NATURFREUNDIN - NATURFREUNDE DEUTSCHLANDS
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Ausgabe 3-2011 NATURFREUNDiN Zeitschrift für nachhaltige Entwicklung – sozial – ökologisch – demokratisch WAS WIR ESSEN MACHT UNS KRANK AKTUELL a Energiewende Was die Regie- rung beschlossen hat [Seite 14] e a Zeitungsschau Welche Magazin NaturFreunde verlegen [Seite 18] a Heidehaus Warum das erste deutsche Naturfreundehaus nie enteignet wurde [Seite 25] www.naturfreunde.de
AUF EIN WORT Die norwegische Mahnung h Wir sind erschüttert über den men- schenverachtenden Fundamentalismus eines selbst ernannten Kreuzritters. Das norwegische Blutbad war systematisch geplant und ohne Mitleid. Wir dürfen nach dem Entset- zen und der Trauer um die Menschen nicht zur Tagesordnung übergehen. Denn mit Sorge sehen wir, dass die große Idee der sozialen Gesellschaft in den letzten Jah- ren an Zustimmung verloren hat, während der aufkommende Rechtspopulismus immer wieder verdrängt wurde. Auch bei uns. Der Verfall des Sozialen, gleichgültig ob in christlicher, sozialistischer oder liberaler Wert- ethnischen Gettos und neuem Nationalismus, zwischen sozialer Sicherheit und radikaler Kon- kurrenz. Damit kommt auch in Westeuropa ei- ne scheinbar überwundene Gefahr zurück: frem- denfeindlich-populistische und nationalistische Strömungen. Zur zentralen Frage für die Anerkennung von Freiheit, Solidarität und Frieden wird die Bil- dung von Identität. Denn Desintegration setzt eine irrationale Angst vor Abstieg, Ausgrenzung und Zuwanderung frei. Aus dem Verlust an „Bin- dekräften“ erwachsen Rassismus und Gewalt. Auch bei uns, wenn etwa Vorurteile gegenüber Muslimen auch bei zunehmendem Bildungsgrad Ein Standpunkt von Michael Müller, Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands bindung, geht einher mit der irrigen Vorstellung, nicht abnehmen; wenn fast ein Drittel der Bevöl- dass der Staat nur noch die Aufgabe eines Po- kerung meint, dass es in Deutschland zu viele lizisten übernehmen soll. Die heutige Form der Juden gebe. Globalisierung greift die soziale und kulturelle Mit dem Verlust an Orientierung lädt sich, Substanz unserer Gesellschaft an. Solange Ge- um ein Bild des französischen Ethnologen und schwindigkeit vor Qualität geht, kurzfristiger Ge- Anthropologen Lévi-Strauss zu nutzen, die Ge- winn vor ökonomische Vernunft, führt die Glo- sellschaft wie eine Dampfmaschine auf, weil balisierung zu einem Auseinanderfallen der Ge- sich der kalte Pol der Globalisierung vom hei- sellschaft und letztlich zu ihrer Dezivilisierung. ßen Pol der sozialen Bedürfnisse entfernt. Wirt- Der französische Soziologe Alain Touraine be- schaftliche, soziale oder kulturelle Ausgrenzung schrieb dies als „Auflösung der Gesellschaft“. drohen zum Nährboden für einen Fundamenta- Die kalte Welt des Tausches, die sich über den lismus zu werden, der ethnisch, nationalistisch ganzen Erdball erstreckt, fördert statt eines so- oder religiös begründet wird. Seine Ursachen zialen Menschen nur noch den privaten Men- aber liegen im Verlust an Identität. schen, dessen Wertbindung abnimmt. Der ge- Freiheit, Vielfalt und Zusammenarbeit brau- meinsame Boden von Tradition und Geschichte, chen eine soziale Gesellschaft, ein breites An- der die Menschen mit ihren Gesellschaften ver- gebot öffentlicher Güter und eine aktive Zivilge- bindet, geht verloren. Und mit ihm die Identität. sellschaft, kurz: mehr Demokratie, Freiheit und Aus Gesellschaftsmitgliedern werden Gesell- schaftsnutzer. Die Entzweiung verläuft zwischen SEITE 2 Solidarität. Das ist die norwegische Mahnung. h NATURFREUNDiN 3-2011
„Letztlich müssen wir unseren Lebensstil hinterfragen. Es wird eindeutig zu viel Fleisch ge- gessen und auch brauchbare Lebensmittel werden in großem Umfang weggeschmissen.“ TITEL Was wir essen, macht uns krank.......................... 4 Letzte Lebensmittelskandale.........5 Nachhaltige Verpflegung im Naturfreundehaus....................6 Neue EU-Kennzeichnungspflicht...7 Interview mit Jo Leinen................ 8 Essen im Müll.............................. 9 Wo Nahrung knapp wird............. 9 Land Grabbing: Landraub mit trügerischem Heilsversprechen.. 10 EDITORIAL THEMA Klimawandel Rußpartikel lassen Arktis schneller schmelzen................... 11 Sozialökologischer Protest Wenn die „letzte freie Burg“ geflutet wird..................... 12 4 Fragen an Nuray Atmaca........ 13 Energiewende Die wichtigsten Beschlüsse des Bundestages........................ 14 NATURFREUNDE AKTIV Aus- und Sportbildung............... 16 Segelkurse in Braunschweig...... 17 Überblick: Internationale Magazine der NaturFreunde...... 18 Hüttendienst in Dachau............. 20 Heimatkunde im Spessart.......... 21 Aufforstung im Senegal.............. 22 NaturFreunde in Hamburg......... 22 NaturFreunde in Kalifornien...... 23 Ein Fuchs in Brüssel................... 23 Kalenderblatt............................. 24 Zeitsprung.................................. 25 Ausgabe 3–2011 Industrialisierte Landwirtschaft Jo Leinen (Vorsitzender des Ausschusses für Umweltfragen, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit des Europäischen Parlaments) [seite 8] FEST GESETZT INHALT Reisezeit ................................... 26 Seminare................................... 27 Kleinanzeigen............................ 28 Leserbriefe................................. 28 Medien...................................... 29 Impressum................................. 29 kurz notiert................................ 30 Schon 70 Natura Trails.............. 31 steinig. Sabine Nagl beschreibt auf Seite 6, mit welchen Widerständen gerechnet werden muss. Die jüngste Kampagne für einen deutschen Atomausstieg, in der sich die NaturFreunde stark engagiert haben, war zwar politisch er- folgreich. Die Energiewende (Seite 14) hätten wir uns aber radikaler gewünscht. So wurde der Atomausstieg nicht ins Grundgesetz geschrieben. Am 11. September jährt sich zum zehnten Mal der Terroranschlag von al-Qaida gegen die ame- rikanische Gesellschaft (Seite 24). Es lohnt sich der Titel dieser Ausgabe will provozieren. Natür- Während auf der Welt etwa eine Milliarde darüber nachzudenken, dass unsere Welt nicht lich gibt es keine blauen Tomaten, wie auf dem Menschen hungern, werfen wir statistisch be- nur von fanatischen Islamisten bedroht wird. Titelbild abgebildet. Andererseits wissen wir oft trachtet rund 100 Kilo Lebensmittel pro Kopf und Und natürlich stellt auch diese Ausgabe der nicht, was eigentlich drin ist in unseren Lebens- Jahr einfach weg. Dazu kommt, dass Staaten NATURFREUNDiN wieder besondere Aktivitäten mitteln. Die NATURFREUNDiN erinnert auf der und Konzerne die industrielle Landwirtschaft in unserer Mitglieder vor, etwa die segelnden Na- Seite 5 an die vielen Skandale der letzten