LESEVERSTEHEN KENNT KEINE SPRACHGRENZEN - KOOPERATIV UND MEHRSPRACHIG TEXTE VERSTEHEN - BISS-TRANSFER

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Leseverstehen kennt
keine Sprachgrenzen
Kooperativ und mehrsprachig Texte verstehen

Eine Initiative von:
LESEVERSTEHEN KENNT KEINE SPRACHGRENZEN - KOOPERATIV UND MEHRSPRACHIG TEXTE VERSTEHEN - BISS-TRANSFER
Sprach- und Leseförderung mit BiSS
„Bildung durch Sprache und Schrift“ (BiSS) ist eine gemeinsame Initiative des Bundesministeriums für Bildung und
Forschung (BMBF), des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) sowie der Kultus­
ministerkonferenz (KMK) und der Konferenz der Jugend- und Familienminister (JFMK) der Länder zur Verbesserung
der Sprachförderung, Sprachdiagnostik und Leseförderung.

Das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache der Universität zu Köln, das DIPF | Leibniz-
Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation und die Humboldt-Universität zu Berlin in Kooperation mit
dem Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) übernehmen als Trägerkonsortium die wissenschaft­-
l­iche Ausgestaltung und Gesamtkoordination des Programms.
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Inhalt                                                            Bild: BiSS-Trä
                                                                                 gerkonsortium/Annet
                                                                                                    te Etges

2
Mehrsprachigkeit
Ein Plus für die Leseförderung               11
                                             Einführung des
5                                            ­Mehrsprachigen
Mehrsprachiges                                ­Reziproken Lesens
­Reziprokes Lesen                              in der Primarstufe
In Kleingruppen Texte lesen und              Orientierungshilfe für die Praxis
­mehrsprachig Bedeutung herstellen

                                             19
9                                            Weiterlesen
Experteninterview
„Die Kinder merken, dass sie sich in allen
ihren Sprachen den Text erschließen
                                             20
können.“                                     Impressum
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   Mehrsprachigkeit
   Ein Plus für die Leseförderung
   Im Unterricht erhalten die Schülerinnen und Schüler           schreiben wir, dass wir mit dem Radiergummiraumschiff
   den Arbeitsauftrag, einer Person in einem Brief über          zurückgeflogen sind.“ Pascal ergänzt: „Am besten einen
   ihren neuen außerirdischen Freund sowie die gemein­           Tag später.“ (Videotranskript: vgl. Bezirksregierung
   samen Erlebnisse auf seinem Planeten zu berichten.            Köln, 2019)
   Die Kinder sitzen an Gruppentischen zu fünft zusam-
   men und bearbeiten die Aufgabe. Parallel unterhalten          Diese authentische Unterrichtssituation macht deutlich,
   sie sich über das Geschriebene. Klarissa schreibt einen       dass mehrsprachige Interaktion eine Ressource für den
   Brief an den Bürgermeister Herrn Jansen auf Rus-              Unterricht darstellen kann. Sprachen zu kombinieren,
   sisch „Дорогой Мистер Янсен, я была на Элементар              ist insbesondere dann pragmatisch angemessen wenn
   планетe [...]“ und unterhält sich zugleich mit ihren          zwei oder mehr Lernende über sprachliche Mittel aus
   Mitschülerinnen und Mitschülern über den Inhalt ihres         den gleichen Sprachen verfügen. Mehrsprachige Kinder
   Briefes. Klarissa: „Er lebt auf dem Elementarplane-           lernen früh, wie sie die ihnen zur Verfügung stehen-
   ten [...].“ [...] Samira liest ihren Text auf Türkisch vor:   den sprachlichen Mittel an ein- oder mehrsprachige
   ­„Sevgili arkadaşlar, uzaylı arkadaşımla birlikte bir hafta   Kommunikationssituationen anpassen können, damit die
   geçirdim. Bana kendi okulunu gösterdi“, und erläutert         Gesprächsteilnehmenden sie verstehen. Damit erwerben
   auf Deutsch: „Liebe Freundinnen und Freunde, ich habe         sie eine besondere kommunikative Kompetenz: Sie lernen
   eine Woche mit meinem außerirdischen Freund ver-              nicht nur, ihre Sprachwahl flexibel und schnell umzustel-
   bracht. Er hat mir seine Schule gezeigt.“ Klarissa fügt       len — sie können die getroffene Sprachwahl falls nötig
   hinzu: „Ja, das habe ich auch. [kleine Pause] Dann            auch korrigieren (vgl. Tracy, 2008).

      Bild: BiSS-Trägerkonsortium/Ann
                                      ette   Etges
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Mehrsprachigkeit | 3

Mehrsprachigkeit für
das Lernen aktivieren
Mehrsprachige Personen haben die
ver­schiedenen Sprachen nicht als strikt
getrennte Systeme im Kopf. Sie verfügen
vielmehr über ein Gesamtrepertoire an
sprachlichen Mitteln. Dieses können sie
insbesondere dann nutzen, wenn auch
die Gesprächspartnerinnen und -partner
mehrere Sprachen sprechen. Üblich sind
translinguale Sprachhandlungen wie
Sprachmischungen oder Sprachwechsel
(vgl. Cantone, 2007). Diese sind im
Gespräch zwischen zwei- oder mehr­­-
                                                                                                                             Etges
                                                                                         Bild: BiSS-Trägerkonsortium/Annette
s­prachigen Menschen absolut sinnvoll und
deshalb ein Zeichen für den kompetenten
Umgang mit Sprachen (vgl. Tracy, 2008).                      forderungen (meist im Deutschen) unterstützen. Solche
                                                             Hilfen können z. B. Begriffsnetze, Definitionskarten oder
Für das schulische Lernen ist das Medium Sprache             Lernplakate sein (vgl. „Weiterlesen“: Methodenpool für
zentral. Es lohnt sich daher, das gesamtsprachliche          sprachsensiblen Unterricht).
Repertoire als Ressource im Unterricht aktiv zu nutzen.
Auf diese Weise kann man mehrsprachigen Kindern und
Jugendlichen das Lernen erleichtern.                             Translanguaging
                                                                 Der Begriff Translanguaging wurde ursprünglich
In einer mehrsprachigen Unterrichtspraxis nutzen Lehr-           von dem Waliser Sprachforscher Cen Williams
kräfte das gesamte sprachliche, kommunikative und                geprägt. Später wurde er vor allem von der New
intellektuelle Potenzial mehrsprachiger Schülerinnen und         Yorker Expertin für mehrsprachige Erziehung
                                                                 Ofelia García übernommen. Sie beschreibt trans-
Schüler zu deren Wissens- und Kompetenzerwerb. Die
                                                                 linguales sprachliches Handeln als natürliche und
Kinder und Jugendlichen erfahren außerdem, dass ihre
                                                                 legitime Form der Kommunikation (vgl. Otheguy,
Mehrsprachigkeit wertgeschätzt wird.                             García & Reid, 2015) mit großem didaktischen
                                                                 Potenzial für den Unterricht (vgl. García, Ibarra-­
Gerade in kooperativen Lernformen bietet es sich an,             Johnson & Seltzer, 2017). Im Alltag werden
dass Lernende mit gleichen Sprachenkonstellationen zu-           Sprachen jedoch häufig als aufzählbare Einheiten
sammenarbeiten und in allen ihnen verfügbaren Sprachen           behandelt. Dadurch entsteht das Missverständ-
                                                                 nis, dass diese konstruierten Abgrenzungen (z. B.
interagieren (vgl. Celic & Seltzer, 2011). Wenn sie aber
                                                                 Deutsch vs. Englisch) auch im Kopf mehrspra-
zu einer größeren Gruppe sprechen (z. B. im Klassen-
                                                                 chiger Personen bestehen. Zentrale These des
plenum) oder etwas an die Allgemeinheit schreiben,               Translanguaging-Ansatzes ist dagegen, dass klar
ist es erforderlich, dass sie die Sprache verwenden, die         definierte Grenzen zwischen Sprachen im Kopf
möglichst alle Adressatinnen und Adressaten verstehen.           nicht existieren. Standardsprachliche Korrekt-
Dabei brauchen die Kinder und Jugendlichen ggf. Unter-           heit und bildungssprachliche Fähigkeiten sollten
                                                                 deshalb auf der Basis der gesamten verfügbaren
stützung. Es ist deshalb sinnvoll, dass Lehrkräfte dann
                                                                 sprachlichen Mittel der Kinder und Jugendlichen
sprachliche Hilfen bereithalten, die die Lernenden bei der
                                                                 gefördert werden.
Bewältigung der standard- und bildungssprachlichen An-
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   Lesekompetenz auf Basis der
   Gesamtsprachigkeit fördern                                        Literatur
   Im Hinblick auf die Lesekompetenz unterscheidet die        Bezirksregierung Köln (2019). Mehrsprachiges Reziprokes
   Forschung zwischen hierarchieniedrigen und hierarchie­     Lesen in der vierten Klasse. Video- und Fortbildungsmaterial.
   hohen Prozessen (vgl. z. B. Lenhard, 2013). Kinder         Köln.

