frau R. hat offensichtlich niemanden auf der Straße geholfen habe, sagte er. Nur wenige Wochen später aus der Familie, der sich um sie küm- Es war kurz nach ein Uhr nachts, ich spuckte Frau R. Blut. mert. Als ich sie fragte, wer einen Er- blieb neben ihm im Treppenhaus ste- Jetzt stehe ich vor ihrer Woh- satzschlüssel zur Wohnung habe, fiel hen. Frau R. öffnete im Seiden-Nacht- nungstür, will wissen, was mit ihr ihr niemand ein. Ein Nachbar sagte, hemd die Tür, begrüßte den Fremden ist. „Ich will keiner dieser Menschen die Wohnung gehöre ihrer Mutter. trunken und bat ihn zu sich herein. Er sein, deren Nachbarin stirbt und über Auch eine Schwester soll sie haben. war nicht der einzige Fremde, der sie Wochen unbemerkt in der Wohnung Gesehen habe ich beide noch nie. Frau nachts besuchte. liegt“, hat die Studentin aus dem zwei- R. hat auch häufig Untermieter, Stu- Nüchtern war Frau R. nie, wenn ten Stock einmal gesagt. Auch ich den- denten oder Kurzzeit-Praktikanten, ich sie angetroffen habe. Ich redete ke oft so. Ich sorge mich aus Egoismus. wie sie das regelt, weiß ich nicht. Ich nur mit ihr, wenn sie hilflos war. Ein Ich will nicht in der Lokalzeitung lan- weiß nur: Auch denen ist die Dame Gespräch entstand trotzdem nie. Ich den. egal. Selbst wenn Frau R. so laut um fragte, wie es ihr gehe, wo ihre Unter- Nach meinem dritten Klopfen öff- Hilfe ruft, dass ich es im Treppenhaus mieter seien. Ich versuchte, freundlich net sich die Tür. Es ist nicht Frau R., höre, sagen ihre Mitbewohner, sie hät- zu sein – und klang dabei, als redete die vor mir steht, sondern ein Unter- ten nichts gehört. ich mit einem Kind. Mit ihr, die mei- mieter. Frau R. sei weg, seit zweiein- Manchmal gehöre auch ich zu ne Mutter sein könnte. Begegnete ich halb Monaten, sagt er. Sie sei im Ge- diesen Ignoranten. Dann, wenn ich ihr Tage nach einem Zusammenbruch fängnis gewesen, zu häufig habe sie das Leben von Frau R. einfach nicht wieder, wechselten wir nicht mehr als Schnaps geklaut. Inzwischen liege sie mehr sehen kann. Einmal stieg mir einen kargen Gruß. Ich glaube, dass im Krankenhaus. „Ich weiß nicht ein- ein beißender Gestank in die Nase, als sie nicht einmal weiß, in welchem Zu- mal, ob sie noch lebt.“ Seine Stimme ich die Tür zum Treppenhaus öffnete. stand ich sie schon erlebt habe. stockt. „Sie ist eine gute Frau, die ein- Mir wurde schlecht. Ihre Wohnungs- Nur einmal sah ich meine Nachba- fach zu viel trinkt“, sagt er. „Das wird tür stand offen und ich sah mehrere tellergroße, braune Flecken auf dem rin glücklich. Es war Sommer. Frau R. hatte einen Strohhut auf, trug Shorts schon wieder“, antworte ich. Obwohl ich weiß, dass es nicht stimmt. JETZT SPONSOR WERDEN WWW.LMU.DE/GOLFEN 26 27
