Nachrichten für Filmschaffende - Wir drehen keinen Film

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Nachrichten für Filmschaffende - Wir drehen keinen Film
470 | 12. März 2020

 Nachrichten für Filmschaffende

herausgegeben von Peter Hartig, Oliver Zenglein und Vincent Lutz
Nachrichten für Filmschaffende - Wir drehen keinen Film
470 | 12. März 2020                                                                                       Berlinale: Wettbewerb | 2

Mit seiner modernen Version einer alten Sage stand Christian Petzold zum fünften Mal im Wettbewerb der Berlinale. Seine Hauptdarstellerin

Paula Beer (oben) wurde als Undine mit dem »Silbernen Bären« ausgezeichnet. Es gibt kein Böses gewann den »Goldenen Bären« der Berlinale.

Titel: Der Regisseur Mohammad Rasulof, der mit seiner Familie in Hamburg lebt, darf den Iran nicht verlassen – ihn erwartet eine Haftstrafe wegen

seiner vorherigen Filme. Seine Tochter nahm an seiner Stelle die Auszeichnung entgegen, der Filmemacher war übers Smartphone zugeschaltet.

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Die 70. Berlinale war nach 20 Jahren die erste unter dem neuen Leitungs-Duo. Und das hatte
mit dem Wettbewerb einen gelungenen Einstand gegeben. Ein Streifzug.

Text Sabine Felber

Titel: Erik Weiss, Berlinale | Foto: Schramm Film, Christian Schulz
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470 | 12. März 2020                                                         Berlinale: Wettbewerb | 3

Das war knapp. Wäre die 70. Berlinale auch nur        Herrn Kosslick aber sowieso nicht als Partygast,
ein paar Tage später terminiert gewesen, hätte        sondern als Programmer und Leiter der Interna-
sie wahrscheinlich so gar nicht stattfinden kön-      tionalen Filmfestspiele Berlin (Berlinale) kann-
nen. Zu viele Kontakte, zu volle Kinosäle, zu viel    ten, kann der Vergleich auch nur auf dieser Ebe-
Austausch, zu international. Ein Virus kann sich      ne zu einem subjektiven Ergebnis führen. Und
in diesem Klima ideal verbreiten.                     ich möchte sagen: die 70. Berlinale hatte einen
   Für mich war das Festival ein gelungener Auf-      durchaus interessanten Wettbewerb. Zwei Filme
takt des Leitungs-Duos Mariette Rissenbeek (Ge-       liefen schon auf anderen Festivals, was eigent-
schäftsführerin) und Carlo Chatrian (Künstleri-       lich für ein A-Festival nicht geht, aber irgendwie
scher Leiter). Mag sein, dass sie nicht so komö-      ging es eben doch. Und es gab wie immer stärke-
diantisch daherkamen wie Dieter Kosslick, der         re und schwächere Produktionen.
seinen Stil vom 1. Mai 2001 bis 2019 entwickeln          Beginnen möchte ich meine kleine Tour
konnte, Schal und Schalk inklusive. Da das Kino-      durch den Wettbewerb mit den deutschen Pro-
publikum und die allermeisten Journalist*innen        duktionen:

Undine von Christian Petzold bezieht sich auf         treuen Freund. Sie tötet ihn aber nicht, jetzt je-
den gleichnamigen Mythos: Undine gehört zu            denfalls noch nicht. Dann lernt sie einen Mann
den Elementargeistern. Sie verkörpert das Ele-        kennen (Franz Rogowski), der halbtags als Indu-
ment Wasser und wird erst dann lebendig, wenn         strietaucher unter Wasser lebt. Das passt natür-
sie sich mit einem Menschen verbindet. Sollte         lich viel besser zu Undine. Die beiden verstehen
dieser Mensch sie allerdings verlassen, so muß        sich auf Anhieb. Bis Johannes sie zurückerobern
sie ihn töten. Es ist ungemein nützlich, diesen       möchte. Undine trifft sich mit Johannes, was sie
Mythos zu kennen, bevor man sich ins Kino be-         ihrem Industrietaucher verheimlicht. Das Un-
gibt.                                                 glück nimmt seinen Lauf. Getötet muss werden
   Dies ist auch schon das kleine Problem der fil-    und Erlösung gibt es auch.
mischen Erzählung: sie bleibt eine intellektuelle        Der Film ist ein intellektuelles Vergnügen, weil
Auseinandersetzung mit den Themen Liebe, Zer-         er Fragen aufwirft und sich in die Uneindeutig-
störung und Wiederaufbau. Schön finde ich, wie        keit wagt. In einem Interview mit dem Tagesspie-
Petzold die verschiedenen Ebenen der Erzäh-           gel nennt Christian Petzold eine Quelle, die ihm
lung verschränkt. Undine (Paula Beer) ist eine        den Mythos näher gebracht hat: Undine geht von
hoch gebildete, berufstätige also »heutige« Frau,     Ingeborg Bachmann. Hier zitiert er Undine, die
die als promovierte Stadtplanerin zu einem in-        die Männer als Unmenschen benennt und nicht
teressierten Publikum über den Wiederaufbau           mehr von deren Begehren leben möchte. Nun ja,
des Berliner Stadtschlosses spricht.                  Generationen von Literaturwissenschaftler*in-
   Ihr Freund Johannes (Jacob Matschenz) ver-         nen versuchten sich an der Interpretation des
lässt sie und müsste nach dem Undine-Mythos           Bachmann-Texts. Er ist und bleibt uneindeutig.
jetzt eigentlich von ihr getötet werden. Sehr lako-   Der Film ist es auch und, das macht ihn sehens-
nisch und kühl sagt Undine genau das ihrem un-        wert.
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Schwesterlein von Stéphanie Chuat und Véroni-              Le sel des larmes (»Das Salz der Tränen«), den
que Reymond ist aufgrund der großartigen                   französischen Beitrag von Philippe Garrell, fand
Schauspielleistung von Nina Hoss sehenswert.               ich hingegen wenig interessant. Er erzählt aus ei-
Der Film wird von ihr als Schwesterlein Lisa des           ner Altherren-Perspektive eine lahme Geschich-
an krebskranken Schauspielers Sven (Lars Eidin-            te.
ger) getragen.                                                 Der schöne Luc (Logann Antuofermo) mäan-
   Bevor Sven an Leukämie erkrankte, war er als            dert durch Paris und sein Heimatdorf, in dem er
»Hamlet« ein Star an der Berliner »Schaubühne«.            seinem Vater (André Wilms) in der Tischlerei
Seine fünf Minuten jüngere Zwillingsschwester              hilft. Überall sucht er sich und sich und sich und
Lisa lebt mit ihrer Familie und einer Schreib-             ist mit sich beschäftigt. Seine Suche wird von Be-
blockade in der Schweiz. Nach seiner Entlassung            gegnungen mit schönen, liebenden Frauen (Ou-
aus dem Krankenhaus möchte Sven noch einmal                laya Amamra als Djemila und Louise Chevillotte
seinen Hamlet geben. Für das Publikum, für sich            als Geneviève) garniert. Die Frauen leiden unter
und für seinen Theaterregisseur David (Thomas              ihm, weil er sich, sorry, wie ein Arschloch ver-
Ostermeier), der die Rolle einst für ihn konzipiert        hält.
hatte. Lisa (Nina Hoss) unterstützt ihren Zwil-                Die Bilder (Kamera: Renato Berta) sind schön,
lingsbruder bedingungslos dabei, weil sie an sei-          klassische Kadrage, 35-Millimeter-Film und na-
ne Heilung auch durch das Theaterspiel glaubt.             türlich im Schwarzweiß-Look. Das Schwarz und
Sie bringt ihn in die Schweiz, wo er sich erholen          das Weiß sind nicht ganz gesättigt, was dem Film
soll. Lisas Familie spielt eine große Rolle in ihrem       einen etwas flaue Anmutung verleiht. Die Ge-
Leben. Aber die größte und auch tragischste Rol-           schichte ist es ebenso. Zudem wirkt sie in ihrem
le wird ihrem Bruder Sven zukommen, der sein               Frauen- und Männerbild allzu gestrig und frau-
Schwesterlein von ihrer Schreibblockade befrei-            enfeindlich.
en kann, auch indem er geht.
   Das Milieu des Films mag etwas selbstbezo-
gen daherkommen, die Thematik ist es nicht.
Fotos: Vega Film | Rectangle Productions, Close up Films
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DAU – Natasha – über das Filmprojekt von Ilja
Chrschanowski und Jekaterina Oertel möchte
ich jetzt gleich ein paar Sätze loswerden, damit
das erledigt ist.
   Ach, was ist darüber schon geschrieben wor-
den und jede weitere Spekulationen sollte DAU –
Natasha noch interessanter machen. Und genau
das möchte ich hier nicht bedienen.
   Der Film ist weder interessant noch erwäh-
nenswert, sondern nur ein Spiegel eines totalitär
daherkommenden Regie-Guru-Sektenführers,
der seine Gemeinde unglaublich geschickt zu
manipulieren weiß. So assoziiert er mit dem Pro-
jekt respektable Künstler*innen wie Brian Eno,
Peter Sellars, Jürgen Jürges (Kamera) und Maria-      Damangchin yeoja (»Die Frau, die rannte«) von
na Abramovic. Was deren Rolle in der ganzen Ge-       Sangsoo Hong fand ich hingegen mindestens in-
schichte ist, bleibt unklar (ausser natürlich im      teressant. Gamhee (Kim Minhee) begibt sich auf
Falle des Kameramanns) weil alle Beteiligten an       eine Reise zu ihren Freundinnen in einem Vorort
dem Schlamassel ein Non-Disclosure Agreement          von Seoul. Sie ist seit fünf Jahren verheiratet, hat
unterschrieben haben, freiwillig.                     einen eigenen Blumenladen, der leidlich läuft
   Und dann gibt es noch die vielleicht Alibi-Co-     und ist das erste Mal für ein paar Tage von ihrem
Regisseurin. Ich schreibe das jetzt, weil ich auf     Mann getrennt. Mit allen drei Freundinnen
der Pressekonferenz den Umstand, dass alle an         spricht Gamhee über anscheinend alltäglich Be-
sie gerichteten Fragen unbeantwortet blieben,         langlosigkeiten.
als Hinweis auf ihren Einsatz als Alibi-Frau inter-      Der Film lebt von den Dialogen. In ruhigen
pretiere.                                             Einstellungen sieht man den ständig sprechen-
   Überhaupt, die Pressekonferenz, sie war min-       den Protagonistinnen bei alltäglichen Verrich-
destens erhellend: Der Herr Regisseur spricht,        tungen wie Essen und Arbeiten, zu. Da ist nichts
die Laiendarstellerinnen auf der Bühne (Natalja       Spektakuläres. In vermeintlichen Nebensätzen
Bereschnaja als Natasha, Olga Schkabarnja als         erfahren wir dennoch viel über die wirklichen
Olga) lächeln alle kritischen Nachfragen, insbe-      Themen, die die Frauen beschäftigen. Und im-
sondere den anonym gebliebenen Vorwurf von            mer wieder tauchen männliche Protagonisten
Frauen, dass der Regisseur seine Macht miss-          auf, die aber offensichtlich nur als Anspielpart-
braucht habe, weg. Seine Laiendarstellerinnen         ner dienen. Ihnen gewährt Hong keine eigene
finden ihn einfach genial. Die Frauen fühlen sich     Entwicklung. Sie kommen als das fordernd
sichtlich wohl im Bewusstsein, das Projekt bis        Männliche daher und verschwinden dann in der
zum Ende durchgestanden zu haben und zu den           Lächerlichkeit.
Auserwählten des Meisters Ilja Chrschanowski             Ein Film, der nur von Frauen handelt, die aber
zu gehören. Ich empfehle: den Film einfach            dennoch in ihren Dialogen schlußendlich immer
ignorieren.                                           um Männer kreisen.
Foto: Jeonwonsa Film
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Effacer l’historique (»Chronologische Übersicht                      Fafollace von Fabio und Damiano D’Innocenzo
löschen«) hat mich, ich gebe es zu, amüsiert. Die                    konnte sich im Wettbewerb ebenfalls gut be-
etwas grob gestrickte Situationskomödie von                          haupten. Schon in der Anfangsszene ist die Be-
Benoît Delépine und Gustave Kervern funktio-                         klemmung auch aufgrund der filmisch umge-
niert deshalb, weil der Kern der Geschichte uns                      setzten Hitze (es ist Hochsommer, wir hören
allen bekannt ist: Endlose Warteschleifen, Social                    Grillen und sehen flimmerndes Licht) spürbar.
Media- und Serien-Abhängigkeit, virtuelle Ver-                       Eine Reihenhaussiedlung in der Nähe von Rom
führung, hohe Gebühren für dies und das und                          wird zum Epizentrum eines Bebens, das von
unsere völlige Austauschbarkeit.                                     Kindern ausgelöst wird. An der Oberfläche
    Social Media meint niemals uns persönlich,                       herrscht Spannung. Die Familien geben sich
trifft aber auf uns als fühlende Wesen. Und so                       Mühe, einander nicht voller Wut an die Gurgel zu
fühlen sich Marie (Blanche Gardin), Christine                        gehen. Auch das Verhältnis der Kinder zu ihren
(Corinne Masiero) und Bertrand (Denis Podaly-                        Eltern ist von sublimer Gewalt geprägt. Nichts ist
dès) von der virtuellen Welt angezogen und ver-                      offensichtlich. Bis eine Bombe gefunden wird.
folgt. Bis sie beschließen, auszusteigen. Offline                    Und dann die nächste. Gebaut nach der Anlei-
gehen oder gleich die Konzerne, die ihnen diese                      tung des Vorstadtlehrers, der seinen Schüler*in-
ambivalente schöne neue Internet-Welt einge-                         nen etwas beibringen wollte. So entstanden
brockt haben, zur Rede stellen dann endlich die                      Bomben, die nicht explodieren, aber eine gewal-
Daten löschen, das ist ihr Plan. Auch wenn ihnen                     tige Wirkung haben.
das alles nicht gelingt, so geht ihre Geschichte                        Warum sollte man diesen Film schauen? Weil
doch auf.                                                            der Blick auf die Kinder und deren Nöte lohnt.
    Natürlich ist der Film etwas vorhersehbar,                       Diese Nöte sind ein Spiegel des prekären Lebens
auch ein »bisschen drüber« aber eben sehr                            der Eltern. Es kann uns alle betreffen.
menschlich komisch. Wir sind irgendwie alle ein
bisschen Marie, Christine und Bertrand. Mit
Popcorn noch besser.
Fotos: Les Films du Worso, No Money Productions | Pepito Produzioni, Amka Film Production
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El profugo (»Der Eindringling«) von Natalia Meta
erreichte mich hingegen nicht. Der Film wird als
Psycho-Sex-Thriller angekündigt, was er nicht
einlöst. Es passieren zwar Dinge, die so wahr-
scheinlich nicht alltäglich sind: nach einem Ur-
laubs-Streit stürzt sich ein Mann vom Hotelbal-
kon und stirbt. Zuvor ging er seiner neuen Gelieb-
ten, der Synchronsprecherin Inés (Érica Rivas)
aus Buenos Aires, heftig auf die Nerven. Belastet
durch den unverhofften Ausgang ihrer Urlaubs-
reise entwickelt sie bei ihrer Rückkehr nach Bue-      The Roads not Taken – auf den neuen Film von
nos Aires Störgeräusche, die aus ihrem Inneren zu      Sally Potter, freute ich mich als bekennende Ver-
kommen scheinen. Der Tontechniker hört diese           ehrerin besonders. Insofern war die Fallhöhe
Inés Stimme überlagernden Frequenzen während           hoch, und so kam es dann auch zu einer notwen-
der Tonaufnahmen im Synchron-Studio.                   digen Ernüchterung.
   Das ist eine schöne Idee. Leider läuft sich das     Yes, Ginger und Rosa, The Party sind Potter-Fil-
starke Thema in zu vielen Nebengleisen tot, ohne       me, die mit cleverem Humor unsere kleinen und
Schrecken oder Suspense zu erzeugen; der Ein-          größeren Unzulänglichkeiten ins Zentrum rük-
dringling, der das Geräusch erzeugt, könnte Stress     ken. In ihrem neuen Film geht’s fast ausschließ-
sein oder ein fremder Mann oder ein Trauma             lich um den verwirrten oder schon etwas de-
oder, oder, oder … Auch visuell (Kamera: Bárbara       menten 50-jährigen Leo (Javier Bardem), der von
Álvarez) lässt sich das Problem nicht lösen. Wir se-   seiner Tochter Molly (Elle Fanning) manchmal in
hen zwar so etwas wie eine Schlange, die sich un-      seinem kleinen New Yorker Apartment besucht
ter Inés’ Kleidung abzeichnet und in sie eindrin-      wird. Wir erfahren in Rückblenden von seinem
gen will, aber das wirkt eher plump als mysteriös.     unbewältigten Trauma. Auch seine erste, starke
Der Film ist unentschlossen und so blieb ich als       Frau Dolores (Salma Hayek), mit der er das
Zuschauerin auch zurück.                               Schrecklichste, was Eltern passieren kann, in sei-
                                                       ner Heimat Mexiko erlebt hat, kommt nicht an
                                                       sein Innenleben heran. So versinkt Leo immer
                                                       tiefer in Schuldgefühlen und Selbstmitleid. Das
                                                       Paar trennt sich, Leo versucht einen Neuanfang,
                                                       mit einer anderen Frau in einem anderen Land.
                                                       Aber auch diese Ehe zerbricht. Sowieso ist Leo
                                                       nie wirklich in New York angekommen; mit sei-
                                                       nen Gefühlen und Empfindungen ist er am Ort
                                                       des Traumas, Mexiko, steckengeblieben. Bardem
                                                       spielt Leo konsequent in sich gefangen. Die Frau-
                                                       en um ihn herum sind praktisch, mütterlich und
                                                       lebenstüchtig. Ein etwas schwacher Film, aber
                                                       ich bleibe natürlich Sally-Potter-Fan.
Fotos: Rei Cine | Universal
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Irradiés lief am letzen Tag der Berlinale und war   Volevo Nascondermi (deutscher Titel: Hidden
der schwierigste Wettbewerbsbeitrag. Manche         away) zeigt eine herausragende schauspieleri-
Menschen mögen die Archivbilder, die Rithy Pan      sche Leistung von Elio Germano. Er spielt den
selbst zu einem Leinwand-Triptychon zusam-          1899 in Zürich geborenen Bildhauer Antonio
mengebaut hat, wahllos und schockierend fin-        (Toni) Ligabue. Der Film von Giorgio Diritti greift
den. Schreckliche Bilder präsentiert der kambo-     die wahre Geschichte des Waisenkinds auf, das
dschanische Filmemacher uns. Es fällt bei vielen    wegen geistiger und körperlicher Zurückgeblie-
Szenen schwer, den Blick nicht angewidert oder      benheit mit Füssen getreten wurde und mit 61
entsetzt von der Leinwand abzuwenden. Aber          Jahren endlich die ihm zustehende Beachtung
genau das ist es, was der Dokumentarfilm sagen      erfährt: Er wird als Maler und Bildhauer ent-
möchte: Vergesst nicht und schaut nicht weg!        deckt. In den Szenen, in denen Germano als Toni
   Die Bilder stammen aus Archiven des Holo-        die Leinwand umkreist, sie angreift, Tierlaute
caust und unterschiedlichen anderen Genoziden.      und -Bewegungen nachahmt, versteht man, dass
Bomben fliegen aus Flugzeugen fast tänzerisch       hier etwas aus einem Menschen raus muss. Ge-
auf bewohnte Gebiete. Von oben sieht man die        fühle brechen sich Bahn. Große Kunst entsteht.
Zerstörung nicht. Aber Rithy Panh montiert im-      Die persönlichen Deformationen sind zu dem
mer wieder grauenhafte Aufnahmen von Lei-           Zeitpunkt schon so irreversibel, dass Toni seinen
chenbergen, Bilder von verstümmelten, verkohl-      Ruhm wohl noch erleben kann, seine menschli-
ten Menschen und allem erdenklich Unsehbarem        che Einsamkeit aber nicht mehr überwindet.
als Resultat von befehligter Gewalt dazwischen.     Das ist traurig, aber eben großartig gespielt.
Genozide und Kriege sind immer von Menschen
verantwortet und befohlen. Unsichtbar bleiben
die Opfer nur so lange, bis jemand sie zeigt.
   Ich kann jeden Menschen verstehen, der die-
sen Film nicht aushält. Wie ertragen wir nur die
Gewalt, die tagtäglich anderen Menschen ange-
tan wird, deren Leiden wir nicht sehen müssen.
Vielleicht würden wir den Anblick auch einfach
nicht ertragen. Wir schauen weg, die Seele will
Frieden. Rithy Panh lässt uns den nicht.
Fotos: Rithy Panh | 01 Distribution
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Niemals selten manchmal immer gehört zu den          nen schenken und fahren nach New York City.
Filmen, die mir am stärksten erschienen. Die un-     Dort wird Autumn einen legalen Weg in eine Ab-
terschiedlichen Stimmungen werden bei diesem         treibungsklinik finden. Bei der Anmeldung muss
kleinen Meisterwerk von Eliza Hittman bis auf        sie viele Fragen der einfühlsamen Sozialarbeite-
die titelgebende Ausnahme größtenteils über          rin beantworten. Wie bei einem Multiple-Choi-
das Spiel der Protagonistinnen erzeugt. Geredet      ce-Test stehen ihr vier Antwortkategorien zur
wird nicht viel. Autumn (Sidney Flanigan) ist 17     Verfügung: niemals, selten, manchmal, immer …
Jahre alt und lebt im ländlichen Pennsylvania ein    Die Fragen, ob ihr Partner ihr gegenüber schon
sozial etwas ausgeschlossenes Leben. No big          einmal gewalttätig war und ob sie schon einmal
deal. Mit ihrer Cousine Skylar (Talia Ryder) jobbt   von jemandem zum Sex gezwungen wurde, las-
sie neben der Schule an der Kasse eines Marktes.     sen die bis dahin verschlossenen Gesichtszüge
Dann wird ihr schlecht, und Skylar versteht          von Autumn zerfliessen. Sie weint, und das muss
wortlos, dass Autumn schwanger ist. In ihrer         als Antwort genügen.
Heimatstadt gibt es keine Möglichkeit, über Ab-         Niemals selten manchmal immer ist ein Film,
treibung auch nur nachzudenken. Ihren dys-           der eine nach wie vor aktuelle Problematik mit
funktionalen Eltern kann sie sich nicht anver-       unaufgeregten Bildern (Hélène Louvart) erzählt.
trauen und schon gar nicht auf die Zustimmung        Das frei von jeglicher erwachsenen Hilfe agie-
zu einem Schwangerschaftsabbruch hoffen.             rende Mädchen-Duo kann sich auf nichts ausser
   Autumn und Skylar nutzen die fehlende Auf-        sich selbst und die Freundschaft zueinander ver-
merksamkeit, die ihre Familie und ihr Umfeld ih-     lassen. Und diese gibt den beiden Stärke.
Foto: Focus Features
Nachrichten für Filmschaffende - Wir drehen keinen Film
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First Cow von Kelly Reichardt handelt ebenfalls       Businessplan, der die superben Backkünste von
von Freundschaft. Am Anfang des Films findet          Cookie als Zentrum hat. Wie aber kann das Back-
eine Frau zwei Skelette, die wie ein Liebespaar       werk so gut gelingen, dass die beiden ihre Back-
nebeneinander im Unterholz von Oregon liegen.         waren tagein, tagaus auf dem örtlichen Markt
Wer waren die beiden? Otis »Cookie« Figowitz          restlos verkauft bekommen?
(John Magaro) arbeitete um 1821 als sensibel             Cookie melkt nachts heimlich die einzige Kuh
fühlender Koch in rauen Zeiten. Es gelten die Ge-     weit und breit, die unglücklicherweise nicht ihm
setze des Wilden Westens Nordamerikas. Oder           gehört. Aber so fürsorglich und zart, wie er das
eben keine Gesetze, wie wir es aus klassischen        macht, möchte man jeder heutigen Kuh einen
Western kennen. Aber immer agieren harte Ker-         solchen Milchdieb wünschen. Sein Freund King-
le, trink- und schießsicher. Frauen spielen eine      Lu ist eher zuständig für den Ausbau des Ge-
unterstützende oder, wie in diesem Film, gar kei-     schäfts und das Schmierestehen (er sitzt auf ei-
ne Rolle. Das ist nicht weiter schlimm, weil die      nem Baum und hält Ausschau nach dem Besitzer
Komik und Schrägsichtigkeit von Kelly Reichardt       der Kuh) während Cookie die Kuh erleichtert.
es ihr erlaubt, eine etwas langatmige aber bisher        Der sich einstellende finanzielle Erfolg macht
ungesehene Geschichte zu erzählen.                    King-Lu gierig, und er denkt größer. Das Ver-
    Cookie trifft King-Lu (Orion Lee), einen Mann     kaufsglück der Freunde verschafft ihnen eigent-
chinesischer Herkunft, dem er das Leben minde-        lich die Mittel, weiterzuziehen, ehe ihr allnächt-
stens erleichtert, vielleicht auch rettet. Das ver-   licher Diebstahl auffällt. Aber King-Lu hat das
bindet die beiden. Sie verlieren sich kurz aus den    Gen eines vermoderten Kapitalisten und will
Augen, nur um sich dann im Dunstkreis einer           noch ein bisschen mehr. Es muß schiefgehen.
Ansiedlung mit Marktplatz und so etwas wie            Aber die Freundschaft bleibt.
»städtischem« Leben wiederzutreffen. Und dies-           Ein etwas langer, aber sehenswerter Beitrag
mal bleiben sie zusammen. Sie entwickeln einen        von Kelly Reichardt.

