Polizei und Moscheevereine - EIN LEITFADEN zur Förderung der Zusammenarbeit

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Polizei und Moscheevereine - EIN LEITFADEN zur Förderung der Zusammenarbeit
Umschlag_TIK_AKI   18.10.2005   20:51 Uhr   Seite 2

                                       EIN LEITFADEN   zur Förderung der Zusammenarbeit

     Polizei und Moscheevereine
Polizei und Moscheevereine - EIN LEITFADEN zur Förderung der Zusammenarbeit
Inhalt_TIK2_AKIII   21.10.2005     13:57 Uhr     Seite 2

              VORWORT

                  Gute Polizeiarbeit zeichnet sich auch da-            kräfte bei der Präventionsarbeit mit muslimi-
              durch aus, dass sie interkulturelle Zusammen-            schen Gemeinden. Der Leitfaden konkreti-
              hänge erkennt sowie beurteilen kann und                  siert, was unter der allseits geforderten
              daran ihre Maßnahmen im Rahmen der gesetz-               „interkulturellen Kompetenz“ zu verstehen
              lichen Bestimmungen ausrichtet. Dazu muss die            ist, jenseits abstrakter Begriffsdefinitionen
              Polizei vor allem mit dem Lebensumfeld von Ein-          und rein moralischer Forderungen. Er beruht
              wanderern und mit seinen Strukturen, Spiel-              auf der praktischen polizeilichen Arbeit vor
              regeln und Kommunikationsformen vertraut sein.           Ort und berücksichtigt die Grenzen der poli-
                                                                       zeilichen Kooperationsfähigkeit.
                 Gerade in der Präventionsarbeit mit musli-
              mischen Gemeinden sind neue Potenziale der                   Ziel des Leitfadens ist es, neben der
              Zusammenarbeit auszuschöpfen. Die An-                    Darstellung von Vorschlägen zur Zusammen-
              schläge von London unterstreichen dabei die              arbeit mit Muslimen und Moscheevereinen
              Bedeutung solcher Kooperationen. Durch die               insbesondere durch die Vermittlung von
              Einbindung von Moscheevereinen in die poli-              Kenntnissen über die Kultur und Werte des
              zeiliche Präventionsarbeit können muslimi-               islamischen Glaubens die interkulturelle
              sche Gemeinden einen unmittelbaren Beitrag               Kompetenz der Polizei zu fördern. Er kann
              zur Kriminalitätsvorbeugung leisten. Dies för-           zur polizeilichen Aus- und Fortbildung, aber
              dert die vertrauensvolle Zusammenarbeit                  auch zur persönlichen Orientierung oder
              zwischen Muslimen und den staatlichen                    Weiterbildung genutzt werden.
              Institutionen und damit die Integration mus-
              limischer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Für                  Die Zusammenarbeit zwischen der
              eine solche Zusammenarbeit gibt es in                    Bundeszentrale für politische Bildung und der
              Deutschland bereits erfolgreiche Beispiele.              polizeilichen Kriminalprävention der Länder
                                                                       und des Bundes ist ein wichtiger Schritt auf
                  Der vorliegende Leitfaden der Polizei-               dem Weg, die politische Bildung mit den
              lichen Kriminalprävention der Länder und                 Anforderungen professioneller Fortbildung in
              des Bundes – entstanden aus einem Modell-                der Polizeiarbeit zu verknüpfen. Hier handelt
              projekt der Bundeszentrale für politische                es sich um eine langfristige Aufgabe, damit die
              Bildung in Zusammenarbeit mit den Polizei-               Polizei auf dem Gebiet interkultureller
              präsidien Berlin, Essen und Stuttgart – bietet           Herausforderungen einer effizienten und
              eine Orientierung für polizeiliche Führungs-             nachhaltigen Polizeiarbeit gerecht wird.

