Mein digitales Ich - März 2022 - Universität Klagenfurt

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Mein digitales Ich - März 2022 - Universität Klagenfurt
März 2022

Mein
digitales
Ich
Mein digitales Ich - März 2022 - Universität Klagenfurt
>> 16 Uhr bis 23 Uhr
             >> Universität Klagenfurt
                und Lakeside Science &
                Technology Park
             >> Staune und forsche an
                rund 100 Stationen!      Design: message.at

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5 impressum                                                         22 Gender Studies als verändernde Wissenschaft
                                                                       Kirstin Mertlitsch über die Relevanz der Gender Studies
6 titelthema
                                                                    24 Elementarpädagogik – hoher Wert und wenig Stellenwert?
6 „Daten sind störrisch und schwierig.“                                Veronika Michitsch über die Gründe des frühzeitigen Aus-
 Katharina Kinder-Kurlanda vom Digital Age Research Center             stiegs von Elementarpädagog*innen aus dem Beruf
 (D!ARC) untersucht die Auswirkungen der Digitalisierung auf
 unseren Alltag.                                                    26 wirtschaft
10 gesellschaft                                                     27 Über das Budget zur Gleichstellung?
                                                                       Gender Budgeting als Instrument zur Gleichstellung der
11 Kann ein Filmverbot für Nicolas Cage Menschenleben retten?          Geschlechter
   Gregor Kastner im Interview über Methoden der Statistik
   als Grundlage für Entscheidungsträger*innen                      28 Grünes Unternehmertum: Ein Spagat zwischen Profit und
                                                                       Idealismus
14 Die Faszination des Mittelalters                                    Umweltorientierte Gründer*innen brennen für ökologische
   Historiker Christian Jaser über populäre Assoziationen und          Ziele
   wissenschaftliche Annäherungen an das Mittelalter
                                                                    30 Was hat gesellschaftliche Verantwortung mit der Attraktivität
16 „Die Krise sind nicht die Menschen auf der Flucht.“                 als Arbeitgeber*in zu tun?
   Ursachen von Flucht sind Krieg, Verfolgung, Armut oder              Sandra Diehl und Isabell Koinig über die unterschiedlichen
   Klimakatastrophen. Eine Analyse von Caroline Schmitt                Aspekte von Corporate Social Responsibility
18 Fehlende Redaktionen in der schönen, neuen Medienwelt            32 Wie wird die Pandemie unsere Arbeit verändern?
   Kommunikationswissenschaftler Rainer Winter über den                Heiko Breitsohl darüber, wie es mit der Telearbeit nach der
   Medienwandel und die Rolle der digitalen Medien                     Pandemie weitergeht

20 bildung                                                          34 hightech
21 Nachhaltigkeitsunterricht für die Generation „Fridays for 		     35 Güter selbst ausdrucken
   Future“                                                             Güter werden während der Coronakrise vermehrt mittels
   Jugendliche lernen im Unterricht ein ökologisches Bewusstsein       additiver Fertigung produziert.
   für ein nachhaltiges Leben.

                                                                                                                ad astra. 1/2022 | 3
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36 Systeme in Echtzeit steuern                                     52 Im Kosmos von Michaela Szölgyenyi
  Wissensbasierte Logiksysteme steuern Verkehrsleitsysteme,
  Bahnlogistik oder Produktionsanlagen                             54 freunde & förderer
38 Forschungsteam erprobte Marshelikopter in der Wüste Israels     55 Gemeinsames starkes Zeichen für Nachhaltigkeit
                                                                      Stadtwerke Klagenfurt und Universität kooperieren im
  Die Navigation des Mars-Helikopters „Ingenuity“ wurde von
                                                                      Bereich nachhaltige Mobilität
  Stephan Weiss mitentwickelt

40 gesundheit                                                      56 Ein Wiedersehen mit … Alice de Benetti
                                                                      Alumna im Porträt
41 Gendiagnostik & Co.: Wie gehen wir gesellschaftlich damit um?
   Wissenschaftsforscher Erik Aarden über das Spannungs-           58 Ein Wiedersehen mit … Uwe Blümel
   feld zwischen Medizintechnik und Gesellschaft                      Alumnus im Porträt
43 Wenn Eltern die Kraft ausgeht                                   60 „Forschung und Technologie sind vielleicht die mächtigs-
  Gesundheitspsychologin Heather Foran über Eltern-Burnout           ten Mittel, um unsere Welt gut weiterzuentwickeln.“
                                                                     Sabine Herlitschka, Vorstandsvorsitzende der Infineon Tech-
45 kunst                                                             nologies Austria AG, im Gespräch mit ad astra
46 ARTEFICIA. Neun ehrenvolle Kunstschaffende aus Kärnten
  Eine Ausstellung widmete sich neun Ehrendoktor*innen im
                                                                   63 campus
  Zeichen der Kunst                                                64 Neue Studien: Robotics & Artificial Intelligence und Cross-
                                                                      Border Studies
48 Lesen und darüber reden                                            Das Wintersemester 2022 startet mit zwei neuen Studien
  Literaturwissenschaftlerin Doris Moser über ein Forschungs-
  projekt zu Lesekreisen                                           65 Universität Klagenfurt tritt Young European Research
                                                                      Universities (YERUN) bei
49 menschen                                                           AAU ist Teil des prestigeträchtigen Netzwerks YERUN
50 Schneller und ruckelfreier Videogenuss                          66 „Beim Studieren geht es auch um Austausch und um das
  Hadi Amirpourazarian arbeitet daran, Videostreaming                sozioemotionale Lernen.“
  effizienter zu machen.                                              Psychologe Eduard Gutleb im Interview mit ad astra

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      IMPRESSUM

      ad astra.
      Magazin für Wissenschaft & Kultur der Universität Klagenfurt

      ad astra kann kostenlos unter adastra@aau.at abonniert werden.
      Die nächste Ausgabe erscheint im Oktober 2022.
      Herausgeberin: Universität Klagenfurt
      Redaktion: Lydia Krömer (verantwortlich), Annegret Landes,
      Barbara Maier, Romy Müller, Katharina Tischler-Banfield, Karen
      Meehan, Lisa Svetina, Theresa Kaaden
      Anschrift der Redaktion: Universität Klagenfurt, Öffentlich-
      keitsarbeit & Kommunikation, Universitätsstraße 65–67, 9020
      Klagenfurt am Wörthersee, Austria, T: +43 463 2700 9301, E-Mail:
      adastra@aau.at
      Titelbild: roman3d/Adobestock
      Gestaltung|Satz|Layout: Susanne Banfield-Mumb Mühlhaim
      Auflage: 3.000 Exemplare
      Druck: mst druck:optimierer

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                                                        ad astra. 1/2022 | 5
Mein digitales Ich - März 2022 - Universität Klagenfurt
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titelthema

                 „Daten sind störrisch und
                        schwierig.“
Katharina Kinder-Kurlanda untersucht die Auswirkungen der Digitalisierung auf unseren Alltag.
Wir haben mit ihr darüber gesprochen, wie wir mit den neuen Möglichkeiten umgehen, und was
                  wir bei der Reflektion des Neuen auch über das Alte lernen.
                                            Interview: Romy Müller Fotos: Arnold Pöschl

