Paradoxe Aushandlungen von Migration im Diskurs um die Leipziger Eisenbahnstraße Paradoxical negotiations of migration in discourses around the ...

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Paradoxe Aushandlungen von Migration im Diskurs um die Leipziger Eisenbahnstraße Paradoxical negotiations of migration in discourses around the ...
Raumforschung und Raumordnung | Spatial Research and Planning, 2019; 77(5): 1–18

                       Beitrag / Article                                                                                               Open Access

                       Karin Wiest, Elisabeth Kirndörfer

                       Paradoxe Aushandlungen von Migration im
                       Diskurs um die Leipziger Eisenbahnstraße
                       Paradoxical negotiations of migration in
                       discourses around the Eisenbahnstraße in the
                       city of Leipzig
                       https://doi.org/10.2478/rara-2019-0030
                       Eingegangen: 11. April 2018; Angenommen: 1. April 2019

                       Zusammenfassung: Verschiebungen bzw. wechselseitige Bedingtheiten von neuen gesellschaftlichen Ein- und
                       Ausschlüssen im Prozess der Internationalisierung und Diversifizierung von Städten genauer zu betrachten, ist Ziel
                       dieses Beitrags. Mithilfe der Paradoxie im Sinne eines heuristischen Zugangs werden scheinbar widersprüchliche
                       Ein- und Ausschlüsse von Migration in einem langjährigen stadtentwicklungspolitischen Schwerpunktraum der Stadt
                       Leipzig untersucht. Eine Analyse der lokalen Berichterstattung und stadtentwicklungspolitischer Dokumente zeigt,
                       dass im Diskurs um die Leipziger Eisenbahnstraße eine klassische urbane Diskursfigur reproduziert wird. Dabei wird
                       Migration einerseits als produktiver Faktor im Sinne einer ökonomischen Ressource verhandelt und andererseits
                       als Faktor unproduktiver Devianz problematisiert. Da Formen der Inklusion gewünschter Zuwanderung an anderer
                       Stelle an Ausschlüsse und Kontrolle unerwünschter Zuwanderung gekoppelt werden, entstehen paradox erschei-
                       nende diskursive Logiken im Umgang mit einem pluralisierten und stark durch Migration geprägten Stadtraum. Der
                       Ausruf einer Parallelwelt, der an eine zu integrierende Migrationsbevölkerung gerichtet ist, sowie die Beschwörung
                       der „Stadt der Vielfalt“, die eher diffus und damit weitestgehend anonym bleibt, stehen jedoch im Widerspruch zu
                       einer allgemeinen Anerkennung migrationsgesellschaftlicher Realität. Trotzdem oder gerade weil Leipzig eine Vor-
                       reiterrolle im ostdeutschen Kontext in puncto Migration einnimmt, entbehrt sie (noch) der Selbstverständlichkeit und
                       bleibt eine hochgradig sensible Angelegenheit.

                       Schlüsselwörter: Integrationspolitik, postmigrantische Gesellschaft, Mediendiskurs, Stadtentwicklung, Leipzig,
                       Ostdeutschland

                       Abstract: Urban diversity discourses imply paradoxical configurations which, especially on the level of urban neigh-
                       bourhoods, can be read as the inclusion of desired migration in connection with the exclusion of non-desired migra-
                       tion. In order to focus on novel shifts or rather the reciprocal conditioning of social in- and exclusions in the process
                       of the internationalization and diversification of cities, the authors refer to the notion of paradox in the sense of a
                       heuristic approach. Based on this, the paper examines seemingly contradictory in- and exclusions of migration in
                       a long-standing key area of urban development policies. An analysis of the local media coverage and urban deve-
                       lopment documents demonstrates that in the discourse around Leipzig’s “Eisenbahnstraße”, a classical discursive
                       figure is reproduced. It debates migration on the one hand as economic resource and problematises it, on the other,
                       as a factor of unproductive deviance. Because of the fact that forms of social participation are bound to exclusions
                       and control elsewhere, apparently paradoxical discursive logics emerge in the dealing with a pluralised urban space

                       *Corresponding author: Dr. Karin Wiest, Leibniz-Institut für Länderkunde, Schongauerstraße 9, 04328 Leipzig, Deutschland, E-mail:
                       K_Wiest@ifl-leipzig.de
                       Dr. Elisabeth Kirndörfer: Leibniz-Institut für Länderkunde, Schongauerstraße 9, 04328 Leipzig, Deutschland

2017; 1 (2): 122–135
                         Open Access. © 2019 Karin Wiest, Elisabeth Kirndörfer, published by Sciendo.             This work is licensed under the Creative
                       Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.
2       Karin Wiest, Elisabeth Kirndörfer

strongly shaped through migration. The fact that the invocation of a “parallel world” is explicitly directed towards a
migrant population while the discourse on the “city of diversity” remains diffuse and largely anonymous, contradicts
the general recognition of the realities of plural immigration societies. Despite or rather due to Leipzig’s pioneering
role as regards to migration in the Eastern German context, migration (still) lacks the matter of course and remains
a highly sensitive issue.

Keywords: Integration policies, Postmigrant society, Media discourse, Urban development, Leipzig, Eastern
Germany

1 Perspektiven auf Migration                                   Instrumentalisierung von Migration als kulturelles und
                                                               ökonomisches Kapital im Wettbewerb um Fachkräfte
und die unternehmerische Stadt                                 und Unternehmensansiedlungen wird daher auch kri-
der Vielfalt                                                   tisch betrachtet (Rodatz 2014: 36). Insbesondere eine
                                                               Unterscheidung in nützliche und nicht nützliche Migra-
Etwa seit den 2000er-Jahren ist der migrationspolitische       tion, die neue Ein- und Ausschlüsse produziert, muss
Diskurs in deutschen Städten durch auffällige Perspek-         in diesem Zusammenhang kritisch gewertet werden.
tivverschiebungen und integrationspolitische Neuaus-           So kann die gezielte Ausrichtung auf den Einschluss
richtungen gekennzeichnet. Diese Entwicklungen sind            der als wirtschaftlich produktiv wahrgenommenen Mig-
mit einem Bedeutungsgewinn der kommunalen Ebene                ration gleichzeitig die Ausgrenzung jener befeuern, die
und mit einem allgemeinen Kurswechsel hin zum Leit-            nicht dem dominanten Inwertsetzungsparadigma ent-
bild der unternehmerischen Stadt der Vielfalt verknüpft        sprechen. Der Diskurs um Migration als Ressource der
(Rodatz 2014; Krummacher 2017). Charakteristisch ist in        Stadtentwicklung leistet dann unter Umständen Aus-
diesem Zusammenhang die Überwindung eines kultura-             schlüssen Vorschub, die über eine Ethnisierung sozialer
listisch geprägten Integrationsverständnisses, das in der      Probleme praktiziert werden. Diese Problematik kommt
Tradition einer nationalstaatlich formulierten ‚Defizitpers-   unter anderem in Auseinandersetzungen um Fragen der
pektive‘ auf Migration stand (Rodatz 2014; Pütz/Rodatz         inneren Sicherheit und der kommunalen Ordnungspolitik
2013). Sichtweisen, die Migrationserfahrungen von vorne        zum Ausdruck, die häufig in urbane Aufwertungsstrate-
herein als Problem konzipierten und daraus einen gene-         gien eingelagert sind.
rellen integrationspolitischen Förderbedarf ableiteten,             Vor diesem Hintergrund liegt dem vorliegenden
wurden im Zuge dessen abgelöst von der Betonung von            Beitrag die These zugrunde, dass durch die zunehmende
Vielfalt als Potenzial städtischer Entwicklungen (Hillmann     Pluralisierung und Internationalisierung der Gesellschaft
2011; Hillmann 2018; Bundesregierung 2007; Bundesre-           neue, scheinbar widersprüchliche Aushandlungen um
gierung 2011). Gleichzeitig beinhaltet dieser diversity turn   das Thema Migration an Relevanz in städtischen Dis-
eine Individualisierung von Integrationsaufgaben, indem        kursen gewonnen haben (Espahangizi/Hess/Karakayali
er die Erwartung einer gesellschaftlichen Selbsteinglie-       et al. 2016). Entsprechende paradoxe Logiken, wie die
derung der Zuwandernden in den Vordergrund seiner              Exklusion nichterwünschter Migration bei gleichzeitiger
Argumentation stellt und diese zunehmend als zu aktivie-       Inklusion von erwünschter Migration, werden im vorlie-
rende Stadtbürger anspricht. Die stadtentwicklungspoliti-      genden Beitrag als „inclusion through exclusion“ (De
sche Zielsetzung, Segregationserscheinungen zu verhin-         Genova 2008) bzw. „inklusive Exklusion“ bezeichnet.
dern und aufzulösen, wird in dieser Logik umgedeutet:          Konkret steht damit das Verhältnis, das zwischen der als
So werden durch internationale Migration geprägte              wirtschaftlich produktiv angesehenen Migration und der
Nachbarschaften zunehmend unter dem Aspekt der Stär-           als sozial prekärer geltenden Migration gesetzt wird, im
kung lokaler Gemeinschaften und der Produktivität mig-         Mittelpunkt der Analyse. Der Beitrag basiert auf Ergeb-
rantischer Ökonomien betrachtet.                               nissen eines von der Deutschen Forschungsgemein-
      Eine entsprechende kommunalpolitische Neuaus-            schaft (DFG) geförderten Forschungsprojektes zum
richtung nach dem Motto ‚Integration trotz Segregation‘        Umgang mit Vielfalt in städtischen Kontexten.1
birgt jedoch Risiken, die unter anderem in einer Verla-
gerung gesellschaftlicher Exklusionen bestehen können          1 Das DFG-Projekt „Lokal gestrandet, global vernetzt? Umgang mit
(Häußermann/Siebel 2007). Eine ökonomisierende                 Vielfalt an den gesellschaftlichen Rändern der postmigrantischen
Paradoxe Aushandlungen von Migration im Diskurs um die Leipziger Eisenbahnstraße        3

