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Raumforschung und Raumordnung | Spatial Research and Planning, 2019; 77(5): 1–18 Beitrag / Article Open Access Karin Wiest, Elisabeth Kirndörfer Paradoxe Aushandlungen von Migration im Diskurs um die Leipziger Eisenbahnstraße Paradoxical negotiations of migration in discourses around the Eisenbahnstraße in the city of Leipzig https://doi.org/10.2478/rara-2019-0030 Eingegangen: 11. April 2018; Angenommen: 1. April 2019 Zusammenfassung: Verschiebungen bzw. wechselseitige Bedingtheiten von neuen gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen im Prozess der Internationalisierung und Diversifizierung von Städten genauer zu betrachten, ist Ziel dieses Beitrags. Mithilfe der Paradoxie im Sinne eines heuristischen Zugangs werden scheinbar widersprüchliche Ein- und Ausschlüsse von Migration in einem langjährigen stadtentwicklungspolitischen Schwerpunktraum der Stadt Leipzig untersucht. Eine Analyse der lokalen Berichterstattung und stadtentwicklungspolitischer Dokumente zeigt, dass im Diskurs um die Leipziger Eisenbahnstraße eine klassische urbane Diskursfigur reproduziert wird. Dabei wird Migration einerseits als produktiver Faktor im Sinne einer ökonomischen Ressource verhandelt und andererseits als Faktor unproduktiver Devianz problematisiert. Da Formen der Inklusion gewünschter Zuwanderung an anderer Stelle an Ausschlüsse und Kontrolle unerwünschter Zuwanderung gekoppelt werden, entstehen paradox erschei- nende diskursive Logiken im Umgang mit einem pluralisierten und stark durch Migration geprägten Stadtraum. Der Ausruf einer Parallelwelt, der an eine zu integrierende Migrationsbevölkerung gerichtet ist, sowie die Beschwörung der „Stadt der Vielfalt“, die eher diffus und damit weitestgehend anonym bleibt, stehen jedoch im Widerspruch zu einer allgemeinen Anerkennung migrationsgesellschaftlicher Realität. Trotzdem oder gerade weil Leipzig eine Vor- reiterrolle im ostdeutschen Kontext in puncto Migration einnimmt, entbehrt sie (noch) der Selbstverständlichkeit und bleibt eine hochgradig sensible Angelegenheit. Schlüsselwörter: Integrationspolitik, postmigrantische Gesellschaft, Mediendiskurs, Stadtentwicklung, Leipzig, Ostdeutschland Abstract: Urban diversity discourses imply paradoxical configurations which, especially on the level of urban neigh- bourhoods, can be read as the inclusion of desired migration in connection with the exclusion of non-desired migra- tion. In order to focus on novel shifts or rather the reciprocal conditioning of social in- and exclusions in the process of the internationalization and diversification of cities, the authors refer to the notion of paradox in the sense of a heuristic approach. Based on this, the paper examines seemingly contradictory in- and exclusions of migration in a long-standing key area of urban development policies. An analysis of the local media coverage and urban deve- lopment documents demonstrates that in the discourse around Leipzig’s “Eisenbahnstraße”, a classical discursive figure is reproduced. It debates migration on the one hand as economic resource and problematises it, on the other, as a factor of unproductive deviance. Because of the fact that forms of social participation are bound to exclusions and control elsewhere, apparently paradoxical discursive logics emerge in the dealing with a pluralised urban space *Corresponding author: Dr. Karin Wiest, Leibniz-Institut für Länderkunde, Schongauerstraße 9, 04328 Leipzig, Deutschland, E-mail: K_Wiest@ifl-leipzig.de Dr. Elisabeth Kirndörfer: Leibniz-Institut für Länderkunde, Schongauerstraße 9, 04328 Leipzig, Deutschland 2017; 1 (2): 122–135 Open Access. © 2019 Karin Wiest, Elisabeth Kirndörfer, published by Sciendo. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.
2 Karin Wiest, Elisabeth Kirndörfer strongly shaped through migration. The fact that the invocation of a “parallel world” is explicitly directed towards a migrant population while the discourse on the “city of diversity” remains diffuse and largely anonymous, contradicts the general recognition of the realities of plural immigration societies. Despite or rather due to Leipzig’s pioneering role as regards to migration in the Eastern German context, migration (still) lacks the matter of course and remains a highly sensitive issue. Keywords: Integration policies, Postmigrant society, Media discourse, Urban development, Leipzig, Eastern Germany 1 Perspektiven auf Migration Instrumentalisierung von Migration als kulturelles und ökonomisches Kapital im Wettbewerb um Fachkräfte und die unternehmerische Stadt und Unternehmensansiedlungen wird daher auch kri- der Vielfalt tisch betrachtet (Rodatz 2014: 36). Insbesondere eine Unterscheidung in nützliche und nicht nützliche Migra- Etwa seit den 2000er-Jahren ist der migrationspolitische tion, die neue Ein- und Ausschlüsse produziert, muss Diskurs in deutschen Städten durch auffällige Perspek- in diesem Zusammenhang kritisch gewertet werden. tivverschiebungen und integrationspolitische Neuaus- So kann die gezielte Ausrichtung auf den Einschluss richtungen gekennzeichnet. Diese Entwicklungen sind der als wirtschaftlich produktiv wahrgenommenen Mig- mit einem Bedeutungsgewinn der kommunalen Ebene ration gleichzeitig die Ausgrenzung jener befeuern, die und mit einem allgemeinen Kurswechsel hin zum Leit- nicht dem dominanten Inwertsetzungsparadigma ent- bild der unternehmerischen Stadt der Vielfalt verknüpft sprechen. Der Diskurs um Migration als Ressource der (Rodatz 2014; Krummacher 2017). Charakteristisch ist in Stadtentwicklung leistet dann unter Umständen Aus- diesem Zusammenhang die Überwindung eines kultura- schlüssen Vorschub, die über eine Ethnisierung sozialer listisch geprägten Integrationsverständnisses, das in der Probleme praktiziert werden. Diese Problematik kommt Tradition einer nationalstaatlich formulierten ‚Defizitpers- unter anderem in Auseinandersetzungen um Fragen der pektive‘ auf Migration stand (Rodatz 2014; Pütz/Rodatz inneren Sicherheit und der kommunalen Ordnungspolitik 2013). Sichtweisen, die Migrationserfahrungen von vorne zum Ausdruck, die häufig in urbane Aufwertungsstrate- herein als Problem konzipierten und daraus einen gene- gien eingelagert sind. rellen integrationspolitischen Förderbedarf ableiteten, Vor diesem Hintergrund liegt dem vorliegenden wurden im Zuge dessen abgelöst von der Betonung von Beitrag die These zugrunde, dass durch die zunehmende Vielfalt als Potenzial städtischer Entwicklungen (Hillmann Pluralisierung und Internationalisierung der Gesellschaft 2011; Hillmann 2018; Bundesregierung 2007; Bundesre- neue, scheinbar widersprüchliche Aushandlungen um gierung 2011). Gleichzeitig beinhaltet dieser diversity turn das Thema Migration an Relevanz in städtischen Dis- eine Individualisierung von Integrationsaufgaben, indem kursen gewonnen haben (Espahangizi/Hess/Karakayali er die Erwartung einer gesellschaftlichen Selbsteinglie- et al. 2016). Entsprechende paradoxe