SIE IST ANFANG 40, WILL SICH VERLIEBEN, FREUNDE FINDEN. ABER SIE SCHAFFT ES NICHT. AUS EINEM LEBEN MIT SOZIALPHOBIE ANGST MEINE M P R O T O K O L L Antonia Küpferling eine Angst kommt nicht als Gefühl, sie kommt in Form von Bedenken. Oft bin ich von einer Idee spontan begeistert, will etwas Neues ausprobieren. Einen Menschen kennenlernen. Dann kom- men von Tag zu Tag mehr Zweifel. Dann sage ich mir: Du bist nicht gut genug für andere. Und wage nichts. Wenn ich etwas unternehme, dann al- lein. Ich schäme mich dafür. Dabei kann ich mutig sein: Ich war klettern und beim Bungee Jumping. Meine Angst ist keine vor der Gefahr. Es ist eine Angst vor Beziehungen, vor dem, was zwischen Menschen passiert. Vor Nähe. Kindergeburtstage brachten sie zum Weinen An eine Zeit ohne meine Angst kann ich mich nicht erinnern. Sie war schon da, als ich ein Kind war. Wegen ihr hatte ich keine Freunde. Niemanden, der mich ins Kino begleitete. Also ging ich allein. Zu Kindergeburtstagen lu- den andere ihre besten Freunde ein. Die Gäste auf meinen Geburtstagen: Cousins, Tanten und Onkel. Kinder von Bekannten, die meine Eltern ein- geladen hatten. An diesen Tagen war ich traurig. Oft weinte ich. A Mutter war ganz anders als ich, sie hatte viele Freunde. „Mama“ kann ich sie nicht nennen, das hat sie nicht ver- dient. Denn verstanden hat sie mich und meine Angst nie. Das Fahrradfah- ren hat sie mir unter Ohrfeigen bei- gebracht. Ich glaube, dass ein Mensch vieles verkraften kann, wenn er we- nigstens einen Menschen hat, der ihm Halt gibt. Der ihm ein Anker ist. Ich hatte ihn nicht. Stattdessen hatte ich eine Mutter, die mir immer wieder das Gefühl gegeben hat, ich sei nicht in Ordnung. Meine Angst lässt mich keine Be- ziehungen eingehen. Mit Mitte 20 hat- te ich einen Partner, das war eine Aus- nahme. Als ich ihn kennenlernte, hatte ich Panikattacken, ging immer wieder einen Schritt zurück. Aber er hatte sehr viel Geduld. In dieser Beziehung erlebte ich Nähe. Dieses warme Gefühl des Vertrauens. Seitdem nie wieder. Leider lebten wir uns auseinander, si- cher auch wegen meiner Angst. Ich würde gerne wieder einen Mann fin- den. Ich glaube, ich könnte sein Leben trotz allem bereichern. Es kann aber gut sein, dass das nicht mehr klappt. Meine Angst ist auch heute noch da. Noch immer denke ich, nicht gut genug zu sein. Ich wünsche mir Nähe. Aber ich bin gut darin, sie zu zerstö- ren. Ich kann oft nicht anders. Ich habe vor einiger Zeit begonnen, Grundschullehramt zu studieren. An der Uni habe ich mal eine Studentin kennengelernt, mit der ich mich gut verstanden habe. Wir haben uns privat getroffen. Sie erzählte von ihrer Fa- milie und ihren Freunden. Was hätte ich ihr erzählen sollen? Ich habe nichts davon. Trotz ihrer Ängste arbeitet sie als Erzieherin In solchen Situationen fange ich an zu überlegen, was ich jetzt tun muss, da- mit Vertrauen entsteht. Ich versuche dann krampfhaft zu tun, was von mir erwartet wird, und nicht das, was ich gerne tun würde. Ich bin dann nicht mehr ich selbst und wirke angestrengt. Mein Gesprächspartner merkt das. Das entfernt mich von den Menschen, die mir vielleicht hätten nah kommen können. Auch von meiner Kommili- tonin. Freundschaften würden mir Kraft geben. Aber ich habe keine Kraft, Freundschaften zu schließen. Von selbst kommt niemand zu mir. Es ist ein Teufelskreis. Meine Angst lässt mich nur in meinem Beruf in Ruhe. Vor meinem Studium habe ich als Erzieherin ge- arbeitet. Das klingt für viele sicher seltsam: Ausgerechnet ich