Sie leiten das Digital Age Research           versuchen dann zum Beispiel individuell      andere Strukturen und auch Zwänge auf
Center (D!ARC) und arbeiten dort              solche Algorithmen zu „optimieren“, um       die Menschen einwirken: Ein Uber-Fah-
im Bereich „Humanwissenschaft                 an bessere Empfehlungen zu kommen –          rer beispielsweise ist in einen Algorith-
des Digitalen“. Gibt es eigentlich            indem sie zum Beispiel ihre Präferenzen      mus eingebunden, mit dem Zeit und Ge-
Menschen, die noch völlig „undigi-            sichtbarer oder unsichtbarer machen.         winne optimiert werden sollen. Es wird
talisiert“ leben?                             Oft wird auch direkt eine Möglichkeit        konfiguriert, wie er sich im Berufsalltag
Kaum. Auch die Daten von Personen, die        hierfür bereitgestellt: Auf Amazon kann      bei den Taxifahrten zu verhalten hat. Ist
vordergründig nicht im Internet präsent       ich für einzelne gekaufte Produkte aus-      er dabei nicht geschickt, wird er weniger
sind, sind digital erfasst und verfügbar.     wählen, dass sie nicht als Basis für Kauf-   Geld verdienen.
Dabei handelt es sich um ein globales         empfehlungen verwendet werden sollen.
Phänomen, das so gut wie all unsere Le-       Wir haben in dem Zusammenhang au-            Viele sind in Sorge, dass die
bensbereiche erfasst hat. Mich interes-       ßerdem Social Casual Games wie Candy         Schlussfolgerungen aus den Da-
siert dabei besonders, wie Menschen in        Crush oder Farmville untersucht. Diese       tenspuren ihr Leben negativ beein-
spezifischen Alltagssituationen darauf        kleinen Spiele, die nebenher im Alltag       trächtigen könnten. Wenn ich im
reagieren.                                    gespielt werden, sind oft an Social-Me-      Supermarkt immer ungesunde Le-
                                              dia-Plattformen wie Facebook angebun-        bensmittel kaufe und diese Infor-
Um reagieren zu können, muss ei-              den. Den Nutzer*innen ist dabei sehr         mationen auf meiner Kundenkarte
nem aber auch bewusst sein, dass              wohl bewusst, dass sie damit Datenspu-       gespeichert werden, könnte meine
Daten gesammelt werden.                       ren hinterlassen. Gleichzeitig weiß man      Krankenversicherung Einblicke in
Ich denke, dass sich immer mehr Men-          aber nicht im Detail, wer was an welcher     meinen Lebenswandel gewinnen,
schen sehr wohl darüber im Klaren             Stelle sammelt und wofür nutzt. Für          die dann zu meinem Nachteil sein
sind, dass sie Datenspuren erzeugen.          mich ist interessant, welche Vorstellun-     könnten. Ist dieses Szenario wahr-
Wir haben schon vor fast zehn Jahren          gen man sich von der Wirkungsweise           scheinlich?
Forscher*innen aus ganz verschiedenen         der Algorithmen macht und wie man mit        Bei diesem Beispiel kommen verschiede-
Disziplinen befragt, die mit digitalen        diesen interagiert, oft auch auf eine un-    ne Aspekte ins Spiel. Zuallererst: Wenn
Daten arbeiteten. Aber auch jenseits der      erwartete, nicht von den Entwickler*in-      Sie seit Jahren immer beim gleichen
Wissenschaft versuchen viele Menschen,        nen vorgesehene Art und Weise.               Supermarkt eingekauft haben, wird die
bewusst darauf zu achten, welche Daten                                                     Verkäuferin sich auch schon gemerkt
sie hinterlassen. Was soll also sichtbar      Bei diesen Beispielen gilt es, Unter-        haben, was sie immer wieder einkaufen.
und was unsichtbar sein und wie ver-          haltungsservices zu optimieren.              Der Unterschied zur Digitalisierung ist
suchen wir, die Algorithmen für unsere        Wenn ich mit meinen Versuchen                aber, dass die digital gespeicherten In-
Zwecke zu nutzen?                             scheitere, liegt mein maximaler              formationen über das Einkaufsverhalten
                                              Verlust darin, ein für mich inter-           einfacher auszuwerten und viel leich-
Können Sie ein Beispiel dafür nen-            essantes Produkt nicht zu finden.            ter weiterzugeben sind. Wie Sie sagen,
nen?                                          Ja, ich habe bei diesen Diensten die         man ist in Sorge, dass die Daten auch
Nehmen wir Netflix oder Amazon: Auf           Funktionen der Nutzerin und der Daten-       mit ganz anderen Lebensbereichen ver-
Basis der Filme und Serien, die Sie ger-      spenderin. In gewisser Weise trage ich       knüpft werden könnten. Wachsamkeit
ne und oft schauen, oder der Bücher, die      dazu bei, dass die Plattform dazulernt.      gegenüber denjenigen, die versuchen,
Sie kaufen, wird Ihnen ein Algorithmus        Wenn wir allerdings in andere Nut-           aus digitalen Daten über unser Verhal-
weitere Vorschläge unterbreiten. Viele        zungskontexte blicken, sehen wir, dass       ten Profit zu generieren, ist in jedem Fall

                                                                                                                     ad astra. 1/2022 | 7
Mein digitales Ich - März 2022 - Universität Klagenfurt
titelthema

geboten. Wir müssen mehr hinterfragen,       tisch ist – nämlich zum Beispiel, wer ei-    Digitalisierung zu erfassen. Gleichzei-
wer welche Daten wofür nutzen darf. Ich      gentlich Zugang zu diesen Daten hat und      tig braucht man auch ein technisches
halte es aber für unwahrscheinlich, dass     wer gerade nicht, obwohl es vielleicht       Verständnis, um technologische Ent-
genau das genannte Beispiel umgesetzt        von gesellschaftlichem Interesse wäre.       wicklungen gut einschätzen zu können.
wird.                                        Oder, das wäre wieder Ihr Beispiel von       Ein Fokus meiner Arbeit liegt auf einer
                                             eben, ob es eine Tendenz gibt, solidari-     Metaebene: Wie forschen wir zu Digita-
Warum?                                       sche Modelle für Krankenversicherun-         lisierung? Und was bringen uns digitale
Erstens würde das bedrohliche Szenario       gen aufzukündigen.                           Daten für die Wissenschaft?
implizieren, dass sehr verschiedene Ein-
richtungen – wie der Supermarkt und          Um aus vielen Daten, der Big Data,           Vordergründig könnte man ja
die Versicherung – zusammenarbeiten.         etwas zu lernen, braucht man Ma-             meinen, dass viele einfach zugäng-
Das darf ja derzeit nicht passieren, das     chine Learning oder Künstliche               liche Daten für die Wissenschaft
ist nicht erlaubt. Zweitens kennen wir       Intelligenz. Das Wissen über diese           ein Segen sind, oder?
aus der Literatur das Phänomen, dass         Methoden ist aber in der Bevölke-            Big Data ist für die Wissenschaft aus
die Potenziale einer neuen Technologie       rung nicht weit verbreitet. Weiß             meiner Warte weder ein Segen noch ein
oft überschätzt werden, entweder als zu      die Wissenschaft hinreichend, was            Fluch. Dass viele der Daten unter der
negativ oder zu positiv. Die tatsächlichen   sie da tut?                                  Hoheit großer, privater Internetfirmen
Veränderungen sind viel subtiler oder        Die Explainable Artificial Intelligence      und deren Profitinteressen stehen, ist für
einfach ganz anders als gedacht. Es gibt     adressiert diese Fragestellung. Viele wis-   die Wissenschaft wie für die Gesellschaft
die Phänomene der Mythenbildung und          sen nicht, was da vorgeht, oder sie kön-     ein Problem. Wir müssen uns auch der
der ‚Messiness‘. Wir hinterfragen also:      nen es nicht verstehen. Die Systeme sind     Verschiebungen in den Scientific Com-
Was sind die Versprechen, mit denen          oft auch so komplex, dass selbst die For-    munities bewusst sein. Es bilden sich
eine neue Technologie sowohl bei den         schenden bei diesen Algorithmen nicht        neue Disziplinen heraus, die mit diesen
Entwickler*innen als auch bei den Nut-       immer nachvollziehen können, wie es zu       Daten arbeiten und dafür neue Metho-
zer*innen einhergeht? Gleichzeitig müs-      einer Schlussfolgerung oder Entschei-        den entwickeln. Das Neue führt dann oft
sen wir uns auch ansehen, welchen enor-      dung kommt. Im EU-Projekt ‚NoBIAS –          auch zu einer Reflektion des Bestehen-
men Brüchen und Uneinheitlichkeiten          Artificial Intelligence without Bias‘ ver-   den; es wirkt also auch in die traditionell
wir bei den Datensammlungen gegen-           suchen wir der Frage auf die Spur zu         arbeitenden Bereiche hinein. Big Data
überstehen. Ich habe mich in meiner Ar-      kommen, welche Faktoren eine KI-un-          kam mit dem Versprechen, dass es tra-
beit umfassend mit Dateninfrastruktu-        terstützte Entscheidung beeinflussen.        ditionellen Methoden überlegen sei und
ren beschäftigt und dabei gelernt: Daten     Viele beschäftigt auch die Frage, wer mit    dass man damit umfassendere Erkennt-
sind unheimlich störrisch und schwierig,     Künstlicher Intelligenz dazu ermächtigt      nisse erlangen kann. Wie Big Data die
gerade wenn man sie zusammenführen           wird, etwas schneller oder besser zu tun.    Wissenschaft verändert, ist bisher noch
möchte.                                      Diese Fragestellungen sind sehr kom-         nicht hinreichend erforscht und auch ein
                                             plex. Um sie zu beantworten, brauchen        noch andauernder Prozess.
Vieles, was als bedrohlich gemut-            wir unbedingt die Zusammenarbeit ver-
maßt wird, wäre also technisch               schiedener Disziplinen. Darauf fokussie-     Welche neuen Kompetenzen brau-
gar nicht so einfach möglich?                ren wir im Digital Age Research Center       chen Wissenschaftler*innen, um
  Ja, um Daten zusammenzuführen,             (D!ARC).                                     mit Big Data und Künstlicher In-
muss man sie oft auf verschiedenen                                                        telligenz arbeiten zu können?
Ebenen harmonisieren, damit sie mitei-       Welche Fächer braucht man da-                Wir haben eine umfassende Skills-De-
nander kompatibel sind und man nicht         für? Und welche Disziplinen kön-             batte: Heute sind Mathematik und In-
die sprichwörtlichen ‚Äpfel und Birnen‘      nen Sie einbringen?                          formationstechnik in allen Disziplinen
miteinander vergleicht oder verknüpft.       Am D!ARC sind verschiedene diszipli-         wichtiger geworden. Diese Daten sind
Wenn einem klar ist, wie herausfordernd      näre und interdisziplinäre Digitalisie-      nur jenen zugänglich, die auch die Fähig-
das ist, kann man auch besser das Ge-        rungsforscher*innen versammelt. Mei-         keiten haben, sie herunterzuladen und
fahrenpotenzial einschätzen. Ja, große       ne eigene Leitfrage war immer: Was           auszuwerten. Man braucht viel Wissen
Datensammlungen könnten unter be-            machen Menschen mit Maschinen und            über Methoden, Tools, Plattformen und
stimmten Umständen den falschen Per-         was machen Maschinen mit Menschen?           Schnittstellen.
sonen das Falsche ermöglichen. Und si-       Ich habe Kulturanthropologie und im
cherlich wird auch gerade versucht, vom      Nebenfach Informatik und Geschichte          Sind also nur die Techniker*innen
‚Mythos‘ Big Data zu profitieren. Diese      studiert. Insgesamt braucht man eine         die Profiteur*innen dieses Wan-
sehr pessimistischen Diskurse verde-         umfassende sozialwissenschaftliche He-       dels?
cken aber oft, was tatsächlich problema-     rangehensweise, um die Phänomene der         Nein, ich glaube, dass auch von den So-