   müssen zunächst die hierarchieniedrigen Prozesse im        Cantone, K. F. (2007). Code-switching in Bilingual Children.
   Lesen automatisieren, z. B. die Laut-Buchstaben-Zuord-     Dordrecht: Springer.
   nung und die Worterkennung. Dann erst sind kognitive       Celic, C. & Seltzer, K. (2011). Translanguaging: A CUNY-
   Ressourcen für die hierarchiehohen Prozesse frei, also     NYSIEB Guide for Educators. Verfügbar unter: https://www.
                                                              cuny-nysieb.org/wp-content/uploads/2016/04/Translangua-
   für das Textverstehen. Hierarchiehohe Prozesse — wie die
                                                              ging-Guide-March-2013.pdf [12.08.2019].
   Anwendung von Textsortenwissen und Lesestrategien —
   sind jedoch nicht direkt mit bestimmten Einzelsprachen     García, O.; Ibarra-Johnson, S. & Seltzer, K. (2017). The
                                                              Translanguaging classroom. Leveraging student bilingualism for
   verknüpft. Das heißt: Hat ein Kind Lesestrategien z. B.
                                                              learning. Philadelphia: Caslon.
   schon auf Türkisch kennengelernt, kann es die gleichen
                                                              Lenhard, W. (2013). Leseverständnis und Lesekompetenz.
   Strategien auch auf Texte in Deutsch anwenden. Es ist
                                                              Grundlagen, Diagnostik, Förderung. Stuttgart: Kohlhammer.
   daher plausibel, dass Kinder die Strategien auch effek-
   tiver erwerben und festigen und Texte besser verstehen,    Otheguy, R.; García, O. & Reid, W. (2015). Clarifying translan-
                                                              guaging and deconstructing named languages. A perspective
   wenn sie in der Interaktion zu Texten alle verfügbaren     from linguistics. Applied Linguistics Review, 6 (3), 281—307.
   Sprachen anstatt nur eine Sprache nutzen.
                                                              Tracy, R. (2008). Wie Kinder Sprachen lernen. Und wie wir sie
                                                              dabei unterstützen können (2. überarbeitete Aufl.). Tübingen:
   Diese Annahme macht sich die Methode des Mehrspra-         Francke Verlag.
   chigen Reziproken Lesens zunutze: Sie verknüpft das
   Prinzip des interaktiven Lernens mit den didaktischen
   Ressourcen der Mehrsprachigkeit.
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Mehrsprachiges Reziprokes Lesen | 5

Mehrsprachiges Reziprokes Lesen
In Kleingruppen Texte lesen und mehrsprachig
Bedeutung herstellen
Das Mehrsprachige Reziproke Lesen wurde im Rahmen         metasprachliche Fähigkeiten auf Basis der Gesamtspra-
eines BiSS-Verbunds im Regierungsbezirk Köln ent-         chigkeit anzueignen. Vor allem geht es darum, dass die
wickelt (vgl. Gantefort & Sánchez Oroquieta, 2015).       Lernenden unter Nutzung all ihrer sprachlichen Fähig-
Reziprokes Lesen ist eine bekannte und evaluierte         keiten Lesestrategien erwerben und sie festigen, um in
Methode zur Förderung des Leseverstehens (vgl.            der Folge fachliche und literarische Texte eigenständig
Rosen­shine & Meister, 1994). Der Verbund hat diese       verstehen zu können.
Methode auf Basis der Prinzipien des Translanguaging-
Ansatzes (vgl. „Translanguaging“, S. 3) für den Einsatz   Die Methode richtet sich an Schülerinnen und Schüler,
in mehrsprachigen Lerngruppen weiterentwickelt,           die über ein Mindestmaß an Leseflüssigkeit verfügen und
erprobt und wissenschaftlich evaluiert. Die wichtigsten   Unterstützung im strategischen, verstehenden Lesen
Merkmale der Methode fassen wir hier zusammen.            benötigen. Sie eignet sich für den Deutsch-, Sachfach-
                                                          und den herkunftssprachlichen Unterricht (HSU) in der
                                                          Primar- und Sekundarstufe und lässt sich insbesondere
Für wen und wofür eignet sich die Methode?                in mehrsprachigen Klassen einsetzen, in denen mehrere
Mithilfe des Mehrsprachigen Reziproken Lesens können      Lernende über die gleichen bzw. vergleichbare Sprachen-
Lehrkräfte ihre Schülerinnen und Schüler darin unter-     konstellationen verfügen.
stützen, sich fachliches Wissen, Leseverstehen und

                                          Etges
      Bild: BiSS-Trägerkonsortium/Annette
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6 | Leseverstehen kennt keine Sprachgrenzen

   Wie wendet man die Methode an?                                2. Anschließend besprechen die Lernenden unter freier
   Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten in Gruppen               Sprachwahl schwierige Wörter und/oder Textstellen
   von vier bis fünf Personen einen Text. Dabei können sie          in der Kleingruppe, um Unklarheiten zu Begriffen
   sowohl das Deutsche als auch ihre Herkunftssprache(n)            und Zusammenhängen zu klären. Unterstützend kann
   nutzen. Die Lernenden wenden interaktiv fünf verschie-           die Lehrkraft ihnen Tipp-Karten aushändigen, die die
   dene Lesestrategien an. Dabei gehen sie abschnittsweise          Lernenden bei Sprachhandlungen wie Erklären oder
   vor und folgen einem festgelegten Ablauf: 1. (Vor-)Le-           Definieren unterstützen.
   sen, 2. Wörter und Textstellen klären, 3. Fragen stellen,     3. Im dritten Schritt formulieren und beantworten die
   4. Zusammenfassen, 5. Vorhersagen (vgl. Abbildung 1).            Schülerinnen und Schüler unter freier Sprachwahl
                                                                    gemeinsam weiterführende Fragen zum Text. Die Fra-
   Nach dem Lesen des Textes bearbeiten die Lernenden               gen kann aber auch ein einzelnes Kind aus der Gruppe
   weiterführende Aufgaben, für die sie standard- und bil-          übernehmen. Fragen zu stellen und zu beantworten,
   dungssprachliche Mittel benötigen. Für dieses Vorgehen           unterstützt die Lernenden dabei, die inhaltlichen
   hat das BiSS-Verbundteam deutsch-türkische Sprachhil-            Zusammenhänge des Textes zu verstehen. Als hilfreich
   fen (Lesehilfen, Fragenfächer; vgl. Abbildung 2) entwi-          in dieser Phase hat sich ein Fragenfächer erwiesen,
   ckelt. Sie unterstützen die Lernenden dabei, sprachliche         der Fragewörter in Deutsch und der jeweiligen Her-
   Anforderungen im Gruppengespräch zu bewältigen.                  kunftssprache enthält. Die Lehrkraft kann mit den Ler-
   1. Im ersten Schritt lesen alle den Abschnitt leise und          nenden gemeinsam reflektieren, welche Art von Fragen
      markieren schwierige Wörter und Abschnitte. Gege-             einfach und welche schwierig sind. Anknüpfungspunkte
     benenfalls kann auch eine Schülerin oder ein Schüler           dazu finden sich in den Kompetenzstufenmodellen der
     den Text vorlesen.                                             Kultusministerkonferenz zum Lesen (vgl. KMK, 2005).