Jahre. die Hungerländer exportieren, um sich Profite zu turFreunde in Braunschweig (Seite 17) oder die Jedes Mal reagierte die Gesellschaft empört, ge- sichern, damit aber Kleinbauern um ihre Exis- Arbeit der Heimatkundler im Spessart (Seite 21) ändert aber hat sich wenig. tenz bringen. Die Spekulation mit Nahrungsmit- oder den Einsatz der Hamburger für die direk- Immerhin: Das Europäische Parlament macht teln ist längst zum tödlichen Geschäft geworden. te Demokratie (Seite 22). Viel Spaß beim Lesen jetzt mit der Lebensmittel-Kennzeichnung ernst. Vor einigen Jahren haben die NaturFreunde und mit einem herzlichen Berg frei! Künftig soll auf den Verpackungen präzise drauf- für ihre Häuser die „Regionaltypische Verpfle- stehen, was wirklich drin ist in unserem Essen. gung“ beschlossen. Immerhin 88 Häuser wer- Jo Leinen, NaturFreund und Vorsitzender des fe- ben mittlerweile damit. Das ist einer der Wege, derführenden Ausschusses im Parlament steht wie wir selbst das Problem einer falschen Ag- im Interview auf Seite 8 Rede und Antwort. rarpolitik angehen können. Aber dieser Weg ist 3-2011 NATURFREUNDiN SEITE 3
Titel München 100 Tonnen verdorbenes Döner- und Entenfleisch sichergestellt, der Rest einer Liefe- Titel rung, mit der 26 Betriebe bundesweit versorgt worden waren. Wie viele Hundert Tonnen von Was wir essen, macht uns krank den Deutschen schon verspeist waren, ließ sich nachträglich nicht mehr feststellen. 2008 wurde Die Werbung verspricht glückliche Kühe und reinen Braten. Dabei ist unsere Versor- dem Nestlé-Konzern die Chemikalie Melamin in gung ein großindustrielles Geschäft aus Chemie und Gewinnmaximierung geworden seiner Milch nachgewiesen. Rausgekommen war das erst, nachdem 53.000 Kleinkinder in China im Krankenhaus behandelt werden mussten. b„Viermal B: Bauer Blume bietet Bestes.“ Tetrapaks steht klein und versteckt „Weißenfels“ Wie dieses Melamin – „2,4,6-Triamino-s-triazin“ Diesen Spruch liebt Gerd Blume, der in der oder Molkereien im Ruhrgebiet und Niedersach- lautet der chemische Name – in die Milch ge- Mark Brandenburg einen 420 Hektar großen Fa- sen als Abfüllort der märkischen Milch. kommen war, blieb ungeklärt. milienbetrieb betreibt. Sein Hauptprodukt ist Bauer Blume versteht die Welt nicht mehr: Kriminelle Energie stecke dahinter, urteilten Milch, der 54-jährige Blume ist stolz auf seine Der Diesel für seinen Traktor wird immer teurer die Richter und brachten die Verantwortlichen Milchquote: 360.000 Liter im Jahr. und trotzdem wird seine Milch – zuerst roh und hinter Gitter. Aber das ist nur die halbe Wahr- Früher belieferte er die Molkerei in Beeskow, dann verarbeitet – oft Tausende Kilometer über heit: Die Lebensmittelskandale sind nur die Eis- der Kreisstadt des Landkreises Oder-Spree. So- die Autobahnen gekarrt. „Ich frag mich, wieso bergspitzen der Ernährungsindustrie. Es geht gar eine eigene Marke hatten sie entworfen, die das wirtschaftlicher sein soll, als die Milch hier im Produktionsprozess um „Effizienz“: Früher Bauern in der Mark Brandenburg. Bauer Blumes vor Ort zu verarbeiten“, sagt der Bauer. Offenbar wurde aus den Knochen toter Rinder allenfalls Milch wurde unter dem Label „Mark Branden- aber ist das wirtschaftlicher: Aus ehemals vielen noch Seife oder Knochenleim hergestellt. Heute burg“ vermarktet. Das klingt ein bisschen nach kleinen Molkereien vor Ort sind einige wenige zermahlen die Menschen diese Rinderknochen, Theodor Fontane, der einst durch die Landschaft Großkonzerne geworden. „Südmilch“, „Nord- um damit wieder Rinder zu füttern. Die Kadaver rund um Berlin wanderte und davon Zeugnis milch“, „Ehrmann“, „FrieslandCampina“ und wurden so zum „Rohstoff“, der den Menschen ablegte. „Wanderungen durch die Mark Bran- Co. sind riesige Produktionsapparate, die – geht nährt. Aufregung entstand erst, als diese Praxis denburg“ heißt das fünfbändige Werk, das den es um Milchprodukte – den Speiseplan der Re- BSE hervorrief. Schriftsteller im 19. Jahrhundert berühmt machte. publik bestimmen. Pestizide in Obst und Gemüse, Antibiotika im Wenn Bauer Blume „früher“ sagt, dann Fisch, Geschmacksverstärker im Käse, „Lacto- meint er die Zeit vor fünf Jahren. Damals näm- Im Angebot: vergammeltes Fleisch sen“ und Konservierungsstoffe im Fleisch – die lich machte die Molkerei in Beeskow dicht. Jetzt Aber das ist nicht nur bei der Milch so: Längst Lebensmittelindustrie optimiert mit Chemikalien fährt der Milchlaster Bauer Blumes Milch nach ist aus der Versorgung der Menschen mit Le- ihren Produktionsprozess. Zwar sorgt ein relativ Sachsen-Anhalt, hinter die tschechische Grenze bensmitteln eine menschliche Lebensmittelin- strenges Lebensmittelrecht in Deutschland dafür, oder in die Campina-Molkerei nach Heilbronn. dustrie geworden. Längst gilt es auch in dieser dass die Inhaltsstoffe alle auch fein säuberlich Die kommt dann als Speisequark oder H-Milch Industrie mit dem möglichst billigsten Produkt auf den Etiketten vermerkt werden. Scheinbar zurück ins heimische Beeskow - wieder per den maximalen Profit rauszuschlagen. Mit all kümmert das aber niemanden. Lkw. Zwar gibt es die Marke „Mark Branden- seinen Folgen: 2005 brachte ein Fleischhändler Dinatriumdiphosphat, Natriumhydrogencar- burg“ noch. Aber in der Mark Brandenburg gibt mindestens 400 Tonnen Rind- und Putenfleisch bonat, Ammoniumcarbonat steht beispielsweise es schon längst keine Milchfabrik mehr. Auf den in Umlauf, das vergammelt war. 2006 wurden in auf der Milchschnitte von Ferrero – und trotzdem denken die Mütter, ihrem Kind etwas Gesundes für die Schulpause mitzugeben. Die Verbrau- cherorganisation „foodwatch“ hat dem Produ- zenten Ferrero für seine Milchschnitte gerade den „Windbeutel des Jahres 2011“ verliehen. Ferrero bewerbe mit bekannten Sportlern die Schnitte zwar als „leichte“ Zwischenmahlzeit, heißt es in der Begründung der Jury, allerdings bestehe eine Milchschnitte beinahe zu 60 Pro- zent aus Fett und Zucker und ist damit „schwe- rer“ als eine Schoko-Sahne-Torte. Auch das steht etwa verklausuliert auf dem Etikett: Brennwert 1.750 Kilojoule je 100 Gramm. Aber auch das in- teressiert die meisten Mütter nicht. Mag sein, dass in unserer komplexen Welt das Etikett schnell zur Überforderung des Verbrau- chers führt. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Der Andere: Die Deutschen sind sehr speziell, ŇZum Ň Grünärgern: Putenfabriken mussten immer wenn es um ihr Essen geht. Während sich Fran- wieder Lebensmittelskandale eingestehen. zosen, Schweizer oder Tschechen ihre Ernährung etwas kosten lassen, muss es bei den Deutschen SEITE 4 NATURFREUNDiN 3-2011