              Erwin Hetger                                             Thomas Krüger
              Landespolizeipräsident und Vorsitzender der polizeili-   Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung
              chen Kriminalprävention der Länder und des Bundes

                                                                                                                             2
Polizei und Moscheevereine - EIN LEITFADEN zur Förderung der Zusammenarbeit
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                    INHALT
                                                                        INHALT
                    1. EINLEITUNG                                   5
                                                                        5.1.2 Praktische Hinweise
                    2. HANDLUNGSBEDARF                              7         zum Kontaktaufbau                 34
                                                                              Erstkontakt                       34
                    3. ZIELE DES LEITFADENS                        11         Polizeilicher Ansprechpartner     35
                                                                              Ansprechpartner seitens
                    4. INFORMATIONEN ZU KULTUR                                des Moscheevereins                36
                       UND RELIGION                                13         Zeit                              36
                                                                              Örtlichkeit                       36
                      4.1     Interkulturelle Kompetenz            13         Vorstellung                       36
                                                                              Polizei als „Freund und Helfer“   37
                      4.2     Was man über den Islam wissen                   Einladungen zu
                              sollte – in Stichworten       14                besonderen Anlässen               37
                      4.2.1   Einheit und Vielfalt          14                Kontaktpflege                     37
                      4.2.2   Grundzüge im islamischen                        Gemeinsames
                              Selbstverständnis             15                Interesse an Prävention           37
                      4.2.3   Die fünf Säulen des Islam     16                Einbeziehung
                      4.2.4   Islam und modernes Leben      18                muslimischer Frauen               38
                      4.2.5   Der Islam in Deutschland – so                   Einbindung in lokale Strukturen   38
                              vielfältig wie der Weltislam  20          5.1.3 Stolpersteine und
                      4.2.6   Muslimische Vereine                             Lösungsmöglichkeiten              39
                              und Dachverbände              22                Unangekündigter Besuch            39
                                                                              Jüngere oder weibliche
                      4.3     Hinweise für die                                Dienstkräfte                      39
                              Begegnung mit Muslimen               24         Zeitansatz                        39
                      4.3.1   Vielfalt, Vielfalt, Vielfalt –                  Versuche der
                              auch in der Kommunikation            24         Instrumentalisierung              39
                      4.3.2   Religiöse Feste sollte                          Projektarbeit mit
                              man kennen!                          24         den Kooperationspartnern          40
                      4.3.3   Frauenwelt – Männerwelt              25         Knappe Geldmittel                 40
                      4.3.4   Traditionelle Familienorien-              5.1.4 Ansätze zur Einbindung
                              tierung: Anknüpfungspunkt                       der Moschee                       41
                              und Konfliktpotenzial                25         Unterstützung des Vereins         42
                                                                              Unterstützung einzelner
                    5. PRAXISERFAHRUNGEN                           27         Vereinsmitglieder                 42
                                                                              Aufbau von
                      5.1   Grundsätzliches zu                                Vermittlungspersonen              42
                            Kooperationen                          27         Unterstützung der Polizei         42
                      5.1.1 Voraussetzungen
                            seitens der Dienststelle               28   5.2   Thematische Anknüpfungs-
                            Kooperationsprojekte                              punkte gegenüber
                            sind Chefsache                         28         muslimischen Gemeinden            43
                            Kooperationen                                     Überblick über
                            erfordern Projektarbeit                28         Zuständigkeiten der Polizei       43
                            Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für              Gewaltprävention, auch
                            Kooperationsprojekte gewinnen          30         Gewalt im sozialen Nahraum        43
                            Kooperationen                                     Suchtprävention                   44
                            erfordern Kontinuität                  30         Gesetzesänderungen                45
                            Geeignete Kooperationspartner          31
                            Informationsquellen                    33   6. RESÜMEE                              46