                                                Gibt es
                                           schwierige Wörter
                                               im Text?
                                                                                                            ‚Bleich‘
                                                                                                           ne demek?

         Bleich ist zum
        ­ eispiel, wenn
         B
     einem schlecht ist,
         dann ist man
           etwas weiß.

    Abbildung 1: Mehrsprachiges Reziprokes Lesen im Unterricht
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Mehrsprachiges Reziprokes Lesen | 7

                                                                                                zum Klimawandel lesen
                                                                                                und dabei mehrsprachig
                                                                                                interagieren, sodann aber
                                                                                                einen Leserbrief für die
                                                                                                lokale Zeitung ­verfassen,
                                                                                                welcher in der deutschen
                                                                                                Standardsprache verfasst
                                                                                                werden muss, damit ihn
                                                                                                alle Leserinnen und Leser
                                                                                                der Zeitung auch verste-
                                                                                                hen können. Als hilfreich
                                                                                                haben sich dabei Methoden
                                                                                                und sprachliche Hilfen wie
                                                                                                Netzwerk, Definitions-
                                                                                                karte, Begriffsnetz und
                                                                                                Lernplakat erwiesen. Sie
                                                                                                unterstützen die Lernenden
 Abbildung 2: Lesehilfen und Fragenfächer, Foto: BiSS-Trägerkonsortium
                                                                                                beim zusammenhängenden
                                                                                                Sprechen im Plenum und
4. Danach fassen die Lernenden den bisher gele­senen              fördern zugleich die fachliche Begriffsbildung sowie das
   Textabschnitt in eigenen Worten und wiederum unter             Verstehen der Zuhörenden. Sollen im Anschluss an das
   freier Sprachwahl zusammen. Auch an dieser Stelle              Mehrsprachige Reziproke Lesen Schreibaufgaben bear­
   ist es möglich, dass ein Gruppenmitglied die Aufgabe           beitet werden, bieten sich schreibdidaktische Methoden
   übernimmt. Da es darum geht, die wesentlichen Aus-             an, etwa Schreibplan, Schreibrahmen, Brief an mich
   sagen des Textes zu erfassen, wird mit dieser Strate-          selbst oder Gegenstand zum Text.
   gie insbesondere die Fähigkeit unterstützt, inhaltliche
   Zusammenhänge zu bilden.
5. Schließlich stellen die Schülerinnen und Schüler
                                                                  Wo findet man Material zu
   Vorhersagen oder Hypothesen darüber an, wie die
                                                                  sprachlichen Hilfen?
   Handlung weitergehen könnte (narrative Texte) bzw.             Informationen zu schreibdidaktischen Methoden und
   welche Inhalte noch thematisiert werden (Sachtexte).           sprachlichen Hilfen finden sich im Methodenpool für
   Für die Sprachhandlungen Vermuten, (Weiter-)Erzäh-             sprachsensiblen Fachunterricht des Mercator-Instituts
   len und Begründen nutzen die Lernenden wiederum                für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache unter
   alle Sprachen, die ihnen zur Verfügung stehen.                 www.unterrichtsmethoden-sprachsensibel.de.

Dieses Verfahren wird für jeden Textabschnitt wiederholt,
bis alle Abschnitte gelesen wurden. Dabei können nach
                                                                  Welche Vorbereitungen sind für das
jedem Abschnitt die Rollen in der Gruppe wechseln. Im
                                                                  Mehrsprachige Reziproke Lesen nötig?
Anschluss sollte die Lehrkraft eine Kommunikationssi-             Die Lehrkraft sollte die Texte entsprechend der fachlichen
tuation schaffen, in der es erforderlich ist, die Sprachen        Unterrichtsziele auswählen und sie in sinnvolle Abschnit-
nicht mehr zu kombinieren, sondern die Standardsprache            te einteilen. Es hat sich bewährt, verschiedene Texte zum
in der jeweiligen Zielsprache zu nutzen. Dieser Wech-             gleichen Oberthema auszuwählen. So können im An-
sel vollzieht sich z. B., wenn die Kinder zunächst Texte          schluss an die Methode unterschiedliche Perspektiven
LESEVERSTEHEN KENNT KEINE SPRACHGRENZEN - KOOPERATIV UND MEHRSPRACHIG TEXTE VERSTEHEN - BISS-TRANSFER
8 | Leseverstehen kennt keine Sprachgrenzen

                                                                                Zweitrangig können aber auch weitere
                                                                                Prinzipien und Kriterien eine Rolle spie-
                                                                               len, wie etwa die fachlichen Fähigkeiten,
                                                                               die Arbeitsweise, die sprachlichen Fähig-
                                                                               keiten im ­Deutschen oder die Sympathie
                                                                               der Lernenden unter­einander.

                                                                               García, Ibarra-Johnson & Seltzer (2017,
                                                                              S. 63) geben folgende Empfehlung
                                                                              für eine Pädagogik, die sich am Trans­
                                                                              languaging-Ansatz orientiert: Zusammen-
                                                                             arbeiten sollten Lernende mit gleicher
                                                                             Familiensprache, jedoch unterschied-
                                                                             lichen fachlichen, allgemeinsprachlichen
                                                                            und sprachenspezifischen Fähigkeiten in
                                                                            der Unterrichtssprache. Damit ist inter-
   Bild: BiSS-Trägerkonsortium/Ann
                                   ette   Etges
                                                                            aktives und kooperatives Lernen in der
                                                                            Zone der nächsten Entwicklung möglich,
                                                                            d. h. in einem Bereich, in welchem Heraus-
   auf ein Thema im Plenum präsentiert und diskutiert         forderung und Unterstützung in einem angemessenen
   werden — und die Lernenden haben einen Grund, genau        Verhältnis zueinander stehen.
   zuzuhören.

   In diesem Rahmen kann die Lehrkraft auch das Niveau               Literatur
   der Texte entsprechend der sprachlichen und fachlichen     Gantefort, C. & Sánchez Oroquieta, M. J. (2015). Translangua-
   Fähigkeiten in den Gruppen differenzieren und ggf. in      ging-Strategien im Sachunterricht der Primarstufe: Förderung
   weiteren Sprachen zur Verfügung stellen. Lehrkräfte        des Leseverstehens auf Basis der Gesamtsprachigkeit. Transfer
                                                              Forschung ↔ Schule, 1 (1), 24—37.
   müssen grundsätzlich nicht selbst mehrsprachig sein,
   um das Mehrsprachige Reziproke Lesen mit den Kindern       García, O.; Ibarra-Johnson, S. & Seltzer, K. (2017). The
   durchzuführen.                                             Translanguaging classroom. Leveraging student bilingualism for
                                                              learning. Philadelphia: Caslon.