Titel ŇBlau Ň gemacht: Nur zwölf Prozent ihres Einkommens geben die Bundesbürger für ihre Nahrung aus. gekühlt für zwei Euro das Kilo nach Afrika“. Das Bundeslandwirtschaftsministerium habe so- gar einen eigenen „Exportminister“: Staatsse- kretär Gerd Müller setzt im Ministerium von Il- se Aigner (CSU) eine „nationale Exportstrategie“ War der Sonntagsbraten vor 40 Jahren noch um. Exportweltmeister Deutschland – gerühmt „Hauptsa- kulinarischer Höhepunkt der Woche, so aß jeder für seine Autos, Hightech oder grüne Technolo- che billig“ sein. Wer- Deutsche 1980 schon 30 Kilogramm Fleisch pro gie – ist in Wahrheit Weltmeister im Exportieren den Döner Kebap für 1,99 Euro feilgeboten, ma- Jahr. Heute ist es dreimal so viel: An der gewerb- von Hühnerklein, Schweinshaxen und Billigkäse. chen die Deutschen keinen Bogen um den Anbie- lichen Fleischerzeugung hatte im Jahr 2010 mit Das hat eine mächtige Ernährungsindustrie ter. Unsere Nachbarn würden die Nase rümpfen: 67,8 Prozent Schweinefleisch den höchsten An- hervorgebracht. Die Innovationsmöglichkeiten Bei so einem Preis muss irgendwelcher Dreck im teil, danach folgen Geflügelfleisch (17,2 Prozent) bei Lebensmitteln sind begrenzt, die letzte wirk- Fleischspieß sein, sonst könnte der Verkäufer un- und Rindfleisch (14,8 Prozent). liche große Neuerung war vermutlich die Tief- möglich so billig produzieren. Die Deutschen aber Russland ist der größte Abnehmer von kühlkost. Deshalb befinden sich die Konzerne in rümpfen nicht die Nase: Sie stellen sich an, um Schweinefleisch, 31 Prozent des Exportes gehen hartem Konkurrenzkampf, allein in Deutschland vom Fraß auch etwas abzubekommen. dort hin. China sei als Absatzmarkt ganz groß im geben sie jährlich fast drei Milliarden Euro für Dabei sind Lebensmittel im 21. Jahrhundert Kommen, sagen die Experten. Hühnchen gehen Werbung aus. so billig wie noch nie in der deutschen Geschich- vor allem nach Afrika: Die Brust und Teile der Glückliche Kühe, natürliche Kräuter, kernige te. Lediglich noch 12 Prozent des Monatseinkom- Schenkel bleiben in der Bundesrepublik Fleisch- Bauern – die Agro-Fabriken werden dann zu ver- mens geben die Bundesbürger im Schnitt für die land, der billige Rest geht subventioniert auf den trauenswürdigen Familienbetrieben stilisiert. Zu Ernährung aus. Und das nicht, weil der Hunger Nachbarkontinent. solchen, wie sie bei Bauer Blume im Märkischen kleiner geworden ist, sondern weil das Essen zu bewundern sind. Nur dass der auf die Werbe- dank der Essensindustrie so billig geworden ist. Exportweltmeister Deutschland botschaften nicht sehr gut zu sprechen ist: „Die Bundesrepublik Fleischland: Nie zuvor ist „Dort zerstören wir dadurch jegliche Selbstent- Industrie diktiert die Preise“, sagt Blume, und so viel Fleisch in Deutschland produziert wor- wicklungsstruktur binnen weniger Wochen“, ur- während der Diesel immer teurer geworden ist, den, wie im vergangenen Jahr: unvorstellbare teilt der bündnisgrüne Agarexperte Friedrich Ost- gab es jahrelang für seine Milch immer weniger. 100 Kilogramm pro Kopf. Jeder Deutsche ver- endorff. Um ein Huhn auf dem afrikanischen Wann immer Blume kann, verzichtet er auf speist davon aber „nur“ 88 Kilogramm im Jahr. Markt wirtschaftlich verkaufen zu können, müs- Essen aus dem Laden: „Das Zeug ist ungenieß- Der traurige Rest, der uns nicht schmeckt, wird se es dem Produzenten sechs Euro einbringen. bar“. Schweinegrippe, Dioxinskandal, Geflügel- zu Dumpingpreisen nach Afrika oder Asien ver- Ostendorff: „Wir karren aber die Hühnerreste, pest oder Ehec – es steht zu befürchten, dass der schleudert. die für unsere Ernährung zu schäbig sind, tief- Mann Recht hat.c Nick Reimer = === Lebensmittelskandale Die letzten zehn Jahre ==== 2002 Nitrofenskandal Über einen Zwischenhändler in Mecklenburg gelangt ein krebserregendes Herbizid in den Produktionsprozess von Biolebensmitteln. 2003 Futtermittelskandal Dioxinbelastetes Futter aus Thüringen sorgt für Schlagzeilen: Tausende Mastschweine mussten verbrannt werden, Agrarbetriebe in Thüringen, Nieder- sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Hessen waren betroffen. 2004 Hundefutterskandal Schweinefleisch für Heimtierfutter wurde in Niedersachsen mit falschen Etiketten versehen und als Lebensmittel verkauft. 2005 Fleischskandal Ein Fleischhändler brachte mindestens 400 Tonnen Rind- und Putenfleisch in Umlauf, das vergammelt war. 2006 Fleischskandal In München wurden 100 Tonnen verdorbenes Döner- und Entenfleisch si- chergestellt, Rest einer Lieferung, die vermutlich um den Faktor 10 größer war. 2007 Fleischskandal Der Ge- flügelfleisch-Hersteller „Heidemark“ brachte Waren auf den Markt, deren Verfallsdatum längst abgelaufen war. 2008 Milchskandal Nestlé brachte Milch auf den Markt, die mit der Chemikalie Melamin verseucht war. In Chi- na starben Dutzende Kinder an Vergiftung. 2009 Schweinegrippe Die neu entdeckte Influenzavirus-Variante des Subtyps A H1N1 sorgt für die höchste Alarmstufe der Weltgesundheitsorganisation WHO: Millionen Tote weltweit wurden befürchtet. 2010 Dioxinskandal Die Futterfett-Hersteller Harles und Jentzsch aus Niedersachsen brachten dioxinverseuchtes Tierfutter in Umlauf, der Grenzwert war um 770 Prozent überschritten. 2011 Ehec Eine Mikrobe namens Ehec versetzt die Republik in Panik: Der Erreger kann lebensbedrohliche Darmentzündungen mit blutigen Durchfällen und Nierenversagen hervorrufen. Mehrere Menschen sterben in Deutschland. Nick Reimer 3-2011 NATURFREUNDiN SEITE 5
titel sorgt, vegetarische Gerichte so schlecht gekocht, dass sie keiner essen möchte. Um tatsächlich alle Potenziale eines nach- Praxis haltigen Ernährungskonzeptes auszuschöpfen, muss professionell umgestellt werden. Persön- liche Vorlieben oder die eigene „Ernährungs- Nachhaltige Verpflegung im Naturfreundehaus biografie“ dürfen weder beim Speiseplan, noch Persönliche Vorlieben dürfen die Umstellung auf ein neues Konzept nicht prägen beim Einkauf, noch bei der Zubereitung eine Rolle spielen. Allein das Ziel zählt: Ein nachhal- tiges Ernährungskonzept zu leben, das im Ein- bDurch Nahrung überleben wir. Sie ist exis- freundehäuser sind, war eine wichtige Frage des klang mit der Individualität des Hauses steht. tenziell, sie stillt unsere physiologischen Bedürf- jüngsten Treffens der Bundesfachgruppe Natur- nisse. Aber dann hat sie auch eine soziale Kom- schutz, Umwelt und Sanfter Tourismus. Und das Die Gäste vergleichen ponente. Was wir essen und trinken, befriedigt Fazit: Es ist die soziale Komponente. Schließlich lassen sich gerade am Verpflegungs- unser Streben nach Anerkennung. Tatsächlich stoßen gerade in den vielen eh- angebot die gesellschaftspolitische Einstellung Die Auswahl der Lebensmittel ließe sich am renamtlich bewirtschafteten Naturfreundehäu- und Glaubwürdigkeit überprüfen. Längst sind benötigten Energiebedarf ausrichten, den Koh- sern unzählige Meinungen aufeinander und auch in den Häusern der Gewerkschaften, Ju- lenhydraten Fetten, Eiweißen, Mineralien und damit auch persönliche