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                                                   EINLEITUN
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Polizei und Moscheevereine - EIN LEITFADEN zur Förderung der Zusammenarbeit
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                                                                                                                                                     EINLEITUNG
                                 Professionelle und zukunfts-                        ments begriff und bereit war, sie in die tägliche
                              orientierte Polizeiarbeit wird                         Arbeit zu integrieren.
                              künftig mehr interkulturelle
                              Kompetenz erfordern. Gerade im                             Die Dienststellen im Modellprojekt bauten
                              Umgang mit islamischen Gemein-                         über einen längeren Zeitraum Kooperationen
                              den können die Chancen der                             mit Moscheevereinen auf und erwarben
                    gesamtgesellschaftlichen Prävention noch                         dadurch praxisnahe Kenntnisse über den Islam
                    besser genutzt und Muslime über die                              sowie seine Organisationen im Stadtteil.
                    Moscheevereine stärker in die gemeinschaft-                      Hierbei entstanden auch Handlungsstrategien
                    liche Bewältigung der anstehenden Sicher-                        zur vertrauensvollen Einbindung von Musli-
                    heitsaufgaben vor Ort einbezogen werden.                         men in die gemeinsame Verantwortung für die
                                                                                     Prävention von Kriminalität muslimischer
                       Unser Leitfaden bietet dazu kein                              Jugendlicher, was für den Erfolg weiterer poli-
                    „Patentrezept“, sondern eine Orientie-                           zeilicher Aktivitäten wichtig sein dürfte.
                    rungshilfe zum Umgang mit den Erwar-
                    tungen der islamischen Bevölkerung                                  Die unterschiedlichen Erfahrungen aus
                    gegenüber der deutschen Polizei. Ihm lie-                        Berlin, Essen und Stuttgart zeigen deutlich,
                    gen die Erfahrungen eines 18-monatigen                           dass es für die Kooperationen mit Moscheen
                    Modellprojekts „Kooperation von Polizei-                         kein generell gültiges „Rezept“ gibt: Was in der
                    dienststellen mit Moscheevereinen“ in                            einen Stadt funktioniert, muss in einer anderen
                    Berlin, Essen und Stuttgart im Auftrag                           keineswegs ebenso funktionieren. Moscheen
                    der Bundeszentrale für politische Bildung                        haben – wie Polizeidienststellen – verschiedene
                    (bpb) zugrunde.                                                  Voraussetzungen hinsichtlich ihrer Ausrichtung
                                                                                     und Ansichten, eben auch im Hinblick auf Offen-
                        Das Modellprojekt vermittelte einzelnen                      heit und Engagement für Kooperationen.
                    Polizeibeamtinnen und -beamten sowie gan-
                    zen Dienststellen der Polizei die Kompetenz in                       Grundsätzlich ist die Einbindung der
                    polizeilicher Prävention gegenüber islamischen                   Moscheevereine in lokale Netzwerke aus
                    Gemeinden; es basierte auf einer im Projekt                      Jugendamt, Schule und freien Trägern förder-
                    „Transfer interkultureller Kompetenz“ (TiK)1                     lich, wenngleich es auch hier Unterschiede
                    entwickelten, bundesweit schon in Jugend-                        gibt. In manchen Sozialräumen arbeiten solche
                    und Gesundheitsämtern bewährten Strategie:                       Netzwerke gut zusammen, in anderen nicht.
                    Durch gezielte Projektarbeit machen sich                         Die Erfahrungen aus dem Modellprojekt sollen

UNG
                    Institutionen mit dem Lebensumfeld von Ein-                      helfen, Stolpersteine aus dem Weg zu räumen:
                    wanderern mit seinen Strukturen, Spielregeln                     Durch die ständige Auswertung der Erfah-
                    und Kommunikationsformen vertraut.                               rungen und die Anpassung der Strategie an
                                                                                     etwa auftretende Hindernisse lassen sich auch
                       Voraussetzung für das Modellprojekt war,                      in der sozialen Integration neue Wege finden,
                    dass im Polizeibereich die örtliche Polizeifüh-                  um etwa Honoratioren aus der islamischen
                    rung die Entwicklung interkultureller Kompe-                     Gemeinde in die Verantwortung für die
                    tenz als Aufgabe ihres strategischen Manage-                     Prävention mit einzubeziehen.