     Im Folgenden wird in Kapitel 2.1 zunächst dargelegt,            Phänomenen im Kontext urbaner Vielfaltsdiskurse soll
warum der Begriff der Paradoxie als eine hilfreiche Heu-             sich vielmehr an einem engen Paradoxie-Verständnis
ristik dienen kann, um die widersprüchlichen Logiken                 orientieren. Ziel der Analyse ist es demnach, zunächst
im gegenwärtigen Umgang mit dem Thema Migration                      die Voraussetzungen bzw. Grundlagen zu rekonstruie-
aufzuschließen. Als empirisches Fallbeispiel steht mit               ren, aus denen scheinbar widersinnige Erscheinungen
dem Gebiet um die Eisenbahnstraße ein stadtentwick-                  im Diskurs um Integration und Vielfalt resultieren, und zu
lungspolitischer Schwerpunktraum der Stadt Leipzig im                zeigen, „dass und wie das widersprüchliche Zueinander
Fokus der Betrachtung (Kapitel 2.2). Um das Fallbei-                 durch ein und denselben Prozess zustande gekommen
spiel in seinen gesamtstädtischen Kontext einordnen zu               ist“ (Hartmann 2002: 237). Auf einer sehr allgemeinen
können, werden in Kapitel 3 zentrale Merkmale der Leip-              Ebene lässt sich dieser Prozess, auf dem die oben
ziger Migrationsgeschichte und der kommunalen Integ-                 angedeutete paradoxe Diskurskonfiguration inklusiver
rationspolitik dargestellt. Im empirischen Teil (Kapitel 4)          Exklusionen von Migration beruht, als gesellschaftli-
werden diskursive Logiken einer ‚inklusiven Exklusion‘               che Pluralisierung infolge von Migrationsbewegungen
von Migration auf der Grundlage der medialen Bericht-                bezeichnen.
erstattung und stadtentwicklungspolitischer Aussagen                      Die Debatte um das Postmigrantische greift diese
über die Eisenbahnstraße analysiert. Während in Kapitel              gesellschaftliche Transformation auf. Sie rückt „[…] die
4.2 zunächst die medialen Konstruktionen migrantisch                 empirische Tatsache ins Zentrum […], dass Migration
markierter Akteure beleuchtet werden, liegt der Analy-               nicht als Ausnahme von nationalen Vergesellschaf-
sefokus in Kapitel 4.3 auf den an den Faktor Migration               tungsprozessen begriffen werden kann, sondern zent-
geknüpften Imaginationen von Stadtgesellschaft und                   rale Normalität von Gesellschaft ist“ (Espahangizi/Hess/
urbanem Zusammenleben. Diese Ergebnisse werden in                    Karakayali et al. 2016: 15). So haben die „Bewegungen
Kapitel 5 mit einem besonderen Fokus auf multiskalare                der Migration […] zu einer umfassenden Pluralisierung
Aushandlungen von Migration im ostdeutschen Kontext                  der Gesellschaft und der gelebten Selbstverständlichkeit
zusammengefasst.                                                     von Mehrfachzugehörigkeiten geführt“ (Espahangizi/
                                                                     Hess/Karakayali et al. 2016: 15). Diese Pluralisierung als
                                                                     übergreifender gesellschaftlicher Prozess bringt jedoch
                                                                     zweierlei sich scheinbar widersinnig zueinander verhal-
2 Charakterisierung von Para-                                        tende Effekte hervor: Einerseits „neue Partizipations-
doxien postmigrantischer                                             möglichkeiten von (ehemals) Eingewanderten und ihren
                                                                     Nachkommen, wie auch neue Möglichkeiten, Diskrimi-
Stadtgesellschaften                                                  nierung und rassistische Ausschlüsse zurückzuweisen
                                                                     und juristisch zu bekämpfen“ (Espahangizi/Hess/Kara-
2.1 Zum Begriff der Paradoxie                                        kayali et al. 2016: 15). Andererseits bringt die pluralisierte
                                                                     Gesellschaft auch neuartige Formen der Exklusion und
Um neuartige Verschiebungen bzw. Gleichzeitigkei-                    Praktiken der Regulierung und Kontrolle von migrations-
ten von gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen im                  bedingten Dynamiken hervor. Aus der Perspektive der
Prozess der Internationalisierung und Diversifizierung               Postmigration ist die durch Migration geprägte plurale
von Städten genauer zu betrachten, wird im Folgenden                 Gesellschaft eine, „in der die institutionelle und alltäg-
auf den Begriff der „Paradoxie“ im Sinne einer „Heu-                 liche Reproduktion von Rassismus nicht einfach ver-
ristik für die empirische, rekonstruktive Aufschließung              schwindet, sondern neue Formen und Wege nimmt“
typischer Gegenwartsphänomene“ (Honneth/Sutterlüty                   (Espahangizi/Hess/Karakayali et al. 2016: 15). Vertreter
2011: 69; vgl. Kemper/Vogelpohl 2013: 223) zurückge-                 der postmigrantischen Perspektive plädieren deshalb
griffen. Ziel ist es dabei, nicht nur Paradoxien im Sinne            dafür, „den Standpunkt der Migration selbst einzuneh-
eines breiten Begriffsverständnisses zu nutzen, „um Dis-             men und sie als eine zentrale, die gesamte Gesellschaft
sonanzen, Spannungen, Widersprüche zwischen zwei                     prägende und verändernde Dynamik darzustellen“
(und mehr) Sachverhalten […] ansprechen und unter-                   (Hess 2015: 60). Gleichzeitig begreifen sie Migration
suchen zu können“ (Kemper/Vogelpohl 2013: 221). Die                  als ein „sozial hergestelltes und vermitteltes Verhältnis“,
Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Logiken und                das es ohne „die diversen Politiken und Versuche, sie
                                                                     zu steuern, zu verwalten, zu vermessen, zu bebildern
Stadt“ wurde von 2016 bis 2019 am Leibniz-Institut für Länderkunde   und zu deuten“ (Hess 2015: 60) nicht geben würde. Vor
bearbeitet.                                                          diesem Hintergrund sollen im Folgenden entsprechende
4       Karin Wiest, Elisabeth Kirndörfer

