Klimapolitik nach Kopenhagen Auf drei Ebenen zum Erfolg - Politikpapier

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Politikpapier

Klimapolitik nach
Kopenhagen
Auf drei Ebenen zum Erfolg

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Politikpapier Nr. 6   Klimapolitik                April 2010              Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
                                                                              Globale Umweltveränderungen

                                         Inhalt
                                         Zusammenfassung                                                           3
                                         Wiederbelebung der multilateralen Klimapolitik
                                         Europäische Glaubwürdigkeit durch Vorbild
                                         Subglobale Allianzen von Klimapionieren

                                         Die Welt nach Kopenhagen                                                  5
                                         Lage
                                         Aufgaben der Klimapolitik

                                         Europäische Glaubwürdigkeit durch Vorbild                                 7

                                         Subglobale Allianzen von Klimapionieren                                   9
                                         Waldpolitik
                                         Kimaverträgliche Infrastrukturen
                                         Emissionshandel
                                         Fazit

                                         Wiederbelebung der multilateralen Klimapolitik                          13

                                         Schlussfolgerungen                                                      16

                                         Literatur                                                               17

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Politikpapier Nr. 6       Klimapolitik             April 2010                 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
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Zusammenfassung
Die internationale Klimapolitik befindet sich nach der Klimakonferenz von Kopenhagen
in einer Krise: Das erhoffte umfassende und verpflichtende UN-Klimaabkommen ist
derzeit nicht absehbar. Damit eine Erhöhung der globalen Mitteltemperatur um mehr
als 2  °C bis zum Ende des Jahrhunderts noch verhindert werden kann, müssen in der in-
ternationalen Klimadiplomatie innerhalb weniger Jahre entscheidende Weichen gestellt
werden. Der WBGU empfiehlt, das multilaterale Klimaregime wiederzubeleben, indem
Politik und Zivilgesellschaft in Europa eine selbstbewusste Führungsrolle einnehmen
und weltweite Allianzen mit ausgewählten Klimapionierstaaten eingehen. Zivilgesell-
schaftliche Initiativen sollen stärker als bisher unterstützt werden. Die Durchsetzung
einer international verbindlichen Regelung zur Begrenzung des CO2-Ausstoßes – etwa
in Anlehnung an den Budgetansatz des WBGU (2009b) und ähnlicher Lösungsansätze,
die auch in China und Indien diskutiert werden – muss als Ziel bestehen bleiben. Die
folgenden Empfehlungen richten sich in erster Linie an die deutsche Bundesregierung
als Akteur auf der internationalen Bühne, insbesondere im Hinblick auf ihre Rolle inner-
halb der Europäischen Union (EU), auf zwischenstaatlicher Ebene im Rahmen bi- und
multilateraler Kooperationen sowie im Kontext der Vereinten Nationen.

Wiederbelebung der multilateralen                        •• Die EU sollte anbieten, eine zweite Verpflichtungs-
Klimapolitik                                                periode des Kioto-Protokolls zu akzeptieren, auch
                                                            wenn der Verhandlungsstrang unter der UNFCCC
•• Der WBGU hält die Überwindung des entschei-              noch nicht zu einem rechtsverbindlichen Abkom-
   dungshemmenden Konsensprinzips in der Klima-             men entwickelt werden konnte oder einzelne
   rahmenkonvention (UNFCCC) zugunsten einer am             bisher verpflichtete Staaten das Kioto-Protokoll
   Mehrheitsprinzip ausgerichteten Entscheidungsfin-        verlassen sollten. Sie sollte ihre Treibhausgasemis-
   dung für erforderlich.                                   sionen um mindestens 30  % bis 2020 gegenüber
                                                            1990 mindern.
•• Wichtige Errungenschaften des UNFCCC-Prozesses
   sollten unbedingt gesichert werden. Dies gilt nicht   •• Der WBGU regt eine Generaldebatte auf höchster
   zuletzt für Übereinkünfte zur Anpassung an den           politischer Ebene sowie in der europäischen
   schon stattfindenden Klimawandel in besonders            Zivilgesellschaft darüber an, wie anspruchsvolle
   gefährdeten Entwicklungsländern. Dass sich die           Klimaschutzmaßnahmen im Einklang mit der in der
   Finanzierungszusagen Deutschlands größtenteils           Kopenhagen-Vereinbarung (Copenhagen Accord)
   aus schon vorher für Klimaschutz und Entwick-            bestätigten 2 °C-Leitplanke realisiert werden
   lungszusammenarbeit eingeplanten Geldern                 ­können.
   zusammensetzen, untergräbt die Glaubwürdigkeit
   von Unterstützungsversprechen und schwächt das
   Vertrauen der Entwicklungsländer in die klimapoli-
   tischen Verhandlungen.

                                                                                                                          3
Politikpapier Nr. 6       Klimapolitik               April 2010                Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
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          Europäische Glaubwürdigkeit durch Vorbild                 Subglobale Allianzen von Klimapionieren

          •• Die EU sollte ihr „20-20-20-Ziel“ zum „30-20-20-       •• Zur Zeit blockieren sich die USA und China gegen-
             Ziel“ weiterentwickeln, d. h. bis zum Jahr 2020 eine      seitig – und damit auch die globale Klimapolitik.
             30  %ige Reduktion der Treibhausgasemissionen             Europa kann diese Blockade überwinden helfen,
             anstreben. Für den internationalen Klimaschutz            indem es subglobale Klimaschutzallianzen jenseits
             kann das Ziel einer europäischen Vollversorgung           der „G 2“ auslotet. Dazu sollte eine Modellallianz
             mit erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2050 in            mit einer ambitionierten Gruppe von Schlüssellän-
             Kombination mit einer konsequenten Effizienzstra-         dern (z. B. Indien, Brasilien, Ägypten, Indonesien,
             tegie frischen Rückenwind für die internationale          Südkorea, Japan, Malediven) gebildet werden,
             Klimapolitik bringen – und zugleich die Wettbe-           welche unterschiedliche Themenfelder (z. B.
             werbsfähigkeit Europas auf eine zukunftsfähige            Waldschutz, Infrastrukturentwicklung, Erweiterung
             Grundlage stellen.                                        des EU-Emissionshandels, Ausbau erneuerbarer
                                                                       Energien, Verbesserung der Energieeffizienz und
          •• Zur Beschleunigung strategischer Innovations-             Anpassung) repräsentieren. Diese Allianz sollte aus
             prozesse und zur Senkung der Kosten des Ener-             Sicht des WBGU privilegierte Partnerschaften ein-
             giesystems in Europa empfiehlt der WBGU eine              gehen und damit – wie einst die sechs Kernländer
             europaweite Einspeisevergütung für erneuerbare            der Europäischen Gemeinschaften (Europäische
             Energien. So würde die Förderung an die Orte der          Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Europäische
             jeweils besten Ressourcenverfügbarkeit fließen.           Wirtschaftsgemeinschaft, Euratom) – zum selbst-
                                                                       bewussten Motor eines neuen klimapolitischen
          •• Zum Aufbau der künftigen Energieversorgungs-              Multilateralismus werden. Die Modellallianz würde
             strukturen schlägt der WBGU eine Europäische Ini­         zudem zeigen, dass sie auf einen raschen Übergang
             tiative vor, welche die Ziele der Lissabon-Strategie      zu einer klimaverträglichen Weltwirtschaft setzt,
             fortschreibt. Die Umsetzung einer Hightech-               und würde so den „grünen“ Innovationswettlauf
             Strategie, namentlich eines europäischen und auf          beschleunigen.
             erneuerbaren Energien basierenden Energiever-
             sorgungssystems in Verbindung mit einem neu zu         •• Gleichzeitig sollte die EU in den einzelnen The-
             schaffenden „Supersmart-Grid“, kann demonstrie-           menfeldern u. a. über Bildungs-, Forschungs- und
             ren, dass Wirtschaftlichkeit und Klimaschutz sich         Technologiezusammenarbeit mit ausgewählten
             keineswegs gegenseitig ausschließen.                      Ländern kooperationsstiftend wirken. Der WBGU
                                                                       schlägt exemplarisch drei konkrete thematische Al-
          •• Initiativen der Städte und Gemeinden in Klima­            lianzen vor, nämlich (1) mit wichtigen Waldländern,
             aktionsbündnissen sowie das Engagement von                (2) auf dem Gebiet klimaverträglicher Infrastruk-
             Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Akteuren          turen und (3) zur geografischen Erweiterung des
             des klimaverträglichen Wandels verdienen nach             EU-Emissionshandels.
             Ansicht des WBGU stärkere Aufmerksamkeit und
             Unterstützung durch die staatliche und supranatio-
             nale Politik.