mit meiner Angst. Aber im Beruf schaffe ich, was ich als Privatperson leider nicht schaf- fe: Ich baue Beziehungen auf. Man sagt mir nach, ich sei lebendig und eloquent. Kinder mögen mich. Ich bin freundlich zu ihnen und warmherzig. Wenn eines von ihnen ausgegrenzt oder beschimpft wird, schreite ich ein. Kein Kind soll erleben, was ich erlebt habe. Neulich war ich spazieren und habe mitbekommen, wie ein Vater seinen Sohn angebrüllt hat. Der hat- te lediglich einen Ball durch eine Al- lee gekickt. Du bist ein Spinner, hat der Vater geschrien. Der Junge stand schuldbewusst da. Da habe ich den Va- ter angesprochen und ihm gesagt, dass ich das nicht in Ordnung finde. Meine Angst wird mich nicht ver- lassen. Da hilft auch keine Therapie. Aber ich habe gelernt, mit ihr umzu- gehen. Im Laufe der Jahre habe ich viel über mich nachgedacht. Früher habe ich mich gefragt, was mit mir nicht stimmt. Jetzt möchte ich mich endlich so akzeptieren, wie ich bin. Akzeptie- ren, dass mein Leben eben anstrengen- der ist als das anderer Menschen, die keine sozialen Ängste haben. Dass ich vieles nicht kann, was andere können. Heute kann ich mir meine Angst verzeihen. Meistens. 28 29
Hans Paul ist obdachlos und hat eine Briefkastenfirma in Übersee. Ein Tag mit Deutschlands erfolgreichstem Paparazzo T E X T Vera Weidenbach F O T O S Louis Kellner 31
500 häufiger an der Eisdiele vorbei. Ihre kein Haus. Er schläft in einem umge Nachbarin hat heute morgen erzählt, bauten Auto mit Matratze oder in dass der schwarze Van in der Einfahrt einem seiner alten Vans. Sie stehen METER stehe. Sie könnten zuhause sein. Seit er weiß, dass Bettina Wulff Werbung in verschiedenen Ländern, auf ver- schiedenen Kontinenten. Paul schläft MAXIMAL für eine Fahrradhelm-Initiative macht, darin vor den Haustüren der Stars. BIS ZUM ist Paul hinter ihr her: Er will sie ohne Das Auto hat ein Loch in der Seite, P R O M I Helm erwischen. Ein Foto allein rei- durch das er unbemerkt sein Objektiv che heute nicht mehr, um Auflage zu stecken kann. Eine feste Adresse hat machen, sagt Paul, man müsse die Ge- Paul nicht. Damit ihn die Klagen der schichte dahinter gleich mitliefern. An Stars gegen die Fotos nicht erreichen. diesem Tag ist es die Story der Gattin Hin und wieder schläft er in Obdachlo- eines ehemaligen Bundespräsidenten, senheimen, manchmal lässt er sich auch die sich nicht an die moralischen Stan- einen Brief dorthin schicken. „Ich bin dards hält, die sie öffentlich vertritt. ein überzeugter Obdachloser“, sagt er. Er sei der letzte seiner Art, sagt Paul. Den Beruf des Paparazzos wer- Seine Oldtimer-Sammlung steht in E de es nicht mehr lange geben. Schon einer Tiefgarage irgendwo in L.A. r hätte sie fast erwischt. heute seien 80 Prozent der Fotos ab- Christian und Bettina Wulff, gesprochen, die er und seine Kollegen Am Geld liegt es nicht. Ein exklusi- auf dem Fahrrad, beide ohne von den Stars machen. Sie vereinbaren ves Foto von einem Star bringt ihm Helm. Hans Paul überholte den Ort und die Geschichte, der neue 6000 Euro und mehr ein. Manche Bil- sie auf dem Moped und warf sich fünf- Freund ist