Foto: Allyson Riggs, A24
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Es gibt kein Böses. Bis zum letzten Festivaltag     das eigene Leben, auch wenn der Zusammen-
mussten wir auf den stärksten Beitrag des dies-     hang nicht offensiv moralischer Natur ist. Und
jährigen Wettbewerbs warten.In vier Episoden        auch die moralisch richtige Entscheidung kann
beleuchtet Mohammad Rasoulof die Themen             für andere Menschen, die unter den Folgen zu
Wahlfreiheit angesichts repressiver Systeme,        leiden haben, unmoralisch sein. Es ist kompli-
Schuld und Verantwortung. Die Episoden wer-         ziert …
den leicht durch die Anwesenheit der Todesstra-        Und deshalb ist der Film so sehenswert. Er
fe als Arbeitsaufgabe zusammengehalten.             knickt nicht ein vor der Komplexität und
   Die Todesstrafe wird nicht als Bedrohung in      schweift auch nicht ins »sowohl, als auch« ab.
ihrer strafenden Funktion verhandelt. Sondern       Mohammad Rasoulof hat uns etwas sehr Kon-
als etwas, was von Menschen ausgeführt werden       kretes zu sagen.                             c
muss. Der fast schon lakonischen, alltägliche Be-
wältigung dieser Aufgabe, dem Vollzug der Stra-
fe, setzt Rasoulof die Geschichte der Verweige-
rung des Vollzugs entgegen. Alles hat Folgen. Ein   18 Filme liefen im Wettbewerb der Berlinale. Vier davon hat unsere