Logiken, wie die derung der Zuwandernden in den Vordergrund seiner Exklusion nichterwünschter Migration bei gleichzeitiger Argumentation stellt und diese zunehmend als zu aktivie- Inklusion von erwünschter Migration, werden im vorlie- rende Stadtbürger anspricht. Die stadtentwicklungspoliti- genden Beitrag als „inclusion through exclusion“ (De sche Zielsetzung, Segregationserscheinungen zu verhin- Genova 2008) bzw. „inklusive Exklusion“ bezeichnet. dern und aufzulösen, wird in dieser Logik umgedeutet: Konkret steht damit das Verhältnis, das zwischen der als So werden durch internationale Migration geprägte wirtschaftlich produktiv angesehenen Migration und der Nachbarschaften zunehmend unter dem Aspekt der Stär- als sozial prekärer geltenden Migration gesetzt wird, im kung lokaler Gemeinschaften und der Produktivität mig- Mittelpunkt der Analyse. Der Beitrag basiert auf Ergeb- rantischer Ökonomien betrachtet. nissen eines von der Deutschen Forschungsgemein- Eine entsprechende kommunalpolitische Neuaus- schaft (DFG) geförderten Forschungsprojektes zum richtung nach dem Motto ‚Integration trotz Segregation‘ Umgang mit Vielfalt in städtischen Kontexten.1 birgt jedoch Risiken, die unter anderem in einer Verla- gerung gesellschaftlicher Exklusionen bestehen können 1 Das DFG-Projekt „Lokal gestrandet, global vernetzt? Umgang mit (Häußermann/Siebel 2007). Eine ökonomisierende Vielfalt an den gesellschaftlichen Rändern der postmigrantischen
Paradoxe Aushandlungen von Migration im Diskurs um die Leipziger Eisenbahnstraße 3 Im Folgenden wird in Kapitel 2.1 zunächst dargelegt, Phänomenen im Kontext urbaner Vielfaltsdiskurse soll warum der Begriff der Paradoxie als eine hilfreiche Heu- sich vielmehr an einem engen Paradoxie-Verständnis ristik dienen kann, um die widersprüchlichen Logiken orientieren. Ziel der Analyse ist es demnach, zunächst im gegenwärtigen Umgang mit dem Thema Migration die Voraussetzungen bzw. Grundlagen zu rekonstruie- aufzuschließen. Als empirisches Fallbeispiel steht mit ren, aus denen scheinbar widersinnige Erscheinungen dem Gebiet um die Eisenbahnstraße ein stadtentwick- im Diskurs um Integration und Vielfalt resultieren, und zu lungspolitischer Schwerpunktraum der Stadt Leipzig im zeigen, „dass und wie das widersprüchliche Zueinander Fokus der Betrachtung (Kapitel 2.2). Um das Fallbei- durch ein und denselben Prozess zustande gekommen spiel in seinen gesamtstädtischen Kontext einordnen zu ist“ (Hartmann 2002: 237). Auf einer sehr allgemeinen können, werden in Kapitel 3 zentrale Merkmale der Leip- Ebene lässt sich dieser Prozess, auf dem die oben ziger Migrationsgeschichte und der kommunalen Integ- angedeutete paradoxe Diskurskonfiguration inklusiver rationspolitik dargestellt. Im empirischen Teil (Kapitel 4) Exklusionen von Migration beruht, als gesellschaftli- werden diskursive Logiken einer ‚inklusiven Exklusion‘ che Pluralisierung infolge von Migrationsbewegungen von Migration auf der Grundlage der medialen Bericht- bezeichnen. erstattung und stadtentwicklungspolitischer Aussagen Die Debatte um das Postmigrantische greift diese über die Eisenbahnstraße analysiert. Während in Kapitel gesellschaftliche Transformation auf. Sie rückt „[…] die 4.2 zunächst die medialen Konstruktionen migrantisch empirische Tatsache ins Zentrum […], dass Migration markierter Akteure beleuchtet werden, liegt der Analy- nicht als Ausnahme von nationalen Vergesellschaf- sefokus in Kapitel 4.3 auf den an den Faktor Migration tungsprozessen begriffen werden kann, sondern zent- geknüpften Imaginationen von Stadtgesellschaft und rale Normalität von Gesellschaft ist“ (Espahangizi/Hess/ urbanem Zusammenleben. Diese Ergebnisse werden in Karakayali et al. 2016: 15). So haben die „Bewegungen Kapitel 5 mit einem besonderen Fokus auf multiskalare der Migration […] zu einer umfassenden Pluralisierung Aushandlungen von Migration im ostdeutschen Kontext der Gesellschaft und der gelebten Selbstverständlichkeit zusammengefasst. von Mehrfachzugehörigkeiten geführt“ (Espahangizi/ Hess/Karakayali et al. 2016: 15). Diese Pluralisierung als übergreifender gesellschaftlicher Prozess bringt jedoch zweierlei sich scheinbar widersinnig zueinander verhal- 2 Charakterisierung von Para- tende Effekte hervor: Einerseits „neue Partizipations- doxien postmigrantischer möglichkeiten von (ehemals) Eingewanderten und ihren Nachkommen, wie auch neue Möglichkeiten, Diskrimi- Stadtgesellschaften nierung und rassistische Ausschlüsse zurückzuweisen und juristisch zu bekämpfen“ (Espahangizi/Hess/Kara- 2.1 Zum Begriff der Paradoxie kayali et al. 2016: 15). Andererseits bringt die pluralisierte Gesellschaft auch neuartige Formen der Exklusion und Um neuartige Verschiebungen bzw. Gleichzeitigkei- Praktiken der Regulierung und Kontrolle von migrations- ten von gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen im bedingten Dynamiken hervor. Aus der Perspektive der Prozess der Internationalisierung und Diversifizierung Postmigration ist die durch Migration geprägte plurale von Städten genauer zu betrachten, wird im Folgenden Gesellschaft eine, „in der die institutionelle und alltäg- auf den Begriff der „Paradoxie“ im Sinne einer „Heu- liche Reproduktion von Rassismus nicht einfach ver- ristik für die empirische, rekonstruktive Aufschließung schwindet, sondern neue Formen und Wege nimmt“ typischer Gegenwartsphänomene“ (Honneth/Sutterlüty (Espahangizi/Hess/Karakayali et al. 2016: 15). Vertreter 2011: 69; vgl. Kemper/Vogelpohl 2013: 223) zurückge- der postmigrantischen Perspektive plädieren deshalb griffen. Ziel ist es dabei, nicht nur Paradoxien im Sinne dafür, „den Standpunkt der Migration selbst einzuneh- eines breiten Begriffsverständnisses zu nutzen, „um Dis- men und sie als eine zentrale, die gesamte Gesellschaft sonanzen, Spannungen, Widersprüche zwischen zwei prägende und verändernde Dynamik darzustellen“ (und mehr) Sachverhalten […] ansprechen und unter- (Hess 2015: 60). Gleichzeitig begreifen sie Migration suchen zu können“ (Kemper/Vogelpohl 2013: 221). Die als ein „sozial hergestelltes und vermitteltes Verhältnis“, Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Logiken und das es ohne „die diversen Politiken und Versuche, sie zu steuern, zu verwalten, zu vermessen, zu bebildern Stadt“ wurde von 2016 bis 2019 am Leibniz-Institut für Länderkunde und zu deuten“ (Hess 2015: 60) nicht geben würde. Vor bearbeitet. diesem Hintergrund sollen im Folgenden entsprechende