dabei oder die Kinder. Aus- der werden von Zeitschriften auf der hundert Meter weiter ins Gebüsch. sehen muss aber alles wie ein echtes ganzen Welt gekauft, dann können Nahm die Kamera in die Hand, leg- Paparazzi-Foto. Für Paul ist bei diesen es über 100.000 Euro werden. Seine te den Finger auf den Auslöser. Zehn Geschichten zwar der Abschuss sicher Sammlung mit alten Porsches steht in Minuten lag er so da. Aber sie kamen und damit das Honorar, aber er hasst einer Tiefgarage in Los Angeles. Er nicht. Sie waren in eine andere Rich- sie. Die Kunst des Paparazzos, sagt er, hat eine Agentur mit Fotografen, die tung abgebogen. Das Foto, das ihm sterbe dadurch aus. auf der ganzen Welt Stars für ihn „ab- mehrere tausend Euro gebracht hätte: schießen“, wie es im Paparazzi-Jargon verpasst. Mir ist es ganz lieb, wenn heißt. Die Agentur regelt den Vertrieb. Ein echter Paparazzo schießt seine Fotos aus dem Hinterhalt. Hans Paul möchte möglichst unerkannt bleiben Eine Woche später. Ein Junimor- die Leute mich für einen Sie ist als Briefkastenfirma irgendwo gen in Großburgwedel, einer Klein- komischen Vogel halten. in Übersee gemeldet, um den Klagen stadt bei Hannover. Man sieht es den zu entgehen. Das ist praktisch für Paul: faden Klinkerhäusern nicht an, aber Dem Haus der Wulffs nähert sich Paul Er muss sich nicht mit Anwälten her- hier wohnen Geld und Prominenz. nur, wenn es sein muss. Die Bodygu- umschlagen. Paul sitzt in einer Eisdiele. Nicht um ards kennen sein Gesicht, sie könnten Plötzlich bremst Paul auf einem ein Eis zu essen, nicht um zu quat- die Polizei rufen. „Einem Paparazzo Feldweg, stellt einen Fuß auf den Bo- schen. Sondern um zu jagen. Paul will kann man nur das Handwerk legen, den, lässt den Motor laufen. Zwei das Foto. Er ist Paparazzo. wenn man behauptet, er sei ein Stal- Radler nähern sich. Er holt einen Feld- schwieriger geworden, sagt Paul. Die oft auf Veranstaltungen sehe. Das sei Moment, in dem alles andere egal wird, Mit verschränkten Armen sitzt er ker“, sagt Paul. Ein echter Paparazzo stecher aus der Innentasche seines Ja- Stars stellen Selfies ins Netz, die Illus- ihm noch gar nicht aufgefallen, sagt in dem nur noch dieses Bild zählt. da. Paul ist 63 Jahre alt. Sein Körper belästige niemanden. Er schießt Fotos cketts und schaut hindurch. Es sind trierten füllen ganze Seiten mit Ins- der Bürgermeister. Als das Gespräch In Fuhrberg ist ein kleines Bier- ist drahtig und seine Haare sind weiß. aus dem Hinterhalt. Die Stars bemer- nicht die Wulffs. tagram-Geschichten. Die Paparazzi langsam einschläft und keine Neuig- zelt aufgebaut. Im Schritttempo rollt Seine Augen sind immer in Bewegung. ken es erst, wenn sie die Illustrierte Für einen echten Paparazzo ist stehen nur noch an den roten Teppi- keiten mehr zu holen sind, wird Paul Paul daran vorbei, die Bodyguards Sieht er jemanden, der ihm bekannt aufschlagen. die Recherche immer langwierig. Das chen oder an den Haustüren der Stars. unruhig. Er verabschiedet sich, steigt könnten in der Nähe sein. Der Pa- vorkommt, stehen sie plötzlich still, fo- Paul hat in der Eisdiele genug