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Mein digitales Ich - März 2022 - Universität Klagenfurt
zial- und Geisteswissenschaften viele       lich Tools, die versuchen, die Situation
Kompetenzen in die Technik hineinge-        im Hörsaal oder im Seminarraum online
tragen werden müssen. Kritisches Den-       nachzubilden. Ich möchte aber einen ge-                       Zur Person
ken, Grundlagen des wissenschaftlichen      naueren Blick einfordern: Was spielt sich
und forschungsethischen Arbeitens sind      im Hörsaal in welcher Situation ab? Wa-      Katharina Kinder-Kurlanda ist seit Febru-
Teilbereiche, bei denen viel Expertise      rum sitzen wir überhaupt im Seminar-           ar 2021 Universitätsprofessorin am Digi-
in den Sozial- und Geisteswissenschaf-      raum? Ich vermute, dass dahinter auch         tal Age Research Center (D!ARC) und seit
ten liegt. In den technischen Fächern ist   soziale Konstruktionen stehen, die für           Oktober 2021 auch dessen Leiterin. Sie
man hingegen oft nicht gewöhnt, über        die Beteiligten wichtig sind, wie die Ab-    studierte Kulturanthropologie, Informatik
Menschen und das Soziale zu forschen.       bildung von Machtstrukturen oder Kon-            und Geschichte an der Eberhard-Karls-
Letztlich können wir wechselseitig stark    zepte von Wissenshierarchien. Wenn wir                  Universität Tübingen und an der
voneinander profitieren.                    das gesamte Setting kritisch reflektieren,      Goethe-Universität Frankfurt am Main.
                                            können wir auch in den Online-Hörsä-             Ab 2005 war sie Doktorandin in einem
Könnten Sie uns zum Abschluss               len zu neuen Formen der Lehre und des           EPSCR(Engineering and Physical Scien-
einen Bereich nennen, in dem Sie            Austauschs kommen, die uns insgesamt         ces Research Council)-geförderten Projekt
besonders von der Digitalisierung           voranbringen können.                               zum Thema Internet of Things an der
profitieren?                                                                                Lancaster University in Großbritannien.
Ich möchte eine Lanze für die On-                                                        2009 promovierte sie mit der Dissertation
line-Kommunikation im weitesten Sinne                                                         zum Thema „Ubiquitous Computing in
brechen – vom Zoom-Meeting bis zum                                                         Industrial Workplaces“ an der Lancaster
gemeinsamen Verfassen eines Textes auf                                                   University. Nach ihrer Promotion arbeite-
Google Docs. Mit diesen Werkzeugen ist                                                    te sie als Postdoc Researcher und Visiting
es uns heute mehr denn je möglich, inter-                                                 Lecturer an der Lancaster University Ma-
national in Forschungskollaborationen                                                     nagement School. Katharina Kinder-Kur-
zusammenzuarbeiten. Das ist einfach un-                                                          landa war von 2012 bis 2016 Senior
glaublich. Ähnliches würde ich auch für                                                    Researcher und zwischen 2016 und 2021
die Online-Lehre sehen: Auch hier haben                                                       Teamleiterin für „Data Linking & Data
wir phänomenale Möglichkeiten.                                                            Security“ am GESIS – Leibniz-Institut für
                                                                                         Sozialwissenschaften in Köln. Gleichzeitig
Wir nutzen sie aber nicht immer                                                             war sie zwischen 2019 und 2020 Fellow
hinreichend.                                                                               am Center for Advanced Internet Studies
Ja, im Moment nutzen wir hauptsäch-                                                                               (CAIS) in Bochum.

                                                                                                                   ad astra. 1/2022 | 9
Mein digitales Ich - März 2022 - Universität Klagenfurt
gesellschaft                                                                                                                                       Buchtipp

Maschinen mit Geschlecht
Im italienischen Stummfilm La bambola vivente von Luigi Maggi
aus dem Jahr 1924 baut ein Wissenschaftler eine Puppe, die
seiner Tochter zum Verwechseln ähnlich sieht. Dieser Ma-
schinenmensch ist dabei klar weiblich. Larissa Grantner,
Doktorandin im Programm „Italian Studies“, untersucht
in einer interdisziplinären Studie, welche Rolle die Ka-
tegorie Geschlecht bei Maschinenmenschen in Scien-
ce-Fiction-Filmen spielt.

                                                                                      KK
Weiterlesen: www.aau.at/blog/science-fiction-filme-
warum-haben-maschinenmenschen-ein-geschlecht/
                                                                                                                                                     Handbuch
                                                                                                                                                     Kritische Stadtgeographie
                                                                                                                                                     Weltweit sind Städte Schau-
              Verkaufende Geschichten                                                                                                                platz gesellschaftlicher Ausei-
                                                                                                                                                     nandersetzungen. Angesichts
              „Der Medienkonsum beginnt bei Kindern                                                                                                  der städtischen Konflikte um
              heute sehr früh. Sie stoßen in ihren ersten                                                                                            Mietsteigerungen, der Vertrei-
              Lebensjahren auf Figuren, die medial vermit-                                                                                           bung marginalisierter Bevöl-
              telt werden – und ihnen in anderen Lebens-                                                                                             kerungsgruppen, der Über-
              bereichen begegnen: Bibi & Tina läuft nicht                                                                                            wachung öffentlicher Räume

                                                                                                 Aleksandr/Adobestock
              nur im Fernsehen, sondern findet sich auch                                                                                             und der Privatisierung von
              auf der Jausenbox, am Regenschirm und                                                                                                  Infrastruktur ist auch das Inte-
              als Spielfiguren wieder“, erläutert Caroline                                                                                           resse der Sozialwissenschaften
              Roth-Ebner (Institut für Medien- und Kom-                                                                                              am Thema „Stadt“ gewachsen.
              munikationswissenschaft). Caroline Roth-                                                                                               Vor allem im angloamerika-
              Ebner hat untersucht, wie Volksschulkinder und deren Eltern mit diesen so genannten                                                    nischen Raum hat sich eine
              medialen Konsumerlebniswelten umgehen.                                                                                                 kritische Stadtgeographie
                                                                                                                                                     entwickelt, die inzwischen auf
                                                                                                                                                     umfangreiche theoretische wie
                                                                                                                                                     auch empirische Arbeiten zu-
                                                       Polen zwischen                                                                                rückblicken kann. Das Hand-

 Wie entscheiden                                       Hitler und Stalin
                                                                                                                                                     buch „Kritische Stadtgeogra-
                                                                                                                                                     phie“, das unter anderem von

 wir?                                                                                                                                                Matthias Naumann (Institut
                                                                                                                                                     für Geographie und Regio-
                                                                                                                                                     nalforschung) herausgegeben
 Der Psychologe
                                                                                                                        Sergii Figurnyi/Adobestock

                                                                                                                                                     wird, ist nun in fünfter Aufla-
 Lars Reich mo-                                                                                                                                      ge erschienen.
 delliert mensch-
 liches Entschei-                                                                                                                                    Belina, B., Naumann, M. &
 dungsverhalten.                                                                                                                                     Strüver, A. (Hrsg.) (2022).
 Er versucht also                                                                                                                                    Handbuch Kritische Stadt-
 herauszufinden,                                                                                                                                     geographie. Münster: Ver-
 welche kogniti-
                                            Müller