Vorlieben jedes Mit- gendherbergen, Kirchen oder des Paritätischen Vitaminen. In der Schule lernt man das. Kom- entscheiders. Ein Beispiel aus der Praxis: Ein be- Wohlfahrtsverbandes nachhaltige Ernährungs- biniert mit einer Prise gesellschaftspolitischer nachbarter Landwirt betreibt einen Bio-Hühner- konzepte üblich. Die Gäste nehmen diese Ange- Überzeugung – sagen wir mal: fair gehandelten hof. Seine Eier aber wurden bisher nicht gekauft. bote wahr, sie vergleichen. oder regionaltypischen Produkten – würde nicht Sie sind zwar doppelt so teuer wie konventio- Dass persönliche Vorlieben bei jeder Ent- nur ein nahrhaftes, sondern auch politisch kor- nell produzierte, aber das eigentliche Problem scheidung eine Rolle spielen, ist nur menschlich. rektes Süppchen daraus. Doch diese Suppe ess ist: Der ehemals für den Einkauf Verantwortliche Wichtig aber ist, sich im Hausbetreuungsver- ich nicht, sagte schon der Suppen-Kaspar. im Hausbetreuungsverein hatte sich aus persön- ein dieser Herausforderungen bewusst zu wer- lichen Gründen mit dem Landwirt überworfen. den und sie konstruktiv zu überwinden. Damit 88 Häuser mit regionaltypischer Verpflegung Ein weiteres: Der für die Küche Zuständige in Zukunft für tatsächlich alle Naturfreundehäu- Viele Naturfreundehäuser haben nachhaltige ist kein Freund von Gemüse und hält Fleisch ser gesagt werden kann: Da wird „nachhaltig“ Ernährungskonzepte. Allein 88 in Deutschland für das wichtigste Lebensmittel. Sein Argument: verpflegt.c Sabine Nagl werben etwa mit regionaltypischer Verpflegung. „Unsere Gäste sind doch keine Schnecken.“ Und Naturfreundehaus Ferien-Zentrum Lieberhausen Die ist frisch, besonders und klimaschonend. noch eines: Der Hauskoch boykottiert Verände- Gäste schätzen diese Qualität, sie möchten wis- rungen, weil er dann selbst wieder lernen müss- TTLesetipp Leitfaden regionaltypische Verpflegung im naturnahen Tourismus am Beispiel der Naturfreundehäu- sen, woher die Lebensmittel auf ihrem Tisch te. Will er aber nicht. Darum wird die frisch ein- ser; 64 Seiten, Berlin, 2004; Download kommen. Warum es nicht noch mehr Natur- gekochte Marmelade für zu süß erklärt und ent- www.kurzlink.de/NFH-Verpflegung ŇFarbliche Ň Überraschung: Anders als ein grünes Ei ruft ein Döner für 1,99 Euro kaum Befremden hervor. SEITE 6 NATURFREUNDiN 3-2011
Titel ŇBunt Ň getrieben: Ab dem Jahr 2014 sollen Hersteller angeben, welche Inhaltsstoffe in den Lebensmitteln sind. Verbraucherschutz Schluss mit dem Etikettenschwindel Neue EU-Kennzeichnungspflicht wird ab dem Jahr 2014 gültig Wurst, die aus Chemie besteht, Käse, der gar keine Milch mehr enthält – Lebensmittelimitate sollen künftig in der Europäischen Union leichter im Su- permarktregal zu erkennen sein. Derzeit ist beispielsweise der sogenannte Analog-Käse, der vor allem aus Wasser, Pflanzenfett, Eiweiß, Stärke und Geschmacksverstärkern hergestellt wird, für den Kunden kaum zu erkennen. Das soll sich ab 2014 ändern. Solche Produkte müssen dann auf der Vor- derseite der Verpackung die Aufschrift „aus Pflanzenfett hergestellt“ tragen. Das hat das Europäische Parlament Anfang Juli beschlossen. Die geplante Beschriftung ist Teil eines Gesamtpakets zur neuen Lebensmittelkennzeichnung in der Europäischen Union. Auch auf „normalen“ Lebensmitteln werden künftig die Nährwertangaben verpflichtend. Die Hersteller müssen in einer festgelegten Schriftgröße angeben, wie viel Fett, Kohlenhydrate, Zucker, Eiweiß und Salz in ihren Produkten steckt – allerdings nicht auf die Vorderseite der Produkte, wie ursprünglich von Ver- braucherschützern gefordert.c Nick Reimer 3-2011 NATURFREUNDiN SEITE 7
titel handen, sowohl für wie auch gegen die Nut- zung gentechnisch veränderter Organismen (GVO). Meine Position ist: In Europa sollten die Interview GVO weder für die Futter- noch die Nahrungs- mittelproduktion verwendet werden. Das Euro- paparlament hat vor der Sommerpause ein Ge- „Diese Verschwendung muss ein Ende haben!“ setz verabschiedet, das den einzelnen Mitglied- Der Vorsitzende des EU-Umweltausschusses kritisiert den europäischen Lebensstil staaten mehr Möglichkeiten gibt, den Anbau von GVO zu verbieten. Darüber hinaus verlangt das Parlament, Studien über die Langzeitwirkung eNATURFREUNDiN: Was sind gerade die res natürlichen Kapitals gehen. Die reine Wachs- von neuen GVO vorzulegen, bevor die Europäi- wichtigsten Projekte im EU-Umweltausschuss? tumsideologie muss infrage gestellt werden. sche Lebensmittelbehörde über deren Zulassung Jo Leinen: Die Gesetzgebung über Lebensmittel- eDie Lebensmittelskandale häufen sich. Sind entscheidet. kennzeichnung und Lebensmittelsicherheit, die das die Folgen von Globalisierung und zuneh- eWie könnte die EU die Verdrängung von Ressourceneffizienz, der Kampf für den Klima- mender Industrialisierung der Landwirtschaft? Regenwald für den Anbau von Agrarrohstoffen schutz und die Strategie für eine kohlenstoffar- Auf EU-Ebene ist in den letzten 20 Jahren ein begrenzen? me Wirtschaft in der EU. umfassendes Regelwerk für die gesamte Lebens- Bei der nächsten UN-Klimakonferenz im südaf- eDer Umweltausschuss hat von der EU-Kom- mittelkette entstanden, vom Acker bis zum Tel- rikanischen Durban werden das Abholzen von mission eine neue „umweltökonomische Ge- ler. Für die Sicherheit der Lebensmittel hat sich Wäldern und Veränderungen bei der Landnut- samtrechnung“ verlangt. Wie vereinbart sich also einiges verbessert. Auf der anderen Sei- zung auf der Tagesordnung stehen. Europa muss das mit der traditionellen Wachstumsorientie- te vergrößert die Globalisierung den ökonomi- hier vorangehen und den Flächenverbrauch für rung der EU? schen Druck in der Landwirtschaft. Sorgen ma- importierte Futter- und Nahrungsmittel in die Die umweltökonomische Gesamtrechnung soll chen auch neue Technologien, etwa Nanomate- Klimabilanz einkalkulieren, etwa durch Preissi- das herkömmliche Bruttoinlandsprodukt (BIP) rialien in industriell hergestellten Lebensmitteln gnale oder Ökostandards. Letztlich müssen wir um eine ökologische Dimension ergänzen. Denn oder das Klonen von Tieren. Klonfleisch wollen aber unseren Lebensstil hinterfragen. Es wird mittlerweile hat sich die Erkenntnis durchge- wir auf dem Lebensmittelmarkt in Europa nicht eindeutig zu viel Fleisch gegessen und auch setzt, dass mit dem BIP allein der Zustand ei- dulden. Dazu wird es bald ein eigenes EU-Ge- brauchbare Lebensmittel werden in großem Um- ner Gesellschaft nicht richtig beschrieben wer- setz geben. fang weggeschmissen. Diese Verschwendung den kann: Die Lebensqualität und eine saubere eWas tut das Europäische Parlament, um die muss ein Ende haben! Umwelt finden darin keinen Niederschlag. Das Einfuhr von Genfood zu verhindern? eWie könnte die EU Agrarexporte zu Dum- Wirtschaften darf nicht weiter auf Kosten unse- Im Europaparlament sind alle Positionen vor- pingpreisen in die Dritte Welt verhindern? ŇGefärbte Ň Äpfel: Gentechnisch veränderte Pflanzen sind leider nicht so deutlich von den natürlichen zu unterscheiden. Zur Person NaturFreund Jo Leinen (63) ist Vorsitzender des Ausschusses für Umweltfragen, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit des Europäischen Parla- ments, dem er seit 1999 angehört. Von 1985 bis 1994 war der SPD-Politiker Umweltminister im Saarland. ∙ jo.leinen@europarl.europa.eu SEITE 8 NATURFREUNDiN 3-2011