                                                              Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweit-
   Wie werden die Gruppen                                     sprache (2019 ff.). Methodenpool für sprachsensiblen Unter-
   ­zusammengesetzt?                                          richt. Verfügbar unter: www.unterrichtsmethoden-sprachsensi-
                                                              bel.de [10.09.2019].
   Bei der Planung und Durchführung des Mehrsprachigen
                                                              Rosenshine, B. & Meister, C. (1994). Reciprocal Teaching. A
   Reziproken Lesens ist die Gruppenzusammensetzung           Review of the Research. Review of Educational Research, 64
   besonders wichtig. Die Interaktionen in den Kleingruppen   (4), 479—530.
   können nur gelingen, wenn Schülerinnen und Schüler mit
                                                              Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der
   gleichen bzw. vergleichbaren Sprachenkonstellationen       Länder in der Bundesrepublik Deutschland (2005). Beschlüs-
   ­zusammenarbeiten (z. B. vier Lernende mit Deutsch/­       se der Kultusministerkonferenz. Bildungsstandards im Fach
   Tür­kisch in einer Gruppe oder auch zwei Lernende          Deutsch für den Primarbereich. München: Wolters Kluwer.

    mit der Sprachenkonstellation Deutsch/Türkisch und
    zwei Lernende mit Deutsch/Spanisch in einer Gruppe).
Experteninterview | 9

Experteninterview
„Die Kinder merken, dass sie sich in allen ihren
Sprachen den Text erschließen können.“
               Christina Keppeler ist Lehrerin      Wie sind Ihre Erfahrungen als Lehrkraft mit dem Mehr-
               an der St. Nikolaus Grundschule      sprachigen Reziproken Lesen? Kommen Sie damit gut
               in Köln-Zollstock. Sie erarbeitet    zurecht?
               Konzepte für die Unterrichts-
               praxis im Arbeitskreis „Koor-        CK: Meiner Erfahrung nach benötigt man einige Zeit, um
               dinierte Alphabetisierung im         die Methode einzuüben. Wenn sie aber erst mal auto-
               Anfangsunterricht“ (KOALA) und
                                                    matisiert ist, gibt es viel Variationsfreiheit, sodass die
               nimmt mit ihrer Klasse an der
               empirischen Erhebung „Koordi-        Lehrkräfte sie in unterschiedlichen Fächern und für neue
               nierte Entwicklung von Lese- und     Textgattungen einbringen können. Auf diese Weise kann
               Schreibfähigkeiten in Deutsch und
               in der Herkunftssprache“ teil.
                                                    das Lesen fächerübergreifend in vielen Bereichen ge-
                                                    fördert werden.
Bild: privat

                                                    Ist es problematisch, die Methode durchzuführen,
                                                    wenn man als Lehrkraft die in der Klasse vorhandenen
               Christoph Gantefort ist Leiter       ­Sprachen nicht beherrscht?
               der Abteilung „Sprache und
               Profession“ am Mercator-Institut     CK: Wenn es z. B. um Texte geht, die von der ganzen
               für Sprachförderung und Deutsch      Klasse gemeinsam gelesen werden sollen, so sind sie
               als Zweitsprache und verantwor-
                                                    ohne die Kenntnis der Sprache nicht so einfach zu über-
               tet an der Universität zu Köln das
               Modul „Deutsch für Schülerinnen      setzen. Manche Texte liegen aber schon in mehreren
               und Schüler mit Zuwanderungs-        Sprachen vor und können im Unterricht genutzt werden.
               geschichte“. Zusammen mit
               Dr. Ina-Maria Maahs hat er die
                                                    Gelegentlich kann man die Eltern bitten, einen Text für
               Verbundarbeit zum mehrsprachi-       das Kind in der Herkunftssprache zu übersetzen.
               gen reziproken Lesen wissen-         CG: Wir haben das Mehrsprachige Reziproke Lesen in
               schaftlich begleitet.
Bild: privat
                                                    KOALA-Schulen erprobt, die insofern besonders sind, als
                                                    dort die Lehrkräfte über Sprachkenntnisse in Türkisch
                                                    verfügen. Grundsätzlich müssen die Lehrkräfte solche
                                                    Kenntnisse aber nicht mitbringen. Es geht ja darum,
                                                    dass die Kinder sich in allen ihnen verfügbaren Sprachen
                                                    zum Text austauschen. Der Text kann dann auch nur im
                                                    Deutschen vorliegen.
                                                    CK: Das ist richtig. In allen Phasen des Mehrsprachigen
                                                    Reziproken Lesens können sich die Kinder mithilfe ihrer
                                                    Sprachen den Inhalt des Lesetextes erarbeiten und sich
                                                    darüber austauschen. Und auch Anschlussaufgaben an
                                                    das Lesen, wie z. B. den Text in Rollen sprechen, ein
                                                    Plakat erstellen usw., können die Kinder in einer anderen
                                                    Sprache als Deutsch planen und beraten. Dazu muss die
                                                    Lehrkraft die Sprachen nicht beherrschen. Die Ergebnisse
10 | Leseverstehen kennt keine Sprachgrenzen

    der Anschlussaufgaben werden den anderen Gruppen im          sprachlichen Mitteln und eignen sich dabei die Lesestra-
    Plenum dann auf Deutsch präsentiert. Die Kinder merken       tegien an. Der einzige Unterschied ist, dass sie einspra-
    aber, dass sie sich in allen ihren Sprachen den Text er-     chig interagieren. Und: Wenn im Unterricht Sprache im
    schließen können.                                            Allgemeinen oft zum Thema gemacht wird, z. B. durch
                                                                 sprachvergleichendes Arbeiten, können auch die einspra-
    Wie nehmen Ihrer Erfahrung nach die Kinder die               chig deutschen Kinder ein metasprachliches Bewusstsein
    ­Methode an?                                                 entwickeln.
    CK: Der Großteil der Klasse arbeitet gerne mit der Me-
    thode, da die Kinder gemeinsam einen Text erschließen        Wenn eine Lehrkraft in ihrem Unterricht
    und ggf. sogar ein gemeinsames Endprodukt erstellen.         die Methode umsetzen möchte, worauf sollte
    Schwächere Leser empfinden das Aufteilen des Textes          sie besonders achten?
    als entlastend, da alle beim Vorlesen leise mitlesen, um     CG: Es ist wichtig, die Sprachen nicht zu trennen, z. B.
    dann reihum zu übernehmen. Und wenn Anschlussauf­            indem den sowohl Deutsch als auch Türkisch alphabeti-
    gaben frei gestaltet sind, können leistungsstärkere          sierten Kindern der Eindruck vermittelt wird, sie sollten
    Kinder ihr Potenzial zeigen.                                 während des Mehr-

    Und wie reagieren die Kinder auf die Sprachmischung?
                                                                 sprachigen Reziproken
                                                                 Lesens ausschließlich
                                                                                                    s ist wichtig,
                                                                                                   E
    CK: Für die Kinder einer KOALA-Klasse ist es normal, dass    Türkisch miteinander              die Sprachen
                                                                 sprechen. Deutsch ist
    sie Sprachen mischen und dazu aufgefordert werden, die
                                                                 häufig die stärkere
                                                                                                   nicht zu trennen.
    Herkunftssprache im Unterricht zu verwenden, da dort
    von Anfang an mehrsprachige Bilderbücher zum Einsatz         Sprache dieser Kinder
    kommen, mehrsprachige Vorlesetage stattfinden usw. Die       und somit könnten sie nicht ihr gesamtes sprachliches
    Kinder verstehen meist schon in der 1. Klasse, dass dieses   Repertoire für den Aufbau des Leseverstehens nutzen.
    Kombinieren von Sprachen eine besondere Fähigkeit ist.       Das soll ja gerade vermieden werden, wenn nach den
    CG: Aus der Forschung wissen wir außerdem, dass Schü-        Prinzipien des Translanguagings unterrichtet wird.
    lerinnen und Schüler andere Sprachen als Deutsch im
    Unterricht für genau dieselben Zwecke nutzen wie das         Gibt es Nachweise darüber, ob und wie die Methode
                                                                 wirkt?
    Deutsche. Lehrkräfte brauchen also nicht zu befürchten,
    dass andere Sprachen als Deutsch vor allem für unter-        CG: Bislang liegen noch nicht alle Daten vollständig
    richtsfernen Austausch genutzt werden. Ich denke, es         vor. Die bisherigen Auswertungen zeigen aber, dass die
    ist vor allem wichtig, eine Atmosphäre zu schaffen, in       Kinder, die in der ersten von zwei Kohorten am Mehr-
    der Lernende die Erfahrung machen, dass es völlig okay       sprachigen Reziproken Lesen teilgenommen haben, in
    ist, sich in den passenden Momenten auch in anderen          der Tendenz höhere Zuwächse in der Lesekompetenz im
    Sprachen als Deutsch auszutauschen. Lehrkräfte sollten       Deutschen erzielen als die Kinder der Kontrollgruppe.
    im Hinblick darauf ein Bewusstsein dafür fördern, in wel-    Insbesondere im dritten Schuljahr fallen diese Effekte
    chen Situationen es Sinn macht, Sprachen zu mischen,         recht deutlich aus. Mit Blick auf den Verlauf der Ent-
    und in welchen nicht.                                        wicklung des Leseverstehens bis zum Ende des dritten
                                                                 Schuljahres können wir z. B. beobachten, dass die Ent-
    Können auch die einsprachig aufwachsenden Kinder von         wicklung viel stärker von der Zugehörigkeit der Kinder
    der Methode profitieren?                                     zur Untersuchungsgruppe abhängt als davon, ob sie ein-
    CG: Sie profitieren vom Mehrsprachigen Reziproken            oder mehrsprachig aufwachsen.
    Lesen genauso, wie es die mehrsprachigen Kinder tun:
    Sie verständigen sich in einer Gruppe mit den geteilten                          Christina Keppeler | Christoph Gantefort
Einführung des Mehrsprachigen Reziproken Lesens in der Primarstufe | 11