4 Karin Wiest, Elisabeth Kirndörfer Widersprüche im Kontext urbaner Vielfaltsdebatten an deadresse von Anwohnern aus mehr als 70 Nationen“ einem konkreten Fallbeispiel herausgearbeitet werden. (Pollmer 2017: 3). Innerhalb Leipzigs wird das Gebiet Im medialen und kommunalpolitischen Diskurs um den um die Eisenbahnstraße, nicht zuletzt bedingt durch sozialräumlichen Wandel des Leipziger Ostens und hier den überdurchschnittlich hohen Anteil an Bewohnern insbesondere im Gebiet um die Eisenbahnstraße, sind mit Migrationshintergrund, als problematisch und sozial die skizzierten paradoxen Aushandlungen von Migration abgewertet stigmatisiert. Gleichzeitig ist es zunehmend in besonderer Weise zu identifizieren. in den Fokus von Investoreninteressen und Aufwer- tungsstrategien geraten. Im vorliegenden Beitrag wird die Aushandlung und 2.2 Gründe für die Auswahl des Problematisierung von Migration im medialen und lokal- Fallbeispiels Eisenbahnstraße und politischen Umgang mit dem Quartier unter folgenden Fragestellung Fragestellungen analysiert: –– Welche scheinbar widersprüchlichen gesellschaft- Während die Auseinandersetzung mit kommunalen lichen Ein- und Ausschlüsse werden durch unter- Integrations- und Migrationspolitiken in westdeutschen schiedliche diskursive Verknüpfungen von migran- Städten bereits eine längere Tradition aufweist, standen tisch markierten Akteuren mit dem Gebiet um die entsprechende Politiken in ostdeutschen Kommunen, Eisenbahnstraße erzeugt? vor allem bedingt durch die lange Zeit vorherrschende –– In welchem Verhältnis stehen diese In- und Exklu- Abwanderungsproblematik, bislang erst wenig im Fokus. sionen zueinander und inwieweit bedingen sie sich Sowohl ein angenommener ‚Nachholbedarf‘ in Sachen – im Sinne eines engen Paradoxieverständnisses – kommunaler Migrations- und Integrationspolitik als auch gegenseitig? die öffentliche Debatte um eine geringe Toleranz und ausgeprägtere Formen des Rassismus verweisen auf Unserer Analyse liegt die These zugrunde, dass ent- einen erhöhten Forschungsbedarf im Gebiet der neuen sprechende Aushandlungen von Migration im Gebiet um Bundesländer (Münch 2013). Die Stadt Leipzig, deren die Eisenbahnstraße erst in ihrem gesamtstädtischen demographische Entwicklung zum einen durch starke Kontext nachvollziehbar werden. Daher wird im folgen- Abwanderungsprozesse in der Nachwendezeit geprägt den Kapitel zunächst ein kurzer Überblick über die Mig- war, die aber gegenwärtig durch starkes Einwohner- rationsgeschichte der Stadt Leipzig und die Etablierung wachstum gekennzeichnet ist und im ostdeutschen der kommunalen Integrationspolitik seit der Wiederver- Kontext als Vorreiter in Sachen internationale Zuwan- einigung gegeben. derung gilt, wird in diesem Zusammenhang als ein loh- nendes Untersuchungsbeispiel betrachtet. Politische und mediale Aushandlungen um den Faktor Migration fokussieren sich dabei innerhalb der Stadt in besonderer 3 Leipzig im ostdeutschen Weise auf das Gebiet um die Eisenbahnstraße im öst- Kontext – Vorreiter und Sonder- lichen Innenstadtrandbereich (vgl. Abbildung 1). Dieser Stadtraum ist einerseits ein langjähriger Schwerpunkt- fall in Sachen Migration raum der Leipziger Stadtentwicklung mit dem Ziel, bauli- In der Leipziger Stadtentwicklungspolitik haben die che und soziale Aufwertungen zu initiieren. Andererseits Themen Migration und Integration in den letzten Jahren repräsentiert das Gebiet etwa seit Ende der 1990er- deutlich an Aufmerksamkeit gewonnen (Budnik/Groß- Jahre einen zentralen Anziehungspunkt der internatio- mann/Haase et al. 2017: 45 f.). Dieses Interesse, das mit nalen Migration (Stadt Leipzig 2013b) und wird dadurch veränderten Perspektiven auf die Stadtgesellschaft und als eine Art Ausnahmephänomen innerhalb der neuen neuen planungspolitischen Aufgaben verknüpft ist, steht Bundesländer wahrgenommen. im deutlichen Zusammenhang mit spezifischen Umbrü- Die dort anzutreffende und für Städte in Ostdeutsch- chen in Leipzigs demographischer Entwicklung. land als untypisch geltende Situation wird in den über- regionalen Medien unter anderem folgendermaßen cha- rakterisiert: „Dort, im türkischen Café Brothers, sitzt man im Zentrum der Anomalie, wie es sie kein zweites Mal gibt im deutschen Osten. Diese Anomalie heißt Eisen- bahnstraße, sie ist etwa 1,4 Kilometer lang und Mel-
Paradoxe Aushandlungen von Migration im Diskurs um die Leipziger Eisenbahnstraße 5 3.1 Demographische Rahmenbedingungen graphischen Gegebenheiten lassen sich dahingehend auslegen, dass internationale Migration in Leipzig (noch) Bis Ende der 1990er-Jahre hatte Leipzig mit den für ost- in stärkerem Maße dazu prädestiniert ist, als Abwei- deutsche Kommunen typischen Strukturproblemen zu chung von der gesamtstädtischen Norm interpretiert zu kämpfen, die mit starken Abwanderungsbewegungen werden. Diese Annahme wird durch ausgeprägte Segre- einhergingen und mit einem stagnierend geringen Mig- gationstendenzen innerhalb Leipzigs unterstrichen. So rantenanteil verbunden waren. Darüber hinaus lagen die ist im Vergleich deutscher Großstädte eine Ungleichver- geringen Anteile an Stadtbewohnern internationaler Her- teilung auf der Grundlage sozialstatistischer Indikatoren kunft auch in den Nachwirkungen der Migrationspolitik wie Arbeitslosenquote und Bildungsabschlüssen, aber der DDR begründet, die Zuwanderung aus dem Ausland auch der Bewohner mit Migrationshintergrund in ost- sehr restriktiv handhabte und nur zeitlich befristet deutschen Städten wie Leipzig besonders stark nach- ermöglichte (vgl. z. B. Philipps/Rink 2009: 400; Münch weisbar (Dohnke/Seidel-Schulze/Häußermann 2012; 2013: 263). Vor dem Hintergrund massiver Schrump- Helbig/Jähnen 2018). fungserfahrungen in den 1990er-Jahren und dem Ein- Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass, druck einer zunehmenden Alterung der Bevölkerung obwohl der Anteil an Einwohnern mit ausländischem wurde der Stellenwert der internationalen Zuwanderung Pass oder Migrationshintergrund in Leipzig im Bundes- in der Stadtentwicklungspolitik bis in die 2000er-Jahre, vergleich immer noch niedrig ausfällt, keine andere ost- im Unterschied zu den Erfahrungen westdeutscher deutsche Großstadt – mit Ausnahme von Berlin – einen Kommunen, zunächst als eine wichtige Option im Kampf höheren Anteil an Bewohnern internationaler Herkunft gegen Leerstände und Verödung wahrgenommen (z. B. vorzuweisen hat.3 Die Kommune hat sich dementspre- Stadt Leipzig 2006: 7; Stadt Leipzig 2013a: 29). In den chend in puncto internationale Zuwanderung zuneh- frühen 2000er-Jahren änderten sich jedoch die stadtent- mend zum Vorreiter innerhalb der neuen Bundesländer wicklungspolitischen Rahmenbedingungen mit langsam entwickelt. steigenden Einwohnerzahlen. Heute gilt Leipzig mit einem jährlichen Wanderungs- gewinn von mehr als 10.000 Einwohnern als die derzeit 3.2 Kommunale Strategien: Sozialraum- am schnellsten wachsende Großstadt Deutschlands. fokussierung und Potenzialdiskurs Gleichzeitig hat sich die soziale Zusammensetzung der Zuwandernden gewandelt. Während in den 1990er-Jah- Als eine Reaktion auf die wachsende Bedeutung migrati- ren vor allem Zuzüge aus den neuen und alten Bundes- onspolitischer Fragestellungen in der Leipziger Kommu- ländern dominierten, wird die Stadt insbesondere seit nalpolitik können die am 19. Januar 2011 beschlossenen 2010 im starken Maße durch internationale Wanderungs- „Leitlinien zur Integration der Migrantinnen und Migran- bewegungen geprägt. So ist der Anteil der Bewohner ten“ betrachtet werden. Im Jahr 2013 kann die Stadt mit