                                                       Am 1. September 1939 griff das nationalso-                                                    lag Westfälisches Dampf-
 ven Prozesse zu                                       zialistische Deutschland Polen an. Da Hitler                                                  boot.
 welchen Entscheidungen führen. Sein Ziel ist          sich kurz zuvor mit Stalin über die Teilung des
 es, das Verhalten mathematisch abzubilden.            Landes verständigt hatte, marschierte 17 Tage
 „Alle Menschen entscheiden im Prinzip sehr            später auch die Rote Armee in Polen ein. Für
 ähnlich. Einzelne kognitive Prozesse sind             21 Monate stand das Land nun unter Herr-
 aber unterschiedlich stark ausgeprägt“, er-           schaft zweier extremer Besatzungsmächte. Ein
 klärt er. Reich arbeitet im Rahmen des Dok-           Forschungsteam unter der Leitung von Dieter
 toratskollegs DECIDE an seiner Dissertation.          Pohl (Institut für Geschichte) untersucht nun
 Weiterlesen: www.aau.at/blog/wie-                     Strukturen und Logiken der beiden Regime in
 entscheiden-wir/                                      diesem durch Zeit und Raum eingegrenzten
                                                       Rahmen. Das Projekt wird vom österreichi-
                                                       schen Wissenschaftsfonds FWF gefördert.

  10 | ad astra. 1/2022
Kann ein Filmverbot
für Nicolas Cage
Menschenleben retten?
Dass zwei korrelierende Ereignisse nicht unbe-
dingt kausal miteinander zusammenhängen, ist
eine von vielen Achillesfersen der Statistik. Heute
stehen uns mehr sozioökonomische Daten denn
je zur Verfügung. Damit diese von Entschei-
dungsträger*innen auch sinnvoll und korrekt
genutzt werden können, braucht es innovative
und leistungsstarke Werkzeuge für deren sta-
tistische Analyse. Gregor Kastner ist Koordina-
tor eines FWF-Zukunftskollegs, in dem Ex-
pert*innen aus unterschiedlichen Disziplinen
an solchen neuen Instrumenten arbeiten.

    Interview: Romy Müller Foto: Daniel Waschnig
gesellschaft

Daten bestimmen seit Ausbruch                lem geht ja davon aus, dass die Zahl der    gebildet haben oder wo es zu Überlas-
der Pandemie unser Leben: Sie                Beobachtungen bei relativ wenigen Va-       tungen kam. Wir arbeiten also mit ei-
sind die Grundlage dafür, ob wir             riablen hoch ist. Diese große Menge an      ner Fülle von verschiedenen Variablen,
ins Kino gehen dürfen oder in wel-           Daten trägt die Statistik unter gewissen    welche in Verbindung mit statistischen
che Länder wir reisen können.                Voraussetzungen in die richtige Rich-       Modellen Schlussfolgerungen und Vor-
Schlägt sich dieser Hype auch auf            tung, ohne komplexe Methoden anwen-         hersagen treffen lassen. Diese kann man
nichtmedizinische Sphären nie-               den zu müssen. Wir widmen uns jedoch        für strategische Entscheidungen zur
der?
Das, was wir gerade erleben, hat natür-
lich mit der Tagesaktualität der Pande-
mie zu tun. In anderen Bereichen sind
Daten und statistische Schlussfolgerun-                                       Zum Zukunftskolleg
gen derzeit nicht ganz so prominent.
Wofür statistische Methoden verwendet             Die Menge an sozioökonomischen Daten nahm in den letzten
werden, unterliegt also auch Moden.               Jahren deutlich zu. Gleichzeitig werden diese immer komple-
Grundsätzlich sind viele unserer Werk-            xer. Nimmt man unter die Lupe, welche Daten für Entschei-
zeuge schon alt und halten sich über
Aufmerksamkeitsspannen hinweg. Die                dungsträger*innen aufbereitet werden, erkennt man: Die
Statistik kommt ja aus der Staatslehre,           ständig wachsende Datenmenge wird bei weitem nicht voll
für die man Volkszählungen gemacht                ausgeschöpft. Ein Team von Forscher*innen aus den Berei-
hat. Erst später kam die Abstraktion auf          chen Statistik, maschinelles Lernen, Ökonomik, Sozialwis-
ein Modell dazu.
                                                  senschaften und Informatik versucht mit neuen Methoden
Wir spüren, was die Entschei-                     zu besseren Schlussfolgerungen aus den Daten zu gelangen.
dungsträger*innen aus Daten                       Das Projekt wird vom österreichischen Wissenschaftsfonds
schlussfolgern. Als Laiin verste-                                        FWF gefördert.
he ich von den dahinterstehenden
Methoden aber nur sehr wenig.
Sind diese wirklich so schwierig
zu erklären?                                 vorrangig dem Problem der Hochdimen-        Verfügung stellen.
Jein. Wie viel Zeit haben wir denn?          sionalität, wo wir mit verhältnismäßig
(lacht) Unsere Methoden sind an der          wenigen Beobachtungen viele Variablen       Stehen den Politiker*innen genü-
Schnittstelle zwischen Mathematik und        gleichzeitig untersuchen. In anderen        gend solche Entscheidungsgrund-
beobachtbarer Welt verwurzelt. Sie           Worten: möglichst viel lernen mit einer     lagen zur Verfügung?
sind oft sehr abstrakt, und sie zu verste-   endlichen Menge an Daten. Bei diesen        Daten und ihre statistischen Auswer-
hen wird von wenigen als unterhaltsam        Problemen muss mit Bedacht modelliert       tungen spielen eine zunehmend größere
empfunden. Ob man wirkliches Inter-          werden, um ungenaue, übergenaue oder        Rolle, aber dennoch: Es ist vieles nicht
esse daran entwickelt, ist also auch Ge-     gar falsche Schlussfolgerungen mög-         getan, was man noch tun könnte. An
schmackssache. Gleichzeitig birgt das        lichst zu vermeiden.                        der Schnittstelle zur Politik ist es wich-
Informationsdefizit auch Gefahren in                                                     tig zu betonen, dass statistische Model-
sich: Die Statistik wird oft als ‚Wahrsa-    Arbeiten Sie mit konkreten Frage-           lierung nur eine von vielen Grundlagen
gerdisziplin‘ gesehen, vor allem von je-     stellungen oder geht es Ihnen um            für die Entscheidungsfindung darstellt.
nen, die keinen fundierten Einblick in       das abstrakte Modell?                       Sie dient den Verantwortlichen als Prog-
die Methoden und ihre Grenzen haben.         Sowohl als auch, aber für mich gilt: real   nosetool einerseits und als Empfehlung
                                             questions matter. Wir gehen also in der     andererseits. Für sie ist es wichtig, sich
Im Zukunftskolleg „Hochdimensi-              Regel von konkreten Fragestellungen aus.    auf zuverlässige Ergebnisse berufen zu
onales statistisches Lernen: Neue                                                        können.
Methoden für Wirtschafts- und                Nehmen wir das konkrete Beispiel
Nachhaltigkeitspolitik“ geht es              der nachhaltigen Mobilitätsange-            Damit einher geht aber auch die
darum, aus großen Datensätzen                bote in Städten. Welche Daten ste-          Gefahr, dass man nur jene Zahlen
Brauchbares für Entscheidungs-               hen Ihnen hier zur Verfügung?               nutzt, die die eigene Intention un-
träger*innen zu generieren. Wie              Über Mobiltelefondaten wissen wir, wer      terstützen.
groß sind denn Ihre Datensätze?              sich wo wann bewegt hat. Daraus kön-        Ja, in der politischen Argumentation
Das klassische Machine-Learning-Prob-        nen wir ablesen, wo sich Ansammlungen       kann es auch vorkommen, dass man sich