Widersprüche im Kontext urbaner Vielfaltsdebatten an          deadresse von Anwohnern aus mehr als 70 Nationen“
einem konkreten Fallbeispiel herausgearbeitet werden.         (Pollmer 2017: 3). Innerhalb Leipzigs wird das Gebiet
Im medialen und kommunalpolitischen Diskurs um den            um die Eisenbahnstraße, nicht zuletzt bedingt durch
sozialräumlichen Wandel des Leipziger Ostens und hier         den überdurchschnittlich hohen Anteil an Bewohnern
insbesondere im Gebiet um die Eisenbahnstraße, sind           mit Migrationshintergrund, als problematisch und sozial
die skizzierten paradoxen Aushandlungen von Migration         abgewertet stigmatisiert. Gleichzeitig ist es zunehmend
in besonderer Weise zu identifizieren.                        in den Fokus von Investoreninteressen und Aufwer-
                                                              tungsstrategien geraten.
                                                                   Im vorliegenden Beitrag wird die Aushandlung und
2.2 Gründe für die Auswahl des                                Problematisierung von Migration im medialen und lokal-
Fallbeispiels Eisenbahnstraße und                             politischen Umgang mit dem Quartier unter folgenden
Fragestellung                                                 Fragestellungen analysiert:
                                                              –– Welche scheinbar widersprüchlichen gesellschaft-
Während die Auseinandersetzung mit kommunalen                      lichen Ein- und Ausschlüsse werden durch unter-
Integrations- und Migrationspolitiken in westdeutschen             schiedliche diskursive Verknüpfungen von migran-
Städten bereits eine längere Tradition aufweist, standen           tisch markierten Akteuren mit dem Gebiet um die
entsprechende Politiken in ostdeutschen Kommunen,                  Eisenbahnstraße erzeugt?
vor allem bedingt durch die lange Zeit vorherrschende         –– In welchem Verhältnis stehen diese In- und Exklu-
Abwanderungsproblematik, bislang erst wenig im Fokus.              sionen zueinander und inwieweit bedingen sie sich
Sowohl ein angenommener ‚Nachholbedarf‘ in Sachen                  – im Sinne eines engen Paradoxieverständnisses –
kommunaler Migrations- und Integrationspolitik als auch            gegenseitig?
die öffentliche Debatte um eine geringe Toleranz und
ausgeprägtere Formen des Rassismus verweisen auf              Unserer Analyse liegt die These zugrunde, dass ent-
einen erhöhten Forschungsbedarf im Gebiet der neuen           sprechende Aushandlungen von Migration im Gebiet um
Bundesländer (Münch 2013). Die Stadt Leipzig, deren           die Eisenbahnstraße erst in ihrem gesamtstädtischen
demographische Entwicklung zum einen durch starke             Kontext nachvollziehbar werden. Daher wird im folgen-
Abwanderungsprozesse in der Nachwendezeit geprägt             den Kapitel zunächst ein kurzer Überblick über die Mig-
war, die aber gegenwärtig durch starkes Einwohner-            rationsgeschichte der Stadt Leipzig und die Etablierung
wachstum gekennzeichnet ist und im ostdeutschen               der kommunalen Integrationspolitik seit der Wiederver-
Kontext als Vorreiter in Sachen internationale Zuwan-         einigung gegeben.
derung gilt, wird in diesem Zusammenhang als ein loh-
nendes Untersuchungsbeispiel betrachtet. Politische
und mediale Aushandlungen um den Faktor Migration
fokussieren sich dabei innerhalb der Stadt in besonderer
                                                              3 Leipzig im ostdeutschen
Weise auf das Gebiet um die Eisenbahnstraße im öst-           Kontext – Vorreiter und Sonder-
lichen Innenstadtrandbereich (vgl. Abbildung 1). Dieser
Stadtraum ist einerseits ein langjähriger Schwerpunkt-
                                                              fall in Sachen Migration
raum der Leipziger Stadtentwicklung mit dem Ziel, bauli-
                                                              In der Leipziger Stadtentwicklungspolitik haben die
che und soziale Aufwertungen zu initiieren. Andererseits
                                                              Themen Migration und Integration in den letzten Jahren
repräsentiert das Gebiet etwa seit Ende der 1990er-
                                                              deutlich an Aufmerksamkeit gewonnen (Budnik/Groß-
Jahre einen zentralen Anziehungspunkt der internatio-
                                                              mann/Haase et al. 2017: 45 f.). Dieses Interesse, das mit
nalen Migration (Stadt Leipzig 2013b) und wird dadurch
                                                              veränderten Perspektiven auf die Stadtgesellschaft und
als eine Art Ausnahmephänomen innerhalb der neuen
                                                              neuen planungspolitischen Aufgaben verknüpft ist, steht
Bundesländer wahrgenommen.
                                                              im deutlichen Zusammenhang mit spezifischen Umbrü-
     Die dort anzutreffende und für Städte in Ostdeutsch-
                                                              chen in Leipzigs demographischer Entwicklung.
land als untypisch geltende Situation wird in den über-
regionalen Medien unter anderem folgendermaßen cha-
rakterisiert: „Dort, im türkischen Café Brothers, sitzt man
im Zentrum der Anomalie, wie es sie kein zweites Mal
gibt im deutschen Osten. Diese Anomalie heißt Eisen-
bahnstraße, sie ist etwa 1,4 Kilometer lang und Mel-
Paradoxe Aushandlungen von Migration im Diskurs um die Leipziger Eisenbahnstraße             5