verweigerter Befehl setzt das eigene Leben aufs     Autorin leider verpasst: Reiz (Regie: Ming-Liang Tsai), Berlin

Spiel und schont das zu nehmende Leben viel-        Alexanderplatz (Regie: Burhan Qurbani), Siberia (Regie: Abel

leicht, aber nur bis zu dem Moment, in dem je-      Ferrara) und Todos os mortos (Regie: Caetano Gotardo und Marco

mand anderes den Befehl nicht verweigert. Ein       Dutra).

ausgeführter Tötungsbefehl zerstört vielleicht      www.berlinale.de
Foto: Cosmopol Film
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In Walchensee Forever lässt Janna Ji Wonders die Geschichte ihrer weiblichen Vorfahren Revue passieren – und wie deren Erfahrungen auch

die folgende Generation geprägt haben. Der 110-Minüter hatte im Januar bereits den »Bayerischen Filmpreis« als Bester Dokumentarfilm

gewonnen.

Konzentriert und divers
Und was macht der Nachwuchs im eigenen Land? Einen Überblick bietet die Berlinale seit
20 Jahren durch die Perspektive Deutsches Kino. Unter der neuen Leitung wurde das Programm
stark gestrafft, doch die Auswahl kann sich sehen lassen.

Text Elisabeth Nagy

Foto: Flare Film
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Eine neue Berlinale mit einem neuen Team. Was        rever), eine Tochter, die zu ihrer Mutter durch-
bedeutete das für die Reihe »Perspektive Deut-       dringen möchte (Schlaf), eine Stiefmutter, die
sches Kino«, die einst von Dieter Kosslick ins Le-   sich von jeder Vergangenheit losgesagt hat (Ein
ben gerufen worden war? Eine Konzentration           Fisch, der auf dem Rücken schwimmt). Aber auch
fand auch in dieser Sektion statt. Waren es bisher   ein Vater, der lernt, die Vaterrolle auszufüllen
gut ein Dutzend Filme, beschränkte sich das          (Kids Run) und Männer, die ihr eigenes kleines
Auswahlteam unter der Sektionsleiterin Linda         Idyll für sich schaffen (Garagenvolk).
Söffker auf acht. Mittellange und kurze Filme
gab es nicht. Der erste Jahrgang unter der neuen     Der Begriff Heimat: Auch wenn man mit offenen
künstlerischen Hauptfestivalleitung von Carlo        Augen in einen Sichtungsprozess geht, kristali-
Chatrian setzte auf Filme, die qualitativ sogleich   sieren sich nach einer Weile Themen heraus. Ein
ins Kino kommen können. Und das tun sie zum          Begriff, der in vielen der Perspektive-Filmen auf
großen Teil auch.                                    die eine oder andere Art fällt, ist der der Heimat:
   In die Auswahl kamen acht Produktionen.              Ein junge Soldatin kehrt in Im Feuer in die
Fünf davon hatten bereits vor dem Festival einen     Heimat ihrer Kindheit zurück, um ihre Schwester
deutschen Verleih. Dokumentar- und Spielfilm         zu suchen. Aufgewachsen ist sie Deutschland,
wurden gleichwertig aufgestellt, was angeblich       doch während sie in ihrer neuen Heimat die Ein-
dem Zufall zuzuschreiben sei. Vier Spielfilme        wanderin ist, gilt sie im Herkunftsland bereits als
und vier Dokumentarfilme wurden es – eine run-       »zu deutsch«.
de Sache. Die sogenannte Frauenquote wurde              Die Schwestern Anna und Frauke Werner zie-
sogar übererfüllt: Sechs der Filme waren von Re-     hen vom Walchensee, wo ihre Mutter quasi ihr
gisseurinnen gedreht worden. Wobei die Haupt-        ganzes Leben verbracht hat, hinaus in die Welt,
figuren aller Filme zum überwiegenden Teil           bis nach Kalifornien und bis nach Indien. Auch
Frauen waren, unabhängig davon, ob Regisseur         über Generationen hinweg ist Walchensee trotz-
oder Regisseurin über sie erzählten. Soweit die      dem die Heimat und der Ankerpunkt – Walchen-
Statistik.                                           see Forever heißt der Film dann auch.
   Die Konzentration auf eine überschaubare             Die Kinder von Andi haben keinen festen Be-
Menge an Filmen bewerte ich als positiv. Die         zugspunkt in Kids Run. Sie leben beim Vater, der
Präsentation der einzelnen Filme wurde sogar         selbst noch nicht erwachsen scheint und haben
verbessert. Zum einen bekam jeder der Filme          unterschiedliche Mütter. Doch Andi begreift,
eine Pressevorführung. Leider hatten die ande-       dass seine Kinder ihm alles bedeuten, er für sei-
ren Sektionen nicht so viel Glück. Für die Pre-      ne Familie, für sein Stück Heimat, etwas tun
mieren konnten die Filmteams sogar ins »Inter-       muss.
national« einladen, ein Kino von Format und Re-         Die Männer, zum überwiegenden Teil, im Nor-
nommé.                                               den Russlands, suchen sich ein bißchen Zuhause
   Die Figuren in den Filmen kamen aus allen         in ihren Garagen, die außerhalb der Stadt liegen.
Lebenssegmenten. Darunter gab es eine Solda-         Hier können sie sich ihren Freunden und ihren
tin (Im Feuer), eine Fabrikarbeiterin und eine       Hobbies widmen. Sie sind das Garagenvolk.
Headhunterin (Automotive), eine Politikerin             Mit der Arbeit kommt Stabilität. Ohne Arbeit
(Wagenknecht), eine Fotografin (Walchensee Fo-       oder mit der Furcht, diese zu verlieren, kann
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Der Sohn trauert noch um seine verstorbene Mutter, der Vater hat eine neue Frau an seiner Seite. Im bürgerlichen Idyll inszeniert Eliza

Petkova mit Ein Fisch, der auf dem Rücken schwimmt eine Dreiecksgeschichte.