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Politikpapier Nr. 6       Klimapolitik              April 2010                 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
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Die Welt nach Kopenhagen

Lage                                                      kritiklos verbreiteten Meldungen zu weiteren Feh-
                                                          lern jeder sachlichen Grundlage. Die Folgerungen des
Auf der Weltklimakonferenz im Dezember 2009 hat die       IPCC-Berichts sind in wichtigen Punkten keineswegs
überwältigende Mehrheit der Staaten mit der Kopenha-      übertrieben, sondern im Licht neuerer Messdaten und
gen-Vereinbarung (Copenhagen Accord) bestätigt, dass      Forschungsergebnisse eher optimistisch. Zum Beispiel
der Klimawandel eine große Herausforderung ist und        übertreffen der Anstieg des Meeresspiegels und der
die Erhöhung der globalen Mitteltemperatur 2 ºC nicht     Schwund des arktischen Meereises bereits die IPCC-
übersteigen soll (UNFCCC, 2010). Die Konferenz hat        Projektionen (Copenhagen Diagnosis, 2009).
aber weder ein global verbindliches Abkommen noch             Ein zur Zeit gelegentlich propagierter Politikwech-
das Instrumentarium geliefert, um die 2 °C-Leitplanke     sel weg von der bisherigen Doppelstrategie „Vermei-
einzuhalten. Mehr als 120 Staaten, die mehr als vier      dung und Anpassung“ hin zu einer reinen Reparatur-
Fünftel der globalen Treibhausgasemissionen verursa-      politik wäre unverantwortlich. So können Deiche nicht
chen, haben sich mit dem Copenhagen Accord assoziiert,    beliebig hoch gebaut werden und auch andere Küs-
wovon die Mehrheit im „Pledge-and-Review-Verfah-          tenschutzmaßnahmen – wie Entwässerungspumpen,
ren“ (Minderungsziele national festsetzen und interna-    Wiederaufforstung von Mangroven, Freisetzung von
tional überprüfen) freiwillige Klimaschutzmaßnahmen       Flutungsflächen und Verlagerung von Siedlungsräumen
angekündigt hat. Allerdings gibt es bisher weder einen    oder flottierende Siedlungen – sind auf globaler Ebene
verbindlichen Zeitplan noch eine globale Koordinierung.   nur in sehr begrenztem Umfang durchführbar. Auch
Ebenso wenig gibt es ein belastbares Monitoring oder      Bewässerungsmaßnahmen können die landwirtschaftli-
Sanktionsmöglichkeiten, um Staaten zur Einhaltung         chen Erträge nur dann sichern, wenn in der betroffenen
ihrer Absichtserklärungen zu veranlassen. Zudem ist die   Region überhaupt noch genügend Wasser verfügbar ist.
Summe der bisherigen Absichtserklärungen der Staaten
unzureichend, um selbst bei deren vollständiger Erfül-
lung die Erhöhung der globalen Mitteltemperatur auf       Aufgaben der Klimapolitik
2 °C zu begrenzen; vielmehr lassen die jetzigen Zusagen
bis Ende des Jahrhunderts eine Erhöhung der globalen      Worin bestehen nun die zentralen Aufgaben globaler
Mitteltemperatur um 3 °C oder mehr erwarten (Rogelj       Klimapolitik nach Kopenhagen? Erstens ist weltweit
et al., 2010). Eine Erhöhung über 2 °C hinaus wäre aus    ein großer Teil der politischen Entscheidungsträger
wissenschaftlicher Sicht aber eine gefährliche Störung    noch nicht davon überzeugt, dass Dekarbonisierung
des Klimasystems, die zahlreiche erhebliche Risiken für   und klimaverträgliche Entwicklung ohne erhebliche
die menschliche Gesellschaft mit sich bringen würde       Wohlstandseinbußen funktionieren können (Demons-
(WBGU, 2003, 2009b).                                      trationseffekt). Zweitens fehlt eine Einigung über ein
    An den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Kli-      globales Verteilungssystem in Bezug auf Vermeidungs-
mawandel und der Begründung der 2 °C-Leitplanke           anstrengungen, Anpassungsmaßnahmen, Finanzierung
ändern die jüngsten Mediendebatten über den angeb-        sowie Technologietransfer (konkrete Formel zur Lasten-
lichen „Alarmismus“ und die „Manipulationen“ der Kli-     teilung). Die Menschheit steht hier vor einer fundamen-
maforschung nichts. Auch wenn im vierten Sachstands-      talen Gerechtigkeitsaufgabe, die sie derzeit zu überfor-
bericht des IPCC (2007) in einem Regionalkapitel eine     dern scheint (WBGU, 2009b). Drittens wird nicht nur in
falsche Zahl zur Gletscherschmelze im Himalaya zitiert    der globalen Klimapolitik eine machtpolitische Multipo-
wird, entbehren die meisten der in einigen Medien         larität sichtbar, in der eine Reihe von Schlüsselakteuren

                                                                                                                           5
Politikpapier Nr. 6        Klimapolitik               April 2010                 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
                                                                                 Globale Umweltveränderungen

          substanzielle Fortschritte in der internationalen Klima-       schen Gründen vermehrt polyzentrische Ansätze in
          politik blockieren können. Ohne die USA und andere             der Klimaschutzpolitik postuliert. Viele setzen nach
          Schlüsselnationen wie China, die EU, Indien, Brasilien,        dem Scheitern eines völkerrechtlich verbindlichen
          Japan und Russland sind klimapolitische Durchbrüche            Vertrags („von oben“) Hoffnungen auf eine Revita-
          kaum denkbar (internationale Handlungsblockade).               lisierung der Klimapolitik durch bilaterale und regio-
          Gleichzeitig ist viertens noch keine klimapolitische           nale Kooperation.
          Führungsallianz zu erkennen, die über ausreichende          3. Zwischenstaatliche Allianzen werden wichtiger, aber
          Gestaltungskraft verfügt, um eine problemadäquate Kli-         darauf allein darf die Klimapolitik nicht setzen. Die
          maschutzarchitektur durchzusetzen, der sich die übrige         EU soll deshalb weiterhin auf ein umfassendes rechts-
          Staatenwelt nicht widersetzen könnte (Machtallianz für         verbindliches Klimaschutzabkommen innerhalb der
          klimaverträgliche Entwicklung). Schließlich ist fünftens       UNFCCC drängen. Die Fortschritte, die bisher in den
          die spürbare Bereitschaft der Zivilgesellschaft als Res-       beiden UN-Verhandlungssträngen erreicht worden
          source für ein aktives klima- und umweltpolitisches            sind, sollten im Blick auf die Vertragsstaatenkonfe-
          Engagement zu wenig anerkannt und aufgegriffen wor-            renz in Cancún gesichert und ausgebaut werden. Es
          den. Vernünftiger Klimaschutz, der darüber hinaus eine         muss verhindert werden, dass die Verhandlungen auf
          nachhaltige Entwicklungsperspektive erkennen lässt,            der Stelle treten und die UN-Klimapolitik das Schick-
          ist attraktiv und mehrheitsfähig (Chancen des Klima­           sal der Doha-Runden der WTO erleidet.
          schutzes).
              Damit ein Anstieg der globalen Mitteltemperatur um      Mit dem enttäuschenden Ausgang der Kopenhagener
          mehr als 2 °C verhindert werden kann, müssen inner-         Klimakonferenz ist sichtbar geworden, dass klimapo-
          halb weniger Jahre in der internationalen Klimadiplo-       litische Anstrengungen in einen breiten, ressortüber-
          matie zentrale Weichen gestellt werden. Insbesondere        greifenden Kontext gestellt werden müssen. Es geht
          empfiehlt der WBGU entschlossene Initiativen der glo-       nicht isoliert um die Vermeidung und Reduzierung von
          balen und europäischen Klimadiplomatie, an denen sich       Treibhausgasemissionen, es geht auch nicht allein um
          Deutschland führend beteiligen sollte, damit die Euro-      den Ausbau und die Förderung regenerativer Energien,
          päische Union die von ihr beanspruchte Führungsrolle        um Energieeffizienz und Energiesparen. Es geht auch
          glaubhaft machen und „durch Beispiel führen“ kann.          um eine breite industrie- und gesellschaftspolitische
          Dazu sollte die EU eine klug gestaffelte Mehrebenen-        Initiative, die den Wirtschaftsstandort Europa krisen-
          politik entwickeln, die Ansätze aus der Zivilgesellschaft   fester macht und den Menschen in Europa ein identi-
          („von unten“) mit strategischen Klimaallianzen zwi-         tätsstiftendes Ziel gibt. Eine neue Klimastrategie sollte
          schen Pionierländern und UNFCCC-Aktivitäten in Rich-        den Menschen überzeugend aufzeigen, dass es nicht
          tung der nächsten Vertragsstaatenkonferenz in Cancún        um Verzicht auf Wohlstand und Komfort geht, sondern
          verbindet:                                                  vielmehr um eine positive Transformation der gewohn-
                                                                      ten Lebensweisen zu einer nachhaltigen Gesellschaft, in
          1. Dezentrale, kommunale und lokale Initiativen aus         deren Verlauf sie an Lebensqualität und Teilhabe gewin-
             Wirtschaftsunternehmen, Verwaltungen und der             nen. Eine solche politische Klimastrategie verbindet die
             Zivilgesellschaft haben sich die aus der 2 °C-Leit-      Suche nach innovativer Technik und neuen Absatzmärk-
             planke resultierenden Verpflichtungen zu eigen           ten unabdingbar mit der ethischen Verpflichtung, die
             gemacht und setzen diese in einer großen Zahl for-       uns vor allem die existenzielle Bedrohung der besonders
             meller und informeller Initiativen um. Entsprechende     von gefährlichem Klimawandel betroffenen Insel- und
             Klimabündnisse und funktionierende Städte-, Wis-         Küstenstaaten der Welt auferlegt.
             senschafts-, Bildungs-, Technologie- und Unterneh-
             menspartnerschaften müssen unterstützt, vernetzt
             und ausgebaut werden.
          2. Zudem sollten die EU und ihre Mitgliedsländer glaub-
             würdige und wirkungsvolle klimapolitische Allianzen
             mit strategischen Partnerländern schließen. Diese
             diplomatischen Nachhaltigkeitsinitiativen müssten
             sowohl inner- als auch zwischenstaatlich ressort-
             übergreifend angelegt werden, da die Klimakrise
             eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung ist.
             In der Forschung (Ostrom, 2010; Keohane und Vic-
             tor, 2010) wie in der Politikberatung (E3G, 2010)
             werden derzeit aus grundsätzlichen wie pragmati-