Migrationshintergrund in den letzten Jahren deutlich dann auch ihr erstes übergreifendes Integrationskonzept angestiegen (2000: 6 %, 2010: 8 %, 2014: 11 %, 2017: vorweisen (Stadt Leipzig 2013a). Die darin formulierten 14 %).2 Besonders bemerkenswert ist die starke Ver- Handlungsfelder greifen im Sinne der Potenzial-, Netz- jüngung der Stadtbevölkerung durch die internationale werk- und Sozialraumorientierung zentrale Trends der Migration. Durch das ausgeprägte Geburtendefizit der kommunalen Steuerung von Integration entsprechend letzten Jahrzehnte und die langjährigen negativen Wan- dem Leitbild der unternehmerischen Stadt der Vielfalt derungssalden vor allem in den 1990er-Jahren zeichnet auf (vgl. Pütz/Rodatz 2013). Gleichzeitig beziehen sich sich die Leipziger Bevölkerung, die in der amtlichen Sta- alle strategischen Zielbereiche der Stadtentwicklung, tistik „ohne Migrationshintergrund“ geführt wird, durch wie die Verbesserung der Lebensqualität, ein Bestehen ein relativ hohes Durchschnittsalter aus (2015: 44,5 im Wettbewerb, die Stärkung der Internationalität sowie Jahre). Demgegenüber steht das mit 31 Jahren geringe die Sicherung der sozialen Stabilität, auch auf Fragen Durchschnittsalter der statistisch als Migranten geführ- der Integration von Migranten und der Interkulturalität ten Bevölkerungsteile (Stadt Leipzig 2016: 10). Im Unter- (Stadt Leipzig 2013a: 6; Stadt Leipzig 2017). Integration schied zur Situation in westdeutschen Städten sind die ist so in Leipzig zu einer Querschnittsaufgabe geworden, Vertreter der zweiten und dritten Migrantengenerationen in Leipzig unterrepräsentiert. Diese spezifischen demo- 3 Vgl. https://service.destatis.de/DE/karten/migration_integration_ 2 Mitteilung des Amtes für Statistik und Wahlen der Stadt Leipzig. regionen.html (08.02.2019).
6 Karin Wiest, Elisabeth Kirndörfer „die alle Bereiche der Stadtentwicklung umfasst“ (Stadt nach dem grundsätzlichen Verständnis gesellschaftli- Leipzig 2009: 12). cher Teilhabe und Partizipation innerhalb der Leipziger Stadtgesellschaft. Zuwanderung als demographischer und ökonomischer Wachstumsfaktor Sozialraumorientierung: Das Programmgebiet „Leipziger Osten“ im Fokus Das Leitbild der „weltoffenen und toleranten Stadt“ wird im Kontext der Leipziger Integrations- und Stadtent- Entsprechend dem Leitmotiv „Integration findet vor wicklungspolitik oft als eine zentrale Bezugsgröße kom- Ort statt“ repräsentiert auch in Leipzig die Ebene des munalpolitischen Argumentierens herangezogen (z. B. Quartiers die zentrale integrationspolitische Handlungs- Stadt Leipzig 2006). Historisch untermauert wird dieses ebene (Bommes 2008; Leipzig 2017: C 2-5 12). Diese Bild unter anderem mit der traditionellen Messe- und sozialraumorientierte Integrationspolitik setzt unter dem Handelsfunktion der Stadt, die Leipzig bereits vor der Gesichtspunkt der sozialen Stabilität und der Quar- Wiedervereinigung als internationaler orientiert als den tiersentwicklung zunehmend auf die Aktivierung von Rest der DDR erscheinen ließ. Mit dem strategischen lokalen Akteuren, Netzwerken und Gemeinschaften und Ziel, Internationalität zu stärken und sich klar als pro- wird unmittelbar mit wirtschaftlicher Prosperität in Bezie- gressive europäische Großstadt zu positionieren, wird in hung gesetzt (Stadt Leipzig 2009: 45 f.; Stadt Leipzig starkem Maße auf die positive Bedeutung von Zuwan- 2013a: 60). Entsprechende stadtentwicklungspolitische derung im Allgemeinen und internationaler Migration im Perspektiven auf internationale Migration fokussieren in Speziellen im Sinne des Potenzialdiskurses abgehoben Leipzig in starkem Maße auf den Programmraum Leip- (Stadt Leipzig 2017: A-15). Bereits im Bericht des Aus- ziger Osten und hier besonders auf das Gebiet um die länderbeauftragten von 2006 und unter dem starken Eisenbahnstraße (vgl. Abbildung 1). Hier wurden zuneh- Eindruck demographischer Schrumpfungserfahrungen mend ab der Jahrtausendwende über eine Kombination wurden die Bedeutsamkeit und Notwendigkeit der inter- aus unterschiedlichen Förderprogrammen entschei- nationalen Zuwanderung vor allem mit zunehmenden dende soziale und bauliche Veränderungen in Gang Zwängen der zwischenstädtischen Konkurrenz begrün- gesetzt. Ein zentrales Instrument stellt diesbezüglich det. „Angesichts der Globalisierung der Wirtschaft und die Aufnahme des Gebietes im Bund-Länder-Programm der demografischen Entwicklung muss sich die Stadt „Soziale Stadt“ ab 1999 dar. Die damit verbundene För- Leipzig verstärkt den Herausforderungen der gegen- derung aus EFRE4- Mitteln (2000) sowie Förderungen wärtigen und zukünftigen Integration von Migrant/-innen über das Bundesprogramm „Bildung, Wirtschaft, Arbeit stellen, will sie im internationalen Wettbewerb der Städte im Quartier (BIWAQ)“ gaben einen wichtigen Anschub und Regionen bestehen. Denn ein weltoffenes, integrati- für die Stadtteilentwicklung. onsfreundliches Klima und die interkulturellen Angebote Neben baulichen Maßnahmen zur Verbesserung einer Stadt sind ‚weiche‘ Standortfaktoren, die man nicht des Erscheinungsbildes und des Stadtteilimages zielten unterschätzen darf“ (Stadt Leipzig 2006: 65). die Maßnahmen insbesondere auf die Aktivierung der Gleichzeitig verdeutlichen Integrations- und Stadt- lokalen Bevölkerung sowie auf die Vernetzung lokaler entwicklungskonzepte, dass Fragen der Integration Akteure ab (Gerkens/Hochtritt 2010: 229 ff.). Darin und Migration in starkem Maße unter ökonomischen kündigt sich bereits eine für die Soziale-Stadt-Program- Aspekten verhandelt werden, nämlich im Hinblick auf matik typische Perspektivverschiebung an. So wird das gesamtstädtische Image, die nationale und interna- eine Gleichsetzung der Hauptzielorte der Migration mit tionale Sichtbarkeit sowie in Bezug auf Unternehmens- ‚Problemorten‘ zunehmend kritisch hinterfragt und in ansiedlungen und Fachkräftezuzug (z. B. Stadt Leipzig stärkerem Maße auf den Einbezug und die Aktivierung 2013a: 29 ff.; Stadt Leipzig 2013b: 27 ff.). Die Realisie- von Bewohnern gesetzt, wie zum Beispiel über die För- rung von Weltoffenheit und Toleranz, auf die sich die derung von sozialen und kulturellen Initiativen oder von strategischen Konzepte beziehen, wird dabei an eine Unternehmensgründungen (Weber 2013; Beer 2015). Im vorausgesetzte Existenz gemeinsamer, gesellschaft- Leipziger Osten wird in diesem Zusammenhang insbe- lich geteilter Werte und Normen gekoppelt. Offen bleibt sondere den sogenannten migrantischen Ökonomien dabei, nicht zuletzt unter dem Aspekt einer umstrittenen eine große Bedeutung zugeschrieben. Deren Leistungs- einseitigen Anpassung der Migranten an eine vermeintli- che Mehrheitsgesellschaft (Terkessidis 2010), die Frage 4 EFRE = Europäischer Fonds für regionale Entwicklung
Paradoxe Aushandlungen von Migration im Diskurs um die Leipziger Eisenbahnstraße 7 Abbildung 1: Internationale Wanderungsdynamik auf der Ebene der Ortsteile und Lage des Programmraums „Leipziger Osten“