Aus der Boxer-

Karriere wurde

nichts, Andi (Jannis

Niewöhner) schafft

als Tagelöhner auf

dem Bau am

Existenzminimum.

Wenigstens ein

guter Vater will er

sein. Barbara Otts

beschreibt in ihrem

Langfilmdebüt Kids

Run die Patch-

workfamilie als

Dauerstress.

Foto: Constanze Schmitt, DFFB | Farbfilm
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man auch seinen Anker verlieren. Auch darum          gen Film I Remember vorgestellt, der die Ge-
geht es in Automotive.                               schichte von zwei Freunden in Kalifornien er-
    Wieviel Heimat hat man, wenn man nichts          zählte, die durch die Präsenz eier Frau zu Rivalen
aus seinem Leben erzählt, wenn man sogar vor-        werden.
gibt, keine »Anekdoten« zu haben? In Der Fisch,         Kalifornien ist das Heimatland von Wonders’
der auf dem Rücken schwimmt bliebt die neue          Vater. In Walchensee Forever erzählt sie jedoch
Frau an Vaters Seite kaum greifbar und Projekti-     von der Familiengeschichte mütterlicherseits.
onsfläche.                                           Kannte man die junge Regisseurin bisher als Fil-
    Die Heimat in Schlaf ist mit Traumata und        memacherin und Musikerin, so lernt man jetzt,
Albträumen verbunden. Der Begriff der Heimat         dass ihre Mutter und ihre Tante, die sie nicht
ist dabei nicht nur ein Ort, sondern auch und so-    mehr kennenlernen konnte, weitaus bekannter
gar bestimmend die Identität.                        sind und waren: Anna und Frauke Werner gehör-
                                                     ten zum »Harem« der Kommune von Rainer
Lebenswege in Dokumentar- und Spielfilmen:            Langhans.
Als erster Film gleich nach der Berlinale startet       Doch das alleine macht den sehr per-
Wagenknecht im Kino. Die Identität der Politike-     sönlichen Film noch nicht spannend und ist
rin wird durch die parteiinternen Querelen zwar      auch nur eine Episode im Lebenslauf. Wonders
nicht geformt, aber auf einen neuen Weg ge-          setzt mit der Geschichte ihrer Großmutter an,
bracht. Sahra Wagenknecht, die ehemalige Par-        und mit Hilfe von zahlreichen Fotos kann sie so-
teivorsitzende der Linken, galt nicht als unum-      gar von deren Mutter berichten, die nach Wal-
stritten. Für die Regisseurin Sandra Kaudelka er-    chensee zog, um dort ein Ausflugscafé zu eröff-
wies sich der Umstand, dass sie sich 2019            nen. Norma, die Großmutter, hatte ihre Schwe-
zurückzog, dann sogar als dramaturgischer Vor-       ster an die Spanische Grippe verloren und wollte
teil. Als Klammer setzt sie Wagenknechts Rück-       fortan der Mutter beide Töchter ersetzen. Trotz
zug von der Spitze ihrer Partei, während über        großer Träume blieb sie am Walchensee, und es
den dramaturgischen Bogen der Alltag der Poli-       waren ihre Töchter, die dann hinaus in die Welt
tik mit Interviews und Sitzungen und Parteita-       zogen.
gen und öffentlichen Reden gezeigt wird. Der            Wonders weiß das Material, das ihr zur Verfü-
Person Wagenknecht kommt das Filmteam da-            gung steht, so zu montieren, dass es für die Zeit-
bei nicht nahe, auch das ist eine Aussage.           geschichte eine starke Aussagekraft hat. Dabei ist
   Bereits mit dem »Bayrischen Filmpreis« am         es ein Glücksfall, dass ihr Großvater bereits eine
Revers stellte sich Janna Ji Wonders im Sektions-    Kamera besaß und sowohl filmte als auch foto-
programm vor. Walchensee Forever startet wohl        grafierte und seinen Kindern diese Kunst auch
im Herbst in den deutschen Kinos. Der Doku-          nahebrachte. Anna Werner studierte folglich
mentarfilm gewann den Hauptpreis der Reihe,          auch Fotografie und ist als Fotografin bekannt.
den »Kompass-Perspektive-Preis«, nachdem das            Doch nicht nur über das 20. Jahrhundert und
Konzept zum Film bereits 2016 den »Made in           das Motiv Heimat weiß der Film etwas zu erzäh-
Germany Förderpreis – Perspektive« erhalten          len. Die Frauen der Familie müssen sich jede in
hatte. Dabei ist Wonders keine Unbekannte in         ihrer Generation an den Vätern, Ehemännern
der Sektion. Bereits 2015 hatte sie den mittellan-   und Lebenspartnern abarbeiten.
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Was bedeutet Arbeit für Menschen? Auf zwei Frauen konzentriert sich Jonas Heldt in seinem Dokumentarfilm Automotive – die eine ist

Leiharbeiterin in der Autobranche, die andere Headhunterin.

In einem Provinzhotel begegnet Sandra Hüller den Geistern

der Vergangenheit. Michael Venus inszenierte seinen
Debütspielfilm Schlaf als Horrorgeschichte.

Rojda (Almila Bagriacik) ist Deutsche, ihre Familie nicht.

Die floh vor dem Krieg im Irak un ein Flüchtlingslager in

Griechenland. Die junge Frau setzt alles daran, sie dort

herauszuholen. Schließlich ist sie Stabsunteroffizierin bei

der Bundeswehr. Daphne Charizani spricht Im Feuer gleich

mehrere Themen an.