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Politikpapier Nr. 6        Klimapolitik              April 2010                 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
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Europäische Glaubwürdigkeit
durch Vorbild

Die EU hat bei den Verhandlungen um einen Nachfol-         ziert, der Gesamtanteil erneuerbarer Energien auf 20  %
gevertrag zum Kioto-Protokoll am konsequentesten           gesteigert und die Energieeffizienz um 20  % erhöht wer-
Kurs auf die 2 °C-Leitplanke gehalten, die von über 100    den. Die EU sollte dieses Ziel zum „30-20-20-Ziel“ wei-
Staaten anerkannt worden war. Die Allianz der klei-        terentwickeln, d. h. bis zum Jahr 2020 eine Reduktion
nen Inselstaaten (AOSIS) fordert die Einhaltung der        der Treibhausgasemissionen um 30  % anstreben. Dieser
noch anspruchsvolleren Grenze von 1,5 °C. Doch weder       Wert ergibt sich vom heutigen Emissionsniveau aus
die EU noch einzelne Mitgliedstaaten können für sich       gesehen als Etappenziel bei linearer Emissionsreduktion
die Rolle eines Pioniers oder gar eines Musterschülers     (um ca. 1,5  % pro Jahr bezogen auf 1990), wenn die
reklamieren – zu zaghaft sind die tatsächlichen Ver-       Emissionen bis 2050 um 80  % gegenüber 1990 gesenkt
pflichtungen und zu uneinheitlich ist das Gesamtbild des   werden sollen. Eine Reduktion um nur 20  % würde
europäischen Klimaschutzes. Erst wenn die EU-Länder        dagegen deutlich vom Pfad zur 80 %-Minderung abwei-
anspruchsvollere Verpflichtungen einhalten, können sie     chen und nach 2020 erheblich größere Emissionsminde-
in der globalen Klimapolitik wieder die im März 2010       rungen erfordern.
von der EU-Kommission reklamierte Führungsfunktion             Für den internationalen Klimaschutz kann das Ziel
übernehmen (Europäische Kommission, 2010a): „Die           einer europäischen Vollversorgung mit erneuerbaren
Union ist jetzt bereit, Europa zur klimafreundlichsten     Energien bis zum Jahr 2050 in Kombination mit einer
Weltregion zu machen und zu einem kohlenstoffar-           konsequenten Effizienzstrategie frischen Rückenwind
men, ressourceneffizienten und klimaresis­tenten Wirt-     für die internationale Klimapolitik bringen. Verschie-
schaftssystem überzugehen.”                                dene Studien kommen zu dem Ergebnis, dass bis 2050
    Die EU kann ihre Kioto-Verpflichtungen voraus-         ein Anteil erneuerbarer Energien von 85–100  % im
sichtlich erfüllen und dadurch einerseits Glaubwürdig-     Stromsektor (Krewitt et al., 2008; PriceWaterHouse-
keit in Bezug auf ihren Willen zum Klimaschutz erzielen    Coopers, 2010) und 60  % an der Primärenergie (Krewitt
und andererseits wie kein zweiter Akteur die Machbar-      et al., 2008) möglich sind. Das 20 %-Ziel für die erneu-
keit eines anspruchsvollen Klimaschutzes international     erbaren Energien sollte bis Mitte des Jahrhunderts in
demonstrieren. Umso mehr sollte die EU ein ambitio-        Richtung einer 100 %igen Versorgung fortgeschrieben
niertes Abkommen einfordern. Sie verfügt über den          werden. Hierzu sind klare Langfristsignale und Pla-
größten Binnenmarkt der Welt und über erhebliche           nungssicherheit für Unternehmen und Forschung nötig,
technologische Kompetenzen im Bereich Klima- und           wofür die EU auch in einzigartiger Weise Rechtssicher-
Umweltschutz. Sie hat Kostensenkungen im Bereich           heit bietet. Für den internationalen Klimaschutz könnte
grüner Technologien erzielt, was wiederum deren brei-      die Erklärung eines europäischen 100 %-Ziels für erneu-
ten Einsatz auch in Entwicklungsländern ermöglicht.        erbare Energien neuen Anschub bringen.
Außerdem ist die EU der größte Geldgeber in der finan-         Der WBGU schlägt eine europäische Initiative vor,
ziellen und technischen Entwicklungszusammenarbeit,        die im Rahmen einer Hightech-Strategie zum Aufbau
die auch als Weichenstellung für klimaverträgliches        der zukünftigen Energieversorgungsstrukturen die Ziele
Wirtschaften in den ärmeren Partnerländern genutzt         der Lissabon-Strategie mit dem neuen Konzept einer
werden sollte.                                             Vollversorgung Europas mit erneuerbaren Energien ver-
    Aus diesen Gründen sollte die EU den Klimaschutz       bindet. Dadurch würde eine neue und nachhaltige Wirt-
und die Erreichung der „20-20-20-Ziele“ entschie-          schaftsdynamik entstehen, die eine glaubwürdige Basis
den vorantreiben. Gemäß diesem Ziel sollen bis zum         für eine Kooperation mit Entwicklungs- und Schwellen-
Jahr 2020 die Treibhausgasemissionen um 20  % redu-        ländern bieten könnte. Die Einbindung des neu gegrün-