                    Tatiana Lima Curvello, Margret Pelkofer-Stamm: Interkulturelles Wissen und Handeln. Neue Ansätze zur Öffnung sozialer Dienste.
                    1

                    Dokumentation des Modellprojekts „Transfer interkultureller Kompetenz“ (TiK), Berlin 2003

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Polizei und Moscheevereine - EIN LEITFADEN zur Förderung der Zusammenarbeit
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                                                       HANDLUN
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                    2. HANDLUNGSBEDARF

                       Die Polizei steht – wie andere                                     Gute Polizeiarbeit wird künftig die polizei-
                    Institutionen auch – vor der Aufgabe,                             lichen Interventionsmöglichkeiten in inter-
                    sich auf das Lebensumfeld von                                     kulturellen Zusammenhängen besser erken-
                    Einwanderern einzustellen. In Deutsch-                            nen, sachkundiger beurteilen und vermehrt

                                                                                                                                                        HANDLUNGSBEDARF
                    land, wo über sieben Millionen                                    berücksichtigen müssen. Nur so kann die
                    Ausländer leben, gibt es Städte mit                               Polizei ihre Aufgaben auch unter dem
                    Stadtteilen, in denen Deutsche eine                               Eindruck einer verstärkten Zuwanderung
                    Minderheit bilden. Wie Bevölkerungs-                              erfüllen. Die Antwort auf diese Herausforde-
                    wissenschaftler schätzen, wird in zehn                            rung ist die Entwicklung von adäquaten
                    Jahren über die Hälfte der unter 20-jähri-                        Kompetenzen.
                    gen Einwohner einiger deutscher Groß-
                    städte nichtdeutscher Herkunft sein.                                  Die Anforderungen, auf die sich die
                    Hinzu kommt die große Zahl eingebür-                              Polizei professionell einstellen muss, ergeben
                    gerter Migranten sowie Aussiedler, die                            sich auf verschiedenen Handlungsfeldern2, so
                    von der Statistik als Deutsche erfasst                            beispielsweise
                    werden.
                                                                                         • bei Kontakten von Polizeibeamtinnen
                       Wenn Integration nicht gelingt und                                  und -beamten mit einzelnen Bürge-
                    sich in manchen Stadtvierteln schon                                    rinnen und Bürgern nichtdeutscher Her-
                    jetzt so genannte Parallelgesellschaften                               kunft, etwa bei Kontrollen, Ermittlun-
                    entwickeln, wenn jugendliche Migran-                                   gen, Vernehmungen oder Durchsu-
                    tinnen und Migranten keine hinreichen-                                 chungen,
                    den schulischen Qualifikationen erlangen
                    und ihre Arbeitslosenquote überdurch-                                • im Verhältnis der Polizeibehörde zu
                    schnittlich hoch ist, dann betrifft das                                Minderheitengruppen insgesamt, vor
                    letztlich auch die Polizei. Wo sich soziale                            allem zu ethnischen und religiösen
                    Probleme mit ethnischer und/oder kultu-                                Minderheiten,
                    reller Abschottung überlagern, greifen
                    herkömmliche Methoden und Routine                                    • in der internen Zusammenarbeit von
                    der Polizeiarbeit oft nicht mehr.                                      Polizeibeamtinnen und -beamten mit
                                                                                           eigener unterschiedlicher ethnischer
                                                                                           oder religiöser Herkunft,

                                                                                         • im Erscheinungsbild der Polizei in der
                                                                                           politischen Öffentlichkeit und bei den
                                                                                           verschiedenen ethnischen und religiö-
                                                                                           sen „Gemeinden” sowie

                                                                                         • in der Präventionsarbeit, in der die
                                                                                           Polizei ebenfalls die besonderen Lebens-

NGSBEDARF                                                                                  umstände der Einwanderer berück-
                                                                                           sichtigen muss.

                    Rainer Leenen et al.: Interkulturelle Kompetenz bei der Polizei, Qualifizierungsstrategien, in: Gruppendynamik und Organisations-
                    2