Fotos: Jonas Heldt | Junafilm | Pallas Film
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   Erst Ende 2020 wird der Eröffnungsfilm Kids         Deutschen haben ihre Schrebergärten, nichts
Run, in die Kinos kommen. Darin erzählt die Fil-       anderes sind die Garagen etwas außerhalb von
memacherin Barbara Ott, Absolventin der Film-          Murmansk. Hier richten sich hauptsächlich
akademie Baden-Württemberg, von Andi (Jannis           Männer ihre Werkstätten ein, machen Bodybuil-
Niewöhner), einem jungen Vater von drei Kin-           ding oder nutzen den Raum als Proberaum für
dern von zwei Müttern. Am Anfang ist er noch           ihre Band.
Ich-bezogen und vergisst schon mal Fläschchen             Natalja Yefimkina bleibt mit Axel Schneppats
und Schnuller, wenn er die kleineren Kinder bei        Kamera die ruhige Beobachterin, die es schafft,
seiner Ex abliefert. Es ist halt chaotisch in seinem   mit dieser Zurückhaltung etwas von den Seelen
Haushalt. Doch als ihm bewußt wird, dass er die        dieser Garagenbewohner*innen zu erhaschen.
Kinder verlieren könnte, weil die Mutter des           Auch Yefimkina, Jahrgang 1983, hat bereits das,
jüngsten Sprosses eine neue Familie gründen            was man Lebenserfahrung nennen kann. Gara-
will, da rappelt er sich auf. Jetzt ist seine Lage     genvolk ist ihr erster langer Dokumentarfilm. Ur-
prekär und die Welt dunkel und voller Hindernis-       sprünglich hatte sie Geschichte und Literatur
se. Barbara Ott zeigt keine heile Welt, sondern        studiert und hat dann bei anderen Filmen als Re-
geht ans Eingemachte. Andi will einen Boxkampf         gie- und Produktionsassistentin gearbeitet. Ga-
gewinnen, um zu Geld zu kommen. Ein recht              ragenvolk ist, ein Termin steht noch offen, bei
aussichtsloses Unterfangen.                            Missing Films im Verleih.
   Ganz anders ist Ein Fisch, der auf dem Rücken
schwimmt von Eliza Petkova. Sie studierte zuerst       Ein weiterer Dokumentarfilm ist Automotive von
Philosophie und Modernes Japan in Düsseldorf           Jonas Heldt, der zwei Frauen in der Arbeitswelt
und kam 2012 an die DFFB zum Regie-Fach. Ihr           vorstellt: Sedanur Koca hat kein Problem
Spielfilm ist eine kühle ruhige Dreiecksanord-         Schichtarbeit zu leisten. Ihr liegt die Arbeit, die
nung zwischen Vater, Sohn und der neuen Frau           Abläufe in der Produktionszulieferkette für die
des Vaters, gespielt von Nina Schwabe, Theo            Audi-Werke zu koordinieren. Aber ihr Job steht
Trebs und Henning Kober. Der Vater und Ehe-            auf der Kippe, dann ist er weg. Heldt zeigt sie so-
mann glänzt erstmal mit Abwesenheit, so dass           wohl beim Job, als auch dabei, ihren Job zurück-
sich der Sohn und die neue Frau in Vaters Leben        zugewinnen. Gleichzeitig stellt er uns Eva Hep-
nahe kommen können. Zu nahe allerdings. Da-            pel vor, die in Amsterdam im Büro am Telefon
bei ist es gerade die Weigerung, die Frau mit ei-      sitzt, um Arbeitskräfte für Audi anzuwerben. Sie
ner Vergangenheit auszustatten, die sie zur Pro-       ist Headhunterin. Offensichtlich gibt es in den
jektionsfläche macht. Immer wieder, wenn man           höheren Etagen Bedarf. Auch sie mag ihren Job,
denkt, man hat sie verstanden, entwindet sie           auch ihr Job ist dabei austauschbar.
sich der Projektion. Was macht das mit einem als          Heldt hatte das Glück, zwei Frauen stellvertre-
Zuschauerin, fragte ich mich?                          tend zu finden, die gut mit der Kamera können,
                                                       die sympathisch sind und die Prozesse in der Ar-
Eine sehr fremde Welt offenbart sich dem Publi-        beitswelt zu vermitteln wissen. Die Firma Audi
kum in Garagenvolk. Dabei ist der Gedanke, dass        (und im Fernsehen laufen im Hintergrund die
der Mensch eine kleine Nische braucht, in der er       Meldungen über den Konzern), mag ein aktuel-
schalten und walten kann, gar nicht fremd. Die         les Beispiel sein, doch steht auch dieses stellver-
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tretend für die Arbeitswelt allgemein, die nur be-        Das allerdings verstößt gegen zahlreiche Bun-
dingt eine Heimat geben kann. Kräfte muss man          deswehrregeln. Was leider auch der Knackpunkt
sich längst aus anderen Lebensbereichen ziehen.        der Handlung ist. Rojda wird von ihren Emo-
   Die Lebenskraft der Flugbegleiterin Marlene,        tionen geleitet. Als Dolmetscherin soll sie den
gespielt von Sandra Hüller, wird von ihren Alp-        deutschen Soldaten ermöglichen, Frauen den
träumen aufgesogen. Immer wieder träumt sie            Kampf an der Waffe beizubringen, damit sie sich
das Gleiche. Immer wieder taucht im Traum der          verteidigen können. Die Frauen vor Ort sehen
gleiche Ort auf, ein Hotel im Harz. Schließlich        ihre Rolle im Krieg jedoch ganz anders, als sich
fällt sie in einen Stupor, ist in ihrem eigenen Kör-   ein deutscher Mann beim Militär das so ausrech-
per gefangen. Ihr Tochter, Mona (Gro Swantje           net.
Kohlhof), forscht nun nach den Ursachen, um               Das ist die spannende Geschichte. Gedreht
ihr zu helfen.                                         wurde nur ein kleiner Teil im Nordirak. Man
   Michael Venus benutzt bewußt bekannte Hor-          suchte in Griechenland die Hauptdrehorte. Da-
rorfilmelemente für eine Handlung, die durch-          phen Charizani ist übrigens auch kein unbe-
aus ans Eingemachte geht. Schlaf, sein Lang-           schriebenes Blatt. Sie hat bereits Bühnenbild in
spielfilmdebüt, ist ein Genrefilm, der im August       Paris und Politik in Hamburg studiert. Schon
bei Salzgeber ins Kino kommen wird. Venus hat-         1999 lief ein Film von ihr, Make Up, im Forum
te ursprünglich Visuelle Kommunikation in Wei-         der Berlinale. Bisher hat sie erfolgreich Drehbü-
mar studiert. Später ging er an die Hamburg Me-        cher geschrieben. Für Der Architekt erhielt sie
dia School, um Regisseur zu werden. Sein Ab-           2009 den Drehbuchpreis beim Max-Ophüls-
schlußkurzfilm Roentgen gewann zahlreiche              Preis. Erst im November kam der Film Das Vor-
Auszeichnungen. Schlaf deckt ein Familienge-           spiel ins Kino, für den sie das Drehbuch zusam-
heimnis auf, zieht dabei die Decke der Vergan-         men mit der Regisseurin Ina Weisse geschrieben
genheit fort.                                          hatte.

Eine griechische Koproduktion ist der Spielfilm        Der junge deutsche Film war aber auch in ande-
Im Feuer, der international den Titel Sisters Apart    ren Sektionen des Festivals vertreten. Nicolaas
trägt. Darin holt eine junge kurdischstämmige          Schmidt hatte 2017 seinen romantischen Kurz-
Frau ihre Familie aus dem Irak heim. Sie reist so-     film Final Stage in der Perspektive vorgestellt.
gar bis nach Griechenland, um die Flüchtlingsfa-       Mit Inflorescence kehrte er nun in die Berlinale-
milie abzuholen. Doch ihre Schwester hatte sich        Shorts-Sektion zurück. In einem Loop weht im-
diesem Weg verweigert. Sie ist einfach in der vom      mer wieder eine pinke Rose in den Bildaus-
Krieg beherrschten Heimat geblieben. Rojda, ge-        schnitt, während kaum merkbar im Hintergrund
spielt von Almila Bagrıaçık, gibt in Daphne Cha-       eine deutsche Flagge weht. Es weht und stürmt,
rizanis Spielfilm nicht so einfach auf. Als Kind       konstant und hypnotisierend, während aus dem
kam sie nach Deutschland und ist inzwischen so         Off die Stimme des Sängers Neil Finn »Don't
sehr deutsch, dass nur diese neue Heimat für sie       Dream It's over« intoniert, bis er zu einem Echo
erstrebenswert ist. Sie ist sogar Berufssoldatin       verhallt. Nicht viel mehr als eine kurze Übung
geworden. Und so lässt sie sich nun dorthin ver-       scheint das zu sein, ein Installationsfilm, dem
setzen, wo sie ihre Schwester zu finden glaubt.        vielleicht Varianten folgen könnten.
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In den Garagen bei Murmansk blüht ein seltsames Biotop: Statt Autos beherbergen sie Werkstätten, Fitnessstudios, Probenraum oder Ge-

flügelzucht – sogar eine mehrgeschossige Tunnelanlage hat Natalija Yefimkina beim Garagenvolk entdeckt.

Zwei Jahre lang begleitete Sandra Kaudelka die linke

Politikerin Sarah Wagenknecht vom Bundestagswahlkampf bis

zum Rückzug als Fraktionsvorsitzende – immer dicht dran,

aber doch nur an der Oberfläche.