                                                                                                                            7
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          deten European Institute of Innovation and Technology        sen gebündelt und mit konkreten Zeitplänen versehen
          in die Gestaltung dieses Prozesses kann die erforderliche    werden. Zudem gilt es, die vielfältigen klimaschädlichen
          Wissens- und Bildungsinfrastruktur schaffen.                 Anreizsysteme und Subventionen rasch abzubauen und
              Eine auf erneuerbaren Energien basierende Ver-           dezentrale Energieproduktion auf lokaler und regio-
          sorgungsstruktur bietet nicht nur bessere Versor-            naler Ebene zu fördern. In Europa gibt es vorbildliche
          gungssicherheit sowie die Aussicht auf neue qualifi-         Ansätze für klimaverträgliche Städte unter Mitwirkung
          zierte Arbeitsplätze und die Chance der Einhaltung der       engagierter Unternehmen, die ihre Wettbewerbsfähig-
          2 °C-Leitplanke; sie hat auch das Potenzial, sich kosten-    keit durch klimaverträgliche Investitionen sichern und
          günstiger als konventionelle Energiesysteme zu entwi-        ausbauen wollen. Zu nennen sind hier beispielhaft
          ckeln. Wichtiger Bestandteil des WBGU-Vorschlags ist         Städte wie Malmö oder Freiburg i. Br., zu erwähnen ist
          deshalb die drastische Steigerung von Effizienzmaßnah-       auch die vom Initiativkreis Ruhr angestoßene „Innova-
          men, etwa durch abwärmeverlustfreie Stromerzeugung           tion City Ruhr“ für eine Metropolregion. Diese können
          mit Wind-, Sonnen- und Wasserkraftwerken, ferner der         in einem europäischen Städtenetzwerk verbunden und
          massive Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung in Verbin-           damit international anschlussfähig werden.
          dung mit einer nachhaltigen Nutzung von Bioenergie                Die Klimathematik verzweigt sich gemäß der ihr
          (WBGU, 2009a) und nicht zuletzt die konsequente Ein-         eigenen Multidimensionalität in die verschiedensten
          führung der Elektromobilität.                                Zuständigkeiten und Agenden. Daher ist national und
              Eine Strategie, die mit Hilfe geeigneter Informations-   auf EU-Ebene mehr als bisher eine strategische Zusam-
          und Kommunikationstechnologien die Integration hoher         menarbeit der Ressorts erforderlich. Einzubinden wären
          Anteile erneuerbarer Energien und ihren großräumigen         dabei vor allem außenpolitische Belange und die Ent-
          Transport über ein transeuropäisches „Supersmart-Grid“       wicklungszusammenarbeit, aber auch Fragen der Land-
          schafft sowie Elektromobilität im Verkehrssektor fest        nutzung, des Verbraucherschutzes, der Wirtschafts- und
          verankert und mit hocheffizienten Nutzungstechnolo-          Finanzpolitik, des Bau- und Wohnungswesens, der
          gien verbindet, kann Europa den Weg in ein neues Zeit-       Raumplanung, des Gesundheitswesens, der Verkehrspo-
          alter der Energieversorgung weisen; auch kann Europa         litik und nicht zuletzt die Forschung und die Bildung.
          damit international demonstrieren, dass Wirtschaft-          Klima- und Nachhaltigkeitsthemen müssen aus der
          lichkeit und Klimaschutz vereinbar sind. In der EU lie-      Nische heraustreten.
          gen viele Elemente für eine solche Weichenstellung in
          Richtung klimaverträglicher Entwicklung vor, sie müs-

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Politikpapier Nr. 6         Klimapolitik               April 2010                 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
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Subglobale Allianzen von
Klimapionieren

Zur Zeit blockieren sich die USA und China gegensei-         aussichtlich bald auch von Windturbinen. Ambitionierte
tig – und damit die globale Klimapolitik. Europa kann        Ausbauziele lassen den Anteil erneuerbarer Energien
diese Blockade überwinden helfen, indem es subglo-           schnell wachsen. In den USA bieten ehrgeizige Klima-
bale Klimaschutzallianzen jenseits der „G 2“ auslotet.       schutzprogramme in einzelnen Bundesstaaten und einer
Ausgangspunkt eines solchen Netzwerkes von Kli-              großen Zahl von Großstädten interessante Anschlüsse
mapionierländern sollte zunächst eine Modellallianz          für Kooperationen. Auch der Gasexporteur Russland
mit einer ambitionierten Gruppe von Schlüsselländern         könnte mit Blick auf seinen großen Nachholbedarf bei
(z. B. Indien, Brasilien, Ägypten, Indonesien, Südkorea,     der Gebäudesanierung und Verkehrsinfrastruktur ein
Japan, Malediven) sein, welche unterschiedliche The-         hochinteressanter Partner sein. Das gilt auch innerhalb
menfelder (z. B. Waldschutz, Infrastrukturentwicklung,       der EU für ostmitteleuropäische Staaten, von denen
Erweiterung des EU-Emissionshandels, Ausbau erneu-           zwei (Ungarn und Polen) im Jahr 2011 die EU-Ratsprä-
erbarer Energien, Verbesserung der Energieeffizienz          sidentschaft innehaben werden. Große Schwellenländer
und Anpassung) repräsentieren. Diese Allianz sollte aus      wie Brasilien oder Indien könnten ebenfalls als Partner
Sicht des WBGU privilegierte Partnerschaften eingehen        für gemeinsame Energieversorgungsstrategien gewon-
und damit – wie einst die sechs Kernländer der Europä-       nen werden. Brasilien verfügt neben seinen spezifischen
ischen Wirtschaftsgemeinschaft – zum selbstbewussten         Standortvorteilen bereits über erhebliche technische
Motor eines neuen klimpolitischen Multilateralismus          Erfahrungen im Bereich der Bioenergienutzung, die
und eines breiten Netzwerkes von Klimaschutzländern          sowohl im Energie- als auch im Transportsektor bedeut-
werden. Die Modellallianz würde zudem zeigen, dass sie       sam sein werden.
auf einen raschen Übergang zu einer klimaverträglichen            Die Welt kann nicht warten, bis die USA und China
Weltwirtschaft setzt, und so den „grünen“ Innovations-       – jeder für sich oder gemeinsam – zu anspruchsvolleren
wettlauf beschleunigen.                                      Klimaschutzverpflichtungen bereit sind. In dieser Patt-
     Die USA und China, die die Hauptverursacher von         situation sollte Europa subglobale Allianzen mit ausge-
Treibhausgasemissionen sind, haben aus unterschied-          wählten Partnern anstreben, die ambitionierte Klima-
lichen Interessen zu dem enttäuschenden Ergebnis der         ziele verfolgen, um nicht zuletzt ein rechtsverbindliches
Klimaverhandlungen in Kopenhagen beigetragen. Eine           Abkommen in der UNFCCC zu erleichtern. In diesem
anspruchsvolle globale Klimapolitik muss beide Akteure       Sinne sollte Europa jenseits verbaler Bekundungen und
einbinden. Angesichts der skizzierten Multipolarität         fragmentierter Muster klima- und energiepolitischer
muss die EU eine neue geopolitische Klimastrategie ent-      Kooperationen effektive Macht generieren, es sollte
wickeln und ausloten, mit welchen Schlüsselakteuren          attraktiver Pol für hochambitionierte Klimaallianzen
sie eine Allianz der Klimapioniere bilden will.              und für Anreizsysteme zum Aufbau eines internationa-
     China scheint derzeit zwar nicht für international      len Klimapioniernetzwerks werden.
verbindliche Abkommen zu gewinnen zu sein, hat sich               So lassen sich schon jetzt für die Zeit nach dem
auf nationaler Ebene aber beachtlich im Klimaschutz          Auslaufen der ersten Verpflichtungsperiode des Kioto-
engagiert und strebt über eine „grüne Entwicklungs-          Protokolls im Jahr 2012 internationale Klimaschutz-
führerschaft“ soft power an, die die Defizite des chine-     allianzen begründen, bzw. bestehende Kooperationen
sischen Regimes in Sachen Menschenrechte und Demo-           ausbauen. Es besteht die Möglichkeit, durch geschick-
kratie in ein besseres Licht rücken soll. So besitzt China   tes Verknüpfen des Klimaschutzes mit anderen Berei-
schon heute die weltweit größten Kapazitäten zur Her-        chen der internationalen Zusammenarbeit ein größeres
stellung von Solarkollektoren und Solarzellen sowie vor-     Engagement der Staatengemeinschaft beim Klimaschutz