Titel r r die Opfe Auf jeden Fall müssen die EU-Exportsubventi- Spende fü in Ostafrika rsnot onen abgeschafft werden. Das wird von einer der Hunge lft Mehrheit im Europaparlament auch unterstützt. twicklung hi Welternährung Bündnis En nto 51 51 Denn was wir bisher in der Entwicklungspoli- Spendenko 5 00 tik fördern, wird durch die Agrarpolitik wieder BLZ 370 20 tschaft zialwir Bank für So Ostafrika zunichte gemacht. Neben der EU müssen aber Stichwort: auch die USA mit dem Agrar-Dumping aufhören. Wo Nahrung knapp wird www.entw icklung-hilf t.de eDie Zukunft der Landwirtschaft in der EU Weltweit steigt die Zahl der Hungernden wieder entscheidet sich bald. Welche Chance hat Ag- rarkommissar Ciolos, mit seinen Reformvor- schlägen für eine ausschließliche bZwischen 1981 und 2005 gelang es der die Lage an den globalen Nahrungsmittel-Märk- Subventionierung von ökologischen und sozia- kommunistischen Partei Chinas, mehr als sechs- ten schnell entspannt. Zu massiv hat die Erder- len Dienstleitungen der Landwirte? hundert Millionen Menschen aus der Armut zu wärmung das Agrarjahr 2010 bestimmt. Dürren Da wird es noch viele und heiße Diskussionen befreien. Aus „Reis pur“ wurde „Reis mit Gemü- in Russland, der Ukraine und Kasachstan, der geben. Ich unterstütze Kommissar Ciolos, in sei- se“ und der wurde zu „Reis mit Fleisch“: Bin- trockene Sommer in den USA, Brasilien und Ar- nem Einsatz für eine nachhaltigere Agrarpolitik. nen zwanzig Jahren hat sich der chinesische gentinien haben die Ernten genauso geschmä- Der Erhalt der Artenvielfalt und einer intakten Fleischkonsum vervierfacht. Deshalb kaufen die lert, wie die ungewohnt heftigen Unwetter und Umwelt sowie die Förderung von sozialen und Chinesen jetzt afrikanische Äcker auf, um dort Überschwemmungen in China, Thailand, Paki- ökologischen Dienstleistungen sind entscheiden- Fleisch zu produzieren (siehe auch Seite 10). Mit stan oder Australien. Die Märkte sind leer ge- de Faktoren in der Landwirtschaft. Landwirte, Schweinefleisch im Wert von 47,7 Milliarden fegt, die Preise steigen und Besserung ist nicht die dies in ihrer Arbeit berücksichtigen, sollten Dollar produzierte China 2009 zwar doppelt so in Sicht. entsprechend höhere Zuschüsse erhalten. Dieser viel Schweinefleisch wie die USA, Spanien, Bra- neue, fortschrittliche Ansatz muss gegen etab- silien und Kanada zusammen. Die Kapazitäten Getreide als Benzinersatz lierte Interessen durchgesetzt werden.c des eigenen Landes reichen aber für die steigen- Neben den zunehmenden Extremwetterereig- Interview Eckart Kuhlwein de Nachfrage bei Weitem nicht mehr aus. Unter nissen findet aber auch noch eine schleichende, anderem wird Schweinefleisch aus Deutschland kaum beobachtete Bedrohung der menschlichen Verschwendung eingeführt. Nahrungskette statt. Während die Zahl der Indi- Weltweit aber steigt die Zahl der Hungernden viduen der Gattung Mensch weiterhin rasant an- Essen im Müll mittlerweile wieder. Jeder sechste Mensch hat steigt, schmälern steigende Globaltemperaturen Jede zweite Kartoffel wird weggeworfen Hunger, nicht einfach nur ein Knurren im Magen, weltweit die Erträge. sondern Schmerzen, die seinen Körper schwä- Zum Beispiel beim Reis, allein in Asien für chen und in Apathie versenken. Hungerten Mit- mehr als 2,5 Milliarden Menschen das Haupt- Nicht erst seit dem letzten Ehec-Ausbruch te der 90er Jahre 822 Millionen Menschen, so nahrungsmittel: Wissenschaftler der Universi- landet mehr als die Hälfte unserer Lebens- sind es seit 2010 über eine Milliarde. Jedes Jahr tät San Diego hatten den Zusammenhang zwi- mittel im Müll: jeder zweite Kopfsalat, jede sterben etwa 8,8 Millionen Menschen, jede drit- schen Temperatur und Ertrag untersucht. Zwar zweite Kartoffel, jedes fünfte Brot. Allein in te Sekunde stirbt ein Kind. würden höhere Global-Tagestemperaturen auch Deutschland werden jährlich 20 Millionen Anfang 2011 schlug die Welternährungs-Or- zu höheren Reis-Erträgen führen. Doch für den Tonnen Lebensmittel einfach weggeworfen. ganisation FAO Alarm. Die Sonderorganisation Reisgedeih sind die Nachttemperaturen zustän- Das sind rund 500.000 LKW-Ladungen – in der Vereinten Nationen hat einen Preisindex für dig. Steigen die, ist das kontraproduktiv für den einer Reihe würden sie von Berlin bis Pe- Grundnahrungsmittel entwickelt, im Dezember Ertrag. Ein Ergebnis, dass vom Internationalen king reichen. Und es sind Lebensmittel, die war dieser auf den Rekord-Wert von 215 Punk- Reisforschungsinstitut in Manila bestätigt wur- „oft noch absolut genießbar“ sind, so die ten geklettert. Der Index sagt aus, wie teuer Zu- de. Demnach führt ein halbes Grad Tempera- Welternährungsorganisation FAO. cker, Weizen, Milch oder Pflanzenöl gegenüber turanstieg in der Nacht zu einem Ertragsverlust Schuld daran sind nicht zuletzt die Ver- dem Durchschnitt der Jahre 2002 bis 2004 ge- von 15 Prozent. Neue Studien zeigen, dass die braucher. Weil im Supermarkt alles immer worden sind. Der Getreidepreis lag im Dezem- Erderwärmung der vergangenen 25 Jahre be- frisch aussehen muss, wandert welkes Ge- ber 238 Prozent über dem Durchschnitt, Hülsen- reits Mindererträge von 10 bis 20 Prozent zur müse abends in den Müll. Würden wir in oder Ölfrüchte waren 263 Prozent teurer, Zucker Folge hatten. den Industrieländern die Lebensmittelver- sogar 398 Prozent. Dazu kommen immer häufiger Land-Nut- schwendung nur um die Hälfte reduzieren, Die Welternährungsorganisation kann auch zungskonflikte: Soja-Plantagen in Südamerika hätte das auf das Weltklima denselben Ef- ziemlich exakt die Folgen solcher Preisentwick- oder Palmölplantagen in den Tropen produzie- fekt, als ob wir auf jedes zweite Auto ver- lung projizieren. 2008 waren Grundnahrungs- ren oft nicht für den Teller, sondern für den Tank. zichteten. Denn die Landwirtschaft ist für mittel schon einmal so teuer, damals kam es vor Aus den Ölen dieser Pflanzen wird Treibstoff mehr als ein Drittel der Treibhausgasemis- allem in Afrika und Zentralamerika zu massiven produziert, ebenso wie aus Getreide, Zuckerrü- sionen verantwortlich.c Eckart Kuhlwein Hungerrevolten. In ihrer Not zogen die Hungri- ben, Sonnenblumen. gen plündernd durch die Städte, die Regierun- Eine Tankfüllung Agrosprit enthält so viel Ka- TTKinotipp TASTE THE WASTE gen riefen das Militär zu Hilfe und die Soldaten lorien, wie ein Mensch ein Jahr zum Leben be- 88-minütiger Dokumentarfilm über die Essens vernichtung · ab 8. September 2011 im Kino schossen mit scharfer Munition. nötigt. Von sechs Menschen auf der Welt hat – Anders als 2008 rechnet die Welternährungs- statistisch gesehen – einer weniger im Jahr zur organisation dieses Mal nicht damit, dass sich Verfügung.c Nick Reimer 3-2011 NATURFREUNDiN SEITE 9