12 | ad astra. 1/2022
gesellschaft

auf Quellen bezieht, die möglicherweise      gewissermaßen Datenpunkte, und ich
stärker der eigenen Intention dienen,        überlege mir, inwiefern diese meine Mei-
als dass sie für sich seriös und plausibel   nung verändern. Dieser Vorgang wird als
sind.                                        Bayesian thinking bezeichnet. Ich glau-
                                             be, diese bewusste Differenzierung zwi-
Gehen wir im positiven Falle da-             schen einem Gefühl zu einer Sache und
von aus, dass es sich dabei um               dem datengestützten Weg zu Wissen ist
Missverständnisse handelt. Worin             am augenfälligsten. Ich würde das als
liegen denn Potenziale für solche            Formalisierung des Alltagserkenntnis-
Fehleinschätzungen?                          begriffs bezeichnen.
Klassisch ist die Unterscheidung zwi-
schen Korrelation und Kausalität. Ver-       Aus den vorliegenden Daten-
gleicht man die Erscheinungstermine          punkten rechnen Sie dann in die
von Filmen mit Nicolas Cage mit der Zahl     Zukunft. Macht Sie dieser vor-
der jährlich in Pools ertrinkenden Perso-    wärtsgerichtete Blick zu einem op-
nen in den USA, könnte man meinen, die       timistischen Menschen?
Menschen ertränken sich, wenn Nicolas        Als Statistiker bemühe ich mich darum,
Cage gehäuft schauspielert. Das ist na-      möglichst korrekte Vorhersagen zu tref-
türlich ein Unfug. Bei jeder Schlussfol-     fen. Was die Bewertung angeht, verweise
gerung müssen wir uns also fragen: Sind      ich immer wieder auf unsere fachlichen
die Dinge wirklich kausal voneinander        Möglichkeitsräume: ‚Ob etwas gut oder
abhängig oder ist das nur eine Korrela-      schlecht ist, obliegt nicht der statisti-
tion? In der Pandemie hören wir gerne        schen Methode.‘ Die intensive Beschäf-
die geflügelte Phrase von den ‚bewährten     tigung mit Statistik alleine macht mich
Maßnahmen‘. Ohne deren Sinnhaftigkeit
grundsätzlich in Frage zu stellen, ist für
                                             also weder zu einem optimistischen
                                             noch zu einem pessimistischen Men-
                                                                                                         Zur Person
mich oft unbeantwortet: Wie hat man          schen. Für die Statistik selbst jedoch          Gregor Kastner ist seit Oktober 2020
deren Erfolg gemessen? Manchmal wäre         sehe ich optimistisch in die Zukunft.           als Universitätsprofessor für Statistik
es ehrlicher zu sagen, man weiß manches                                                        an der Fakultät für Technische Wis-
nicht, anstatt Kausalitäten zu verkün-       Mathematiker*innen und Statis-                     senschaften tätig. Kastner studierte
den, die man nicht belegen kann.             tiker*innen sprechen häufig von               Technische Mathematik und Informa-
                                             der Schönheit ihres Fachs. Was ist               tikmanagement sowie die Lehramts-
Kann man menschliches Verhal-                denn schön an der Statistik?                     studien Informatik, Mathematik und
ten überhaupt gut modellieren?               Für mich sind statistische Modelle dann         Bewegung & Sport an der Universität
Das ist das Schöne an der Statistik:         schön, wenn sie einfache Sachverhalte          Wien und an der Technischen Univer-
Wenn viele unabhängige Partikel agie-        erkennen können, aber auch die Flexi-        sität Wien. Internationale Erfahrungen
ren, können wir gut vorhersagen, was im      bilität haben, ‚um die Ecke zu denken‘.           sammelte er an der ETH Zürich und
Durchschnitt passiert und welche Vertei-     Simplizität ist also weder vorgegeben           als Visiting Scholar an der University
lung dieser Schnitt hat, also was für das    noch ausgeschlossen, vielmehr gilt: So            of Chicago Booth School of Business
große Ganze relevant ist. Schwierig wird     einfach wie möglich, so kompliziert wie           (USA) und der Jiangxi University of
es, wenn eine starke Abhängigkeit zwi-       nötig.                                         Finance and Economics (China). 2014
schen den Partikeln besteht, also wenn                                                   promovierte Kastner an der Universität
sich beispielsweise Menschen herden-                                                            Linz sub auspiciis. Vor seiner Beru-
haft verhalten. Dann können einzelne                                                       fung an die Universität Klagenfurt war
Schmetterlingseffekte sehr viel beein-                                                         er Senior Postdoc (FWF) und Senior
flussen.                                                                                    Lecturer sowie Assistenzprofessor am
                                                                                         Institute for Statistics and Mathematics
Woran merken Sie in Ihrem priva-                                                          der Wirtschaftsuniversität Wien. Seine
ten Alltag, dass Sie Professor für                                                        Forschungsschwerpunkte liegen in der
Statistik sind?                                                                              Bayesschen Statistik und Ökonomet-
Ein Beispiel: Ich nehme a priori wahr,                                                      rie, der computationalen Statistik und
dass ich zu einem bestimmten Phä-                                                         der mathematischen Modellierung von
nomen eine Meinung habe. Im Alltag                                                                                  Unsicherheiten.
kommen dann Erfahrungen daher, also

                                                                                                                  ad astra. 1/2022 | 13
Die Faszination des Mittelalters
Von Kreuzzügen in immersiven Computerspielen über blutige Schlachten in Kinofilmen bis hin zu
Ritterspielen zur Belustigung von Tourist*innen – das Mittelalter begleitet uns ständig. Abseits
der populärkulturell geprägten Assoziationen ist es jedoch vor allem die Beschäftigung mit den
gewöhnlichen Routinen und Handlungsimpulsen im mittelalterlichen Alltag, die das Zeitalter für
                                    uns begreiflich macht.
                                       Text: Karen Meehan Foto: Archivist/Adobestock

Die Bezeichnung „Mittelalter“, die sich    das Negative beharrlich im allgemeinen       für Geschichte, bietet zur besseren Ori-
ausgehend von der humanistischen Be-       Sprachgebrauch nieder – was als rück-        entierung eine kurze Einordnung: Unter-
wegung ab dem 14. Jahrhundert als          ständig oder schlecht erklärt werden soll,   teilt in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter
Abgrenzung zur Moderne ausbreitet,         wird oft als mittelalterlich bezeichnet.     erstreckt sich die Epoche – auf Westeu-
schleppt von Anfang an negative Assozi-                                                 ropa bezogen und nach konventioneller
ationen mit sich, von Bildungskatastro-    Christian Jaser, Universitätsprofessor für   Berechnung – über einen Zeitraum von
phe und Gewalttätigkeit bis zum Mangel     Mittelalterliche Geschichte und Histori-     grob 1.000 Jahren, wobei der Fall des
an Zivilisation. Auch heute schlägt sich   sche Grundwissenschaften am Institut         Römischen Reiches im Jahr 476 den An-

14 | ad astra. 1/2022
gesellschaft

                                          sprachigen Raum sind uns aus den frühen        bezogen. Das Sammeln und Studieren
                                          Jahrhunderten des Mittelalters wenige          von mittelalterlichen Quellen diente im
                                          Werke erhalten geblieben, und diese lie-       19. Jahrhundert als identitätsstiftendes
                                          fern mitunter eine schwer überprüfba-          Moment für den frühen Nationalstaat.
                                          re, monologische Darstellung. Mit dem          Mit der zunehmenden Integration Euro-
                                          Übergang ins Hochmittelalter, um das 11.       pas und der neuen europäischen Identität
                                          Jahrhundert, fließen die Quellen immer         nahm der Fokus auf einzelne National-
                                          reichlicher, und das setzt sich in der städ-   mittelalter mit der Zeit etwas ab. Heute,
                                          tischen Welt des Spätmittelalters fort, so     mit der – auch pandemiebedingten –
                                          dass Mediävist*innen heute anhand der          Rückkehr des Nationalstaats, beobach-
                                          Fülle an Originalmaterialien in den Ar-        ten Mediävist*innen populistische Strö-
                                          chiven nuancierte Aussagen über das Le-        mungen am rechten Rand des politischen
                                          ben im Mittelalter treffen können. Aber        Spektrums, die sich in ihren Manifesten
                                          auch für das quellenarme Frühmittelalter       ausgiebig an mittelalterlichen Bezügen
                                          ergeben sich durch Perspektivenwechsel         bedienen und die populäre Faszination
                                          in den Fragestellungen laufend neue Er-        mit dem Mittelalter mittels kruder Bil-
                                          kenntnisse.                                    dersprache instrumentalisieren. Chris-
                                                                                         tian Jaser unterstreicht hier nochmals
                                          Unter die jüngeren Ansätze, das finstere       die Notwendigkeit einer möglichst diffe-
                                          Mittelalter aus wissenschaftlicher Sicht       renzierten Erforschung des Zeitalters in
                                          zu durchleuchten, reiht sich auch die          all seiner Vielfalt samt Wissenstransfer in
                                          interdisziplinäre Forschung zu Klang-          die Gesellschaft, insbesondere wo neuere
                                          landschaften, an der die Kunstgeschich-        Erkenntnisse von der traditionellen Idee
                                          te, die Musikwissenschaften, die Philo-        eines homogenen christlichen Mittelal-
                                          logien und die Mediävistik gemeinsam           ters des Abendlandes klar abweichen.
                                          arbeiten. Allgemein gilt das Mittelalter,
                                          vor allem im Gegensatz zu den lautstar-
                                          ken Industrialisierungs- und Urbanisie-
                                                                                                            „
                                          rungsbewegungen der Moderne, als stille        „Eine sorgfältige Interpretation
                                          Epoche. Forscher*innen blicken heute
                                          hinter diese weit verbreitete Vorstellung       von Quellen ermöglicht die
                                          der dörflichen Idylle, indem sie etwa un-      Annäherung an den völlig an-
                                          tersuchen, ob im Mittelalter zwischen          dersartigen mittelalterlichen
                                          Klang und Lärm unterschieden wurde
                                          und wie Stadtobrigkeiten realpolitisch               Blick auf die Welt.“
                                          reagierten, um Lärm zu reglementieren.                     (Christian Jaser)
                                          Die differenzierte Betrachtung von un-
fangspunkt bilden kann und verschiedene   terschiedlichen räumlichen Einheiten wie       Für Christian Jaser liegt die persön-
Ereignisse um 1500, wie etwa die Erfin-   Stadt und Land, aber auch Unterschie-          liche Faszination des Mittelalters vor
dung des Buchdrucks, der Fall Konstan-    de in der Wahrnehmung und Reaktion             allem darin, wie sehr sich die Sicht-
tinopels und die Reformation, das Ende    – etwa von Bauern und Geistlichen auf          weise der damaligen Welt von der vor-
des Zeitstrahls skizzieren.               den Klang von Glocken – gehören dabei          wiegend säkularen Gesellschaft im