                                                                                                                              9
Politikpapier Nr. 6        Klimapolitik                 April 2010                 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
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           zu erwirken. Als Ansatzpunkte hierfür bieten sich bei-        zur Verminderung der Emissionen aus Entwaldung und
           spielsweise Bildungs-, Forschungs- und Technologieko-         Walddegradation (REDD+) zu erreichen sowie globale
           operation an. Staaten, die ambitionierte Klimaschutz-         Ziele und einen Zeitplan zum Stopp der Entwaldung zu
           strategien entwickeln wollen, können durch die Zusam-         vereinbaren (REDD steht für „Reducing Emissions from
           menarbeit mit europäischen Forschungseinrichtungen            Deforestation and Degradation“, Reduktion von Emis-
           oder Technologiepartnerschaften profitieren.                  sionen aus Entwaldung und Schädigung von Wäldern).
               Auch in der Entwicklungszusammenarbeit gibt es            In Kopenhagen sind von den Industrieländern für den
           Spielräume für anspruchsvolle Programme in Bezug auf          Zeitraum 2010–2012 Mittel in Höhe von insgesamt
           klimaverträgliche Entwicklung. Die EU sollte Angebote         30 Mrd. US-$ zugesagt worden (Fast-Start-Finanzmit-
           für den Aufbau von Dekarbonisierungspartnerschaften           tel). Deutsch­land und die EU sollten einen angemes-
           machen, die weit über die bestehenden EU-Klimako-             senen Anteil aus diesen zusätzlich bereitzustellenden
           operationen hinausgehen. Derartige Kooperationen sind         Geldern für den Waldbereich reservieren. Ausgehend
           angesichts der Blockaden in den internationalen Kli-          von diesen bereits vereinbarten Ergebnissen lassen sich
           maverhandlungen wichtig, um reale Fortschritte in der         mit ausgesuchten Partnerländern (z. B. Indonesien, Bra-
           Dekarbonisierung der Weltwirtschaft voranzubringen            silien, Papua Neuguinea, D. R. Kongo) im Waldbereich
           und zu demonstrieren, dass mit Klimaschutzstrategien          bilaterale Allianzen vorantreiben und auch der regionale
           Wettbewerbsfähigkeit und soziale Entwicklung erfolg-          Austausch fördern. In einer solchen Zusammenarbeit
           reich miteinander verbunden werden können. Die Alli-          sollen die technischen und administrativen Rahmen-
           anzen können in ihrem Zusammenspiel in der Lage sein,         bedingungen entwickelt und erprobt werden, die Vor-
           die Kehrtwende der Weltwirtschaft in Richtung Klima-          aussetzung für eine rasche und erfolgreiche Umsetzung
           verträglichkeit zu beschleunigen. Ab einer bestimmten         von REDD-Projekten sind. Auf diese Weise lassen sich
           Größenordnung, Attraktivität, wirtschaftlichen Leis-          wichtige Erfahrungen sammeln und austauschen, wie
           tungsfähigkeit und kollektiven Innovationskraft würden        die nur grob umrissenen Vorgaben der UNFCCC unter
           hierdurch die noch immer auf „High-carbon“-Wachstum           den sehr unterschiedlichen nationalen Bedingungen
           orientierten Gesellschaften zunehmend unter Anpas-            konkret umgesetzt werden können. Dies gilt für die
           sungsdruck gesetzt.                                           Ausgestaltung von Monitoring- und Berichtssystemen
               Der WBGU skizziert im Folgenden drei konkrete Bei-        für die Emissionsmessungen im Waldbereich sowie für
           spiele für thematische Allianzen. Die EU sollte hier tech-    die Frage, wie andere wichtige Nachhaltigkeits- und
           nisch, finanziell und institutionell in Vorleistung treten,   Entwicklungsdimensionen berücksichtigt werden kön-
           um einen nachweisbaren Beitrag zu den gemeinsamen             nen, etwa die Erhaltung der natürlichen Wälder und
           Klimaschutzzielen zu erzielen: (1) Kooperation mit Län-       der biologischen Vielfalt sowie die Partizipation und die
           dern, die hohe Treibhausgasemissionen aus der Entwal-         Rechte der lokalen sowie indigenen Bevölkerung. Die so
           dung verzeichnen; (2) Zusammenarbeit beim Ausbau              gewonnenen Erkenntnisse können dann wieder in den
           und der klimaverträglichen Modernisierung der Infra-          UNFCCC-Prozess eingebracht werden und anderen Län-
           struktur (vor allem Energietechnologie und Verkehrs-          dern bei der Umsetzung helfen. Diese Allianzen würden
           systeme), insbesondere mit Entwicklungs- und Schwel-          es ermöglichen, die vielfältigen Erfahrungen mit einzel-
           lenländern; (3) Verknüpfung des europäischen Emissi-          nen Projekten in eine bi- bzw. multilaterale Strategie
           onshandelssystems mit anderen Ländern und Regionen.           einzubinden und in einem größeren Maßstab voranzu-
                                                                         treiben.

           Waldpolitik
                                                                         Kimaverträgliche Infrastrukturen
           Eine strategische Zusammenarbeit mit relevanten
           „Waldländern“ ist u. a. deshalb erstrebenswert, weil eine     Strategische Partnerschaften speziell mit Entwicklungs-
           deutliche Senkung der Emissionen aus der Entwaldung           und Schwellenländern bieten sich beim Ausbau und der
           eine notwendige Voraussetzung für die Einhaltung der          Modernisierung klimaverträglicher Infrastrukturen an,
           2 °C-Leitplanke ist. Auf der Klimakonferenz in Kopen-         insbesondere mit Blick auf ressourcenschonende Tech-
           hagen sind in den technischen Verhandlungen zum               nologien für Energie- und Verkehrssysteme.
           Waldbereich bereits substanzielle Fortschritte erzielt            Länder in Nordafrika wie beispielsweise Marokko
           worden, z. B. über den Umfang der anrechenbaren Ver-          drängen sich als strategische Partner zur Verwirklichung
           meidungsmaßnahmen und über die Vermeidung von                 eines transmediterranen Supergrids zur Übertragung
           Nachhaltigkeitsrisiken. Daran sollte bei der nächsten         von Solar- und Windstrom auf. Für ein weitgehend
           Vertragsstaatenkonferenz in Cancún angeknüpft wer-            auf erneuerbaren Quellen beruhendes Energiesystem
           den, um eine Einigung über einen globalen Rahmen              ergeben sich deutliche Kostenreduktionen, wenn Regi-

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Politikpapier Nr. 6        Klimapolitik               April 2010                 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
                                                                                  Globale Umweltveränderungen