8 Karin Wiest, Elisabeth Kirndörfer vermögen soll für die Quartiersentwicklung gezielt ein- räume zukommt (Friedrich 2017: 116), erfolgt zunächst gesetzt und im Sinne der Wertschöpfungskette der Stadt ein quantitativer Überblick über die Entwicklung der aktiviert werden (Stadt Leipzig 2013b: 27). Gleichzeitig Intensität und die thematische Ausrichtung der medialen wird am Beispiel dieses Programmgebietes deutlich, Berichterstattung. Im Anschluss werden ausgewählte dass sich die dem Paradigma der Vielfaltspolitik und Zeitungsartikel sowie eine Multimedia-Reportage ver- der Potenzialorientierung folgenden Integrationsstrate- tieft analysiert und stadtentwicklungspolitischen Aussa- gien weiterhin mit Perspektiven überlagern, die auf die gen gegenübergestellt. Im Mittelpunkt der Betrachtung Steuerung eines Defizitraumes ausgerichtet sind. Ent- stehen unter anderem Fragen nach den paradoxen sprechende Mehrdeutigkeiten zwischen einerseits Pro- Wechselbeziehungen und Bedingtheiten zwischen quar- blemraum, andererseits „Integrationstor“ (Stadt Leipzig tiersbezogenen Aufwertungspolitiken im Gebiet um die 2013b: 77) bzw. erwünschtem „Ankunftsquartier“, das Eisenbahnstraße, der allgemeinen Bejahung von Viel- den Übergang der Zuwandernden in die Stadtgesell- falt im öffentlichen Diskurs und den Mechanismen einer schaft erst möglich macht, liegen unter anderem dem „inklusiven Exklusion“ von Migration unter sozial indivi- von der EU geförderten und quartiersbezogenen Projekt dualisierenden Bedingungen. „Arbeitsläden – Schnittstelle für neue Arbeit im Quar- tier“ zugrunde: „Der Leipziger Osten fungiert heute als ‚Ankommensstadtteil‘ und bildet quasi das Integrations- 4.1 Empirische Grundlage und Aushand- tor zur Stadt Leipzig: Neuankömmlinge lassen sich hier lungsfelder im öffentlichen Diskurs nieder, bauen eine Existenz auf, finden Arbeit und ver- lassen den Stadtteil, sobald sie dazu wirtschaftlich in der Entsprechend den dargestellten demographischen und Lage sind. Vor Ort verbleiben die wirtschaftlich Schwa- stadtentwicklungspolitischen Entwicklungen in Leipzig, chen und es folgen weitere Neuankömmlinge“ (Behling die vor allem ab 2010 eine wachsende Bedeutung mig- 2019: 80). Entsprechende Perspektiven sowie eine Art rationspolitischer Fragestellungen erkennen lassen (vgl. Akzeptanz bereits eingetretener Segregationserschei- Kapitel 3.2), fokussiert sich die folgende Betrachtung nungen kommen auch im Leipziger Integrationskonzept auf die lokale Berichterstattung der Jahre 2010 bis ein- zum Ausdruck, wenn es um die sozialräumlichen Pro- schließlich 2016. Für diesen Zeitraum wurde unter den zesse in diesem Stadtraum geht (Stadt Leipzig 2013a: Schlagworten „Migra*tion“, „Integration“ und „Vielfalt“ 61). Der öffentliche, das heißt der mediale und kommu- eine Recherche in lokalen Zeitungsmedien durchge- nalpolitische Diskurs um den Leipziger Osten themati- führt. Von den insgesamt rund 1.000 Zeitungsartikeln, siert bzw. problematisiert somit nicht nur städtebauliche die diesbezüglich in einem lokalen, Leipzig-spezifischen und gesellschaftliche Verhältnisse, sondern transportiert Kontext der Berichterstattung standen, thematisiert etwa die Präsenz von Migrationsphänomenen implizit bzw. ein Drittel (289 Artikel) Ereignisse im Gebiet um die explizit weiterhin mit (Geisen/Riegel/Yildiz 2017: 4). Trotz Eisenbahnstraße. Die Leipziger Volkszeitung (LVZ) als einer allgemeinen programmatischen Bejahung von einzige lokale Tageszeitung Leipzigs sowie die seit 2004 Vielfalt werden, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, erscheinende Leipziger Internetzeitung (L-IZ) als erste auf diese Weise ungewollt neue gesellschaftliche Ein- internetbasierte tagesaktuelle Regionalzeitung wurden und Ausschlüsse reproduziert. dabei als wichtigste Medien herangezogen. Die lokale Berichterstattung wurde durch einzelne Reportagen in überregionalen Zeitungen (z. B. Süddeutsche Zeitung, 4 Dynamiken der „inklusiven Die Zeit, taz, Neues Deutschland) und im Fernsehen (ProSieben, ZDF) ergänzt. Diese reflektieren nicht Exklusion“ am Beispiel des Dis- zuletzt die überlokale Aufmerksamkeit, die der Eisen- kursraumes Leipziger Osten bahnstraße von journalistischer Seite zugeschrieben wird. Ausgehend von wechselseitigen Einflüssen zwischen Die quantifizierende Darstellung der Berichterstat- medialen und stadtentwicklungspolitischen Diskursen tung zeigt, wie intensiv im untersuchten Zeitabschnitt bilden im Folgenden Dokumente der Stadtentwicklungs- berichtet wurde und in welchen Kontexten dieser Stadt- politik und Zeitungsartikel über die Leipziger Eisenbahn- raum thematisiert wurde. Abbildung 2 lässt ab 2013 eine straße die empirische Basis der Analyse. Da den Medien deutlich ansteigende Anzahl an Artikeln erkennen. Mit in den öffentlichen Debatten eine zentrale Position bei Berichten über eine bewaffnete Auseinandersetzung der Aufmerksamkeitsgenerierung um einzelne Stadt- zwischen zwei Familien im Sommer 2014 erreichte das
Paradoxe Aushandlungen von Migration im Diskurs um die Leipziger Eisenbahnstraße 9 Abbildung 2: Die Eisenbahnstraße in der Presse 2010-2016: Intensität der Berichterstattung journalistische Interesse an diesem Stadtraum einen vor- turen und Angeboten im Leipziger Osten“ erlebbar zu läufigen Höhepunkt. In der Folge (August 2014) wird in machen, „die so bunt (sind) wie die Menschen, die hier der Eisenbahnstraße ein Polizeiposten eingerichtet, der zu Hause sind“.5 das Sicherheitsgefühl im Quartier erhöhen soll (Kreuz Um Hinweise darauf zu erhalten, inwieweit unter- 2014). Zu Beginn des Jahres 2015 wird des Weiteren schiedliche Perspektiven auf Migration durch spezifische intensiv über Konflikte an einer Grundschule berichtet, sprachliche Verknüpfungen in der Berichterstattung her- die generell als Versagen der Integrationsbemühungen gestellt werden, wurde zunächst überprüft, in welchen im Quartier interpretiert werden (Welters 2015). Erneut thematischen Kontexten die Begrifflichkeiten „Migration“ in die Negativschlagzeilen geriet die Straße im Sommer und „Vielfalt“ überwiegend zum Einsatz kommen. Gene- 2015 mit einem tödlich endenden Konflikt zwischen zwei rell wird der Begriff „Vielfalt“ deutlich seltener benutzt als Motorradclubs (o.V. 2016). Neben diesen teilweise stark Begriffe im Feld „Migra*tion“ (vgl. Abbildung 3). Zudem sensationsorientierten Meldungen behandelt eine Viel- sind verschiedene Themenverschränkungen erkennbar: zahl von (kleineren) Artikeln und Mitteilungen den städ- Während Migration besonders im Zusammenhang mit tebaulichen Wandel sowie die Aktionen der zahlreichen „Kriminalität“ diskutiert wird, findet „Vielfalt“ vor allem im sozialen und kulturellen Initiativen im Quartier. In diesen Kontext von „Kunst und Kultur“ Verwendung. Die Begriffe Bereich fällt auch die Thematisierung des seit 2002 jähr- lich stattfindenden „OSTLichterfestivals“, das in seiner 5 https://www.leipzig.de/freizeit-kultur-und-tourismus/kunst-und- Selbstbeschreibung darauf abzielt, „die Vielfalt an Kul- kultur/stadtteil-und-soziokultur/ostlichter/ (08.02.2019).