                 „                        ebenso zur Lautsphärenforschung wie die
                                          Aufarbeitung von literarischen Texten
                                          mit ihrem Reichtum an Beschreibungen,
                                          zum Beispiel jener Klangräume, die sich
                                                                                         heutigen Mitteleuropa unterscheidet.
                                                                                         Insbesondere schätzt er, dass mit jedem
                                                                                         neuen Erkenntnisgewinn gegenwärtige
                                                                                         Gewissheiten relativiert werden. Eine
„Das Frühmittelalter wird auf-
                                          bei einem mittelalterlichen Fest mit laut      sorgfältige Interpretation von Quellen
 grund der Armut an schrift-              spielenden höfischen Pfeifern oder an          ermöglicht die Annäherung an den völlig
 lichen Quellen mitunter als              Markttagen mit Stadtschreiern entfalten.       andersartigen mittelalterlichen Blick auf
                                                                                         die Welt. Das fördert die Reflexion über
    Dark Ages bezeichnet.“
                                          Christian Jaser beschreibt das Mittelal-       die eigene Zeit und erinnert uns, dass
           (Christian Jaser)              ter als dynamisches Forschungsfeld, das        unser heutiges Denken ebenso historisch
                                          sich von Forschungsgeneration zu For-          und veränderlich ist.
Im angelsächsischen Raum wird das         schungsgeneration verändert, weil die je-
Frühmittelalter aufgrund der damals       weilige Gegenwart aus der Fragestellung
vorherrschenden mündlichen Tradition      nicht auszublenden ist. Lange Zeit war
und der damit einhergehenden Armut an     die europäische Geschichtswissenschaft,
schriftlichen Quellen mitunter als Dark   die heute um die 150 Jahre alt ist, in ihrer
Ages bezeichnet. Auch aus dem deutsch-    Forschungstradition eher nationalstaats-

                                                                                                                  ad astra. 1/2022 | 15
„Die Krise sind
                                                        nicht die Menschen
                                                           auf der Flucht.“
         Die Omnipräsenz der Coronapandemie hat Themen wie Flucht und Migration aus der
      medialen Sichtbarkeit verschwinden lassen. Jedoch zwingen anhaltende Konflikte in Af-
      ghanistan, im Sudan, in Belarus oder entlang der ‚Balkanroute‘ täglich viele Menschen,
     ihre Heimatländer zu verlassen. Caroline Schmitt forscht zu Migration und Inklusion und
                             hat mit ad astra über die aktuellen Spannungsfelder gesprochen.

                        Interview: Katharina Tischler-Banfield Fotos: Caroline Schmitt & Andrea Schombara

Hat die Flüchtlingskrise 2015 Euro-            gleichheiten und zunehmend mehr auch        Weg begeben müssen, zum Beispiel über
pa verändert?                                  Klimakatastrophen.                          das Mittelmeer oder über die ‚Balkanrou-
Ich möchte eingangs etwas anmerken:            Das bemerkenswerte am ‚langen Sommer        te‘, um Flüchtlingsschutz beantragen zu
Der Begriff ‚Flüchtlingskrise‘ hat sich sehr   der Migration‘ 2015 war, dass Menschen      können. Ich vermute, viele haben noch
stark in der Debatte zu Fluchtmigration        es geschafft haben, das Migrationsregime    Bilder und Erlebnisse aus diesem Sommer
zementiert. Ich finde das problematisch.       der EU parziell außer Kraft zu setzen und   im Kopf – zum Beispiel von Bahnhöfen, an
Das Problem sind nicht die Menschen, die       den schweren Weg nach Europa zu bewäl-      denen Menschen angekommen sind und
fliehen müssen, sondern die Ursachen von       tigen. Die Paradoxie daran ist, dass sich   mit Kleidung und Spielsachen empfan-
Flucht wie Krieg, Verfolgung, Armut, Un-       Menschen auf einen lebensgefährlichen       gen wurden. Der Begriff der so genannten