Einführung des Mehrsprachigen Reziproken Lesens
in der Primarstufe
Orientierungshilfe für die Praxis
Hier zeigen wir im Detail, wie die Methode des Mehr-        Um die Methode einzuführen, liegt der Fokus zu Beginn
sprachigen Reziproken Lesens in der Primarstufe ein-        des ersten Schuljahres auf der koordinierten Alphabeti-
geführt werden kann. Den Empfehlungen liegen die            sierung der Schülerinnen und Schüler in der deutschen
Erfahrungen aus dem Kölner BiSS-Verbund zugrunde, der       und in der entsprechenden Herkunftssprache. Anschlie-
die Methode an KOALA-Schulen eingeführt und erprobt         ßend trainieren die Kinder die Leseflüssigkeit in beiden
hat. Für jeden Schritt der Methode präsentieren wir auch    Sprachen. Wichtig dabei ist, die Sprachen nicht als
Variationen für ein Setting in einsprachigen Bildungs-      voneinander getrennte Konstrukte zu behandeln, die in
programmen, denn sofern mehrsprachige Kinder nur in         unterschiedlichen Kontexten verortet sind, sondern allen
Deutsch alphabetisiert sind, stellt die Mündlichkeit die    Sprachen Raum im Klassenzimmer zu geben und die
wesentliche Ressource dar. Um das Mehrsprachige Rezi-       Schülerinnen und Schüler auch für ihre Kompetenzen in
proke Lesen in einsprachigen Bildungsprogrammen durch-      weiteren Sprachen zu sensibilisieren.
zuführen, reicht es also aus, wenn die Kinder mündlich
eine andere Sprache beherrschen. Falls auch schrift-
sprachliche Fähigkeiten in der Familiensprache vorliegen,       Zweisprachig lernen mit KOALA
bieten sich entsprechend viefältigere Möglichkeiten.            Das Bildungsprogramm „Koordinierte Alphabetisie-
                                                                rung im Anfangsunterricht“ (KOALA) arbeitet nach
Eine mehrsprachige Alphabetisierung (wie in KOALA)              dem didaktischen Prinzip des koordinierten zwei-
ist somit keine notwendige Bedingung für das Mehr-              sprachigen Lernens. 30 Schulen im Regierungs-
sprachige Reziproke Lesen: Den Kern der Methode bildet          bezirk Köln setzen KOALA seit 2003 um. Grund-
                                                                legend ist, dass Lehrkräfte des Regelunterrichts
schließlich die mehrsprachige mündliche Interaktion!
                                                                im Tandem mit Lehrkräften des herkunftssprach-
Abbildung 1 (vgl. S. 12) bietet einen Überblick über alle       lichen Unterrichts (HSU) zusammenarbeiten. Das
grundsätzlichen Schritte.                                       Unterrichtskonzept startet mit einer kontrastiven
                                                                Alphabetisierung in Deutsch und in der jeweiligen
                                                                Herkunftssprache. Eine Laut­tabelle hilft dabei. Auch
Phase 1: Erste Schritte                                         alle anderen in der Klasse vorhandenen Sprachen
                                                                werden durch sprachkontrastive Arbeit berücksich-
Die Lernenden müssen verstehen, dass sie all ihre
                                                                tigt und aktiv in den Unterricht einbezogen.
mehrsprachigen Kompetenzen nutzen können, um sich
fachliche Inhalte zu erschließen — nur dann kann Mehr-          Die sprachliche Kontrastivarbeit steht im Zentrum.
                                                                Die Sprachvergleiche beziehen alle Sprachebenen
sprachiges Reziprokes Lesen sinnvoll eingesetzt werden.
                                                                (Laut, Wort, Satz, Text) sowie sprachliche Hand-
Es ist also Aufgabe der Lehrkräfte, den Schülerinnen
                                                                lungs- und Kommunikationssituationen ein. Ver-
und Schülern zu vermitteln, dass Sprachmischungen und           schiedene sprachliche Phänomene, grammatische
-wechsel bei Interaktionen mit ihren Mitschülerinnen            Regeln und Schriftsysteme werden mit den Lernen-
und Mitschülern nicht nur erlaubt, sondern gewünscht            den erarbeitet. Dabei werden Gemeinsamkeiten und
sind und dem eigenen Lernen dienen. Die Schülerinnen            Unterschiede herausgestellt. Dieser sprachkontras­
                                                                tive Vergleich unterstützt eine mehr­sprachige
und Schüler sollten daher explizit dazu ermutigt werden,
                                                                Entwicklung und ein metasprachliches Bewusstsein
alle ihnen zur Verfügung stehenden Sprachen zu nutzen,
                                                                (vgl. Bezirksregierung Köln, 2014).
um sich über die Fachinhalte auszutauschen.
12 | Leseverstehen kennt keine Sprachgrenzen

                         Erste Schritte
                         ½    ab der Mitte bzw. zum Ende des ersten Schuljahres
                         ½    Öffnung des Unterrichts zur Mehrsprachigkeit: Heranführung der Schülerinnen und
                              Schüler an die Nutzung des gesamten Sprachrepertoires
           1             ½    Anleitung systematischer Gruppenarbeit
                         ½    Förderung der Leseflüssigkeit
                         ½    wenn möglich: Vernetzung von herkunftssprachlichem Unterricht und Regelunterrricht

                          Einführung und Ritualisierung der Lesestrategien
                          ½   mit Beginn des zweiten Schuljahres
                          ½   Anwendung des Mehrsprachigen Reziproken Lesens und Modellierung der Strategien
                              im Plenum
           2              ½   Ritualisierung von Abläufen zunächst im Plenum und anschließend in der Gruppenarbeit
                          ½   Anknüpfung kleinerer Schreibanlässe
                          ½   kontinuierliche Förderung der Leseflüssigkeit
                          ½   wenn möglich: Umsetzung des Mehrsprachigen Reziproken Lesens im ­herkunftssprachlichen
                              Unterricht und Regelunterricht