ge- Durchhaltevermögen hat Paul wäh- Wenn einer von ihnen herauskommt, aufs Moped. Bekanntschaften schließt parazzo scannt die Gesichter. Er kussieren. Dann spricht er langsamer, hört. Er steht auf, streicht das blau- rend seiner Zeit als Reporter bei Bou- blitzen sie ihm ins Gesicht. Paul nennt er nur für ein Foto. kennt keines. Ob das die Feier zum zieht die Wörter in die Länge. Wenn weiß gestreifte Jackett glatt. Im Vor- levardzeitungen gelernt. diese neue Paparazzi-Generation Es ist schon später Nachmittag, Ortsjubiläum sei, fragt er eine Pas- er niemanden erkennt, lassen die Au- beigehen nickt er einer älteren Dame Damals habe er mal eine Geschich- „Shooter“. Ihre Fotos zeigen die Pro- Paul umkreist noch einmal das Haus santin. Nein, hier nicht, sagt sie. gen wieder los und suchen weiter. zu. Er zieht die Blicke der Leute auf te über ein Bordell in Köln gemacht, mis aber nicht in einer privaten Situ- der Wulffs, ist kurz davor aufzuge- Den ganzen Tag war Hans Paul auf Seine Kamera hat er in einer schäbigen sich. „Mir ist es ganz lieb, wenn die fotografierte dafür eine 17-jährige ation. Das schaffe man nur aus dem ben, als er eine letzte heiße Spur ent- der Jagd nach einem einzigen Foto. Er Umhängetasche verpackt. Das Moped, Leute mich für einen komischen Vogel Prostituierte. Wenig später las er in Hinterhalt. deckt. Die Nachbarin der Wulffs läuft hat es nicht bekommen. Er sagt über ein chinesischer Nachbau einer alten halten und mich nicht so ernst neh- einer Meldung, dass sie sich umge- Paul fährt weiter durch Großburg- die Straße entlang. Heute sei doch ein sich, dass er sein Geld mit Unsinn ver- Honda Dax, steht ganz in der Nähe. men“, sagt er. Dann steigt er auf sein bracht hatte. Ihr Gesicht war in der wedel. Vor einem kleinen Gasthaus großes Fest in Fuhrberg, sagt sie, Orts- dient. Dass er sich manchmal fragt, Den Schlüssel hat er stecken lassen. Moped, fährt in Richtung Springhorst- Zeitung. Das konnte er nicht mit sich im Ortszentrum sitzen drei Männer, jubiläum. Fuhrberg ist eine kleine Ge- was er eigentlich mache. Aber Paul Paul will bereit sein. see. Die Wege dort sind beliebt bei vereinbaren. Heute verletze er mit darunter der Bürgermeister. Der Pa- meinde unweit von Großburgwedel, wird in diesem Leben nicht mehr auf- Er wechselt ein paar Worte auf Ita- Radlern. seinen Bildern niemandem mehr, be- parazzo setzt sich dazu. Nach wenigen dort war Christian Wulff einmal Spar- hören. Die Sucht nach dem Abschuss lienisch mit dem Kellner. Der ist einer Im Fahrtwind atmet Paul tief hauptet Paul. Schlimmstenfalls wer- Minuten lenkt er das Gespräch auf die gelbotschafter. Paul gibt Gas. packt ihn immer wieder. seiner Informanten. Für einen erfolg- durch. Das Gefühl der Freiheit sei der de er von einem Prominenten ver- Wulffs. Wie der Bau ihres neuen Hau- Noch einmal rast er an den Fel- Morgen, sagt er, wolle er nach reichen Hinweis steckt er ihm meistens Grund, warum er Paparazzo wurde, klagt. Seit das Internet den Paparazzi ses vorangehe, will Paul wissen, und dern vorbei. Es ist die letzte Chan- London. Die Clooneys haben Nach- einen Fünfziger zu. Die Wulffs radeln sagt er. Er hat keine Wohnung und Konkurrenz macht, sei alles noch warum man die Wulffs nicht mehr so ce, das Foto zu schießen. Es ist der wuchs bekommen. 32 33