titel amerika den Besitzer gewechselt, mehr als die Fläche Deutschlands. Durch den Kauf von land- wirtschaftlich nutzbaren Böden im Ausland sollen Bodenspekulation entweder die Ernährung für die wachsende Bevöl- kerung im Heimatland gesichert oder auch soge- nannte nachwachsende Rohstoffe wie Öl, Mais Landraub mit trügerischem Heilsversprechen und Soja in großen Plantagen angebaut werden. Der Aufkauf von Agrarflächen in Afrika ist eine neue Form von Kolonialismus Den vertriebenen einheimischen Kleinbau- ern wird der Landraub mit Heilsversprechen gar- niert: bessere Infrastruktur, mehr Arbeitsplätze, bNach den Erkenntnissen der FAO, der Welt- sichere Ernährung. Ihre oft korruptionsanfälligen ernährungsorganisation in Rom, hungern auf der Regierungen spielen mit. Doch auf diese Weise Erde wenigstens eine Milliarde Menschen. Eine wird den Bauern auch die Möglichkeit genom- weitere Milliarde ist unterernährt. Dabei würde men, selbst Lebensmittel zu produzieren und die heutige Weltproduktion an Nahrungsmitteln davon zu leben. Zwar ist unbestritten, dass die reichen, um alle sieben Milliarden Menschen mit kleinbäuerliche Landwirtschaft der Dritten Welt Nahrungsmitteln zu versorgen. Aber die heute effizienter werden muss und kann. Aber die In- praktizierte Agrarpolitik in der Welt und in Euro- vestoren haben nur wenig praktische Erfahrung pa verstärkt die Ernährungskrise, zerstört die Bö- in der Landwirtschaft, so Henk Hobbelink, Koor- den und die Wasserhaltung, schädigt die biologi- dinator der Nichtregierungsorganisation GRAIN: sche Vielfalt und trägt in erheblichem Maße zum „Sie übernehmen einfach das Land, laugen die Klimawandel bei. Böden mit einer intensiven Anbauweise aus, Das steht auch im Weltagrarbericht von zerstören das Bodenleben, verabschieden sich 2009, der von mehr als 400 Wissenschaftlern in nach ein paar Jahren wieder und hinterlassen Zusammenarbeit mit vielen internationalen Or- der einheimischen Bevölkerung eine zerstörte ganisationen erarbeitet worden ist. Seine Kern- Umwelt.“ Eine gute entwicklungspolitische Pra- aussage: Es geht nicht so weiter, wenn es so xis sieht anders aus. weitergeht. Obwohl uns die industrielle Land- Und Hobbelink ergänzt: „Land Grabbing führt wirtschaft das weismachen will. Sie ist nicht die dazu, dass sich die Landwirtschaft immer stärker Lösung, sondern das Problem. auf riesige Monokulturen, umfangreichen Che- Erfolg versprechender wäre ein verbesserter mieeinsatz, den Verbrauch von fossilen Energie- Anbau direkt auf den Feldern der Kleinbauern trägern und unmenschliche Arbeitsbedingungen weltweit. Sie sind das Rückgrat der Welternäh- stützt. Eine solche Landwirtschaft wird nicht da- rung und produzieren den größten Teil aller welt- zu taugen, die Welt mit Lebensmitteln zu versor- weit produzierten Lebensmittel – übrigens auf gen. Sie dient im Wesentlichen dazu, Extraprofi- Höfen, die kleiner sind als zwei Fußballfelder. te für ein paar Auserwählte zu produzieren.“ Zu den auserwählten Profiteuren gehören Kleinbauern haben keine Chance auch wir: Ohne Soja, ohne dieses billige Eiweiß- Sind solche Höfe aber der direkten Konkurrenz futter, würde unsere industrialisierte Tierhaltung von kapitalintensiven, agrarindustriellen Groß- nicht funktionieren. Die gigantischen Sojafelder betrieben ausgesetzt, haben sie keine Chance. in Brasilien und Argentinien zerstören die wirt- Denn der größte Teil der Agro-Industrie wirtschaf- schaftlichen Grundlagen für die Kleinbauern. tet auf Kosten von Umwelt und Zukunft, ersetzt Das billige Fleisch mästet die Bevölkerung und die Arbeitskraft von Menschen und Tieren durch die weltumspannenden Transporte befeuern den Maschinen, Kunstdünger und Pestizide. Und Klimawandel. Und dabei ist Soja nur ein kleines trotzdem wird die Agro-Industrie seit Jahrzehnten Problem angesichts der gigantischen Flächen, politisch und wirtschaftlich unterstützt. welche die Produktion von Agrosprit in Zukunft In den letzten Jahren hat sich eine neue Form noch in Anspruch nehmen könnte. des Kolonialismus entwickelt, das sogenannte Das Problem ist bei der UNO angekommen: „Land Grabbing“ (Englisch für Landaneignung): Der Senegalese Jacques Diouf, noch Generaldi- Einige Länder wie China, Saudi-Arabien, die Ara- rektor der FAO, nannte Verträge zwischen einem bischen Emirate, Indien und Südkorea sichern südkoreanischen Finanzinvestor und dem Prä- sich durch Pacht oder Kauf Agrarflächen in Län- sidenten von Madagaskar über die Hälfte des dern der Dritten Welt. Aber auch Finanzkonzer- fruchtbaren Landes der Insel „eine Form von ne sind längst aktiv, etwa internationale Pensi- Neokolonialismus“. Der Präsident wurde in der onsfonds – oder gar Spekulanten wie die Hedge- Zwischenzeit von der Bevölkerung gestürzt.c fonds. Nach Angaben der Weltbank haben durch ŇBlaue Ň Kartoffeln: Die Großindustrie Eckart Kuhlwein das „Land Grabbing“ in den letzten Jahren 45 bestimmt die Landwirtschaft. Millionen Hektar vor allem in Afrika und Latein- TTwww.grain.org SEITE 10 NATURFREUNDiN 3-2011
thema Klimawandel Rußpartikel lassen Arktis schneller schmelzen Spezielle Filter könnten die globale Erwärmung um ein halbes Grad Celsius senken bRußpartikel aus Lastwagen, Autos, Schiffs- Denn die Arktis war doppelt so schnell geschmol- Eises. Derselbe Effekt lässt übrigens auch die In- motoren und Baumaschinen treiben die Erder- zen, wie von der Wissenschaft vorhergesagt. landseisschilde schneller schmelzen. wärmung deutlich stärker an als bislang be- Das Jahr 2010 war nicht nur eines der wärms- Entsprechend schlagen Umweltschützer kannt. Zu diesem Ergebnis kam jüngst eine ge- ten Jahre seit Beginn der Wetteraufzeichnungen: Alarm: Die globale Temperaturerhöhung könnte meinsame Studie des UN-Umweltprogramms Auch die Daten zur Schmelze des Grönlandeises um rund 0,5 Grad Celsius im Jahr 2050 reduziert (UNEP) und der Weltorganisation für Meteorolo- sind rekordverdächtig. Die Schmelz-Saison hat- werden, wenn die Rußpartikel per Filter aus den gie (WMO). Demnach verursachen feinste Ruß- te demnach gute 50 Tage länger gedauert als im Dieselabgasen gefiltert würden. Dabei hätte eine partikel aus ungefilterten Dieselmotoren nicht Mittel der Jahre 1979 bis 2009. Reduktion gleich zwei positive Auswirkungen, ur- nur schwerste Gesundheitsschäden bei Men- teilt Dorothe Saar, Leiterin Verkehr der Deutschen schen insbesondere in den Ballungszentren. Der „Grauschleier“ heizt sich auf Umwelthilfe: „Der vorzeitige Tod von jährlich bis Ruß verstärkt auch das Klimaproblem und ist für Die UNEP-Studie lieferte nun die Begründung, zu 4,5 Millionen Menschen weltweit könnte ver- fast die Hälfte der arktischen Eisschmelze ver- warum die rund zehn Jahre alte IPCC-Prognose hindert werden, wenn der gesundheitsgefährden- antwortlich. so daneben lag: Es ist der Dieselruß. Die nur de Feinstaub eingedämmt wird. Zudem könnten Der Weltklimarat (IPCC) hatte in seinem Sach- Nanometer großen Rußpartikel lagern sich auf die arktische Eisschmelze und die damit ausge- standsbericht Anfang des Jahrhunderts den Eis- Eisflächen ab und bilden dabei eine Art „Grau- löste zusätzliche Erderwärmung erheblich verrin- schwund zwar prognostiziert – sich dann aber schleier“. Dieser schwächt die Reflexion des gert werden.