3.1 Demographische Rahmenbedingungen                                 graphischen Gegebenheiten lassen sich dahingehend
                                                                     auslegen, dass internationale Migration in Leipzig (noch)
Bis Ende der 1990er-Jahre hatte Leipzig mit den für ost-             in stärkerem Maße dazu prädestiniert ist, als Abwei-
deutsche Kommunen typischen Strukturproblemen zu                     chung von der gesamtstädtischen Norm interpretiert zu
kämpfen, die mit starken Abwanderungsbewegungen                      werden. Diese Annahme wird durch ausgeprägte Segre-
einhergingen und mit einem stagnierend geringen Mig-                 gationstendenzen innerhalb Leipzigs unterstrichen. So
rantenanteil verbunden waren. Darüber hinaus lagen die               ist im Vergleich deutscher Großstädte eine Ungleichver-
geringen Anteile an Stadtbewohnern internationaler Her-              teilung auf der Grundlage sozialstatistischer Indikatoren
kunft auch in den Nachwirkungen der Migrationspolitik                wie Arbeitslosenquote und Bildungsabschlüssen, aber
der DDR begründet, die Zuwanderung aus dem Ausland                   auch der Bewohner mit Migrationshintergrund in ost-
sehr restriktiv handhabte und nur zeitlich befristet                 deutschen Städten wie Leipzig besonders stark nach-
ermöglichte (vgl. z. B. Philipps/Rink 2009: 400; Münch               weisbar (Dohnke/Seidel-Schulze/Häußermann 2012;
2013: 263). Vor dem Hintergrund massiver Schrump-                    Helbig/Jähnen 2018).
fungserfahrungen in den 1990er-Jahren und dem Ein-                        Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass,
druck einer zunehmenden Alterung der Bevölkerung                     obwohl der Anteil an Einwohnern mit ausländischem
wurde der Stellenwert der internationalen Zuwanderung                Pass oder Migrationshintergrund in Leipzig im Bundes-
in der Stadtentwicklungspolitik bis in die 2000er-Jahre,             vergleich immer noch niedrig ausfällt, keine andere ost-
im Unterschied zu den Erfahrungen westdeutscher                      deutsche Großstadt – mit Ausnahme von Berlin – einen
Kommunen, zunächst als eine wichtige Option im Kampf                 höheren Anteil an Bewohnern internationaler Herkunft
gegen Leerstände und Verödung wahrgenommen (z. B.                    vorzuweisen hat.3 Die Kommune hat sich dementspre-
Stadt Leipzig 2006: 7; Stadt Leipzig 2013a: 29). In den              chend in puncto internationale Zuwanderung zuneh-
frühen 2000er-Jahren änderten sich jedoch die stadtent-              mend zum Vorreiter innerhalb der neuen Bundesländer
wicklungspolitischen Rahmenbedingungen mit langsam                   entwickelt.
steigenden Einwohnerzahlen.
      Heute gilt Leipzig mit einem jährlichen Wanderungs-
gewinn von mehr als 10.000 Einwohnern als die derzeit                3.2 Kommunale Strategien: Sozialraum-
am schnellsten wachsende Großstadt Deutschlands.                     fokussierung und Potenzialdiskurs
Gleichzeitig hat sich die soziale Zusammensetzung der
Zuwandernden gewandelt. Während in den 1990er-Jah-                   Als eine Reaktion auf die wachsende Bedeutung migrati-
ren vor allem Zuzüge aus den neuen und alten Bundes-                 onspolitischer Fragestellungen in der Leipziger Kommu-
ländern dominierten, wird die Stadt insbesondere seit                nalpolitik können die am 19. Januar 2011 beschlossenen
2010 im starken Maße durch internationale Wanderungs-                „Leitlinien zur Integration der Migrantinnen und Migran-
bewegungen geprägt. So ist der Anteil der Bewohner                   ten“ betrachtet werden. Im Jahr 2013 kann die Stadt
mit Migrationshintergrund in den letzten Jahren deutlich             dann auch ihr erstes übergreifendes Integrationskonzept
angestiegen (2000: 6 %, 2010: 8 %, 2014: 11 %, 2017:                 vorweisen (Stadt Leipzig 2013a). Die darin formulierten
14 %).2 Besonders bemerkenswert ist die starke Ver-                  Handlungsfelder greifen im Sinne der Potenzial-, Netz-
jüngung der Stadtbevölkerung durch die internationale                werk- und Sozialraumorientierung zentrale Trends der
Migration. Durch das ausgeprägte Geburtendefizit der                 kommunalen Steuerung von Integration entsprechend
letzten Jahrzehnte und die langjährigen negativen Wan-               dem Leitbild der unternehmerischen Stadt der Vielfalt
derungssalden vor allem in den 1990er-Jahren zeichnet                auf (vgl. Pütz/Rodatz 2013). Gleichzeitig beziehen sich
sich die Leipziger Bevölkerung, die in der amtlichen Sta-            alle strategischen Zielbereiche der Stadtentwicklung,
tistik „ohne Migrationshintergrund“ geführt wird, durch              wie die Verbesserung der Lebensqualität, ein Bestehen
ein relativ hohes Durchschnittsalter aus (2015: 44,5                 im Wettbewerb, die Stärkung der Internationalität sowie
Jahre). Demgegenüber steht das mit 31 Jahren geringe                 die Sicherung der sozialen Stabilität, auch auf Fragen
Durchschnittsalter der statistisch als Migranten geführ-             der Integration von Migranten und der Interkulturalität
ten Bevölkerungsteile (Stadt Leipzig 2016: 10). Im Unter-            (Stadt Leipzig 2013a: 6; Stadt Leipzig 2017). Integration
schied zur Situation in westdeutschen Städten sind die               ist so in Leipzig zu einer Querschnittsaufgabe geworden,
Vertreter der zweiten und dritten Migrantengenerationen
in Leipzig unterrepräsentiert. Diese spezifischen demo-
                                                                     3 Vgl. https://service.destatis.de/DE/karten/migration_integration_
2 Mitteilung des Amtes für Statistik und Wahlen der Stadt Leipzig.   regionen.html (08.02.2019).
6       Karin Wiest, Elisabeth Kirndörfer

„die alle Bereiche der Stadtentwicklung umfasst“ (Stadt      nach dem grundsätzlichen Verständnis gesellschaftli-
Leipzig 2009: 12).                                           cher Teilhabe und Partizipation innerhalb der Leipziger
                                                             Stadtgesellschaft.

Zuwanderung als demographischer und ökonomischer
Wachstumsfaktor                                              Sozialraumorientierung: Das Programmgebiet
                                                             „Leipziger Osten“ im Fokus
Das Leitbild der „weltoffenen und toleranten Stadt“ wird
im Kontext der Leipziger Integrations- und Stadtent-         Entsprechend dem Leitmotiv „Integration findet vor
wicklungspolitik oft als eine zentrale Bezugsgröße kom-      Ort statt“ repräsentiert auch in Leipzig die Ebene des
munalpolitischen Argumentierens herangezogen (z. B.          Quartiers die zentrale integrationspolitische Handlungs-
Stadt Leipzig 2006). Historisch untermauert wird dieses      ebene (Bommes 2008; Leipzig 2017: C 2-5 12). Diese
Bild unter anderem mit der traditionellen Messe- und         sozialraumorientierte Integrationspolitik setzt unter dem
Handelsfunktion der Stadt, die Leipzig bereits vor der       Gesichtspunkt der sozialen Stabilität und der Quar-
Wiedervereinigung als internationaler orientiert als den     tiersentwicklung zunehmend auf die Aktivierung von
Rest der DDR erscheinen ließ. Mit dem strategischen          lokalen Akteuren, Netzwerken und Gemeinschaften und
Ziel, Internationalität zu stärken und sich klar als pro-    wird unmittelbar mit wirtschaftlicher Prosperität in Bezie-
gressive europäische Großstadt zu positionieren, wird in     hung gesetzt (Stadt Leipzig 2009: 45 f.; Stadt Leipzig
starkem Maße auf die positive Bedeutung von Zuwan-           2013a: 60). Entsprechende stadtentwicklungspolitische
derung im Allgemeinen und internationaler Migration im       Perspektiven auf internationale Migration fokussieren in
Speziellen im Sinne des Potenzialdiskurses abgehoben         Leipzig in starkem Maße auf den Programmraum Leip-
(Stadt Leipzig 2017: A-15). Bereits im Bericht des Aus-      ziger Osten und hier besonders auf das Gebiet um die
länderbeauftragten von 2006 und unter dem starken            Eisenbahnstraße (vgl. Abbildung 1). Hier wurden zuneh-
Eindruck demographischer Schrumpfungserfahrungen             mend ab der Jahrtausendwende über eine Kombination
wurden die Bedeutsamkeit und Notwendigkeit der inter-        aus unterschiedlichen Förderprogrammen entschei-
nationalen Zuwanderung vor allem mit zunehmenden             dende soziale und bauliche Veränderungen in Gang
Zwängen der zwischenstädtischen Konkurrenz begrün-           gesetzt. Ein zentrales Instrument stellt diesbezüglich
det. „Angesichts der Globalisierung der Wirtschaft und       die Aufnahme des Gebietes im Bund-Länder-Programm
der demografischen Entwicklung muss sich die Stadt           „Soziale Stadt“ ab 1999 dar. Die damit verbundene För-
Leipzig verstärkt den Herausforderungen der gegen-           derung aus EFRE4- Mitteln (2000) sowie Förderungen
wärtigen und zukünftigen Integration von Migrant/-innen      über das Bundesprogramm „Bildung, Wirtschaft, Arbeit
stellen, will sie im internationalen Wettbewerb der Städte   im Quartier (BIWAQ)“ gaben einen wichtigen Anschub
und Regionen bestehen. Denn ein weltoffenes, integrati-      für die Stadtteilentwicklung.
onsfreundliches Klima und die interkulturellen Angebote           Neben baulichen Maßnahmen zur Verbesserung
einer Stadt sind ‚weiche‘ Standortfaktoren, die man nicht    des Erscheinungsbildes und des Stadtteilimages zielten
unterschätzen darf“ (Stadt Leipzig 2006: 65).                die Maßnahmen insbesondere auf die Aktivierung der
     Gleichzeitig verdeutlichen Integrations- und Stadt-     lokalen Bevölkerung sowie auf die Vernetzung lokaler
entwicklungskonzepte, dass Fragen der Integration            Akteure ab (Gerkens/Hochtritt 2010: 229 ff.). Darin
und Migration in starkem Maße unter ökonomischen             kündigt sich bereits eine für die Soziale-Stadt-Program-
Aspekten verhandelt werden, nämlich im Hinblick auf          matik typische Perspektivverschiebung an. So wird
das gesamtstädtische Image, die nationale und interna-       eine Gleichsetzung der Hauptzielorte der Migration mit
tionale Sichtbarkeit sowie in Bezug auf Unternehmens-        ‚Problemorten‘ zunehmend kritisch hinterfragt und in
ansiedlungen und Fachkräftezuzug (z. B. Stadt Leipzig        stärkerem Maße auf den Einbezug und die Aktivierung
2013a: 29 ff.; Stadt Leipzig 2013b: 27 ff.). Die Realisie-   von Bewohnern gesetzt, wie zum Beispiel über die För-
rung von Weltoffenheit und Toleranz, auf die sich die        derung von sozialen und kulturellen Initiativen oder von
strategischen Konzepte beziehen, wird dabei an eine          Unternehmensgründungen (Weber 2013; Beer 2015). Im
vorausgesetzte Existenz gemeinsamer, gesellschaft-           Leipziger Osten wird in diesem Zusammenhang insbe-
lich geteilter Werte und Normen gekoppelt. Offen bleibt      sondere den sogenannten migrantischen Ökonomien
dabei, nicht zuletzt unter dem Aspekt einer umstrittenen     eine große Bedeutung zugeschrieben. Deren Leistungs-
einseitigen Anpassung der Migranten an eine vermeintli-
che Mehrheitsgesellschaft (Terkessidis 2010), die Frage      4 EFRE = Europäischer Fonds für regionale Entwicklung
Paradoxe Aushandlungen von Migration im Diskurs um die Leipziger Eisenbahnstraße   7