A SONJA UND ANKE SIND ls Sonja Düring eines Mor- gens die Tür öffnet, stür- men Polizisten in schwar- zen Sturmhauben und ZWILLINGE. 42 JAHRE MACHEN schusssicheren Westen ihr Haus. Ihre Zwillingsschwester Anke hastet da- rauf in den Keller, packt den Karton SIE ALLES GEMEINSAM. mit den Haschisch-Platten und rennt durch die Hintertür in den Garten. BIS AUFFLIEGT, DASS SIE 20 KILO Polizisten, die das Gebäude in Fran- ken von außen sichern, kreisen sie ein. Handschellen klicken. Wenige Minu- HASCH IN IHREM HAUS LAGERN. ten später führen die Beamten Anke zu einem Van. Die Türen fallen zu, der DIE GESCHICHTE EINER Van fährt fort. Sonja wird in einem an- deren Wagen weggebracht. Ein Drogenhund erschnüffelt TRENNUNG kurz darauf einen zweiten Karton Ha- schisch auf dem Dachboden. Insgesamt 20 Kilogramm der braunen, knetar- tigen Masse haben die Schwestern im Haus versteckt. Es sei der größte Dro- genfund seiner Dienstzeit, wird der zuständige Staatsanwalt später auf ei- ner Pressekonferenz über den 8. April 2015 sagen. Sonja und Anke haben sich am Foto: privat Abend vor der Verhaftung das letzte Mal gesehen. Am Tag danach liegen zwischen ihnen 110 Kilometer – so T E X T Helena Ott weit sind die beiden Haftanstalten BONNIE & BONNIE voneinander entfernt, in die sie ge- bracht werden. Anke kommt nach Nürnberg, Sonja nach Würzburg. Noch wissen sie nicht, dass vor ihnen die längste Trennung ihres Lebens liegt. Es ist ein Tag im Juni 2017. Sonja und Anke sitzen mit steifen Oberkör- pern an einem Holztisch im Besucher- raum der Justizvollzugsanstalt (JVA) Fragt man die Schwestern, warum und Aber er erfährt von der Trennung sich Sonja. Anke sich auch. Zusammen macht sich Sorgen um Sonja, weiß einen Brief an „Radio Z”, den Nürn- Aichach und schildern den Morgen von wem sie Drogen im Wert von zweier Menschen, die ihr ganzes Le- verließen sie die Realschule, um auf nicht, ob sie die Trennung von ihrem berger Gefangenensender. An einem ihrer Verhaftung. Die zweieiigen 100.000 Euro kauften, schweigen sie. ben gemeinsam verbracht haben. Er die Hauptschule zu gehen. Zusammen Kind übersteht. Sonntag zwischen 18 und 20 Uhr hört Zwillinge sind leicht zu unterscheiden: In ihrem Freundeskreis sei bekannt erfährt, wie Geschwisterliebe Men- gründeten sie einen Schreinerbetrieb. Anke Sonjas Gruß im Radio. Dazu Sonja hat blonde Locken und blaue gewesen, dass man bei den Zwillingen schen dazu bewegen kann, große Op- Zusammen dealten sie mit Drogen. In Untersuchungshaft schreiben sie hat sich die Schwester für sie ein Lied Augen. Anke hat braune Augen und Gras kaufen könne, sagt ein Freund fer für einander zu bringen. Der Richter erwähnt bei der Ur- sich jede Woche einen Brief von Rosenstolz gewünscht: „Ich geh in glatte, rot-braun gefärbte Haare. der beiden. Doch dass sie mit solchen Bis zu ihrer Verhaftung hatten die teilsverkündung ihr bis dahin „blüten- Flammen auf“. Mengen dealten, habe niemand ge- Schwestern von den 42 Jahren ihres weißes Zentralregister”. Heute steht Sechs Wochen vor der Verhaftung Die beiden schreiben sich ein- 331 Tage schlafen die Schwestern wusst. Möglich, dass die beiden Schul- Lebens nur zweieinhalb Monate ge- dort auf einer Seite: „Vorsätzliches, war Sonja Mutter geworden. Sie muss- mal pro Woche Briefe. Sie hätten in verschiedenen Zellen den hatten. 