                    beratung, Jahrgang 33, Heft 1, 2002, S. 97–120

          7
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              HANDLUNGSBEDARF
                 Diese einzelnen Aspekte polizeilicher        Viele in Deutschland ungewohnte
              Tätigkeit sind miteinander verwoben: So      Verhaltensmuster im islamischen Umfeld
              kann ein Ermittlungserfolg ganz wesentlich   stehen im Zusammenhang mit dortigen
              vom generellen Verhältnis zwischen der       religiösen oder kulturellen Traditionen.
              Polizei und den Menschen einer jeweiligen    Meist braucht man aber keine tiefer gehen-
              ethnischen Gruppe, aber auch von speziel-    de Kenntnis dieser traditionellen Hinter-
              len polizeilichen Einzelkenntnissen über     gründe, um bei polizeilichem Handeln
              das betreffende Lebensumfeld abhängen.       Konflikte zu vermeiden; vielmehr reicht es
                                                           völlig aus, bestimmte Verhaltensweisen
                 In polizeilichen Einsatzsituationen im    einfach nur zu kennen, zu verstehen und
              muslimischen Umfeld ergeben sich prakti-     sich ganz pragmatisch darauf einzustellen.
              sche Probleme vielfach schon aus der
              Abweichung von den in Mitteleuropa übli-        So steht die Gleichberechtigung der Frau
              chen Erwartungen. So kann es zu unvorher-    in Europa außer Frage; in vielen arabischen
              gesehenen und ungewollten Konflikten         oder auch türkischstämmigen Familien ist
              kommen, die sich mit einem Mindestmaß        es Frauen hingegen nicht erlaubt, auf
              an Sachkenntnis und Sensibilität hätten      Besuche, auf Fragen oder auf das Auftreten
              vermeiden lassen.                            der Polizei in der uns gewohnten Weise zu
                                                           reagieren. Hier gilt allein der Ehemann
                                                           oder ein sonstiges erwachsenes männliches
                                                           Familienmitglied als kompetenter An-
                                                           sprechpartner: Er würde es als Missachtung
                                                           seiner Autorität empfinden, wenn man
                                                           zuerst – wie bei uns üblich – die Frau
                                                           begrüßt oder eine Frage an sie richtet. Das
                                                           zu berücksichtigen, kann bei normalen
                                                           Kontakten die Arbeit der Polizei erleich-
                                                           tern. Im Einsatzfall oder bei der
                                                           Durchführung von Ermittlungen kann es
                                                           allerdings zur Erfüllung des polizeilichen
                                                           Auftrags durchaus erforderlich sein, darauf
                                                           keine Rücksicht zu nehmen.

                                                              Ebenso gibt es erhebliche Unterschiede
                                                           im Verhalten von Erwachsenen gegenüber
                                                           Kindern, die polizeiliches Handeln ungüns-

                                                                                                         8
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F
                        tig beeinflussen können, wenn man die          Schuhe den Einsatzerfolg aus polizeilicher
                        Gewohnheiten des fremden Kulturkreises         Sicht gefährden würde.
                        nicht kennt oder nicht beachtet. Kinder
                        sind im muslimischen Kulturkreis hoch              Dennoch ist grundsätzlich auf die
                        angesehen und oft noch mit einem (proble-      Einhaltung westlicher Normen und Wertestan-
                        matischen) Begriff von „Ehre“ verbunden;       dards zu bestehen. Im Rahmen dieser Ordnung
                        daher ist es schon vom Grundsatz her pro-      sollte sich jedoch die Polizei als Repräsentant
                        blematisch, Eltern mit einem Fehlverhalten     des Staates auf kulturelle Besonderheiten ein-