Abbildung 1: Internationale Wanderungsdynamik auf der Ebene der Ortsteile und Lage des Programmraums „Leipziger Osten“
8       Karin Wiest, Elisabeth Kirndörfer

vermögen soll für die Quartiersentwicklung gezielt ein-        räume zukommt (Friedrich 2017: 116), erfolgt zunächst
gesetzt und im Sinne der Wertschöpfungskette der Stadt         ein quantitativer Überblick über die Entwicklung der
aktiviert werden (Stadt Leipzig 2013b: 27). Gleichzeitig       Intensität und die thematische Ausrichtung der medialen
wird am Beispiel dieses Programmgebietes deutlich,             Berichterstattung. Im Anschluss werden ausgewählte
dass sich die dem Paradigma der Vielfaltspolitik und           Zeitungsartikel sowie eine Multimedia-Reportage ver-
der Potenzialorientierung folgenden Integrationsstrate-        tieft analysiert und stadtentwicklungspolitischen Aussa-
gien weiterhin mit Perspektiven überlagern, die auf die        gen gegenübergestellt. Im Mittelpunkt der Betrachtung
Steuerung eines Defizitraumes ausgerichtet sind. Ent-          stehen unter anderem Fragen nach den paradoxen
sprechende Mehrdeutigkeiten zwischen einerseits Pro-           Wechselbeziehungen und Bedingtheiten zwischen quar-
blemraum, andererseits „Integrationstor“ (Stadt Leipzig        tiersbezogenen Aufwertungspolitiken im Gebiet um die
2013b: 77) bzw. erwünschtem „Ankunftsquartier“, das            Eisenbahnstraße, der allgemeinen Bejahung von Viel-
den Übergang der Zuwandernden in die Stadtgesell-              falt im öffentlichen Diskurs und den Mechanismen einer
schaft erst möglich macht, liegen unter anderem dem            „inklusiven Exklusion“ von Migration unter sozial indivi-
von der EU geförderten und quartiersbezogenen Projekt          dualisierenden Bedingungen.
„Arbeitsläden – Schnittstelle für neue Arbeit im Quar-
tier“ zugrunde: „Der Leipziger Osten fungiert heute als
‚Ankommensstadtteil‘ und bildet quasi das Integrations-        4.1 Empirische Grundlage und Aushand-
tor zur Stadt Leipzig: Neuankömmlinge lassen sich hier         lungsfelder im öffentlichen Diskurs
nieder, bauen eine Existenz auf, finden Arbeit und ver-
lassen den Stadtteil, sobald sie dazu wirtschaftlich in der    Entsprechend den dargestellten demographischen und
Lage sind. Vor Ort verbleiben die wirtschaftlich Schwa-        stadtentwicklungspolitischen Entwicklungen in Leipzig,
chen und es folgen weitere Neuankömmlinge“ (Behling            die vor allem ab 2010 eine wachsende Bedeutung mig-
2019: 80). Entsprechende Perspektiven sowie eine Art           rationspolitischer Fragestellungen erkennen lassen (vgl.
Akzeptanz bereits eingetretener Segregationserschei-           Kapitel 3.2), fokussiert sich die folgende Betrachtung
nungen kommen auch im Leipziger Integrationskonzept            auf die lokale Berichterstattung der Jahre 2010 bis ein-
zum Ausdruck, wenn es um die sozialräumlichen Pro-             schließlich 2016. Für diesen Zeitraum wurde unter den
zesse in diesem Stadtraum geht (Stadt Leipzig 2013a:           Schlagworten „Migra*tion“, „Integration“ und „Vielfalt“
61). Der öffentliche, das heißt der mediale und kommu-         eine Recherche in lokalen Zeitungsmedien durchge-
nalpolitische Diskurs um den Leipziger Osten themati-          führt. Von den insgesamt rund 1.000 Zeitungsartikeln,
siert bzw. problematisiert somit nicht nur städtebauliche      die diesbezüglich in einem lokalen, Leipzig-spezifischen
und gesellschaftliche Verhältnisse, sondern transportiert      Kontext der Berichterstattung standen, thematisiert etwa
die Präsenz von Migrationsphänomenen implizit bzw.             ein Drittel (289 Artikel) Ereignisse im Gebiet um die
explizit weiterhin mit (Geisen/Riegel/Yildiz 2017: 4). Trotz   Eisenbahnstraße. Die Leipziger Volkszeitung (LVZ) als
einer allgemeinen programmatischen Bejahung von                einzige lokale Tageszeitung Leipzigs sowie die seit 2004
Vielfalt werden, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird,        erscheinende Leipziger Internetzeitung (L-IZ) als erste
auf diese Weise ungewollt neue gesellschaftliche Ein-          internet­basierte tagesaktuelle Regionalzeitung wurden
und Ausschlüsse reproduziert.                                  dabei als wichtigste Medien herangezogen. Die lokale
                                                               Berichterstattung wurde durch einzelne Reportagen in
                                                               überregionalen Zeitungen (z. B. Süddeutsche Zeitung,
4 Dynamiken der „inklusiven                                    Die Zeit, taz, Neues Deutschland) und im Fernsehen
                                                               (ProSieben, ZDF) ergänzt. Diese reflektieren nicht
Exklusion“ am Beispiel des Dis-                                zuletzt die überlokale Aufmerksamkeit, die der Eisen-
kursraumes Leipziger Osten                                     bahnstraße von journalistischer Seite zugeschrieben
                                                               wird.
Ausgehend von wechselseitigen Einflüssen zwischen                   Die quantifizierende Darstellung der Berichterstat-
medialen und stadtentwicklungspolitischen Diskursen            tung zeigt, wie intensiv im untersuchten Zeitabschnitt
bilden im Folgenden Dokumente der Stadtentwicklungs-           berichtet wurde und in welchen Kontexten dieser Stadt-
politik und Zeitungsartikel über die Leipziger Eisenbahn-      raum thematisiert wurde. Abbildung 2 lässt ab 2013 eine
straße die empirische Basis der Analyse. Da den Medien         deutlich ansteigende Anzahl an Artikeln erkennen. Mit
in den öffentlichen Debatten eine zentrale Position bei        Berichten über eine bewaffnete Auseinandersetzung
der Aufmerksamkeitsgenerierung um einzelne Stadt-              zwischen zwei Familien im Sommer 2014 erreichte das
Paradoxe Aushandlungen von Migration im Diskurs um die Leipziger Eisenbahnstraße             9