“c Nick Reimer gewundert, dass die Vorhersage schon zehn Jah- Sonnenlichts ab, heizt die abgelagerten Teilchen TTPrognose www.kurzlink.de/UNEP-Klimastudie re später von der Realität Lügen gestraft wurden. auf und beschleunigt so das Abschmelzen des ANZEIGE NATURpur-Award 2011/2012 Schüler für Zukunftsenergien °C Jetzt anmelden und mitmachen! - 35 - Gesucht werden Ideen rund um die Energiewende und den Klimaschutz. Es gibt 10.000 Euro Preisgelder. - 30 - Teilnehmen können Schüler der Klassen 5 bis 13 sowie - 25 - Berufsschüler: einzeln, im Team oder als Klasse. Anmeldeschluss: 30.09.2011. - 20 - - 15 - Medienpartner: - 10 - - 5 - Infos und Anmeldung unter - 0 - www.naturpur-award.de Preisträger NATURpur-Award 2010/2011 NATURpur Projekt „Die Energiedetektive“ Energieschleudern auf der Spur. Award
Thema phe. Wenn alle Projekte realisiert werden, können nur noch Tier- und Pflanzenarten überleben, die sich mit stehenden Gewässern arrangieren. sozialökologischer Protest Auch das sensible lokale Klima wird sich än- dern. Mildere Temperaturen und höhere Feuch- tigkeit durch die großen neuen Wasserkörper Wenn die „letzte freie Burg“ geflutet wird verheißen weniger Schnee – und damit auch Die Menschen im türkischen Munzurtal wehren sich gegen die Zerstörung ihrer Heimat weniger Schmelzwasser zwischen Juni und Ok- tober: Dann ist die Speisung des Munzur ge- fährdet. Zudem kann es zu einer Entwaldung 2008 in Mannheim beschloss der Bundeskongress der NaturFreunde Deutschlands den hessischen angrenzender Berghänge kommen, wie bereits Antrag „Rettet das Munzurtal“. In diesem heißt es: „Die NaturFreunde Deutschlands verurtei- beim südlich der Provinz Dersim gelegenen Ke- len die Planungen […] zum Bau von insgesamt acht Staudämmen im Munzurtal in der Provinz ban-Stausee geschehen. Tunceli in der Türkei. […] Mit dem Bau werden der Lebensraum von Menschen, Tieren und Pflan- Dersim liegt im kurdisch besiedelten Teil der zen und eine einmalige Landschaft unwiederbringlich zerstört […].“ Türkei und ist eine Enklave der religiösen Min- Angestoßen hatte den Antrag der langjährige Rüsselsheimer NaturFreund Mehmet Kücük: „Ich derheit der Aleviten. Seit der Gründung der tür- wusste, dass sich viele Mitglieder selbst im Ausland für den Naturschutz einsetzen“, erklärt Mehmet. kischen Republik im Jahr 1923 werden die Kur- „Hier geht es auch um die Vertreibung der kurdisch/alevitischen Bevölkerung, denn die hat einen den unterdrückt, selbst ihre Existenz wurde noch starken Bezug zum Munzurtal. Ohne Munzur kann die Region nicht überleben und genau das will bis vor Kurzem geleugnet. Das Alevitentum ist die türkische Regierung erreichen.“ eine Religion, die islamische und naturreligiöse Wie hat sich die Situation im Munzurtal mittlerweile entwickelt? Der Kölner NaturFreund Ulf Elemente zu einer humanistisch geprägten Leh- Petersen hat sich am Munzur umgesehen. re verbindet. Männer und Frauen beten gemein- sam, Alkoholgenuss wird toleriert. Das Aleviten- bIn Mesopotamien, dem sogenannten Zwei- durch den Munzur-Nationalpark in der Provinz tum ist vom türkischen Staat mit seiner sunniti- stromland um die Flüsse Euphrat und Tigris, ist Tunceli – oder Dersim, wie sie von der hier über- schen Mehrheit immer diskriminiert worden. die Kontrolle des Wassers seit jeher strategisch wiegend lebenden kurdischen Bevölkerung ge- Noch Mitte der 1930er Jahre galt Dersim als wichtig. Bereits im Jahr 1982 plante die Türkei im nannt wird. Immerhin 20 Staudamm- und Was- „letzte freie Burg” der Kurden. 1937 kam es zum Rahmen ihres Südostanatolienprojekts 22 große serkraftprojekte sind in der Region geplant. Be- Aufstand unter Führung des Geistlichen Seyid Talsperren, etwa die Hälfte wurde schon gebaut. reits 2009 wurde der Staudamm Uzuncayir Riza. Das kurdische Dersim war kurz zuvor ins International bekannt – und umstritten – ist bei- fertiggestellt: Er lässt den Munzur auf 15 Kilome- türkische „Tunceli“ (Eisenfaust) umbenannt wor- spielsweise der Ilisu-Staudamm: Experten kriti- tern stehen. Weitere Dämme werden auch seine den. Doch die Revolte wurde brutal niederge- sieren die ökologische Zerstörung des Tigris und Nebenflüsse stauen. schlagen, selbst Bomber und Giftgas kamen zum seiner Nebenflüsse auf 400 Kilometern Flusslauf Das hat Folgen: Noch ist die biologische Vielfalt Einsatz. Die Aufständischen beklagten zwischen und die Flutung der antiken Stadt Hasankeyf. im Munzurtal und auf den darüber gelegenen Al- 50.000 und 80.000 Todesopfer. Im nördlichen Einzugsgebiet des Euphrat be- men so hoch wie sonst nur äußerst selten im Mitt- Die darauf folgende „Friedhofsruhe“ sicher- findet sich die türkische Munzur-Region. Der leren Osten. Durch die Stauung der Fließgewässer te das Militär mit einem ständigen Ausnahme- rund 150 Kilometer lange Fluss Munzur fließt droht der Region aber eine ökologische Katastro- zustand. Auch weil ab den 1980er Jahren die Ar- Vielfalt Natürlicher Reichtum Untersuchungen gehen von insgesamt 1.518 verschiedenen Pflanzenarten aus, 55 davon existieren weltweit nur in der Provinz Dersim. Hier leben unter ande- rem Bergziegen und -schafe, Bären, Wölfe, Schakale, Steinmarder, Stinktiere, Dachse, Eidechsen, Schlangen, Luchse, Fischotter, Schildkröten, Geier, Adler, Kraniche, Stör- che, Papageien, Wiedehopfe und Fleder- mäuse. Zudem werden die Berge bedeckt von Tulpen, Hyazinthen, Narzissen, gemei- nen Schneeglöckchen, echten Kamillen, Veilchen, wildem Thymian, wild wachsen- den Apfel-, Birnen- und Pflaumenbäumen. ŇDersims Ň Freunde der Natur auf einer ihrer regelmäßigen Sonntagswanderungen im Munzurtal. SEITE 12 NATURFREUNDiN 3-2011