Fotos: Tamtam Film | Kundschafter
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   Ein weiterer Film landete in der Sektion Gene-    wissheit der Zukunft der neuen Freunde lässt ihn
ration 14plus. Kokon erzählt von einem jungen        seine Privilegien erkennen.
Mädchen, Nora (Lena Urzendowsky), im Mikro-
kosmos Berlin-Kreuzberg. In der Klasse ihrer äl-     Kein Debütfilm, aber ein Film, der fast nicht ent-
teren Schwester lernt sie Romy (Jella Haase) ken-    standen wäre, ist im Forum Sabine Herpichs Do-
nen, die ihr Selbstvertrauen gibt und ihr Mög-       kumentarfilm Kunst kommt aus dem Schnabel,
lichkeiten aufzeigt, ihren eigenen Weg zu finden.    wie er gewachsen ist. Herpich ist freie Filmschaf-
Leonie Krippendorff studierte an der Hochschu-       fende und arbeitet als Mitglied im Kino-Kollektiv
le für Film und Fernsehen Konrad Wolf, heute         des »FSK-Kino« in Berlin. In den Behinderten-
Filmuniversität Babelsberg. Bereits ihr Ab-          werkstätten Spandau befindet sich die Kunst-
schlußfilm Looping, der 2016 ins Kino kam, be-       werkstatt Mosaik. Dort schaffen die Mitwirken-
freite ein junges Mädchen, die sich freiwillig in    den des Films wie Adolf Beutler oder Suzy van
die Psychiatrie einweisen ließ, aus dem Kokon,       Zehlendorf Kunst, als würden sie zur Arbeit ge-
den ihre Umwelt für sie geschnürrt hatte. Das        hen. Ihre Kunst finanziert auch die Werkstatt.
Drehbuch zu Kokon wurde prompt 2018 bei der             Ihre Behinderung ist für Herpich kein Thema.
Berlinale Talents Script Station aufgenommen.        Sie zeigt den Schöpfungsprozess und zeigt uns,
Das Fachmagazin Variety erkannte ihr Talent          welches Echo es in der Kunstwelt darauf gibt. Für
und machte sie zu einer der zehn Europäer*in-        ihre stille, beobachtenden Dokumentation gab
nen, auf die es dieses Jahr zu achten gelte.         es keine Förderung, wodurch Herpich das Pro-
                                                     jekt zuerst abbrechen musste. Erst als sie noch
In der Sektion Panorama wurde das Spielfilm-         einmal mit etwas Abstand an das Material ging,
debüt von Faraz Shariat, Futur Drei vorgestellt.     um wenigstens für die Werkstatt etwas zusam-
Stark autobiografisch erzählt Shariat von einem      menzuschneiden, kristalisierte sich die Qualität
jungen Iraner, der die Sprache seiner Eltern nur     des Materials heraus. Zum Glück.
noch unzureichend beherrscht. Zumindest fällt           Es brauchte schließlich Crowdfunding-Geld,
es ihm schwer, in einer Flüchtlingsunterkunft die    um den Film fertigzustellen. Sabine Herpich
Aussagen einer jungen Frau ins Deutsche zu           arbeitete auf eigene Kosten, doch ihr Team von
übertragen, die vor einer Kommission um ihren        Tonschnitt, Mischung und Farbkorrektur sollte
Aufenthalt kämpft. Parvis (gespielt von Benja-       bezahlt werden. Peripher, der eigene Verleih des
min Radjaipour) sollte doch nur 30 Stunden So-       »FSK«, wird den Film im Herbst ins Kino brin-
zialdienst abreißen, weil er sich im Klub mit Dro-   gen.                                            c
gen hat erwischen lassen. Mit seiner schwulen
Identität hat er gar kein Problem, aber das seine
Handlungen Konsequenzen haben, das muss er
erst lernen. Auch muss er erkennen, wie viel er
der harten Arbeit seiner Eltern (die von den El-
tern des Regisseurs gespielt werden) verdankt. Er
lernt im Asylheim die Geschwister Amon (Eidin
Seyed Jalali) und Banafshe (Banafshe Hourmaz-
di) kennen, in Amon verliebt er sich. Die Unge-
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Filme wollte sie schon machen, als sie 30 war. Dann kamen nochmal 30 Jahre und einige Umwege, bis Ulla Geiger (links) sich an ihren

Debütfilm wagte. Im Rückblick findet sie das sinnvoll. Ihr Hauptdarsteller Michael Ransburg (rechts) bekräftigte sie in ihrem Entschluss.

Wir drehen keinen Film!
Der Titel täuscht – sie tat es doch. Mit Mitte 60 erfüllte sich Ulla Geiger den Traum, der sie einst in
die Branche gebracht hatte: Sie drehte ihren Debütfilm.

Text Ulla Geiger

Foto: Ulla Geiger
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Mit Mitte 60 habe ich meinen Debütfilm gedreht.        sehr schnell ziehen: Da war man erst mal Assi
Eigentlich hatte ich Filmemacherin werden wol-        und musste die schweren Kameras schleppen …
len, seit ich 30 Jahre alt war, aber mein Leben hat   für mich und meine zierliche Statur ein absolu-
immer wieder Haken geschlagen und mich wo-            tes No-Go!
andershin gespült. Nie hatte ich gesagt »Nein,           Also dann zur Regie. Es folgte die übliche Lauf-
das ist aber jetzt nicht zielführend!«, sondern ich   bahn: Script/Continutity und Regieassistenz. Als
bin mit dem Leben mitgegangen. Dabei habe ich         ich mich knappe zehn Jahre später als Assistentin
dann so ganz unbemerkt alles gelernt, was ich         etabliert hatte, drehte ich eine populäre Serie, wie
nun für die Arbeit an diesem Film hatte brau-         sich das gehörte. Ich stellte fest, dass mich das so
chen können.                                          gar nicht erfüllte, und ich außerdem meinem Ziel,
   Das Ziel »Filmemacherin«: 1981, mit 30 Jah-        Filme zu machen, nicht die Bohne näher gekom-
ren, lag ich in letzten Zügen meines Studiums an      men war. Niemand sagte: »Ulla, du bist ja so su-
der Akademie der Bildenden Künste in Mün-             per, ich geb’ dir die Chance, deine erste Regie zu
chen, hatte aber keine Lust mehr auf die anvi-        machen!« Ende der 1980er-Jahre war ein männli-
sierte Kunsterzieher-Laufbahn. Das Studium war        cher Regieassistent selbstverständlich ein ange-
aber nicht umsonst gewesen. Ich hatte meine           hender Filmemacher, während eine Frau halt die
optische Wahrnehmung gesteigert und war               Assistentin war und vom Regisseur für eine gute
durch fotografische Maltechniken zu einer De-         Idee ein Zehnerl bekam – tatsächlich passiert!
tailfieslerin geworden.                                  Damals gab es an neuen Regisseurinnen Doris
   Die verrückten Filme von Carlos Saura hatten       Dörrie, und dann kam lange nichts, und diese war
es mir damals angetan – ein Faktor für meinen         Absolventin der HFF gewesen. Ich war also in ei-
Entschluss, Filmemacherin zu werden. Ich über-        ner Sackgasse gelandet! Aber ich hatte einiges ge-
legte, ob ich mit einem Studium an der HFF mei-       lernt: Einen Drehplan und eine Dispo machen,
nen Eltern weiter auf der Tasche liegen sollte –      ein Set organisieren, und Rollen besetzen, was
ich hatte ja schon zehn Jahre studiert. Also ent-     mir am meisten Spaß machte.
schied mich, das Filmhandwerk von der Pike auf
zu lernen. Ich machte ein Praktikum bei einer         Auf zum Ziel mit Eigeninitiative: Ich schrieb ein
Kinderserie, und wurde dort noch für eine kleine      Drehbuch, das noch von Anfängerfehlern strotz-
Rolle engagiert, die ich eigentlich gar nicht woll-   te. Um mich der Schauspielführung zu nähern,
te. Ich wollte beim Film alles machen nur nicht       belegte ich 1990 semiprofessionelle Schauspiel-
Schauspielerin, nicht zuletzt aus Trotz gegen         workshops. Es könnte ja sinnvoll sein, zu wissen,
meine Mutter, die, selbst ehemals Schauspiele-        wie sich ein Schauspieler fühlt. Das Ganze nahm
rin und Sängerin, immer sagte: »Kind, du gehörst      aber eine überraschende Wendung, denn bei
vor die Kamera!« Wie witzig, dass sie irgendwie       dem Seminar stellte sich heraus, dass ich wohl
recht behalten hat, ich bin ja auch Schauspiele-      selbst Schauspieltalent hatte! In einer Übung
rin geworden!                                         sollte ich spielen, in einem Cafe zu sitzen und
   Ich fing also bei diesem Praktikum mit Klappe      auf jemanden zu warten. Ich guckte also rum, ob
an und orientierte mich erst mal: Vom Bild her-       derjenige nun kommt – und die Leute lachten!
kommend, hätte ich natürlich am liebsten Ka-          Wieso, verstand ich nicht. Anscheinend war ich
mera gemacht, aber den Zahn musste ich mir            irgendwie komisch …
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Die Kamera als Therapie: Zum Zweck der Selbsterfahrung heuert der Schauspieler Kurt (Michael Ransburg) eine Kamerafrau an. Sie soll ihn

auf Schritt und Tritt begleiten und seinen Alltag dokumentieren.

Links probt die Regieassistentin Jacqueline König die »eingeschwungene« Klappe, rechts zeigt sie, dass sie auch Ton angeln kann.

Tatsächlich führte die Kamera Hans Albrecht Lusznat, hier in der Rückansicht.