Abbildung 2: Die Eisenbahnstraße in der Presse 2010-2016: Intensität der Berichterstattung

journalistische Interesse an diesem Stadtraum einen vor-            turen und Angeboten im Leipziger Osten“ erlebbar zu
läufigen Höhepunkt. In der Folge (August 2014) wird in              machen, „die so bunt (sind) wie die Menschen, die hier
der Eisenbahnstraße ein Polizeiposten eingerichtet, der             zu Hause sind“.5
das Sicherheitsgefühl im Quartier erhöhen soll (Kreuz                    Um Hinweise darauf zu erhalten, inwieweit unter-
2014). Zu Beginn des Jahres 2015 wird des Weiteren                  schiedliche Perspektiven auf Migration durch spezifische
intensiv über Konflikte an einer Grundschule berichtet,             sprachliche Verknüpfungen in der Berichterstattung her-
die generell als Versagen der Integrationsbemühungen                gestellt werden, wurde zunächst überprüft, in welchen
im Quartier interpretiert werden (Welters 2015). Erneut             thematischen Kontexten die Begrifflichkeiten „Migration“
in die Negativschlagzeilen geriet die Straße im Sommer              und „Vielfalt“ überwiegend zum Einsatz kommen. Gene-
2015 mit einem tödlich endenden Konflikt zwischen zwei              rell wird der Begriff „Vielfalt“ deutlich seltener benutzt als
Motorradclubs (o.V. 2016). Neben diesen teilweise stark             Begriffe im Feld „Migra*tion“ (vgl. Abbildung 3). Zudem
sensationsorientierten Meldungen behandelt eine Viel-               sind verschiedene Themenverschränkungen erkennbar:
zahl von (kleineren) Artikeln und Mitteilungen den städ-            Während Migration besonders im Zusammenhang mit
tebaulichen Wandel sowie die Aktionen der zahlreichen               „Kriminalität“ diskutiert wird, findet „Vielfalt“ vor allem im
sozialen und kulturellen Initiativen im Quartier. In diesen         Kontext von „Kunst und Kultur“ Verwendung. Die Begriffe
Bereich fällt auch die Thematisierung des seit 2002 jähr-
lich stattfindenden „OSTLichterfestivals“, das in seiner            5    https://www.leipzig.de/freizeit-kultur-und-tourismus/kunst-und-
Selbstbeschreibung darauf abzielt, „die Vielfalt an Kul-            kultur/stadtteil-und-soziokultur/ostlichter/ (08.02.2019).
10        Karin Wiest, Elisabeth Kirndörfer

Abbildung 3: Die Begriffe „Migration“ und „Vielfalt“ in Zeitungsartikeln über die Eisenbahnstraße: Themenkontexte

„Vielfalt“ und „Migration“ markieren somit tendenziell               „Problemkiez“ oder „Multikulti-Viertel“ auch die lokalen
zwei unterschiedliche Erzählungen über das Viertel (vgl.             Bewohner einschließt, die so als soziale Kollektive mit
Abbildungen 2 und 3). In Artikeln, die den Wandel des                bestimmten Verhaltensmustern etikettiert werden (Lanz
Quartiers und seine Potenziale thematisieren, kommt                  2007: 150; Friedrich 2017). Als wichtige erklärende und
der Begriff der „Vielfalt“ verstärkt zum Tragen. Er wird             strukturierende Größen dienen dabei, wie in Kapitel 4.2
jedoch auf unterschiedliche Weise interpretiert und hebt             gezeigt wird, auch „Migration“ und „Herkunft“, die sowohl
sowohl auf kulturelle Gestaltungsfreiräume, Kunst als                implizit als auch explizit in unterschiedlichen Kontexten
auch auf ein positives Nebeneinander der nicht genauer               der Berichterstattung zugrunde gelegt werden. In der
spezifizierten „Kulturen“ ab. Charakteristisch für diese             folgenden qualitativ-interpretativen Analyse einiger aus-
Erzählung ist die Betonung des friedlichen und kreati-               gewählter Zeitungsartikel und einer LVZ-Multimedia-
ven Zusammenspiels von Internationalität, unterschied-               Reportage (2017) werden entsprechende Muster und
lichen Lebensstilen und kultureller Vielfalt, die vor allem          ihre paradoxen gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüsse
mit dem Bild des „Multikulti-Kiez“ (z. B. LVZ-Multimedia-            genauer betrachtet.
Reportage 2017) gefasst wird.                                             Die Verschränkung der beiden geschilderten Narra-
     Das Begriffsfeld „Migra*tion“ sowie damit verknüpfte,           tive über den Leipziger Osten, in denen Migration und
insbesondere nationale Markierungen finden sich                      Vielfalt einerseits als Abweichung und andererseits als
dagegen quantitativ häufiger in der Berichterstattung                Ressource verhandelt werden und die unter anderem
um die Kriminalitätsproblematik im Leipziger Osten (vgl.             in dem Titel der ZDF-Dokumentation „Eisenbahnstraße
Abbildung 3). Diese thematischen und begrifflichen Ver-              Leipzig – Crimespot oder Multikulti-Wunderland?“ (2016)
knüpfungen stehen gleichzeitig im Zentrum des diskursi-              prototypisch zusammengebracht wurden, lässt sich
ven Deutungsrahmens „Problemkiez“. Wesentlich ist in                 zunächst als eine bekannte urbane Diskursfigur lesen.
diesem Zusammenhang, dass die Produktion entspre-                    Anliegen der folgenden Ausführungen ist es, diese Dis-
chender, von außen herangetragener Raumbilder wie                    kursfigur als eine wirkmächtige Konstruktion zu analy-
Paradoxe Aushandlungen von Migration im Diskurs um die Leipziger Eisenbahnstraße   11