                         Selbstständiges Erproben der Lesestrategien
                         ½    mit Beginn des dritten Schuljahres
                         ½    Anwendung des Mehrsprachigen Reziproken Lesens sowie Automatisierung der Strategien
                              in Kleingruppen bei kurzen Texten und beim Lesen einer Ganzschrift in mehreren Sprachen
           3             ½    Angebot verschiedener Präsentationsmöglichkeiten sowie Abschlussaufgaben
                         ½    kontinuierliche Förderung der Leseflüssigkeit
                         ½    wenn möglich: Festigung der Strategien im herkunftssprachlichen Unterricht und im
                              Regelunterricht

                         Automatisierung und Transfer des Mehrsprachigen Reziproken Lesens
                         ½    mit Beginn des vierten Schuljahres
                         ½    selbstständige Anwendung der Strategien des Mehrsprachigen Reziproken Lesens in
                              ­Kleingruppen und Einzelarbeit zum Erschließen von komplexen Sachtexten
           4             ½    Angebot verschiedener Präsentationsmöglichkeiten sowie Abschlussaufgaben
                         ½    kontinuierliche Förderung der Leseflüssigkeit
                         ½    fachübergreifende Nutzung der Lesestrategien, wenn möglich auch im herkunfts­
                              sprachlichen Unterricht

    Abbildung 1: Schrittweise Einführung der Methode im Überblick
Einführung des Mehrsprachigen Reziproken Lesens in der Primarstufe | 13

Zum Ende des ersten Schuljahres lernen die Kinder die           und dabei einzelne Wörter, ihre Bedeutung sowie unter-
systematische Gruppenarbeit kennen. Zunächst wird ihre          schiedliche Schriftzeichen besprechen.
Fähigkeit zur Partnerarbeit geschult. Sind sie in der           ... Sprachhilfen unter Nutzung von Online-Ressour­cen
Lage, selbstständig in kooperativen Lernformaten zu             oder vorhandener Expertise im Kollegium mehrsprachig
­arbeiten, kann die Gruppe schrittweise vergrößert              ­gestalten.
werden. Die Regeln dafür werden im Vorfeld mit den              ... Rituale einführen, indem sie die Lernenden mehr­
   Schülerinnen und Schülern gemeinsam erarbeitet. Es           sprachig begrüßen oder mit ihnen Lieder in weiteren
ist hilfreich, wenn die Regeln zusätzlich auf Plakate           ­Sprachen singen, um sie zur Nutzung ihrer anderen
 ­geschrieben und im Klassenraum aufgehängt werden —             ­Sprachen zu motivieren.
im besten Fall mehrsprachig.

                                                                Phase 2: Lesestrategien einführen und
      Lehrkräfte in einsprachigen                               ­ritualisieren
      ­Bildungsprogrammen können ...                            Als Nächstes führen die Lehrkräfte die dem Konzept zu-
... die Kinder im Allgemeinen ermutigen, neben Deutsch          grunde liegenden Lesestrategien ein. Dazu modellieren
auch ihre weiteren Sprachen zu nutzen.                          sie die Lesestrategien zunächst im Plenum über lautes
                                                                Denken sowie Visualisierungen und thematisieren erfor-
... den Schülerinnen und Schülern mehrsprachige Bildwör-
terbücher oder mehrsprachige Lauttabellen zur Verfügung         derliche sprachliche Mittel. Danach werden die Lese­
stellen.                                                        strategien kleinschrittig gemeinsam geübt.

... auf Basis eines Grundwissens über den Sprachbau der
beteiligten Sprachen sprachkontrastiv im Plenum arbeiten

                                           Etges
       Bild: BiSS-Trägerkonsortium/Annette
14 | Leseverstehen kennt keine Sprachgrenzen

    Wenn die Schülerinnen und Schüler die Lesestrategien         3. Beim Formulieren von Fragen an den Text
    grundlegend verstanden haben, üben sie in Kleingruppen,         geht es zunächst darum, einfache, sehr
    diese selbstständig anzuwenden. Dazu übernimmt                  gezielte Fragen nach Einzelinformationen zu
    entweder jedes Gruppenmitglied jeweils pro Abschnitt            entwickeln, die direkt aus dem Text ent-
    oder pro Text eine Strategie oder die Lernenden setzen          nommen werden können: Wer? Was? Wann?
    die Strategien alle gemeinsam um. Sprachmischungen              Wo? Im Verlauf werden dann auch schwie-
    und Sprachwechsel sind in dieser Phase erwünscht                rigere Fragen formuliert. Sie können sich
    und sinnvoll. Daraus ergibt sich in dieser Phase fol-           z. B. auf den Zusammenhang zwischen zwei
    gender Erwartungshorizont für die einzelnen Strategien          benachbarten Sätzen beziehen oder auch
    (vgl. Abbildung 2):                                             auf den Inhalt eines ganzen Textabschnitts.
    1. Vor dem lauten Vorlesen lesen die Schülerinnen und           In der Erprobung hat sich gezeigt, dass
       Schüler den Text ggf. leise für sich. Sollte ein Kind        ein Quiz zum Abschluss motiviert und den
       dabei etwas langsamer sein als der Rest der Gruppe,          Kindern dabei hilft, kreative Fragen zu ent-
       kann es vom anschließenden Vorlesen profitieren.             wickeln.
       Für das laute Vorlesen wird entweder eine ­Schülerin      4. Für das Zusammenfassen des Textes oder
        oder ein Schüler mit bereits fortgeschrittenen              eines einzelnen Abschnitts bieten sich
       ­Lesefähigkeiten ausgewählt oder der Text wird von           zwei mögliche Vorgehensweisen an: Eine
        allen in der Gruppe abschnittsweise nacheinander            Schülerin oder ein Schüler präsentiert
        vorgelesen. Die Lernenden sollten dabei in der Lage         eine erste Zusammenfassung, die dann
        sein, den Text möglichst deutlich zu lesen, wenn            von den anderen Gruppenmitgliedern
        auch ggf. leicht stockend oder ohne bewusste                ergänzt oder berichtigt wird, oder die
       ­Betonung.                                                   Lernenden erarbeiten die Zusammen-
    2. Beim Klären der schwierigen Textstellen und Wörter           fassung gemeinsam. Die Kinder erzählen
        erklären die Schülerinnen und Schüler einander die          meist auf einfach strukturierte Weise
        komplizierten Wörter und Passagen und erschließen           nach.
        sie sich. Bei der Klärung genügen einfache Umschrei­     5. Auch beim Vorhersagen entwickelt entweder ein
        bungen.                                                     einzelnes Kind Ideen, die die Gruppe anschließend
                                                                              ergänzt, oder die Gruppe entwickelt die Ideen
                                                                              direkt gemeinsam. Erfahrungsgemäß stellen
                                                                              die Kinder zunächst eher unsystematisch
                                   (Vor-)Lesen                                Vermutungen und Hypothesen zum weiteren
                                                                              Verlauf des Textes auf.
               Vorher-                                   Wörter               In dieser Phase können die Kinder auch
                sagen                                     klären              kreative und vom Text abweichende Ideen
                                                                              sammeln.