onen mit hohen Potenzialen eingeschlossen werden.           nicht nur dazu beitragen, Treibhausgasemissionen zu
Bereits bestehende Initiativen, z. B. „Desertec“ oder       reduzieren, sondern vor allem auch an konkreten Bei-
der „Mediterranean Solar Plan“, müssen ohnehin durch        spielen demonstrieren, dass und wie Armutsbekämpfung
Netzanbindungen flankiert werden. Die strategische          und Wirtschaftswachstum kombiniert werden können.
Verknüpfung mit den Windkraft- und Wasserspeicher-          Damit könnte die in Entwicklungsländern weit verbrei-
potenzialen etwa der Nordseeanrainer in ein kontinen-       tete Einschätzung, dass klimaverträgliche Entwicklung
tales Supergrid ist anzustreben. Für die EU sind Ausbau     eine Luxusstrategie für Industrieländer ist, entkräftet
und Einbindung von Solarenergie aus den europäischen        werden. Eine solche konsequente Neuausrichtung der
Mittelmeerländern in dieses Supergrid sowohl in Bezug       Entwicklungskooperation würde das Vertrauenskapital
auf die Erhöhung der Versorgungssicherheit als auch         zwischen Industrie- und Entwicklungsländern revitali-
auf die Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit gegen-         sieren, das für die weiteren Klimaverhandlungen drin-
über konventionellen Alternativen vorteilhaft. Auch für     gend benötigt wird.
die nordafrikanischen Länder ergeben sich durch diese
Vernetzung ökonomische und versorgungstechnische
Vorteile.                                                   Emissionshandel
    Über Gasnetze sowie die Einbeziehung von Flüssig-
gasaufbereitungs- und -transportsystemen bieten sich        Allianzen können auch im Bereich des Emissionshan-
weitere Integrationsmöglichkeiten. Auch in Zentral- und     dels geknüpft werden. Ein wesentlicher Baustein der
Osteuropa existieren hohe Potenziale für nachhaltige        Klimaschutzpolitik der EU ist das europäische Emissi-
Biomasseproduktion. Durch die Erzeugung von Methan          onshandelssystem. Trotz einiger Anfangsschwierigkei-
aus Biomasse oder aus überschüssiger Elektrizität kön-      ten, vor allem in Bezug auf die fehlende Knappheit der
nen grundsätzlich auch Länder ohne eigene Erdgasvor-        Zertifikate und die hohe Preisvolatilität, deren Lösung
kommen zu Nettoexporteuren von Erdgassubstituten            aber durch laufende und zukünftige Reformen erwartet
werden.                                                     werden kann, kommt dem System eine Leitbildfunktion
    Beide Beispiele zeigen, dass Energiepartnerschaf-       zu. Der WBGU empfiehlt, dies als Anknüpfungspunkt
ten ein wichtiger Teil der EU-Außenpolitik sein sollten.    für staatenübergreifende Kooperationen zu nutzen.
Generell bietet ein beschleunigter Ausbau erneuerbarer      Die EU könnte mit einzelnen Ländern oder Regionen,
Energien der EU interessante Kooperationsmöglichkei-        die bereits Emissionshandelssysteme eingeführt oder
ten. Um entsprechende Anreize zu setzen, haben bereits      dieses geplant haben, über eine Verknüpfung mit dem
vierzig Staaten weltweit (davon allein 18 in der EU) Ein-   EU-Emissionshandelssystem verhandeln. Zu nennen
speisevergütungen etabliert, um das Erreichen der Kos-      sind z. B. Japan, Kanada (Western Climate Initiative),
tenparität zu konventionellen Stromerzeugungsformen         Australien (NSW Greenhouse Gas Abatement Scheme),
zu beschleunigen. Während Investitionsentscheidun-          Neuseeland sowie die USA (Regional Greenhouse Gas
gen im europäischen Rahmen bislang weitgehend dem           Initiative).
freien Markt überlassen werden, könnten Investitio-             Die Erweiterung des EU-Emissionshandels würde
nen im Sinne strategischer Partnerschaften durch ent-       für alle beteiligten Unternehmen die Marktliquidität
sprechende Kreditgarantien abgesichert werden (z.B.         erhöhen und neue Vermeidungspotenziale erschlie-
durch die Europäische Bank für Wiederaufbau und Ent­        ßen. ­Länder, die bisher keine nationalen Emissions­
wicklung).                                                  obergrenzen eingeführt haben, könnten sektoral oder
    Darüber hinaus kann die europäische Entwicklungs-       abgestuft an einem solchen System beteiligt werden.
zusammenarbeit auch in den armen Entwicklungs-              Vorstellbar wäre etwa, dass ein Land eine absolute oder
ländern in Afrika südlich der Sahara und in Südasien        relative Emissionsobergrenze zunächst nur für einen
sowie mittelgroßen Entwicklungsländern wie Vietnam          eng begrenzten Sektor einführt und diesen mit dem
und Peru zum Aufbau klimaverträglicher Infrastruktu-        EU-Emissionshandelssystem verknüpft. Insbesondere
ren beitragen. 60  % der weltweiten Investitionen in die    für Entwicklungs- und Schwellenländer kann hier ein
internationale Entwicklungszusammenarbeit kommen            Anreiz geschaffen werden, indem die Emissionsober-
aus dem EU-Raum. Dieser entwicklungspolitische Hebel        grenze relativ großzügig gewählt wird. Dies wäre jedoch
wird derzeit nicht systematisch genutzt, um das neue        im Gegenzug durch ambitionierte Obergrenzen auf Sei-
klimaverträgliche Entwicklungsparadigma international       ten der EU zu kompensieren. Es ist daher wichtig, dass
attraktiv zu machen. Die europäische Entwicklungszu-        in allen beteiligten Staaten ein effektives Kontroll- und
sammenarbeit muss sich neben den primär auf Armuts-         Monitoring-System etabliert wird, um eine Verwässe-
reduzierung ausgerichteten Millenniumsentwicklungs-         rung des EU-Emissionshandelssystems zu vermeiden.
zielen zusätzlich systematisch auf klimaverträgliches       Auch die Harmonisierung der Bilanzierungsstandards
Wachstum orientieren. Diese Neuorientierung würde           und Detailregelungen wie Anrechnung von „Offsets“

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           (z. B. CDM oder Landnutzungsemissionen) zwischen den        Fazit
           Ländern sowie mit den Regeln innerhalb der UNFCCC
           sollte gewährleistet sein.                                  Mit den hier skizzierten zwischenstaatlichen Allian-
                Grundsätzlich bleibt zu bedenken, dass derartige       zen kann sich Europa das politische Handlungskapital
           Kooperationen die Komplexität des bestehenden Emis-         schaffen, um eine führende Rolle in der globalen Kli-
           sionshandelssystems weiter erhöhen. Das Volumen der         mapolitik übernehmen zu können. Die in Umrissen
           zusätzlich einbezogenen Emissionen und tatsächliche         skizzierten Allianzen wären inklusiv und auf einen
           damit verbundene Minderungen müssen diesen Auf-             positiven Beteiligungswettbewerb ausgerichtet. Ziel der
           wand rechtfertigen. Perspektivisch sollten diese Maß-       neuen europäischen Klimadiplomatie wäre, die kritische
           nahmen dazu beitragen, schrittweise einen globalen          Masse klimaorientierter Partner zu gewinnen, die die
           Kohlenstoffmarkt zu schaffen, dessen Elemente bereits       Weichen in Richtung einer klimaverträglichen Welt-
           jetzt zu erörtern sind. So stellt sich etwa die Frage, ob   wirtschaft umstellen kann. Die exemplarisch dargestell-
           zum Abbau von Bürokratie und zur Steigerung der             ten Partnerschaften könnten nach Ansicht des WBGU
           Wirksamkeit des Systems mittelfristig eine Erfassung        auch dazu beitragen, die Differenz zwischen dem nor-
           der Emissionen auf der ersten Handelsstufe sinn­voll        mativen Grundkonsens über die notwendige Beachtung
           wäre.                                                       der 2 °C-Leitplanke und den für ihre Einhaltung inad-
                Flankierende Technologiekooperationen könnten          äquaten Strukturen und Routinen der internationalen
           die Bereitschaft zur Beteiligung an verknüpften Emissi-     Kooperation zu überwinden.
           onshandelssystemen weiter erhöhen. Explizite Handels-
           sanktionen gegen nicht teilnehmende Staaten hält der
           WBGU für nicht zielführend. Zur Reduktion von Wett-
           bewerbsnachteilen könnte allerdings eine gemeinsame
           Einführung moderater Grenzausgleichsabgaben für die
           betroffenen Sektoren in Erwägung gezogen werden.

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Politikpapier Nr. 6         Klimapolitik               April 2010                 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
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Wiederbelebung der multilateralen
Klimapolitik