Fotos: Ulla Geiger
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   Mit einer anderen Kursteilnehmerin entwik-        der Professor. Aber ich malte meine Faltenwürfe!
kelte sich dann beim Abendessen spontan eine         Über Kabarett hörte ich, das sei das Schwierigste
Impro zweier bayrischer Hausfrauen – und alle        überhaupt. Ich habe es einfach gemacht. Und so
lagen vor Lachen unter dem Tisch. Wieder war         ähnlich sollte es dann später auch mit meinem
ich vollkommen überrascht. Barbara Jürgensen         Kinofilm laufen.
und ich machten ein Kabarettprogramm daraus.            Nach zehn Jahren war für mich die Luft raus
Damals war diese Branche noch entspannt. Wir         aus dem Kabarett, und ich habe es auslaufen las-
haben ein lustiges Foto gemacht, bei Bühnen an-      sen. Aber die Zeit war alles andere als umsonst
gerufen, gesagt, wir sind »Boschetsrieder und        gewesen: Das Kabarett war meine Schauspiel-
Hinterpaintner«, und schon hatten wir einen          ausbildung, denn das Publikum ist der gnaden-
Auftritt. Wir landeten auf dem 3. Platz beim         loseste Lehrer! Entweder du kriegst die da unten,
»Scharfrichterbeil« und kamen sehr gut an.           oder du kriegst sie nicht. Und das war bei unter-
   Auf der Bühne zusammen genial – im Privaten       schiedlichen Vorstellungen unterschiedlich,
nicht miteinander kompatibel … wir trennten          trotz haargenau gleichem Text!
uns leider. Dann machte ich Soloprogramme               Wenn man am Anfang des Programms regi-
und kreierte die Figur Frau Wurmrieder, die mit      striert, da unten ist es heute aber eher still, an
einer Moderatorin vom Band zusammen agierte.         der Stelle war doch sonst ein Lacher, darf man
Ich zog mich in Windeseile hinter der Bühne um,      auf keinen Fall anfangen, sich anzustrengen und
um mit einer anderen Perücke und mit einem           an ihnen zu ziehen! Dann geht es noch weiter
anderen Dialekt wieder rauszukommen … kam            bergab! Einfach bei sich bleiben, sich in den
alles auch gut an!                                   Fluss seines Textes schmeißen. Überhaupt eine
                                                     Regel für die Schauspielerei … bloß nicht nach-
Mitte der 90er immer noch keine Filmemacherin.       denken! In der Kabarettzeit bildete sich außer-
Ich stellte mich bei einer kleinen Kinderserie als   dem ein Gefühl für Dramaturgie und Timing.
Drehbauchautorin vor. Als solche wollten sie         Und: Lacher kann man nicht planen. Am besten
mich nicht, dafür wurde ich als Schauspielerin       man macht das, was man selbst komisch findet.
engagiert. Das war meine erste TV-Rolle. Ich            Ende der 90er endlich der erste Film? Es
stellte mich bei Castern vor, die damals auch erst   tauchte ein Plot auf, der mich interessierte: Die
alle anfingen. Und so kam ganz langsam eine          wahre Geschichte einer Frau, die sich mit Krebs
Rolle zur anderen. Mit 45 Jahren als Schauspiele-    im Endstadium durch Psychotherapie heilte. Ich
rin anzufangen, ist nach allen Regeln der Bran-      habe in Zusammenarbeit mit einer Filmfirma
che wenig erfolgversprechend. In dem Alter geht      ein Drehbuch geschrieben. Dieses liegt jetzt in
es sogar bei etablierten Schauspielerinnen meist     einem sehr guten Zustand in der Schublade,
erstmal runter mit den Angeboten. Aber ich hat-      denn die Frau starb neun Jahre später an einem
te mich von sogenannt »Unmöglichem« oder             Rückfall, und so gab es keine vermarktbare Er-
Schwierigem noch nie besonders beeindrucken          folgsgeschichte mehr. Aber ich hatte gelernt, wie
lassen. Auf der Kunstakademie hatte ich ohne je-     man Drehbücher schreibt.
mals einen Pinsel mit Ölfarbe in der Hand ge-
habt zu haben, gesagt: Ich möchte Faltenwürfe        Mitte der 2000er mit 55 Jahren immer noch kei-
malen! Das sei das Schwierigste von allem, sagte     ne Filmemacherin: Ich sah im Fernsehen eine
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Sendung über einen Herrn Heinle, der vollkom-           aber nicht meinen Humor mitgebracht! Also
men hoffnunglose Langzeitarbeitslose in Arbeit          habe ich das auch selbst gemacht. Im Internet
brachte, indem er ihnen die Frage stellte: »Wo          steht schließlich, wie eine Trailerdramaturgie
möchten Sie in fünf Jahren sein, wenn es keine          auszuschauen hat!
Grenzen der Vorstellung gäbe?« Er war erfolg-              In meinem Demobandservice drehte ich klei-
reich und hatte gerade ein schickes neues Büro          ne Szenen für Schauspielfrischlinge, die noch
aufgemacht, in dem es einen Tag der offenen Tür         keine Ausschnitte aus TV-Drehs hatten. Ich
gab. Irgendwie trieb es mich da hin, obwohl             schrieb die Drehbücher, triezte die Schauspieler,
mich das Thema »Langzeitarbeitslose« gar nicht          bis sie es gut machten, und schnitt hinterher die
interessierte. Aber vielleicht war ich ja selbst eine   Filmchen. Dann machte ich Kamera und Ton
Abart davon? An einem schicken Multimedia-              auch noch selbst, denn weitere Mitarbeiter kom-
Tisch demonstrierte Herr Heinle seine Methode           men zu teuer für die schmalen Kundengeldbeu-
an den Besuchern. Ich antwortete auf die Frage          tel. Ich hatte anfänglich keine Ahnung von Licht-
mit den fünf Jahren: Ich will eigentlich Filme ma-      setzung … dann lernt man es eben!
chen, komme aber ewig nicht dazu. Er sagte:
»Fangen Sie doch einfach mal an, und drehen Sie         2012 drehte ich meinen ersten Kurzfilm. Ein
kleine Filme!« Ich könne doch Bewerbungs-               Freund wollte seine neue Red ausprobieren, ein
videos machen. Dieses ganze Sujet Bewerbung             Freund vom Freund machte den Ton, Freun-
hat mich eigentlich nicht interessiert, aber ich        dinnen übernahmen die beiden Rollen. Die Plä-
machte es und richtete mir eine Website ein.            ne waren hochtrabend: Natürlich Preise gewin-
                                                        nen auf Festivals! Ich zurrte Wort für Wort genau
Das Ganze brachte nichts ein, war aber nicht            fest, habe die Schauspieler mit meinen Vorstel-
umsonst: Erstens lernte ich Filmschnitt, zwei-          lungen überfordert, und heraus kam technisch
tens entwickelte sich später daraus mein Demo-          perfekt gemachter kalter Kaffe. Ich war demora-
bandservice, denn ich hatte angefangen, meine           lisiert.
Demobänder selbst zu schneiden (Gelderspar-                 Dann wollte eine befreundete Schauspielerin
nis!) und dachte, was ich für mich selbst kann,         und Kabarettistin »zufällig« mit mir an einem
kann ich auch für andere.                               Kurzfilmwettbewerb teilnehmen. Sie sagte, sie
   Selbst zu schneiden war eine gewisse Hürde           habe es nicht so mit Textlernen und wolle lieber
gewesen. Muss da nicht jemand mit Abstand von           improvisieren. Okay, dann jetzt das. Von großem
außen draufschauen? Aber es ging gut. Und diese         Aufwand hatte ich die Nase voll, also machte ich
Hürde ein erstes Mal genommen zu haben, hat             die Kamera selbst. Desweiteren spielte aus dem
es mir später erleichtert, meinen Film auch             Off die Rolle einer Redakteurin, die den Film
selbst zu schneiden! Zwei meiner Mitarbeiter            macht. Das Ganze wurde mehrmals gedreht und
hatten mir das wohl nicht so wirklich zugetraut         anschließend »schmutzig« Bild in Bild geschnit-
und wollten mir dezent einen Profi zur Seite stel-      ten. So entstanden zwei Kurzfilme – und meine
len. Die Dame hatte keine Zeit, was gut war,            Arbeitsweise für den Langfilm. Die Improvisati-
denn das hätte ein Riesen-Durcheinander gege-           on finde ich eine ideale Arbeitsweise, weil sich
ben. Beim Kinotrailer wurde dann wieder der             geniale Texte entwickeln können, die einem am
Ruf nach einem Spezialisten laut … der hätte            Schreibtisch nie einfallen würden.
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