10 Karin Wiest, Elisabeth Kirndörfer Abbildung 3: Die Begriffe „Migration“ und „Vielfalt“ in Zeitungsartikeln über die Eisenbahnstraße: Themenkontexte „Vielfalt“ und „Migration“ markieren somit tendenziell „Problemkiez“ oder „Multikulti-Viertel“ auch die lokalen zwei unterschiedliche Erzählungen über das Viertel (vgl. Bewohner einschließt, die so als soziale Kollektive mit Abbildungen 2 und 3). In Artikeln, die den Wandel des bestimmten Verhaltensmustern etikettiert werden (Lanz Quartiers und seine Potenziale thematisieren, kommt 2007: 150; Friedrich 2017). Als wichtige erklärende und der Begriff der „Vielfalt“ verstärkt zum Tragen. Er wird strukturierende Größen dienen dabei, wie in Kapitel 4.2 jedoch auf unterschiedliche Weise interpretiert und hebt gezeigt wird, auch „Migration“ und „Herkunft“, die sowohl sowohl auf kulturelle Gestaltungsfreiräume, Kunst als implizit als auch explizit in unterschiedlichen Kontexten auch auf ein positives Nebeneinander der nicht genauer der Berichterstattung zugrunde gelegt werden. In der spezifizierten „Kulturen“ ab. Charakteristisch für diese folgenden qualitativ-interpretativen Analyse einiger aus- Erzählung ist die Betonung des friedlichen und kreati- gewählter Zeitungsartikel und einer LVZ-Multimedia- ven Zusammenspiels von Internationalität, unterschied- Reportage (2017) werden entsprechende Muster und lichen Lebensstilen und kultureller Vielfalt, die vor allem ihre paradoxen gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüsse mit dem Bild des „Multikulti-Kiez“ (z. B. LVZ-Multimedia- genauer betrachtet. Reportage 2017) gefasst wird. Die Verschränkung der beiden geschilderten Narra- Das Begriffsfeld „Migra*tion“ sowie damit verknüpfte, tive über den Leipziger Osten, in denen Migration und insbesondere nationale Markierungen finden sich Vielfalt einerseits als Abweichung und andererseits als dagegen quantitativ häufiger in der Berichterstattung Ressource verhandelt werden und die unter anderem um die Kriminalitätsproblematik im Leipziger Osten (vgl. in dem Titel der ZDF-Dokumentation „Eisenbahnstraße Abbildung 3). Diese thematischen und begrifflichen Ver- Leipzig – Crimespot oder Multikulti-Wunderland?“ (2016) knüpfungen stehen gleichzeitig im Zentrum des diskursi- prototypisch zusammengebracht wurden, lässt sich ven Deutungsrahmens „Problemkiez“. Wesentlich ist in zunächst als eine bekannte urbane Diskursfigur lesen. diesem Zusammenhang, dass die Produktion entspre- Anliegen der folgenden Ausführungen ist es, diese Dis- chender, von außen herangetragener Raumbilder wie kursfigur als eine wirkmächtige Konstruktion zu analy-
Paradoxe Aushandlungen von Migration im Diskurs um die Leipziger Eisenbahnstraße 11 sieren, auf deren Grundlage Migration im Diskurs der Die Multimedia-Reportage über die Eisenbahn- Stadt Leipzig differenziert, hierarchisiert und in- bzw. straße lässt zunächst Betreiber eines internationalen exkludiert wird. Die Möglichkeit einer entsprechenden Supermarkts, „den ältesten Dönermann auf der Straße“, Paradoxie-Behauptung soll daher im Folgenden nicht und eine Ladeninhaberin, die „Kleidung für kopftuchtra- nur genutzt werden, um das Aufeinandertreffen unter- gende Frauen“ verkauft, zu Wort kommen. Stereotype schiedlicher Logiken aufzuzeigen, sondern auch, um werden in diesem diskursiven Einschluss nicht dekons- „die Einheit bzw. Genese zu vergegenwärtigen, durch truiert, sondern bleiben – wie das Kopftuch, der Döner, die Sachverhalte als paradox erscheinen bzw. paradoxe die frische Minze – wirkmächtige Devianzmarker. Ein- Verläufe gesellschaftlicher Entwicklung zu konstatieren schluss und Veränderung schließen einander nicht aus. sind“ (Kemper/Vogelpohl 2013: 223; vgl. auch Kapitel Der Beitrag dieser migrantisch markierten Akteure zur 2.1). Eine entsprechende paradoxe Diskursformation Stadtgesellschaft ist relativ eindeutig dem (internationa- wird somit als ein spezifisches Moment gegenwärtiger len) Warenverkehr zugeordnet. Demgegenüber geben urbaner Vielfaltsdiskurse betrachtet, über die Verschie- die als ‚deutsch‘ Porträtierten Einblicke in sehr diverse bungen in der diskursiven Vermittlung gesellschaftlicher Beschäftigungsfelder und Branchen. Sie betätigen Ein- und Ausschlüsse über den Faktor Migration deutlich sich im künstlerischen Feld (ein Galerist, ein Rapper), werden können. im lokalen Bürgerverein, in integrativen Sportprojekten (Boxclub), in der Wohltätigkeitsbranche (Leipziger Tafel) und im Bereich öffentliche Sicherheit (Polizeiposten). 4.2 Einschluss durch Abgrenzung und Dass sich dieser hier deutlich werdende gesell- Kontrolle? Die diskursive Konstruktion schaftliche Einschluss von Migration über die Verqui- migrantisch markierter Akteure ckung mit Stadtökonomie nicht nur auf die mediale Berichterstattung beschränkt, zeigt sich auch in den Um sich der Frage anzunähern, welche Rolle migran- strategischen Argumentationen der Leipziger Stadtent- tisch markierte Akteure in der Berichterstattung über die wicklung, die vor allem im Leipziger Osten auf die För- Eisenbahnstraße im Leipziger Osten spielen und welche derung migrantischer Ökonomien setzt, „um Wirtschafts- Hierarchisierungen dadurch erzeugt werden, kann die kraft, Versorgungswirkung und Beschäftigungseffekte Multimedia-Reportage „Vom Drogenkiez zum Künstler- dieser Unternehmen besser nutzen zu können“ (Stadt treff“, die im Herbst 2017 als Online-Format der Leipziger Leipzig 2013b: 27). Stadtentwicklungspolitisch wird der Volkszeitung erschienen ist, als erster Aufhänger dienen. besondere Fokus auf die Integration von Migranten vor Sie zielt – ausgehend von einer Bewohnerperspektive – allem mit der erfolgversprechenden Verbindung von darauf ab, „verschiedene Blickwinkel auf den Multikulti- zwei Planungszielen begründet: So soll die „Integration Kiez“ zu zeigen. Diese Reportage steht stellvertretend für in den Arbeitsmarkt und Qualifizierung“ (Stadt Leipzig eine Reihe von Artikeln in den lokalen Zeitungsmedien, 2017: 39) produktiv mit der Stärkung von städtebaulichen die die historische Entwicklung der Eisenbahnstraße seit (Problem-)Zonen, wie sie die Eisenbahnstraße charak- etwa 1990 an drei Bevölkerungsgruppierungen festma- teristischerweise repräsentiert, verbunden