Wie die Klimakonferenz in Kopenhagen gezeigt hat,              der Entwicklungsländer für die Erfüllung ihrer Reduk-
schreiten die internationalen Klimaverhandlungen               tionsverpflichtungen trägt.
allenfalls im Schneckentempo voran. Eine Strategie zur       Für die sachgerechte Fortentwicklung des internationa-
wirksamen Begrenzung des anthropogen verursachten            len Klimaschutzregimes ist es erforderlich, dass flexibel
Klimawandels – zumal unter erheblichem Zeitdruck –           und zeitnah auf neue wissenschaftliche und technolo-
hat aber ohne den Fluchtpunkt eines weltweit verbind-        gische Erkenntnisse – durch völkervertragsrechtlich,
lichen Klimaabkommens keine realistischen Erfolgs-           mittels Mehrheitsentscheidung, herbeigeführte Proto-
aussichten. Allen Frustrationen über den verfahrenen         kolländerungen – reagiert werden kann und dass die
UN-Verhandlungsprozess zum Trotz wäre ein allein auf         Finanzierung von Reduktions- und Anpassungsmaß-
zwischenstaatlichen Initiativen beruhender Ansatz mit        nahmen im Sinne des Verantwortlichkeitsprinzips, ins-
mindestens zwei fundamentalen Risiken behaftet. Es           besondere mit Blick auf die Entwicklungsländer, bereits
ist zum einen völlig offen, ob mit dem im Copenhagen         jetzt gesichert ist.
Accord vereinbarten Verfahren auch nur annäherungs-              Eine konsistente völkervertragsrechtlich abge­
weise der 2 °C-Leitplanke entsprechende Emissionsre-         sicherte Klimaschutzordnungspolitik würde die ­Chancen
duktionen erreicht werden können. Zum anderen wird           deutlich erhöhen, gefährlichen Klimawandel zu vermei-
ein System ohne übergeordnete Koordinierungs- und            den. Für ein entsprechendes internationales Klima-
Sanktionsmechanismen die Verlagerung von Emissio-            schutzabkommen mit verbindlichen Pflichten für die
nen in kooperationsunwillige Länder (Carbon Leakage)         Vertragsstaaten sowie effektiven Durchsetzungsmecha-
ebenso wenig überwinden können wie das kollektive            nismen und Streitschlichtungsinstrumenten sprechen
Handlungsproblem des „Trittbrettfahrens“ (WBGU,              insbesondere vier Gründe:
2003, 2009b).
     Frühere Erfolgsbeispiele globaler Umweltpolitik,        1. Eindeutige und unumkehrbare Anreize für die Redu-
wie die internationalen Vereinbarungen zum Schutz der           zierung von Emissionen;
Ozonschicht, sind insbesondere auf bindendes Völker-         2. Begrenzung von Carbon Leakage und Trittbrett-
vertragsrecht zurückzuführen. Als wesentliche Erfolgs-          fahrerverhalten sowie Eindämmung der Gefahr des
faktoren des Wiener Übereinkommens über den Schutz              „Klima­protektionismus“;
der Ozonschicht und des dazu ergangenen Montreal-            3. Erwartungssicherheit für transnationale Unterneh-
Protokolls gelten dabei:                                        men durch globale, langfristige und stabile Rahmen-
•• Die völkerrechtlich innovative Ausgestaltung des Ver-        bedingungen, wodurch auch mögliche Spannungen
   tragswerks durch eine Rahmensetzung, die durch Pro-          zwischen Wirtschafts- und Klimapolitik entschärft
   tokolle mit konkreten Reduktionsverpflichtungen für          würden;
   die Herstellung und den Verbrauch Ozon abbauender         4. Gemeinsame Regelsetzung und wechselseitiges
   Substanzen ausgefüllt wurde.                                 Monitoring zur Vertrauensbildung zwischen den kli-
•• Der dynamische Charakter der Entscheidungsfindung            mapolitischen Hauptakteuren (China, USA, EU, G77).
   bei der Fortentwicklung des Montreal-Protokolls, das
   nicht entsprechend dem sonst im Völkervertragsrecht       Wenn eine derartige völkerrechtlich fundierte Ord-
   geltenden Konsensprinzip, sondern mittels Zwei-Drit-      nungspolitik innerhalb des bereits bestehenden
   tel-Mehrheit geändert werden kann.                        UNFCCC-Prozesses nicht gelingt und dieser im diploma-
•• Die Einrichtung eines innovativen, langfristig angeleg-   tischen Normalmodus einfach weitergeführt wird, droht
   ten Finanzierungsmechanismus, der die Mehrkosten          ihm das endgültige Aus. Es gilt also zu retten, was für

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           ein künftiges Regime zu retten ist und Agenden zu ver-     dung des – in Art. 7 (3) der UNFCCC angelegten – Mehr-
           folgen, die man am ehesten beschleunigen oder heraus-      heitsprinzips einsetzen.
           lösen kann.                                                    Im Copenhagen Accord haben die Industrieländer
               Wichtige Errungenschaften des UNFCCC-Prozes-           zugesagt, im Zeitraum von 2010 bis 2012 eine Summe
           ses, die unbedingt gesichert werden sollten, sind ein      von 30 Mrd. US‑$ zusätzlich für Vermeidungs- und
           gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Stan-          An­passungsmaßnahmen, Technologietransfer und
           dardsetzung in Bezug auf die Erfassung, Zuordnung          Ka­pa­zi­tätsaufbau in Entwicklungsländern zur Verfü-
           und Anrechnung von Treibhausgasemissionen. Einiges         gung zu stellen. Anschließende jährliche Zahlungen sol-
           davon ist bereits im Rahmen des Kioto-Protokolls gere-     len bis 2020 100 Mrd. US‑$ erreichen. Ein großer Teil
           gelt (etwa Anrechnungsregeln für die national zu erstel-   der Gesamtsumme, heißt es im Copenhagen Accord, soll
           lenden Emissionsinventare; Land Use, Land-Use Change       über den neuen Green Climate Fund abgewickelt wer-
           and Forestry; Clean Development Mechanism), weiteres       den. Die Zusätzlichkeit der Mittel ist jedoch in vielen
           ist gegenwärtig Gegenstand des zweiten Verhandlungs-       Fällen nicht gegeben. So setzen sich beispielsweise die
           strangs (etwa REDD+; Measurement, Reporting and            von Deutschland zugesagten 420 Mio. € größtenteils
           Verification). Zwar hält der WBGU viele dieser Regelun-    aus bereits vorher für Klimaschutz und Entwicklungs-
           gen für verbesserungswürdig, aber als transparente und     zusammenarbeit eingeplanten Geldern zusammen (WRI,
           international abgestimmte Regelungen bilden sie die        2010). Zur Erfüllung der in Kopenhagen gemachten
           Basis für eine international vertrauenswürdige Zusam-      Zusagen wurden für das Jahr 2010 nur 70 Mio. € neu
           menarbeit im Klimaschutz.                                  in den Bundeshaushalt eingestellt (BMF, 2010). Der-
               Dies gilt insbesondere auch für den Bereich der        artige Verfahrensweisen unterminieren die Glaubwür-
           Anpassung an den Klimawandel in Entwicklungslän-           digkeit von Transferzusagen auf internationaler Ebene,
           dern. Der Bedarf nach umfassenden Unterstützungsleis-      schwächen das Vertrauen der Entwicklungsländer in kli-
           tungen der Industrieländer an die ärmsten Entwicklungs-    mapolitische Verhandlungen und sind daher langfristig
           länder ist grundsätzlich in der UNFCCC verankert. Mit      kontra­produktiv.
           der Einigung auf die Ausgestaltung eines Anpassungs-           Für die Verwaltung und Auszahlung der zugesagten
           fonds und der Verabschiedung des Arbeitsprogramms          Gelder müssen einheitliche und transparente Strukturen
           von Nairobi (UNFCCC, 2007) wurde dies konkretisiert        entwickelt werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass
           und im Sinne der gemeinsamen aber unterschiedlichen        sämtliche Finanzmittel das Kriterium der Zusätzlichkeit
           Verantwortlichkeit auf internationaler Ebene bekräftigt.   erfüllen und außerdem, nach Ansicht des WBGU, leis-
           Es erscheint für viele Entwicklungsländer unverzicht-      tungsbasiert ausgezahlt werden sollen. Die EU sollte
           bar, dass Weiterentwicklung und Umsetzung entspre-         sich dafür einsetzen, dass der Green Climate Fund unter
           chender Politiken auch weiterhin unter dem Dach der        dem Dach der UNFCCC angesiedelt wird. Eine Diffe-
           UNFCCC verfolgt werden.                                    renzierung zwischen den Bereichen „Vermeidung“ und
               Der Komplexität der internationalen Klimapolitik       „Anpassung“ erscheint sinnvoll. Während für Vermei-
           nicht mehr angemessen ist die Zweiteilung der UNFCCC-      dung ein langfristig tragfähiges Konzept neu erarbeitet
           Vertragsstaaten in Annex-I- und Nicht-Annex-I-Länder.      werden müsste, könnten im Bereich der Anpassung die
           Auch wenn viele Entwicklungs- und Schwellenländer          Erfahrungen mit dem neu eingerichteten Kioto-Anpas-
           auf dieser Dichotomie beharren, ist eine Differenzierung   sungsfonds genutzt werden, um ein Konzept für die län-
           innerhalb der Gruppe der Nicht-Annex-I-Länder erfor-       gerfristige institutionelle Ausgestaltung zu ­entwic­keln.
           derlich, um die internationale Klimapolitik zu beschleu-   Zur Förderung der Vertrauensbildung zwischen den
           nigen. In Kopenhagen wurden auch Entwicklungs- und         Ländern empfiehlt der WBGU, dass die Industrieländer
           Schwellenländer auf internationaler Ebene zur Benen-       umgehend konkrete Konzepte vorlegen, wie sie lang-
           nung quantitativer Klimaschutzziele im Anhang des          fristig und verlässlich Mittel für den oder die Fonds
           Copenhagen Accord eingeladen; dem sind sie auch            generieren. Der WBGU hält es für notwendig, dass dabei
           grundsätzlich gefolgt. Insbesondere die Operationali-      auch die öffentlichen Haushalte einen beträchtlichen
           sierung der im Copenhagen Accord vereinbarten Über-        Anteil beisteuern.
           prüfungsmechanismen könnte ein Präzedenzfall für die           Die EU sollte schließlich anbieten, eine zweite Ver-
           Überwindung der überholten Dichotomie bilden.              pflichtungsperiode des Kioto-Protokolls zu akzeptieren,
               Wie das erwähnte Beispiel des Montreal-Protokolls      auch wenn der Verhandlungsstrang unter der UNFCCC
           zeigt, könnten auch effektivere Entscheidungsverfahren     noch nicht zu einem rechtsverbindlichen Abkommen
           zur Überwindung von Verhandlungsblockaden beitra-          entwickelt werden kann, oder auch wenn einzelne bis-
           gen, die durch das Konsensprinzip bedingt sind, und        her verpflichtete Staaten das Kioto-Protokoll verlassen
           eine Beschleunigung des Verhandlungsprozesses erwir-       sollten. Einzige Bedingung sollte sein, dass die im Copen-
           ken. Die EU sollte sich in diesem Sinne für die Anwen-     hagen Accord vereinbarten Eckpunkte in den weiteren