Thema beiterpartei Kurdistans (PKK) gegen die Unter- drückung kämpfte, wurde 1994 etwa die Hälfte der Dörfer vom türkischen Militär zerstört und 4 Fragen an Nuray Atmaca ihre Einwohner vertrieben. Stadträtin der kurdischen „Partei Noch heute ist Dersim eine Hochburg der Lin- für Frieden und Demokratie” (BDP) ken und wird vom Militär streng bewacht. Die Einheimischen sehen die Staudämme als ei- eNATURFREUNDiN: Wie hat sich der ne weitere Maßnahme zur endgültigen Zerstö- Protest gegen die Staudammprojekte entwickelt? rung und damit „Befriedung“ der Region. Denn Nuray Atmaca: Im Januar 2011 haben et- unter den Staudammprojekten würde nicht nur wa 10.000 Menschen in Dersim demonst- die einmalige Natur leiden: Auch 84 Siedlun- riert. Der Anlass dafür war die Vergabe des großen Staudammprojektes Pülümür an ein gen würden geflutet und ganze Bezirke in die- Konsortium. Das war die zweite große De- ser bergigen Region voneinander abgeschnitten. mo nach der bisher größten im Oktober Darüber hinaus würden viele kulturell wichtige 2009 mit 20.000 Teilnehmern. und für die Aleviten heilige Stätten wie etwa be- eBleiben die Demonstrationen friedlich? stimmte Wasserquellen verloren gehen. Als im September 2010 die Bodenuntersu- „Die ganze Geografie Dersims soll verändert chungen für die Dämme in Kaletepe und Bozkaya beginnen sollten, haben mehr als werden. Ziel ist es, der Guerilla die Verbindungs- 1.000 Menschen die Baumaschinen umge- wege abzuschneiden und noch mehr Menschen stoßen und die Unternehmen vertrieben. zu vertreiben“, empört sich ein lieber ungenannt Sie sind nicht wieder zurückgekommen. bleibender Lokalpolitiker. Für seine Einschät- eWie verhält sich die Politik? zung spricht, dass mit den Staudämmen keiner- Die AKP, die Partei des türkischen Minis- lei Entwicklungsprojekte für die Region verbun- terpräsidenten Erdogan und alle anderen großen Parteien sind für die Projekte. Nur den sind. Es geht nur um die Stromproduktion die BDP, kleinere linke Parteien und die für den Westen der Türkei – insgesamt 534 Me- türkischen Grünen sind konsequent ge- gawatt oder knapp ein Prozent der gegenwärti- gen alle Staudämme in der Türkei. gen türkischen Strom-Kapazität. eWird die Bevölkerung beteiligt? Schon 1930 hatte der damalige türkische Ge- Anfang 2010 und 2011 gab es in drei Or- neralstabschef Fevzi Cakmak vorgeschlagen, die ten Anhörungen zu kleineren Wasser- kraftwerksprojekten. Die betroffene Be- Täler mittels Talsperren zu überfluten, damit ih- völkerung, alle Kommunen in Dersim re Bewohner in ferne und mehrheitlich türkisch und viele Nichtregierungsorganisationen bewohnte Orte umgesiedelt werden können. nahmen teil und haben die Projekte ein- mütig abgelehnt. Bisher wurden sie noch Doch die Bewohner Dersims wollen das auch nicht gebaut.c Fragen Ulf Petersen heute nicht. Sie kämpfen weiter gegen die Stau- dämme und für ihr Munzurtal.c Ulf Petersen TTwww.freemunzur.org ŇIm Ň September 2010 wurde wieder gegen Bodenuntersuchungen für neue Staudämme protestiert. Soldaten mussten die Baufirmen schützen. 3-2011 NATURFREUNDiN SEITE 13
Thema auf einen Blick Politisch beschlossen: die Energiewende Welche Gesetze der Bundestag verabschiedet hat – die wichtigsten Beschlüsse Netzausbau Die Produktion des Grünstroms ist nur die eine Seite der Medaille. Er muss nämlich auch noch dorthin transportiert werden, wo besonders viel Strom verbraucht wird; im Ruhrgebiet etwa oder in den industriellen Kernen in Süddeutschland. Atomausstieg Deshalb hat die Regierung ein „Gesetz zur Be- Mit der 13. Novelle des Atomgesetzes hat der schleunigung des Netzausbaus“ beschlossen. Bundestag ein definitives Ende der nuklearen Bürgerinitiativen können Einwendungen ein- Stromproduktion im Bundesgebiet beschlossen. legen und werden im Genehmigungsverfahren Und er hat diesen Beschluss mit konkreten Da- angehört. Da die neuen Verfahren jeweils nur ten versehen: Am 31. Dezember 2022 ist definitiv sechs Monate dauern, dürfte die Bürgerbeteili- Schluss mit der Atomstromproduktion. gung allerdings nicht allzu intensiv ausfallen.c Acht von 17 deutschen Atomkraftwerken blei- Ausbau der Erneuerbaren ben schon jetzt ausgeschaltet, eines davon soll Im „Gesetz zur Neuregelung des Klimaschutz in Städten und Gemeinden in Reserve weiterlaufen. Für die übrigen Anlagen Rechtsrahmens für die Förderung Die Regierung hatte sich in ihren Koalitionsver- stehen feste Termine im Gesetz, an denen die Be- der Stromerzeugung aus erneuer- trag geschrieben, „Klimaschutz und die Innenent- triebsgenehmigung erlischt. Als nächste Kraftwer- baren Energien“ hat die Regierung wicklung im Bauplanungsrecht zu stärken.“ Im ke folgen der Eon-Reaktor im bayerischen Gra- ihre Ausbau-Ziele für Grünstrom Artikel 1 des „Gesetzes zur Stärkung der klimage- fenrheinfeld am 31. Dezember 2015, Gundrem- festgeschrieben: Bis 2020 sollen rechten Entwicklung in den Städten und Gemein- mingens Block B zum Jahresende 2017, Block 2 in mindestens 35 Prozent des Stroms den“ heißt es nun: „Den Erfordernissen des Kli- Philippsburg 2019. Im Jahr 2021 sollen Gundrem- aus sauberen Quellen stammen, maschutzes soll sowohl durch Maßnahmen, die mingen C, Grohnde und Brokdorf folgen, Isar 2, bis 2040 schon 65 Prozent, bis dem Klimawandel entgegenwirken, als auch Emsland und Neckarwestheim 2 im Jahr 2022. 2050 gar 80 Prozent. durch solche, die der Anpassung an den Klima- Die Linksfraktion scheiterte mit ihrem Antrag, Nach Angaben des Bundesver- wandel dienen, Rechnung getragen werden.“ den Atomausstieg im Grundgesetz zu verankern. bandes der Energie- und Wasser- Das Gesetz enthält eine Klimaschutzklausel, Allerdings ist derzeit keine gesellschaftliche oder wirtschaft werden derzeit bereits die die Festsetzungsmöglichkeiten zum Einsatz politische Mehrheit denkbar, die den Ausstieg 19 Prozent des deutschen Strom- und zur Nutzung erneuerbarer Energien sowie revidieren wollte oder könnte.c bedarfs aus erneuerbaren Quel- von Energien aus Kraft-Wärme-Kopplung erwei- len gedeckt. Die Branche der Er- tert. Will sich also beispielsweise eine Stadt ei- Energiewirtschaftsrecht neuerbaren selbst hält 45 Prozent ne Solarsatzung geben, die bindend vorschreibt, Ziel des Gesetzes ist es unter anderem, die Betrei- Grünstrom im Netz bis zum Jahr 2020 dass jedes neu gedeckte Dach mit einer Solaran- ber der Stromnetze durch sogenannte Entflech- für machbar. lage ausgestattet werden muss, so kann sie das tungsregelungen zu mehr Wettbewerb zu zwin- Die Linksfraktion hatte deshalb gefordert, die nun. Ebenso werden durch die Klausel Sonder- gen, eine gemeinsame Netzausbauplanung aller Regierungspläne nach oben zu korrigieren, der regelungen für die Windenergienutzung einge- Netzbetreiber herbeizuführen und die Fristen beim Antrag wurde aber abgelehnt. Keine Mehrheit fügt und die Nutzung vor allem von Fotovoltaik- Wechsel des Stromlieferanten für die Verbraucher fand auch der Antrag der SPD, den Vorrang für Anlagen an oder auf Gebäuden erleichtert. c zu kürzen. c Erneuerbare im Gesetz festzuschreiben. c SEITE 14 NATURFREUNDiN 3-2011
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