16 | ad astra. 1/2022
gesellschaft
‚Willkommenskultur‘ wurde geprägt und           geben. Fluchtmigrationsprozesse machen        nicht überbewerten, weil sie die national-
es herrschte eine Aufbruchstimmung, die         diese Ungleichheiten sichtbar. Es gibt zwar   staatliche Politik nicht aushebeln können
mit vielen etwas gemacht hat.                   kein Recht auf Mobilität, auf das man sich    und Menschen auf der Flucht nicht sugge-
                                                berufen könnte, aber es gibt das interna-     rieren sollten, in einem sicheren Raum zu
Was genau hat sie mit uns gemacht?              tionale und europäische Flüchtlingsrecht,     leben, in dem etwa Abschiebungen nicht
Es gab viel Solidarisierung. Solidarität ent-   das es anzuwenden gilt. Dadurch wird          mehr passieren würden. Zivilgesellschaft-
steht gerade dann, wenn Menschen sozia-         auch eine weiterreichende Problematik         liche Initiativen sind wichtig und können
le Ungleichheiten als zu groß empfinden.        ins Licht gerückt: Wie und wo wir uns in      viel bewegen. Sie dürfen aber nicht dazu
Man möchte das nicht mehr hinnehmen             der Welt bewegen können, hängt maßgeb-        führen, dass sich Nationalstaaten oder die
und kollektiv für eine Veränderung ein-         lich von unserem Pass ab. Mobilität ist ein   EU aus der Verantwortung ziehen.
stehen. Das wurde 2015 – auch durch die         Privileg, das bei unserer Geburt festgelegt
breite, mediale Berichterstattung – ganz        wird. Die Politikwissenschaftlerin Ayelet     Sind „Parallelgesellschaften“ hin-
stark sichtbar und spürbar. Menschen ha-        Shachar nennt das die ‚Birthright Lottery‘.   derlich für eine inklusive Gesell-
ben mit anderen mitgefühlt, die sie nicht       Ohne unser Zutun haben wir bestimmte          schaft?
kannten, mit Biografien, die ihnen nicht        Bewegungsrechte oder eben nicht. Das ist      Der Begriff der ‚Parallelgesellschaft‘ ver-
vertraut waren.                                 eine Form von Ungleichheit, die mit hu-       mittelt den Eindruck, als würden sich be-
                                                manitären Werten in Konflikt gerät.           stimmte Menschen von anderen bewusst
War das auch den großen Zahlen
an ankommenden Menschen ge-
schuldet?
In Österreich war es definitiv eine neue
                                                                   „                          abschotten. Ähnlich wie beim Integrati-
                                                                                              onsbegriff geht man von zwei getrennten
                                                                                              Gruppen aus: von denen, die einer Stadt
                                                                                              oder einem Land vermeintlich zugehörig
Situation. Viele jüngere Menschen hat-
                                                 „Das Problem sind nicht die                  seien, und von denen, deren Zugehörig-
ten zum ersten Mal unmittelbar mit dem           Menschen, die fliehen müs-                   keit in Frage gestellt und an Bedingungen
Thema Flucht zu tun; manche lebensältere        sen, sondern die Ursachen von                 geknüpft wird. Das baut mehr Ungleich-
Menschen erinnerten sich an eigene fa-                                                        heiten auf, als ihnen entgegenzuwirken.
miliale Verwobenheiten. Man muss dazu
                                                 Flucht wie Krieg, Verfolgung,                Inklusion stellt hingegen heraus, dass
sagen: Flucht ist ja keine neue Thematik.        Armut, Klimakatastrophen.“                   Gesellschaft durch Diversität geprägt ist,
Die ganze Menschheitsgeschichte ist eine                   (Caroline Schmitt)                 sei es in Bezug auf Nationalität, Sprache,
Geschichte von Migration, Flucht und Ver-                                                     Alter, Geschlecht oder Weltanschauungen.
treibung. Und dennoch hat sich die Lage                                                       Wenn wir Inklusion als Menschenrecht
2015 durch Kriege und militärische Kon-         Wie können wir diesen Ungleichhei-            fassen, dann darf niemand aufgrund von
flikte zugespitzt. Die Zahl der Menschen        ten begegnen?                                 Diversitätsdimensionen ausgeschlossen
auf der Flucht hat sich in den letzten zehn     Auf EU-Ebene gibt es noch keine nach-         sein.
Jahren auf über 80 Millionen verdoppelt.        haltige Lösung. Die Festsetzung geflüch-
                                                teter Menschen in ‚Geflüchtetenlagern‘
Was ist von der „Willkommenskul-                und -unterkünften ist jedenfalls keine. Es
tur“ sieben Jahre später übrigge-               braucht ein gemeinsames, europäisches
blieben?                                        Vorgehen. Dabei kann sich der Blick ins
Davon spricht im Moment kaum jemand.            Lokale und Regionale lohnen, wo sich
Abschottung ist das Thema der Stunde.           kreative Ansätze zeigen. Zum Beispiel die
Viele Projekte und Initiativen, die 2015        Idee der ‚Solidarischen Stadt‘. Sie orien-
entstanden sind, haben sich zwar institu-       tiert sich am US-amerikanischen und ka-
tionalisiert, und es gibt auch weiterhin so-    nadischen Konzept der ‚Sanctuary City‘
lidarisches Engagement, aber die EU ringt       aus den 1970er Jahren. Städte wie Toronto
noch immer um Lösungen im Umgang mit            oder New York City wollen allen Menschen
Fluchtmigration. Zeitgleich sterben Men-        unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus
schen auf den Fluchtrouten, erleben Push-       Teilhabe und Zugang zu Kultur, Gesund-
Backs und werden immobilisiert.                 heit, Bildung, Wohnraum ermöglichen.
                                                Diese Konzepte sind für die Umsetzung                          Zur Person
Europa und im Speziellen die EU                 von Inklusion auch aus Forschungssicht
sieht sich als Wertegemeinschaft,               interessant. In Europa versuchen zum Bei-           Caroline Schmitt ist seit März 2021
die für Frieden, Menschenrechte                 spiel Barcelona oder Zürich solidarische                Professorin für Migrations- und
und Gleichstellung steht. Werden                Stadtkonzepte umzusetzen.                            Inklusionsforschung. Sie studierte
diese Werte bei der Diskussion um                                                                  Erziehungswissenschaft mit den Ne-
Fluchtthematiken ausgeklammert?                 Sind diese Initiativen auf regiona-             benfächern Soziologie und Psychologie
Es gibt zwar immer wieder den Aufruf an         ler Ebene der Schlüssel zum (Inklu-               an der Universität Trier. Ihre Schwer-
die humanitären Werte Europas und es            sions-)Erfolg?                                     punkte in Forschung und Lehre sind
werden Inklusionsdebatten geführt, aber         Konzepte wie jenes der ‚Solidarischen           Solidarität, Inklusion und Diversität in
viele Menschen sind davon exkludiert.           Stadt‘ stiften Verbindungen zwischen              der Migrationsgesellschaft, inter- und
Grund-, Menschen- und Kinderrechte              Menschen und sind Ausdruck einer trans-          transnationale Soziale Arbeit, pädago-
werden nicht für alle Menschen umgesetzt.       nationalen Verbundenheit und Verantwor-        gische Professionalität und Krisen- und
Damit kann sich Europa nicht zufrieden-         tungsübernahme. Man darf sie aber auch                          Katastrophenforschung.

                                                                                                                       ad astra. 1/2022 | 17
Fehlende Redaktionen in
        der schönen, neuen Medienwelt
Die scheinbare Demokratisierung der Medienteilhabe führt dazu, dass die Vorteile von Redaktio-
nen wegfallen. Jede*r kann vermeintliche Informationen verbreiten, ohne gründliche Recherche
von Positionen und Gegenpositionen sowie die Einordnung von Erkenntnissen. Wir haben mit
dem Kommunikationswissenschaftler Rainer Winter darüber gesprochen, was uns derzeit fehlt,
                              und was wir dringend brauchen.
                           Interview: Romy Müller Fotos: graphiCrash/Adobestock & privat

„Gäbe es das Internet nicht, wäre     großes Gehör. Wie schätzen Sie die     gewarnt werden. Im Vergleich zur Spani-
die Pandemie längst vorbei“, habe     Rolle der digitalen Medien in der      schen Grippe sind wir nun zu Beginn des
ich im November in einem Tweet        Pandemie ein?                          21. Jahrhunderts im Vorteil. Gleichzeitig
gelesen. Zwei Lesarten sind mög-      Die starke Durchdringung der Gesell-   sind die so genannten Sozialen Medien
lich: Die Informationsflut hält die   schaft mit Medien, insbesondere auch   aber auch ein Problem, weil sie zur He-
Pandemie allgegenwärtig. Gleich-      digitalen Medien, ermöglicht einen     rausbildung von neuen Öffentlichkeiten
zeitig finden Wissenschaftsskepsis    raschen Informationsfluss. Vor einer   führen, in denen auch desinformiert
und Anti-Impfkampagnen online         Gefahr wie einer Pandemie kann gut     wird.