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Politikpapier Nr. 6       Klimapolitik              April 2010   Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
                                                                  Globale Umweltveränderungen

Verhandlungsprozess integriert und operationalisiert
werden. Insbesondere das „Pledge-and-Review-Ver-
fahren“ sollte transparente Regeln und völkerrechtli-
che Verbindlichkeit erhalten. Diese angestrebte Lösung
wäre ein pragmatischer „Erfolg“ der Vertragsstaaten-
konferenz in Cancún. Die EU würde signalisieren, dass
sie an international verbindlichem Klimaschutz festhält
und die erreichten Verhandlungsfortschritte nicht aufs
Spiel setzen will. Somit stünde die Welt 2012 – nach
dem Auslaufen der ersten Verpflichtungsperiode des
bestehenden Kioto-Vertrages – nicht gänzlich ohne ein
wirkungsvolles internationales Klimaregime da.

                                                                                                            15
Politikpapier Nr. 6        Klimapolitik                April 2010                 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung
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           Schlussfolgerungen

           Der WBGU regt in diesem Politikpapier eine entschie-         geschlossen werden kann und wie das Klimathema die
           dene und rasche Wende der globalen Klimapolitik an.          ihm zukommende Relevanz in der Formulierung globa-
           Die Klimaverhandlungen zur Erreichung eines interna-         ler Politikziele erlangen kann.
           tional verbindlichen Regelwerkes zur Begrenzung der          Als mögliche Foren dieser Strategiedebatte (Solutions
           Treibhausgasemissionen müssen erneuert und durch ein         Dialogue) kommen neben parlamentarischen und quasi-
           Bündel von Initiativen ergänzt werden. Skizziert wurde       parlamentarischen Gremien (vom EU-Parlament bis
           ein Mehrebenensystem, das nach dem unzureichenden            zur UN-Generalversammlung) themenzentrierte und
           Ergebnis des Kopenhagener Klimagipfels dessen posi-          moderierte Internet-Foren nach dem Vorbild der EU-
           tive Aspekte aufgreift, zugleich aber die Spannungs-         Verfassungs-Debatte und im Rahmen des Diskussions-
           felder einer polyzentrischen Weltkonstellation berück-       forums zur „Zukunft Europas“ in Betracht (Europäisches
           sichtigt und sich stärker von der gesellschaftlichen und     Parlament, 2010; Europäische Kommission, 2010b).
           wirtschaftlichen Basis her auf ein globales Regieren im      Weiterhin regt der WBGU einen weltweiten Ideen-
           Klima- und Energiebereich hin bewegt. Darunter wer-          wettbewerb für die besten Lösungen und Praktiken im
           den ganz unterschiedliche Ansätze gefasst, die man ana-      Klimaschutz an. Mit solchen Partizipationsformen wird
           lytisch und praktisch auseinanderhalten muss:                auch die europäische Zivilgesellschaft ernst genommen.
           •• Subnationale Klimainitiativen und Allianzen von           Sie wird sich an der Debatte aber nur beteiligen, wenn
              Städten in Ergänzung zentralstaatlicher und suprana-      sie nah an den Entscheidungsprozess der Europäischen
              tionaler Steuerungsversuche;                              Union und ihrer Mitgliedsländer sowie der Vereinten
           •• Unternehmensaktivitäten, die einen Markt für klima-       Nationen herangeführt wird und jenseits der technisch-
              verträgliche Produkte und Dienstleistungen schaffen;      ökonomischen Details der Klimadiplomatie ein histori-
           •• Freiwillige und eigenverantwortliche Reduktionsver-       sches Projekt erkennen kann. Politische Kooperationen
              pflichtungen der Zivilgesellschaft, die gesetzliche und   haben sich – wie das Beispiel der Europäischen Union
              administrative Regelungen antizipieren oder übertref-     zeigt – aus sektoral und regional begrenzten, gleichwohl
              fen;                                                      zentralen Agenden entwickelt und politische Identität
           •• Eine Klimapolitik, die auf verschiedene Instrumente       gestiftet. Nicht weniger muss Europa heute gelingen,
              und Regime setzt;                                         allerdings im globalen Rahmen.
           •• Eine Klimapolitik, die die Multipolarität der Weltpoli-       Die vom WBGU skizzierte Mehr­ebenenpolitik darf
              tik spiegelt und Raum für spontane oder koordinierte      allerdings in keinem Moment verkennen, dass eine
              staatliche Initiativen schafft (wie das von Norwegen      zukunftsfähige Strategie gegen den Klimawandel nicht
              und Deutschland unterstützte Amazonasschutzpro-           um die Fundamentalfrage der gerechten internationalen
              gramm in Brasilien oder die Low-carbon-Partner-           Lastenteilung herumkommt: Wie im WBGU-Sondergut-
              schaft Großbritanniens mit China) und parastaatliche      achten „Kassensturz für den Weltklimavertrag“ (WBGU,
              Ansätze (etwa die Soros Climate Policy Initiative oder    2009b) ausgeführt, hat die Menschheit nur noch ein
              die von der Stiftung der Münchener Rückversicherung       begrenztes Emissionsbudget zur Verfügung, wenn das
              angestoßene Initiative zum Versicherungsschutz von        Risiko unbeherrschbarer Umweltveränderungen einge-
              Kleinbauern in Entwicklungsländern, die vom Klima-        hegt werden soll. Mit den zahlreichen hier vorgeschla-
              wandel bedroht sind).                                     genen Initiativen und Innovationen könnte es gelingen,
           Dieser Mehrebenenansatz, der weiterhin ein völker-           mit diesem Budget leichter auszukommen und damit die
           rechtlich verbindliches Klimaabkommen als Flucht-            zu verteilende Last zu mindern. Aber eine beträchtliche
           punkt hat, sollte mit einer durch Strategiepapiere unter-    Last wird bleiben – und muss auf faire und verantwor-
           legten Generaldebatte der Länder über die Umsetzung          tungsvolle Weise von der Weltgemeinschaft geschul-
           des Copenhagen Accord ergänzt werden. Es sollte insbe-       tert werden. Die Klimaphysik bleibt ohnehin dieselbe,
           sondere diskutiert werden, auf welche Weise die große        ganz gleich ob man sie „von oben“ oder „von unten“
           Lücke zwischen den angebotenen und den zur Einhal-           ­betrachtet.
           tung der 2 °C-Leitplanke notwendigen Verpflichtungen

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