                                                                            Es ist notwendig, dieses Vorgehen regel-
                                                                            mäßig und mindestens alle zwei Wochen zu
                      Zusammen-                Fragen                       wiederholen, damit sich die Lesestrategien
                        fassen                ­stellen
                                                                            nachhaltig festigen. Besonders geeignet
                                                                            dafür sind ­illustrierte narrative Texte. Die
                                                                            KOALA-­Schulen stellen den Schülerinnen
     Abbildung 2: Lesestrategien
                                                                            und Schülern ein an ihren Herkunftssprachen
Einführung des Mehrsprachigen Reziproken Lesens in der Primarstufe | 15

                                                                                Bild: BiSS-Trägerkonsortium/Ann
                                                                                                                ette   Etges

orientiertes mehrsprachiges Textangebot zur ­Verfügung.      ­an­zu­stellen. Dieses Vorgehen bietet sich vor allem an,
Dieses Angebot motiviert die Lernenden dazu, ihre            um die Bedeutung schwieriger oder unbekannter Wörter
                                                             zu klären. Dabei könnten die Kinder etwa bemerken,
mehrsprachigen Kompetenzen einzubringen.
                                                             dass das Wort Journalist aus dem Französischen stammt
                                                             (le jour = der Tag; le journal = die Zeitung/Zeitschrift;
                                                             le journaliste = der Journalist) und auch Einzug in weitere
      Lehrkräfte in einsprachigen                            Sprachen gefunden hat (z. B. ins Deutsche, Englische oder
      ­Bildungsprogrammen können ...                          Russische).
... Eltern, Verwandte oder Bekannte einbeziehen und sie
bitten, z. B. Auszüge aus Kinderbüchern in mehreren Spra-
chen bereitzustellen.                                        Phase 3: Lesestrategien selbstständig
                                                             ­anwenden
... sprachliche Hilfen (z. B. Fragenfächer mit einem
Angebot an Fragewörtern) relativ einfach in andere           Die Schülerinnen und Schüler sind nun mit den Lese-
­Sprachen übersetzen und dann dauerhaft im Unterricht        strategien vertraut. Diese müssen jedoch weiter vertieft
 einsetzen.                                                  werden, damit die Lernenden sie eigenständig anwenden
... die Schülerinnen und Schüler dazu motivieren, sich       können. In diesem Rahmen werden auch die Aufgaben im
mehrsprachig zu unterhalten und Sprachvergleiche             Anschluss an das Mehrsprachige Reziproke Lesen variiert
16 | Leseverstehen kennt keine Sprachgrenzen

                                                                                                                           Etges
                                                                                       Bild: BiSS-Trägerkonsortium/Annette

    (z. B. Vorträge, Lernplakate, Quiz, Rollenspiele). Die      verständigen und die Ergebnisse ihrer Zusammen-
    Lehrkraft nimmt in dieser Phase eine eher moderierende      arbeit hinterher für die anderen übersetzen. Entschei-
    Rolle ein.                                                  dend ist immer, dass die Lehrkraft die Lernenden zu
                                                                diesem ­aktiven Einsatz ihrer Mehrsprachigkeit er-
    Auch in diesem dritten Lernabschnitt ist es erwünscht,      mutigt und sie in ihrer mehrsprachigen Entwicklung
    dass die Schülerinnen und Schüler Deutsch und ihre          unterstützt.
    Herkunftssprache(n) verwenden. Die Lehrkraft reflek­tiert
    dazu mit ihnen, in welchem Kontext welche Sprache           Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich für diese ­Phase
    oder welches sprachliche Register angemessen ist: Bei-      literarische Ganzschriften besonders eignen. An den
    spielsweise kann ein Rollenspiel in der Alltagssprache      ­KOALA-Schulen wird dafür das ausgewählte Buch
    realisiert werden, ein Lernplakat sollte hingegen in der    sowohl im Regelunterricht als auch im herkunftssprach-
    Bildungs- und Fachsprache präsentiert werden. Auch          lichen Unterricht gelesen. Es steht projektartig drei
    sollten Vorträge vor der gesamten Klasse in einer allen     bis vier ­Wochen lang thematisch im Vordergrund des
    Lernenden gemeinsamen Sprache gehalten ­werden,             Unterrichtsgeschehens. Dadurch wird es möglich, die
    ­damit alle sie verstehen. Dagegen können sich die           ­Strategien des Mehrsprachigen Reziproken Lesens in
     Lernenden in der Gruppenarbeit in anderen Sprachen         einem neuen Kontext zu erproben. Außerdem motiviert
Einführung des Mehrsprachigen Reziproken Lesens in der Primarstufe | 17

ein literarisches Werk die Schülerinnen und Schüler eher
                                                                  Lehrkräfte in einsprachigen
zum Lesen als Sachtexte. Die intensive Arbeit mit einem           ­Bildungsprogrammen können ...
literarischen Werk bietet zudem große Potenziale für di-
verse fachliche und kreative Anschlussaufgaben aus dem      ... die Schülerinnen und Schüler weiterhin dazu an-
Spektrum der Methoden und Techniken aus dem hand-           regen, alle ihnen zur Verfügung stehenden Sprachen zu
                                                            ­gebrauchen.
lungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht.
Diese lassen nicht nur ein hohes Maß an Differenzierung     ... ein Buch auswählen, das es in möglichst vielen von den
zu, sondern ermöglichen auch Anknüpfungspunkte an           Schülerinnen und Schülern eingebrachten Sprachen gibt,
                                                            um Sprachvergleiche anzuregen.
andere Fächer.
                                                            ... die Schülerinnen und Schüler dazu ermutigen, z. B.
Um Redundanzen zu vermeiden, ist die Lektüreeinheit im      Lernplakate zwei- oder mehrsprachig zu erstellen. Die
                                                            Lernenden können dazu z. B. unter die deutschen Fach­
Vorfeld genau zu planen: Welche Kapitel sollen mehr-
                                                            begriffe die Begriffe in weiteren Sprachen in anderen
sprachig reziprok im Regelunterricht gelesen werden?
                                                            Farben notieren. Im Plenumsgespräch können daraufhin
Welche Textabschnitte sollen die Lernenden eigenständig     Wortverwandtschaften thematisiert werden.
zu Hause oder als Teil der Lernplanarbeit vorbereiten?
Welche Kapitel bieten sich an, um sie im HSU im rezi­
                                                            Phase 4: Lesestrategien automatisieren
proken Leseverfahren zu behandeln?
                                                            und übertragen
Während dieser Umsetzungsphase wird von den                 Durch die Methode des Mehrsprachigen Reziproken
Schülerinnen und Schülern ein zunehmend höheres             Lesens sollten die Schülerinnen und Schüler zum Ende
­Abstraktionsniveau erwartet. Konkret bedeutet das für      der Primarstufe in der Lage sein, Lesestrategien auto-
die einzelnen Strategien:                                   matisch und selbstständig zu nutzen, um sich gemein-
1. Das Vorlesen meistern die Kinder in dieser Phase         sam komplexe (Sach-)Texte durch den Austausch in
   bereits routiniert und deutlich flüssiger als in der     verschiedenen Sprachen zu erschließen. Die Lernenden
   Einführungsphase. Die Lehrkraft motiviert die            wenden in dieser Phase die Lesestrategien frei an, um
   ­Schülerinnen und Schüler verstärkt zu einer betonten    herausfordernde Lesetexte bzw. -aufgaben zu bearbei-
    Leseweise.                                              ten — im Deutsch- genauso wie im Sachfachunterricht
2. Die Lernenden klären die schwierigen Textstellen und     oder im HSU. Dafür üben die Lernenden einzelne Stra-
   Wörter nun nicht mehr mit einfachen Umschreibun-         tegien gezielt ein. Die Lehrkräfte stellen ihnen externe
   gen, sondern entwickeln begründete Erklärungen und       Quellen wie Lexika oder Internetseiten zur Verfügung.
   stellen Zusammenhänge heraus.                            Damit können die Lernenden schwierige Begriffe klären.
3. Auch die Fragen, die die Schülerinnen und Schüler        Außerdem sollten sich die Texte der ­Anschlussaufgaben
   entwickeln, erreichen in dieser Phase schrittweise ein   im Sinne der Lernprogression an einen zunehmend
   höheres Niveau: Die Kinder formulieren nun Fragen        ­abstrakteren Adressatenkreis richten. Denkbar sind
   nach Zusammenhängen, Gründen und Ursachen (z. B.          z. B. Verarbeitungen der erarbeiteten Inhalte in Leser-
   Warum- und Wie-Fragen oder auch Fragen, die eine          briefen, Artikeln für die Schulhomepage oder Erklär­
   eigene Stellungnahme erfordern).                          videos.
4. Beim Zusammenfassen geht es nicht mehr nur darum,
   einfach nachzuerzählen. Vielmehr sollen die Schüle­      In dieser Phase sollten die Lernenden nicht mehr einzel-
   rinnen und Schüler eigenständig die wesentlichen         ne Strategien nach einem festgelegten Ablauf anwen-
   Ereignisse und Inhalte kurz und knapp wiedergeben.       den. Sie sollen stattdessen die Strategien flexibel und
5. Anstatt frei spekulierend vorherzusagen, begründen       unaufgefordert nutzen und dabei ihr gesamtsprachliches
   die Lernenden ihre Vermutungen.                          Repertoire einbeziehen.
18 | Leseverstehen kennt keine Sprachgrenzen