sieren, auf deren Grundlage Migration im Diskurs der               Die Multimedia-Reportage über die Eisenbahn-
Stadt Leipzig differenziert, hierarchisiert und in- bzw.      straße lässt zunächst Betreiber eines internationalen
exkludiert wird. Die Möglichkeit einer entsprechenden         Supermarkts, „den ältesten Dönermann auf der Straße“,
Paradoxie-Behauptung soll daher im Folgenden nicht            und eine Ladeninhaberin, die „Kleidung für kopftuchtra-
nur genutzt werden, um das Aufeinandertreffen unter-          gende Frauen“ verkauft, zu Wort kommen. Stereotype
schiedlicher Logiken aufzuzeigen, sondern auch, um            werden in diesem diskursiven Einschluss nicht dekons-
„die Einheit bzw. Genese zu vergegenwärtigen, durch           truiert, sondern bleiben – wie das Kopftuch, der Döner,
die Sachverhalte als paradox erscheinen bzw. paradoxe         die frische Minze – wirkmächtige Devianzmarker. Ein-
Verläufe gesellschaftlicher Entwicklung zu konstatieren       schluss und Veränderung schließen einander nicht aus.
sind“ (Kemper/Vogelpohl 2013: 223; vgl. auch Kapitel          Der Beitrag dieser migrantisch markierten Akteure zur
2.1). Eine entsprechende paradoxe Diskursformation            Stadtgesellschaft ist relativ eindeutig dem (internationa-
wird somit als ein spezifisches Moment gegenwärtiger          len) Warenverkehr zugeordnet. Demgegenüber geben
urbaner Vielfaltsdiskurse betrachtet, über die Verschie-      die als ‚deutsch‘ Porträtierten Einblicke in sehr diverse
bungen in der diskursiven Vermittlung gesellschaftlicher      Beschäftigungsfelder und Branchen. Sie betätigen
Ein- und Ausschlüsse über den Faktor Migration deutlich       sich im künstlerischen Feld (ein Galerist, ein Rapper),
werden können.                                                im lokalen Bürgerverein, in integrativen Sportprojekten
                                                              (Boxclub), in der Wohltätigkeitsbranche (Leipziger Tafel)
                                                              und im Bereich öffentliche Sicherheit (Polizeiposten).
4.2 Einschluss durch Abgrenzung und                                Dass sich dieser hier deutlich werdende gesell-
Kontrolle? Die diskursive Konstruktion                        schaftliche Einschluss von Migration über die Verqui-
migrantisch markierter Akteure                                ckung mit Stadtökonomie nicht nur auf die mediale
                                                              Berichterstattung beschränkt, zeigt sich auch in den
Um sich der Frage anzunähern, welche Rolle migran-            strategischen Argumentationen der Leipziger Stadtent-
tisch markierte Akteure in der Berichterstattung über die     wicklung, die vor allem im Leipziger Osten auf die För-
Eisenbahnstraße im Leipziger Osten spielen und welche         derung migrantischer Ökonomien setzt, „um Wirtschafts-
Hierarchisierungen dadurch erzeugt werden, kann die           kraft, Versorgungswirkung und Beschäftigungseffekte
Multimedia-Reportage „Vom Drogenkiez zum Künstler-            dieser Unternehmen besser nutzen zu können“ (Stadt
treff“, die im Herbst 2017 als Online-Format der Leipziger    Leipzig 2013b: 27). Stadtentwicklungspolitisch wird der
Volkszeitung erschienen ist, als erster Aufhänger dienen.     besondere Fokus auf die Integration von Migranten vor
Sie zielt – ausgehend von einer Bewohnerperspektive –         allem mit der erfolgversprechenden Verbindung von
darauf ab, „verschiedene Blickwinkel auf den Multikulti-      zwei Planungszielen begründet: So soll die „Integration
Kiez“ zu zeigen. Diese Reportage steht stellvertretend für    in den Arbeitsmarkt und Qualifizierung“ (Stadt Leipzig
eine Reihe von Artikeln in den lokalen Zeitungsmedien,        2017: 39) produktiv mit der Stärkung von städtebaulichen
die die historische Entwicklung der Eisenbahnstraße seit      (Problem-)Zonen, wie sie die Eisenbahnstraße charak-
etwa 1990 an drei Bevölkerungsgruppierungen festma-           teristischerweise repräsentiert, verbunden werden. „Eth-
chen (vgl. auch Haug/Ibs 2014; Fritz/Hoffmann 2015):          nische Unternehmen können eine wichtige Rolle für die
dem Leipziger Mittelstand der Nachwendezeit als einer         Revitalisierung (Ladeneinheiten und Büros) spielen,
Art historischer Bestand der Straße, den Migranten, die       da der Zuzug und Verbleib von Migranten/-innen über-
ab den 2000er-Jahren verstärkt zugezogen sind, sowie          proportional hoch ist“ (Stadt Leipzig 2013b: 45). Dieser
Studierenden und Künstler als ‚Anzeiger‘ eines erneu-         Fokus auf den wirtschaftlichen Mehrwert von Migration
ten Umbruchs rund um das Thema Gentrifizierung. Mit           im Gebiet um die Eisenbahnstraße spiegelt sich auch
Migration assoziiert werden in der Berichterstattung zum      im Kontext von Austauschforen der lokalen Ökonomie.
einen Gewerbetreibende im Quartier, über die die Integ-       So werden in einem Artikel der Leipziger Volkszeitung
ration in die Stadtgesellschaft unter dem Aspekt ökono-       Akteure der Händlergemeinschaft „Lo(c)kmeile“ zitiert,
mischer Leistungsfähigkeit thematisiert wird. Nationale       die sich Ende 2000 rund um die Sanierung der Eisen-
Markierungen werden zum anderen mit der Darstellung           bahnstraße gegründet hat. Sie plädieren dafür, den
krimineller Vorkommnisse im Gebiet verknüpft. Im Mittel-      Kontakt mit „ausländische[n] Mitbürger[n], die hier ein
punkt der folgenden Betrachtung steht daher die Art und       Geschäft betreiben“ zu intensivieren, denn sie gehörten
Weise, wie die Berichterstattung über die unternehmeri-       „zum wirtschaftlichen Mittelstand des Ostens“ (Ossyra
sche Aktivität der Migranten mit dem Thema Sicherheit         2011: 17).
im Stadtraum verschränkt wird.
12        Karin Wiest, Elisabeth Kirndörfer

     Dieser diskursive Einschluss der migrantischen                   freue mich, ich freue mich wirklich‘, sagt er, ‚denn das
Ökonomie und ihrer Repräsentanten als wirtschaftlich                  ist eine gefährliche Straße‘. Der 40-jährige Kurde, der in
produktivem und gleichzeitig sozial integrativem Faktor               der Eisenbahnstraße einen Laden für türkische Backwa-
der Stadtentwicklung geht allerdings mit der Exklusion                ren betreibt, spricht von Drogen, Lärm, der Belästigung
jener einher, die sich nicht in das triadisch formulierte             junger Frauen. Neben seinem Geschäft hat die Polizei
Produktivitätsparadigma Stadtteilaufwertung – Integra-                seit gestern eine Mini-Außenstelle vom Revier Zentrum.
tion – Wirtschaft einbinden lassen.                                   ‚Das ist gut‘, meint der Händler“ (Kreuz 2014: 15).
     Ein Blick auf die inhaltlichen Äußerungen der Port-                    Die partielle gesellschaftliche Einschließung migran-
rätierten in der LVZ-Multimedia-Reportage verdeutlicht,               tischer Akteure basiert also auf einer deutlichen Grenz-
wie die Anrufung einer „produktiven Devianz“ – über                   ziehung in Richtung einer ebenfalls an den Faktor Mig-
eine Verschränkung mit dem urbanen Sicherheitsdis-                    ration geknüpften Devianz, über die gesellschaftlicher
kurs – mit einer zu kontrollierenden Devianz verbunden                Ausschluss weiter reproduziert wird. Die Voraussetzung
wird. Mit dem Begriff „produktive Devianz“ soll in diesem             des diskursiven Einschlusses der migrantischen Gewer-
Zusammenhang betont werden, dass Othering-Dynami-                     betreibenden wird im Zeitungsdiskurs an ihre Ablehnung
ken6 nicht aufgehoben werden, wenn migrantisch mar-                   der kriminellen Vorkommnisse im Quartier gekoppelt.
kierte Akteure aufgrund ihrer wirtschaftlichen Produktivi-            Kern dieser Gegenbildkonstruktion ist die Figur des mig-
tät diskursiven Einschluss erfahren. Ihre Markierung als              rantischen Kriminellen, die die Berichterstattung über die
Migranten wird in diesem Fall produktiv in Wert gesetzt,              Eisenbahnstraße in den Jahren 2014 und 2015 dominiert
anstatt als Stigma diskursiven Ausschluss zu provozie-                hatte und ein wesentliches Element ihrer medialen Kon-
ren.                                                                  struktion als „gefährlichste Straße Deutschlands“ reprä-
     Die Anrufung der Migranten als ökonomisch produk-                sentiert (z. B. Taff 2013). Vor diesem Hintergrund kann
tive städtische Subjekte ist im Zeitungsdiskurs an eine               das folgende Zitat mit einer Stellungnahme der Polizei
spezifische Positionierung zum Thema urbane Sicher-                   veranschaulichen, wie Grenzen zwischen gesellschaft-
heit geknüpft. So wird in allen drei Bekundungen der mig-             lich Dazugehörigen und Ausgeschlossenen, sicheren
rantisch markierten Akteure positiv auf den Wandel des                und gefährlichen Orten über Verschränkungen von
Viertels Bezug genommen, sowohl mit Verweis auf die                   Ethnizität und Quartier hergestellt werden: „Wir haben
intensivierte Polizeipräsenz – die ausschließlich befür-              in den beiden Stadtteilen Neustadt-Neuschönefeld und
wortet wird – als auch hinsichtlich der sich verändernden             Volkmarsdorf einen überdurchschnittlichen Anteil an
Bewohnerschaft: So begrüßt der Betreiber des interna-                 einer Bevölkerung mit migrantischem Hintergrund. Und
tionalen Supermarkts, dass in seinem Laden nicht mehr                 das hat positive Auswirkungen kultureller Art: Lebens-
eingebrochen wird, woran „auch der neue Polizeiposten                 mittelgeschäfte entlang der Eisenbahnstraße bieten aus
Schuld sei“. Auch er bejaht explizit, „dass den ganzen                aller Herrgotts-Ländern entsprechende Köstlichkeiten
Tag ein Polizeiauto gut sichtbar in der Eisenbahnstraße               an. Aber es hat auch ein paar Nachteile. Und die Nach-
parkt“. Die Betreiberin des Geschäfts für islamische                  teile liegen z. B. darin, dass man ethnisch-religiöse Kon-
Mode bekundet, dass sie „mit schlechten Leuten […]                    flikte aus den Heimatländern mit sich führt, hier dann im
nichts zu tun“ habe und freut sich über die Studenten,                Kleinen austrägt, dass gewisse Hemmschwellen anders
durch die „die Straße viel schöner geworden [ist]“ und                gelagert sind als bei Personen, die vielleicht im euro-
deren Präsenz sie ihr gewachsenes Sicherheitsgefühl                   päischen Raum sozialisiert sind […]. […] das spult sich
verdankt. In einem anderen Artikel in der Leipziger Volks-            auf und letztendlich kann es sein, dass sich hier Perso-
zeitung, in dem es um die Eröffnung der Außenstelle des               nengruppen von 50 Köpfen auf jeder Seite gegenüber
Polizeipostens in der Eisenbahnstraße geht, wird ein                  stehen, bewaffnet mit Latten und Stichwerkzeugen und
weiterer Geschäftstreibender an der Eisenbahnstraße                   sich gegenseitig eben ans Leder wollen. […] und das
zitiert, der – ähnlich wie die Porträtierten der Reportage            war einer der maßgeblichen Gründe, um die Außen-
– als eine Art „migrantischer Gewährsmann“ städtischer                stelle in der Eisenbahnstraße einzurichten“ (Sprecher
Sicherheitspolitik in den Diskurs „gerufen“ wird: „‘Ich               der Polizei, LVZ-Multimedia-Reportage 2017).
                                                                            Das Zitat liest sich wie die Beschreibung einer Grat-
                                                                      wanderung, die von einer zunächst als ‚produktiv‘ mar-
6 „In this context, Othering is defined as a process in which,
                                                                      kierten Exotik hin zu einer ‚absolut-differenten‘ Devianz
through discursive practices, different subjects are formed,
hegemonic subjects – that is, subjects in powerful social positions
                                                                      abkippt, die aber letztendlich auf einer gemeinsamen
as well as those subjugated to these powerful conditions” (Thomas-    Logik, nämlich der internationalen Zuwanderung in den
Olalde/Velho 2011: 27).                                               Stadtraum, gründet. Migration stellt in dieser Logik die
Paradoxe Aushandlungen von Migration im Diskurs um die Leipziger Eisenbahnstraße            13