werden. „Eth- chen (vgl. auch Haug/Ibs 2014; Fritz/Hoffmann 2015): nische Unternehmen können eine wichtige Rolle für die dem Leipziger Mittelstand der Nachwendezeit als einer Revitalisierung (Ladeneinheiten und Büros) spielen, Art historischer Bestand der Straße, den Migranten, die da der Zuzug und Verbleib von Migranten/-innen über- ab den 2000er-Jahren verstärkt zugezogen sind, sowie proportional hoch ist“ (Stadt Leipzig 2013b: 45). Dieser Studierenden und Künstler als ‚Anzeiger‘ eines erneu- Fokus auf den wirtschaftlichen Mehrwert von Migration ten Umbruchs rund um das Thema Gentrifizierung. Mit im Gebiet um die Eisenbahnstraße spiegelt sich auch Migration assoziiert werden in der Berichterstattung zum im Kontext von Austauschforen der lokalen Ökonomie. einen Gewerbetreibende im Quartier, über die die Integ- So werden in einem Artikel der Leipziger Volkszeitung ration in die Stadtgesellschaft unter dem Aspekt ökono- Akteure der Händlergemeinschaft „Lo(c)kmeile“ zitiert, mischer Leistungsfähigkeit thematisiert wird. Nationale die sich Ende 2000 rund um die Sanierung der Eisen- Markierungen werden zum anderen mit der Darstellung bahnstraße gegründet hat. Sie plädieren dafür, den krimineller Vorkommnisse im Gebiet verknüpft. Im Mittel- Kontakt mit „ausländische[n] Mitbürger[n], die hier ein punkt der folgenden Betrachtung steht daher die Art und Geschäft betreiben“ zu intensivieren, denn sie gehörten Weise, wie die Berichterstattung über die unternehmeri- „zum wirtschaftlichen Mittelstand des Ostens“ (Ossyra sche Aktivität der Migranten mit dem Thema Sicherheit 2011: 17). im Stadtraum verschränkt wird.
12 Karin Wiest, Elisabeth Kirndörfer Dieser diskursive Einschluss der migrantischen freue mich, ich freue mich wirklich‘, sagt er, ‚denn das Ökonomie und ihrer Repräsentanten als wirtschaftlich ist eine gefährliche Straße‘. Der 40-jährige Kurde, der in produktivem und gleichzeitig sozial integrativem Faktor der Eisenbahnstraße einen Laden für türkische Backwa- der Stadtentwicklung geht allerdings mit der Exklusion ren betreibt, spricht von Drogen, Lärm, der Belästigung jener einher, die sich nicht in das triadisch formulierte junger Frauen. Neben seinem Geschäft hat die Polizei Produktivitätsparadigma Stadtteilaufwertung – Integra- seit gestern eine Mini-Außenstelle vom Revier Zentrum. tion – Wirtschaft einbinden lassen. ‚Das ist gut‘, meint der Händler“ (Kreuz 2014: 15). Ein Blick auf die inhaltlichen Äußerungen der Port- Die partielle gesellschaftliche Einschließung migran- rätierten in der LVZ-Multimedia-Reportage verdeutlicht, tischer Akteure basiert also auf einer deutlichen Grenz- wie die Anrufung einer „produktiven Devianz“ – über ziehung in Richtung einer ebenfalls an den Faktor Mig- eine Verschränkung mit dem urbanen Sicherheitsdis- ration geknüpften Devianz, über die gesellschaftlicher kurs – mit einer zu kontrollierenden Devianz verbunden Ausschluss weiter reproduziert wird. Die Voraussetzung wird. Mit dem Begriff „produktive Devianz“ soll in diesem des diskursiven Einschlusses der migrantischen Gewer- Zusammenhang betont werden, dass Othering-Dynami- betreibenden wird im Zeitungsdiskurs an ihre Ablehnung ken6 nicht aufgehoben werden, wenn migrantisch mar- der kriminellen Vorkommnisse im Quartier gekoppelt. kierte Akteure aufgrund ihrer wirtschaftlichen Produktivi- Kern dieser Gegenbildkonstruktion ist die Figur des mig- tät diskursiven Einschluss erfahren. Ihre Markierung als rantischen Kriminellen, die die Berichterstattung über die Migranten wird in diesem Fall produktiv in Wert gesetzt, Eisenbahnstraße in den Jahren 2014 und 2015 dominiert anstatt als Stigma diskursiven Ausschluss zu provozie- hatte und ein wesentliches Element ihrer medialen Kon- ren. struktion als „gefährlichste Straße Deutschlands“ reprä- Die Anrufung der Migranten als ökonomisch produk- sentiert (z. B. Taff 2013). Vor diesem Hintergrund kann tive städtische Subjekte ist im Zeitungsdiskurs an eine das folgende Zitat mit einer Stellungnahme der Polizei spezifische Positionierung zum Thema urbane Sicher- veranschaulichen, wie Grenzen zwischen gesellschaft- heit geknüpft. So wird in allen drei Bekundungen der mig- lich Dazugehörigen und Ausgeschlossenen, sicheren rantisch markierten Akteure positiv auf den Wandel des und gefährlichen Orten über Verschränkungen von Viertels Bezug genommen, sowohl mit Verweis auf die Ethnizität und Quartier hergestellt werden: „Wir haben intensivierte Polizeipräsenz – die ausschließlich befür- in den beiden Stadtteilen Neustadt-Neuschönefeld und wortet wird – als auch hinsichtlich der sich verändernden Volkmarsdorf einen überdurchschnittlichen Anteil an Bewohnerschaft: So begrüßt der Betreiber des interna- einer Bevölkerung mit migrantischem Hintergrund. Und tionalen Supermarkts, dass in seinem Laden nicht mehr das hat positive Auswirkungen kultureller Art: Lebens- eingebrochen wird, woran „auch der neue Polizeiposten mittelgeschäfte entlang der Eisenbahnstraße bieten aus Schuld sei“. Auch er bejaht explizit, „dass den ganzen aller Herrgotts-Ländern entsprechende Köstlichkeiten Tag ein Polizeiauto gut sichtbar in der Eisenbahnstraße an. Aber es hat auch ein paar Nachteile. Und die Nach- parkt“. Die Betreiberin des Geschäfts für islamische teile liegen z. B. darin, dass man ethnisch-religiöse Kon- Mode bekundet, dass sie „mit schlechten Leuten […] flikte aus den Heimatländern mit sich führt, hier dann im nichts zu tun“ habe und freut sich über die Studenten, Kleinen austrägt, dass gewisse Hemmschwellen anders durch die „die Straße viel schöner geworden [ist]“ und gelagert sind als bei Personen, die vielleicht im euro- deren Präsenz sie ihr gewachsenes Sicherheitsgefühl päischen Raum sozialisiert sind […]. […] das spult sich verdankt. In einem anderen Artikel in der Leipziger Volks- auf und letztendlich kann es sein, dass sich hier Perso- zeitung, in dem es um die Eröffnung der Außenstelle des nengruppen von 50 Köpfen auf jeder Seite gegenüber Polizeipostens in der Eisenbahnstraße geht, wird ein stehen, bewaffnet mit Latten und Stichwerkzeugen und weiterer Geschäftstreibender an der Eisenbahnstraße sich gegenseitig eben ans Leder wollen. […] und das zitiert, der – ähnlich wie die Porträtierten der Reportage war einer der maßgeblichen Gründe, um die Außen- – als eine Art „migrantischer Gewährsmann“ städtischer stelle in der Eisenbahnstraße einzurichten“ (Sprecher Sicherheitspolitik in den Diskurs „gerufen“ wird: „‘Ich der Polizei, LVZ-Multimedia-Reportage 2017). Das Zitat liest sich wie die Beschreibung einer Grat- wanderung, die von einer zunächst als ‚produktiv‘ mar- 6 „In this context, Othering is defined as a process in which, kierten Exotik hin zu einer ‚absolut-differenten‘ Devianz through discursive practices, different subjects are formed, hegemonic subjects – that is, subjects in powerful social positions abkippt, die aber letztendlich auf einer gemeinsamen as well as those subjugated to these powerful conditions” (Thomas- Logik, nämlich der internationalen Zuwanderung in den Olalde/Velho 2011: 27). Stadtraum, gründet. Migration stellt in dieser Logik die