18 | ad astra. 1/2022
gesellschaft
Was verabsäumen Facebook und                    bieten, das meiner Ansicht nach unsere        Vermittlung von Medienkompetenz?
Co. Ihrer Wahrnehmung nach?                     Gesellschaft dringend braucht: Redakti-       Nehmen wir das Beispiel Wikipedia. Alle,
Facebook ist ein Vermittler und kein Pub-       onen. Bevor ein Artikel beispielsweise in     die sich dort als Expert*innen fühlen,
lisher. Es handelt sich um eine Plattform,      der Frankfurter Allgemeinen Zeitung er-       können ihre Thesen veröffentlichen. Die
die im Sinne des Plattformkapitalismus          scheint, wurde er meist von sechs Perso-      Korrektur erfolgt über die Community,
um Aufmerksamkeit, Daten und finanziel-         nen gelesen. Es geht um Recherche, Ein-       eine Redaktion fehlt – ähnlich wie bei Fa-
len Gewinn buhlt. Die Ideologie des Silicon     ordnung, Fakten als Basis.                    cebook. Wikipedia hat es geschafft, dass
Valley gab ursprünglich vor, demokratisie-                                                    es kaum mehr Lexika gibt. Sie hat, wie
rend zu wirken und alle dazu einzuladen,        Während den vergangenen zwei                  schon oben erwähnt, die intellektuelle
aktiv zu partizipieren. Heute zeigt sich,       Jahren wurde auch das normale                 Autorität von Gelehrten ins Wanken ge-
dass das auch ein Problem darstellen            Gespräch von Mensch zu Mensch                 bracht. Gleichzeitig hat man das Gefühl,
kann. Wir haben intellektuelle Autoritäten      häufig mediatisiert. Wir treffen uns          das Wissen der Welt über das Eingangstor
damit zerstört, indem online jede*r seine       nun oft auf Skype und Zoom. Was               Smartphone stets bei sich zu tragen. Da-
Thesen verbreiten und damit bei reichlich       verändert sich dadurch für unsere             mit man dieses Wissen aber gut einordnen
Geschick viel Gehör finden kann. Die gro-       Kommunikation?                                und damit umgehen kann, brauchen wir
ßen Religionen verlieren an Bedeutung,          Die digital vermittelte Kommunikation         unter anderem die Medienpädagogik, die
gleichzeitig tauchen immer mehr ‚unsicht-       abstrahiert von der realen Interaktion        diese Kompetenzen vermittelt. Sie findet
bare Religionen‘ (Thomas Luckmann) auf,         von Angesicht zu Angesicht. Wir haben in      aber im Vergleich deutlich weniger gesell-
die das Bedürfnis des Menschen, an etwas        den letzten Monaten gelernt, wie wichtig      schaftliches Gehör.
zu glauben, bedienen, ohne dass sie auf         uns das persönliche Gespräch trotz der
den ersten Blick als religiöse Formationen      technischen Alternativen ist. Das zeigt
begriffen würden. Im Internet entstehen         sich auch dadurch, dass wir in epidemio-
neue ‚Glaubensgemeinschaften‘. Fundier-         logisch besseren Zeiten rasch wieder zur
tes, von Expert*innen entwickeltes Wissen       realen Begegnung zurückkehren. Wir sind
gerät dabei oft ins Hintertreffen.              angewiesen darauf, anderen so zu begeg-
                                                nen, und bilden in der Interaktion unsere
Sie beschreiben soziologische Phä-              Persönlichkeit heraus. Ja, es ist gut, dass
nomene. Inwiefern kann eine Tech-               uns die digitalen Kommunikationsmittel
nik dafür verantwortlich sein?                  zur Verfügung stehen und wir auch über
Facebook nutzt eine algorithmische Steue-       Kontinente hinweg so in Kontakt bleiben
rung, die intransparent ist. Wir sehen nur      können. Es ist besser als gar keine Kom-
ihre Auswirkungen: Menschen werden mit          munikation. Aber es kann die direkte Be-
bestimmten Informationen versorgt, die          gegnung nicht ersetzen.
zu Echokammern und negativen Effekten
führen. Dabei können auch Ressentiments         Wie einschneidend sind die aktuel-
und negative Gefühle verstärkt werden.          len Veränderungen Ihrer Wahrneh-
Als Nutzer*in folgt man den Affekten, und       mung nach?
man wird in seinen eigenen Auffassungen         Wir sind auf dem Weg zu einer digitalen
bestärkt. Wie am Stammtisch schimpft            Gesellschaft und stecken inmitten eines
man gemeinsam vor sich hin. Ich sehe da-        Epochenwandels, den wir zu beschreiben
rin auch eine Gefahr für die Organisation       versuchen. Blicken wir zurück: Als im 19.                      Zur Person
unserer Gesellschaft und unsere Demo-           Jahrhundert immer mehr Menschen lesen
kratie.                                         und schreiben lernten, hat dies das Welt-       Rainer Winter ist seit 2002 Professor für
                                                verhältnis und das Verhältnis der Indivi-         Medien- und Kulturtheorie am Institut
Worin liegt der Unterschied zum                 duen zu sich selbst ganz entscheidend ver-    für Medien- und Kommunikationswissen-
Stammtisch?                                     ändert. Mit dem Lesen und Schreiben war        schaften. Er habilitierte sich in Soziologie
Ich denke, dass am Stammtisch die Infor-        auch eine komplexe Gedächtnisleistung            an der Technischen Universität Aachen.
mationen und Meinungen vielleicht noch          verbunden. Man lernte Texte auswendig.          Rainer Winter ist (Mit-)Autor und (Mit-)
etwas diverser vorliegen, als dies online oft   Das tritt mit der Digitalisierung in den          Herausgeber von mehr als 30 Büchern,
der Fall ist. Man setzt sich auseinander.       Hintergrund. Ich frage mich auch, wie sich            darunter: Handbuch Filmsoziologie
Auf Facebook sehe ich häufig nur Infor-         das Lernen bei Kindern mit dem iPad ver-        (2022), Film als Kunst (2020), (Mis)Un-
mationen, die mittels Targeting auf mich        ändert, und stelle in Frage, welche Auswir-   derstanding Political Participation: Digital
zugeschnitten sind. Viele übernehmen            kungen das auf die Fähigkeit zur Konzen-      Practices, New Forms of Participation and
vorfabrizierte Meinungen, die in der Regel      tration und zur intensiven Beschäftigung           the Renewal of Democracy (2018), Die
direkt die Affekte ansprechen. Man weiß,        hat. Ich meine, Kindern sollte Wissen mit         Kunst des Eigensinns. Cultural Studies
man richtet sich an Gleichgesinnte und          beidem vermittelt werden: mit dem Buch         als Kritik der Macht (2017 zweite Auflage,
schaltet Über-Ich-Kontrollen aus.               und dem iPad.                                   chinesische Übersetzung 2019) und Glo-
                                                                                                bal America? The Cultural Consequences
Den Medienwandel bekommen die                   Um gesellschaftlich teilhaben zu                  of Globalization (2003, deutsche Über-
großen Medienhäuser zu spüren.                  können, braucht man heute digital                setzung 2003, chinesische Übersetzung
Sie hätten uns aber gerade jetzt etwas zu       literacy. Wie steht es aber um die                                                  2012).

                                                                                                                        ad astra. 1/2022 | 19
bildung                                                                                                                               Buchtipp

                    Wie gut unterrichte ich?
                    Wenn der Unterricht von Lehrer*innen extern evalu-
                    iert werden soll, stehen alle Beteiligten vor vielen
                    Herausforderungen. Ein Self-Assessment-Tool
                    hingegen kann Lehrer*innen eine wertvolle
                    Rückmeldung zur Qualität ihres Unterrichts
                    geben, ohne ihre Kompetenzen öffentlich in
                    Frage zu stellen. Elisa Reci, ehemalige Dok-
                    torandin am Institut für Informatikdidaktik,
                    hat eine entsprechende Plattform erarbeitet.

                                                                                                                               Mü
                    www.aau.at/blog/selbstevaluationstool-

                                                                                                                                 lle
                                                                                                                               r
                    fuer-lehrerinnen-wie-gut-unterrichte-ich/
                                                                                                                                       Massive Gewalt an Kindern
                                                                                                                                       und Jugendlichen in der
                                                                                                                                       Heilpädagogischen Abtei-

Wenn Care                                                                                                                              lung des Landeskranken-
                                                                                                                                       hauses Klagenfurt und dem
                                                                                                                                       Landesjugendheim Rosental
  Leaver                                                   Redewendungen
                                                                                                                                       dokumentiert die Arbeit der
                                                                                                                                       Opferschutzkommissionen

erwachsen                                                     erlernen
                                                                                                                                       des Landes Kärnten für die
                                                                                                                                       Jahre 1950 bis 2000. Wie

  werden                                                                                                                               kam es zu diesem Ausmaß an
                                                                                                                                       Gewalt in Institutionen, de-
                                                                                                                                       ren gesellschaftlicher Auftrag
                                                                                                                                       Behandlung, Betreuung, Bil-
                                                                                                                                       dung, Erziehung und Pflege
                                                                                                         Yury Zap/Adobestock           ist? Die Studie beschäftigt sich
                                                                                                                                       mit diesem schmerzlichen
                             1STunningART/Adobestock

                                                                                                                                       Teil der österreichischen Ge-
                                                                                                                                       schichte und verfolgt das Ziel,
                                                                                                                                       dem Tabu und der dahinter-
                                                                                                                                       liegenden destruktiven Kraft
                                                         Redewendungen gelten als besonders schwie-                                    der Gewalt ihre Wirkmächtig-
                                                         rige Elemente, wenn es um das Erlernen einer                                  keit zu nehmen.
                                                         Zweitsprache geht. Zugleich sind sie es aber,
Junge Menschen erhalten                                  deren Verständnis und deren passende Verwen-                                  Loch, U., Imširović, E., Arzt-
heute bis weit ins Erwach-                               dung eine hohe Sprachkompetenz ausweisen.                                     mann, J. & Lippitz, I. (2022).
senenleben hinein Unter-                                 Ein österreichisch-russisches Projekt unter-                                  Im Namen von Wissenschaft
stützung durch ihre Familie.                             sucht nun, wie Englischlernende aus zwei ver-                                 und Kindeswohl. Gewalt an
Anders sieht die Situation                               schiedenen sprachlichen und kulturellen Ge-                                   Kindern und Jugendlichen
für so genannte Care Leaver                              bieten mit dem Erlernen von Redewendungen                                     in heilpädagogischen Insti-
aus – für junge Menschen,                                umgehen. Das Projekt unter der Leitung von                                    tutionen der Jugendwohl-
die außerhalb der Familie in                             Alexander Onysko (Institut für Anglistik und                                  fahrt und des Gesundheits-
Kinder- und Jugendhilfebe-                               Amerikanistik) wird vom österreichischen Wis-                                 wesens in Kärnten zwischen
treuung aufwachsen und von                                       senschaftsfonds FWF gefördert.                                        1950 und 2000. Innsbruck,
dort den Weg ins Erwachse-                                                                                                             Wien: StudienVerlag.
nenleben beginnen. Ihr Über-
gang ins eigenständige Leben
ist oft beschwerlich. Ein For-
schungsteam fragt nun – ge-
fördert vom FWF – nach der                             Lerchen besser im
Bedeutung der Familie in die-
ser schwierigen Lebensphase.
Das Projekt wird von Stephan
                                                       Distance Learning als Eulen
Sting (Arbeitsbereich Sozial-                          Die Tageszeit hat große Auswirkungen auf das Lernverhalten von Menschen. Eine in-
pädagogik und Inklusionsfor-                           ternationale Studie unter Beteiligung von Florian Müller (Institut für Unterrichts- und
        schung) geleitet.                              Schulentwicklung) hat bei Studierenden untersucht, wie es um die Befriedigung der
                                                       psychologischen Grundbedürfnisse, die Motivation und die Vitalität im Distance-Lear-
                                                       ning bestellt ist. Von Interesse waren dabei auch die Persönlichkeit und der Chronotyp.

 20 | ad astra. 1/2022
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