zentrale gesellschaftliche Dynamik dar, die den darge-        4.3 Urbanität durch Segregation?
stellten sozialen Antagonismus im Quartier erst hervor-       Migration und Imaginationen von
ruft. In anderen Zeitungsartikeln wird der Zusammen-          Stadtgesellschaft
hang zwischen Kriminalität und Migration noch expliziter
hergestellt: „Im Leipziger Osten sind vor allem Bürger        In diesem Kapitel steht die Frage im Mittelpunkt, inwie-
mit Migrationshintergrund in die Auseinandersetzungen         fern die paradoxe Anrufung des Leipziger Ostens über
verwickelt. […] Auf der einen Seite stehen Menschen           den Faktor Migration verräumlicht wird: Welche Imagi-
aus anderen Ländern, die hier wohnen – und die Straf-         nationen von Stadtgesellschaft spiegeln sich in medialen
taten begehen, wie in der Eisenbahnstraße […]“ (Meine         Reproduktionen der Eisenbahnstraße wie auch in lokal-
2014: 1).                                                     politischen Strategien wider? Wie bereits am Beispiel
     Die Figur des migrantisch markierten Kriminellen,        der Figur des migrantischen Kriminellen gezeigt werden
die als das nicht zum sozialen Gefüge der Stadt zugehö-       konnte, wird über die diskursive Verknüpfung des poli-
rige Andere im Sinne von nichtintegrierbar reproduziert       zeilichen Instruments „gefährlicher Ort“7 (in der Bericht-
wird, bildet hier das diskursive Pendant, über das der        erstattung oft auch als Kriminalitätsschwerpunktraum
wirtschaftlich produktive migrantische Akteur im Leip-        bezeichnet) mit dem Faktor Migration die diskursive
ziger Osten legitimiert wird (z. B. Döring/Orbeck 2014).      Figur der „gefährlichen Parallelgesellschaft“ produziert.
Aus diskurstheoretischer Perspektive ließe sich für das       Gleichzeitig wird der Leipziger Osten im Bild des „Multi-
gezeigte Beispiel ableiten, dass der gesellschaftliche        Kulti-Kiezes“ im Sinne einer produktiven Andersartigkeit
Einschluss jener migrantischen Positionen, die sowohl         in Wert gesetzt. Das Spannungsverhältnis dieser beiden
dem Paradigma ökonomischer Inwertsetzung entspre-             Imaginationen von Stadtgesellschaft, das über eine heu-
chen, als auch im Sinne einer positiven Affirmation städ-     ristische Paradoxie-Annahme aufgeschlossen werden
tischer Sicherheitspolitik wirken, normalisiert wird. Die     soll, zeigt sich hier in einer anderen Spielart der dis-
Grenze zwischen „eigen“ und „fremd“, die mit der „Unter-      kursiven Verwobenheit von In- und Exklusion, nämlich
scheidung von ‚sicher‘ und ‚unsicher‘ […] verwoben ist“       im Sinne einer Grenzverhandlung: Wie viel ‚Multikulti‘
(Glasze/Pütz/Schreiber 2005: 329), verschiebt sich hier.      kann die Stadtgesellschaft ertragen und wann ‚entglei-
Im öffentlichen Diskurs werden migrantisch markierte          tet‘ ein Stadtviertel? Stadtentwicklungs- und Urbanitäts-
Akteure besonders ‚wir-fähig‘, wenn sie sich im Sinne         diskurse bewegen sich hier abwägend-austarierend auf
der urbanen Sicherheit positionieren.                         der Scheide zwischen Problem- und Potenzialdiskurs.
     Die diskursive Konstruktion einer nicht zivilisier-      Der Faktor Migration erscheint dabei in das klassische
ten, kriminellen Parallelwelt stellt dabei die implizite      Stadtteilnarrativ eines Aufwertens (upgrading) und
oder explizite Bezugsgröße dar, zu der sich die zitier-       Abwertens (downgrading) eingewoben. Wie im folgen-
ten Gewerbetreibenden der Eisenbahnstraße verhalten           den Ausschnitt ein Blick auf die Historie der Straße zeigt,
müssen, um ihren Zutritt zur Mehrheitsgesellschaft zu         erscheint er als Abweichung, die es zu überwinden gilt:
legitimieren. Dieser Befund steht wiederum im Gegen-          „Zu DDR-Zeiten war sie die Heimat der Arbeiterschicht,
satz zu den nicht migrantisch markierten Positionen           nach der Wende das Viertel der Migranten und später
von Studenten, Maklern oder Vertretern von Initiativen,       Schauplatz schwerer Straftaten. Ihr einstiger Glanz als
denen in der Berichterstattung eher die Rolle zufällt, das    große Einkaufsstraße im Osten der Stadt verblasste.
schlechte Image des Stadtteils zu relativieren. Letztend-     Doch seit einigen Jahren erlebt der Kiez eine Renais-
lich handelt es sich bei dieser diskursiven Konstruktion      sance: In das Viertel mit dem schlechten Ruf und den
migrantischer Akteure im Quartier um eine Art ‚Diskurs-       billigen Mieten ziehen Studenten und Künstler; jahrzehn-
zwilling‘: Die auf ökonomischen Kriterien basierende          telang brachliegende Gründerzeithäuser werden saniert
Inklusion der einen – der Repräsentanten der migran-          und Läden eröffnet – die Grundstückspreise steigen“
tischen Ökonomie – ist diskursiv mit einer teilweise ras-     (LVZ Multimedia-Reportage 2017).
sistisch argumentierenden Exklusion der anderen – der               Im Folgenden werden zunächst die parallel ver-
migrantisch markierten kriminellen Ereignisse und ihrer       laufenden Diskursstränge skizziert und im Anschluss
Akteure – verknüpft. Der Faktor Migration ist das Binde-      daran die Grenzaushandlungen beleuchtet, die sich
glied, das im Diskurs um urbane Sicherheit und Aufwer-        aus dem angedeuteten diskursiven Spannungsverhält-
tungsprozesse im Quartier gleichzeitig als Einschluss-        nis ergeben. In tagesaktuellen Berichterstattungen, vor
und Ausschlussmoment fungiert.                                allem jener, die sich auf polizeiliches Handeln und Fragen

                                                              7 Nach § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 des Sächsischen Polizeigesetzes.
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