Paradoxe Aushandlungen von Migration im Diskurs um die Leipziger Eisenbahnstraße 13 zentrale gesellschaftliche Dynamik dar, die den darge- 4.3 Urbanität durch Segregation? stellten sozialen Antagonismus im Quartier erst hervor- Migration und Imaginationen von ruft. In anderen Zeitungsartikeln wird der Zusammen- Stadtgesellschaft hang zwischen Kriminalität und Migration noch expliziter hergestellt: „Im Leipziger Osten sind vor allem Bürger In diesem Kapitel steht die Frage im Mittelpunkt, inwie- mit Migrationshintergrund in die Auseinandersetzungen fern die paradoxe Anrufung des Leipziger Ostens über verwickelt. […] Auf der einen Seite stehen Menschen den Faktor Migration verräumlicht wird: Welche Imagi- aus anderen Ländern, die hier wohnen – und die Straf- nationen von Stadtgesellschaft spiegeln sich in medialen taten begehen, wie in der Eisenbahnstraße […]“ (Meine Reproduktionen der Eisenbahnstraße wie auch in lokal- 2014: 1). politischen Strategien wider? Wie bereits am Beispiel Die Figur des migrantisch markierten Kriminellen, der Figur des migrantischen Kriminellen gezeigt werden die als das nicht zum sozialen Gefüge der Stadt zugehö- konnte, wird über die diskursive Verknüpfung des poli- rige Andere im Sinne von nichtintegrierbar reproduziert zeilichen Instruments „gefährlicher Ort“7 (in der Bericht- wird, bildet hier das diskursive Pendant, über das der erstattung oft auch als Kriminalitätsschwerpunktraum wirtschaftlich produktive migrantische Akteur im Leip- bezeichnet) mit dem Faktor Migration die diskursive ziger Osten legitimiert wird (z. B. Döring/Orbeck 2014). Figur der „gefährlichen Parallelgesellschaft“ produziert. Aus diskurstheoretischer Perspektive ließe sich für das Gleichzeitig wird der Leipziger Osten im Bild des „Multi- gezeigte Beispiel ableiten, dass der gesellschaftliche Kulti-Kiezes“ im Sinne einer produktiven Andersartigkeit Einschluss jener migrantischen Positionen, die sowohl in Wert gesetzt. Das Spannungsverhältnis dieser beiden dem Paradigma ökonomischer Inwertsetzung entspre- Imaginationen von Stadtgesellschaft, das über eine heu- chen, als auch im Sinne einer positiven Affirmation städ- ristische Paradoxie-Annahme aufgeschlossen werden tischer Sicherheitspolitik wirken, normalisiert wird. Die soll, zeigt sich hier in einer anderen Spielart der dis- Grenze zwischen „eigen“ und „fremd“, die mit der „Unter- kursiven Verwobenheit von In- und Exklusion, nämlich scheidung von ‚sicher‘ und ‚unsicher‘ […] verwoben ist“ im Sinne einer Grenzverhandlung: Wie viel ‚Multikulti‘ (Glasze/Pütz/Schreiber 2005: 329), verschiebt sich hier. kann die Stadtgesellschaft ertragen und wann ‚entglei- Im öffentlichen Diskurs werden migrantisch markierte tet‘ ein Stadtviertel? Stadtentwicklungs- und Urbanitäts- Akteure besonders ‚wir-fähig‘, wenn sie sich im Sinne diskurse bewegen sich hier abwägend-austarierend auf der urbanen Sicherheit positionieren. der Scheide zwischen Problem- und Potenzialdiskurs. Die diskursive Konstruktion einer nicht zivilisier- Der Faktor Migration erscheint dabei in das klassische ten, kriminellen Parallelwelt stellt dabei die implizite Stadtteilnarrativ eines Aufwertens (upgrading) und oder explizite Bezugsgröße dar, zu der sich die zitier- Abwertens (downgrading) eingewoben. Wie im folgen- ten Gewerbetreibenden der Eisenbahnstraße verhalten den Ausschnitt ein Blick auf die Historie der Straße zeigt, müssen, um ihren Zutritt zur Mehrheitsgesellschaft zu erscheint er als Abweichung, die es zu überwinden gilt: legitimieren. Dieser Befund steht wiederum im Gegen- „Zu DDR-Zeiten war sie die Heimat der Arbeiterschicht, satz zu den nicht migrantisch markierten Positionen nach der Wende das Viertel der Migranten und später von Studenten, Maklern oder Vertretern von Initiativen, Schauplatz schwerer Straftaten. Ihr einstiger Glanz als denen in der Berichterstattung eher die Rolle zufällt, das große Einkaufsstraße im Osten der Stadt verblasste. schlechte Image des Stadtteils zu relativieren. Letztend- Doch seit einigen Jahren erlebt der Kiez eine Renais- lich handelt es sich bei dieser diskursiven Konstruktion sance: In das Viertel mit dem schlechten Ruf und den migrantischer Akteure im Quartier um eine Art ‚Diskurs- billigen Mieten ziehen Studenten und Künstler; jahrzehn- zwilling‘: Die auf ökonomischen Kriterien basierende telang brachliegende Gründerzeithäuser werden saniert Inklusion der einen – der Repräsentanten der migran- und Läden eröffnet – die Grundstückspreise steigen“ tischen Ökonomie – ist diskursiv mit einer teilweise ras- (LVZ Multimedia-Reportage 2017). sistisch argumentierenden Exklusion der anderen – der Im Folgenden werden zunächst die parallel ver- migrantisch markierten kriminellen Ereignisse und ihrer laufenden Diskursstränge skizziert und im Anschluss Akteure – verknüpft. Der Faktor Migration ist das Binde- daran die Grenzaushandlungen beleuchtet, die sich glied, das im Diskurs um urbane Sicherheit und Aufwer- aus dem angedeuteten diskursiven Spannungsverhält- tungsprozesse im Quartier gleichzeitig als Einschluss- nis ergeben. In tagesaktuellen Berichterstattungen, vor und Ausschlussmoment fungiert. allem jener, die sich auf polizeiliches Handeln und Fragen 7 Nach § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 des Sächsischen Polizeigesetzes.
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