    Die am Programm beteiligten KOALA-Schulen haben              zu einer Kontrollgruppe beim Leseverstehen ­deutlichere
    Anreize entwickelt, die die Schülerinnen und Schüler         Fortschritte, wenn sie im Unterricht mehrsprachig
    dazu motivieren, alle ihnen zur Verfügung stehen-            reziprok lasen und die Lehrkräfte direkt an der Konzept-
    den Sprachen zu nutzen und Sprachvergleiche anzu-            entwicklung beteiligt waren. Dieser Effekt zeigte sich
    stellen. Zum Beispiel gibt es eine Auszeichnung für die      sowohl für die einsprachigen als auch für die mehrspra-
    Gruppe, die in ihre Erklärungen die meisten Sprachen         chigen Schülerinnen und Schüler. Insgesamt profitierten
    einbezieht. Auch kleine Wettbewerbe zwischen den             die Lernenden jedoch nicht nur auf Ebene der Lesekom-
    Gruppen finden statt: Wer formuliert die spannendste         petenz. Sie lernten darüber hinaus, all ihre sprachlichen
    Frage, die treffendste Zusammenfassung oder die krea-        Fähigkeiten im Unterricht bewusst zu nutzen. In den
    tivste ­Vorhersage? Die motivierenden Anreize dienen         Klassenzimmern entwickelte sich ein neues Bewusst-
    dazu, das metasprachliche Bewusstsein langfristig zu         sein für sprachliche Vielfalt und eine selbstverständliche
    fördern.                                                     Wertschätzung von Mehrsprachigkeit.

          Lehrkräfte in einsprachigen
                                                                       Literatur
          ­Bildungsprogrammen können ...
                                                                 Bezirksregierung Köln (Hrsg.). (2014). KOALA. Koordinierte
    ... den Schülerinnen und Schülern mehrsprachige Wörter-      Alphabetisierung im Anfangsunterricht. Das KOALA-Konzept
    bücher oder ggf. kinderorientierte Online-­Lexika bereit­    an Kölner Schulen (vorläufiges Exemplar). Verfügbar unter:
    stellen.                                                     https://www.bezreg-koeln.nrw.de/brk_internet/publikationen/
                                                                 abteilung04/pub_abteilung_04_KOALA.pdf. [12.08.2019].
    ... die Schülerinnen und Schüler dazu ermuntern, sich
    Notizen in weiteren Sprachen ihres Gesamtrepertoires zu
    machen, auf deren Grundlage sie ihre Vermutungen
    begründen können.

    ... die Lernenden dazu auffordern, einen zwei- oder mehr-
    sprachigen Text für eine mehrsprachige Leserschaft zu
    gestalten.

    ... im Anschluss die Texte mit Blick auf ähnliche Begriffe
    in der Fachsprache, grammatische Strukturen oder Text-
    muster vergleichen.

    Die Methode hat Potenzial
    Dem BiSS-Verbund ist es in fünf Jahren gemeinsa-
    mer Arbeit gelungen, ein mehrsprachiges Konzept zur
    Förderung des Leseverstehens zu entwickeln und zu
    erproben. Dabei wurde die Methode in Absprache mit
    den beteiligten Lehrkräften, mit der Verbundkoordination
    und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern immer
    wieder an die jeweiligen Bedingungen vor Ort angepasst
    und weiterentwickelt.

    Die Erprobung der Methode war ein Erfolg: Besonders
    im dritten Schuljahr machten die Kinder im Vergleich
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                                     ortium/Annette Etges
               Bild: BiSS-Trägerkons

Weiterlesen
    Bezirksregierung Köln (Hrsg.). (2014). KOALA. Koordinierte Alphabetisierung
    im Anfangsunterricht. Das KOALA-Konzept an Kölner Schulen (vorläufiges
    Exemplar). Verfügbar unter: https://www.bezreg-koeln.nrw.de/brk_internet/
    publikationen/abteilung04/pub_abteilung_04_KOALA.pdf. [12.08.2019].

    BiSS-Trägerkonsortium (Hrsg.). (2016). Durchgängige Leseförderung. Über-
    blick, Analysen und Handlungsempfehlungen. Köln: Mercator-Institut für
    Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache.

    Celic, C. & Seltzer, K. (2011). Translanguaging: A CUNY-NYSIEB Guide for
    Educators. Verfügbar unter: https://www.cuny-nysieb.org/wp-content/
    uploads/2016/04/Translanguaging-Guide-March-2013.pdf [12.08.2019].

    Gantefort, C. & Sánchez Oroquieta, M. J. (2015). Translanguaging-Strategien
    im Sachunterricht der Primarstufe: Förderung des Leseverstehens auf Basis
    der Gesamtsprachigkeit. Transfer Forschung ↔ Schule, 1 (1), S. 24—37.

    Krifka, M.; Błaszczak, J.; Leßmöllmann, A.; Meinunger, A.; Stiebels, B.; Tracy,
    R. & Truckenbrodt, H. (Hrsg.). (2014). Das mehrsprachige Klassenzimmer:
    Über die Muttersprachen unserer Schüler. Berlin, Heidelberg: Springer.

    Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache
    (2019 ff.). ­Methodenpool für sprachsensiblen Unterricht.
    Verfügbar unter: www.unterrichtsmethoden-sprachsensibel.de [10.09.2019].

    Schader, B. (2012). Sprachenvielfalt als Chance: Handbuch für den Unter-
    richt in mehrsprachigen Klassen. Zürich: Orell Füssli.
Impressum

Herausgeber                                                 Redaktion
BiSS-Trägerkonsortium                                       Monika Socha (verantwortlich),
Mercator-Institut für Sprachförderung und                   Karin Vogelsberg
Deutsch als Zweitsprache

Universität zu Köln, Triforum                               Mitarbeit
Albertus-Magnus-Platz                                       Dorothee Schmitz
50923 Köln
                                                            Titelbild
kontakt@biss-sprachbildung.de                               BiSS-Trägerkonsortium/Annette Etges
0221 470-2013
biss-sprachbildung.de                                       Gestaltung
                                                            wbv Media, Bielefeld/Sabine Ernat
Creative-Commons-Lizenzen
Die Beiträge dieser Publikation sind unter verschiedenen,   Gesamtherstellung
jeweils unter den Beiträgen stehenden, CC-Lizenzen          wbv Publikationen, ein Geschäftsbereich von wbv Media
veröffentlicht. Die generellen Lizenzbedingungen sind       GmbH & Co. KG, Bielefeld 2020, wbv.de
nachzulesen unter: https://creativecommons.org/licenses.

Zitiervorschlag
BiSS-Trägerkonsortium (Hrsg.). (2020). Leseverstehen
kennt keine Sprachgrenzen. Kooperativ und mehr­
sprachig Texte verstehen. Köln: Mercator-Institut für
Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache.
DOI: 10.3278/6004772w

Autorinnen und Autoren
Gülten Corlu, Ayca Ekinci, Christoph Gantefort,
Anna Geißelbach, Margarete Heeren, Doris Jacobs,
Christina Keppeler, Sarina Kluge, Ina-Maria Maahs,
­Brigitte Mangasser, Anke Moch, Sema Mutlu,
 Köksal Ozan, Barbara Riewenherm, María José Sánchez
 Oroquieta, Constanze Strack, Christina Winter
BiSS-Trägerkonsortium:
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