2012 waren Anke und trennt verbracht. Seit dem Auszug aus unerlaubtes Handeltreiben mit Betäu- te das Baby bei ihrem Verlobten zu- so mehr kommuniziert als vor der Sonja in ein Haus gezogen, hatten es dem Elternhaus teilten sie sich immer bungsmitteln.“ rücklassen. Immer wieder beschwert Haft: „Wenn wir zusammen sind, re- Die beiden teilen sich hier eine selbst renoviert und umgebaut. eine Wohnung, zuletzt bewohnte jede In den ersten Tagen der Unter- sie sich, dass sie ihr Kind nicht sehen den wir nicht viel, da spüren wir uns 20 Quadratmeter große Doppelzelle Wenn Sonja und Anke von der ein Stockwerk des gemeinsam gekauf- suchungshaft in Nürnberg sitzt Anke darf. In Bayern gibt es in Gefängnissen einfach”, sagt Anke. Gefühlsausbrü- mit zwei Stockbetten, TV, Wasserko- Zeit vor der Haft erzählen, huscht ten Hauses. Ohne einander hätten sie die meiste Zeit auf der zwei Zentime- nur zehn Mutter-Kind-Plätze. Zu die- che seien früher selten gewesen. In cher und Leselampe. Wenn sie dort manchmal ein Lächeln über ihre weniger Spaß, fühlten sich weniger ter dünnen Schaumstoffmatratze. Sie ser Zeit sind alle belegt. der Untersuchungshaft ändert sich nicht eingeschlossen sind oder arbei- Mundwinkel. Doch das täuscht nicht stark, weniger sicher, sagt Anke. Für versucht, die Geräusche ihrer fünf Zel- Sonja pumpt also in Würzburg das. „Wir saßen oft auf der Zelle und ten, spielen sie Tischtennis, trainieren über die Leere hinweg, die die Mona- einen guten Freund der Zwillinge, der lennachbarinnen auszublenden. Schon ihre Muttermilch ab. Die Milch wird weinten”, sagt Anke. Sie sagt nicht im Geräteraum oder backen Brötchen, te in ihre Gesichter gezeichnet haben. beide seit dem Teenie-Alter kennt, das Kaffeeschlürfen der anderen macht tiefgefroren, alle zwei Wochen bringt „ich“, sondern „wir“, als wären sie weil ihnen das Gefängnisessen nicht Monate, in denen sie sich nicht hören, sind Sonja und Anke wie eine Per- sie fast wahnsinnig. Eigentlich ist Anke sie der Bruder der Zwillinge zum Kind. damals nicht getrennt gewesen. Die schmeckt. Eine Stunde pro Tag dürfen sehen, trösten konnten. son. „Wenn nur eine der beiden einen die kontaktfreudigere der Schwestern. Von ihrem Bruder erfährt Sonja auch, Tage vergehen langsam, sind bestimmt sie im Freien verbringen, bei gutem Wer mit den Zwillingen spricht, Freund hatte, ging das nie lange gut”, Im Gefängnis isoliert sie sich, spricht wie schlecht es Anke geht. Um ihrer vom Warten darauf, dass die Schlüssel Wetter liegen sie dann in der Sonne. erfährt wenig über ihr Verbrechen. sagt er. Zu Beginn der Haft verlobte nicht mit anderen Gefangenen. Sie Schwester Mut zu machen, schickt sie an der Zellentür klappern: Hofgang. 34 35
Sie können auch lesen