                                                                                                                         HANDLUNGSBEDARF
                        ihrer Kinder konfrontieren zu müssen.          lassen.
                        Andererseits würde es auch als ungehörig
                        empfunden, ein Kind in Gegenwart seines           Selbstverständlich gibt es viele Beispiele
                        Vaters direkt anzusprechen oder gar zu         problemloser Zusammenarbeit mit muslimi-
                        befragen, ohne das Vorgehen zuvor mit          schen Persönlichkeiten und Vereinen; denn
                        ihm als Familienoberhaupt besprochen und       nicht alle Muslime pflegen Verhaltenswei-
                        abgestimmt zu haben. Auch in diesen            sen, die so deutlich von unseren Gepflogen-
                        Fällen ist der Ermessensspielraum zwischen     heiten abweichen.
                        polizeilichen Notwendigkeiten und ver-
                        nünftigem Rücksichtnehmen zu beachten.            Wie bei Christen und Juden werden auch
                                                                       bei Muslimen die traditionellen oder religiö-
                           Auch körperliche Berührungen einer Frau     sen Verhaltensmuster ganz unterschiedlich
                        oder eines Mädchens – selbst wo sie, wie       stark beachtet.
                        etwa bei der ersten Hilfe nach einem Unfall,
                        unvermeidlich sind – können wegen der              Nur eine Minderheit der hiesigen Muslime
                        unterschiedlichen Verhaltensmuster zu          ist in Moscheevereinen organisiert; gleich-
                        Missverständnissen führen. Eine solche         wohl haben gerade diese Moscheevereine in
                        Maßnahme sollte auf das Notwendigste           den sozial und wirtschaftlich schwachen
                        beschränkt, nach Möglichkeit weiblichen        Stadtvierteln unserer Großstädte einen wich-
                        Dienstkräften vorbehalten und jedenfalls –     tigen Einfluss auf viele der dort lebenden
                        soweit einsatztaktisch möglich – von erklä-    muslimischen Familien und Jugendlichen. Für
                        renden Worten begleitet werden.                Polizeibeamtinnen und -beamte in solchen
                                                                       Stadtvierteln wird es daher immer wichtiger,
                           Ein gewisses Konfliktpotenzial birgt auch   mehr über die sozialen und kulturellen
                        das Tragen von Schuhen in Wohnungen und        Besonderheiten muslimischer Vereine zu
                        insbesondere in Moscheen – selbst dann,        erfahren, damit sie ihren Dienst auch unter
                        wenn es allein um polizeiliches Einschreiten   diesen Bedingungen möglichst konfliktfrei
                        geht und das sonst gebotene Ausziehen der      ausüben können.

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                    ZIELE DES
                         LEITF
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                     3. ZIELE DES LEITFADENS

                                   Vermittlung der Erfahrungen              Schaffung von einsatzunabhängigen
                                   aus den Modellprojekten des              Kontakten mit Muslimen
                                   TIK3-Projektes
                                                                                Der Leitfaden zeigt auf, dass es für die
                                      Der Leser erhält in kurzer,           polizeiliche Arbeit wichtig und lohnenswert
                                   anschaulicher Weise einen Überblick      ist, neben den sich in der Regel aus repressi-
                                   über die Vorgehensweise und die Er-      ven Anlässen ergebenden Kontakten zu
                                   fahrungen der Polizeidienststellen in    Muslimen bzw. zu Moscheevereinen auch
                                   Berlin, Essen und Stuttgart in der Zu-   andere, insbesondere einsatzunabhängige
                                   sammenarbeit mit Moscheevereinen.        Kontakte zu schaffen.

                     Kompetenzaufbau für polizeiliche Inter-                Schaffung von Netzwerken
                     ventionsmöglichkeiten im interkulturel-
                     len Kontext                                               Die Erfahrungen des Modellprojektes
                                                                            zeigen, dass dort, wo es gelingt, die
                     Der Leitfaden soll dem Leser Grundkenntnis über        Moscheevereine in bestehende Netzwerke
                                                                            (z. B. Kommunale Kriminalprävention) zu
                          interkulturelle Kompetenz und deren               integrieren, die Synergieeffekte und der
                          Bedeutung für die polizeiliche Arbeit,            Nutzwert für alle am Netzwerk Beteiligten
                                                                            sehr groß sind.
                          den Islam, die Normen und Werte der in der
                          deutschen Gesellschaft lebenden Muslime sowie     Einbinden der Moscheen in die sie
                                                                            betreffende Präventionsarbeit
                          deren Sitten, Gebräuche und Formen der
                          Kommunikation vermitteln und für die                  Präventive Konzepte greifen nur, wenn
                          sich daraus ergebenden Besonderheiten             sie auf die Zielgruppe abgestimmt sind.
                          der polizeilichen Arbeit sensibilisieren.         Dabei zeigen die Erfahrungen aus der
                                                                            Kommunalen Kriminalprävention, dass es
                        Die im Zusammenhang mit der Umsetzung               unerlässlich ist, die Bürgerinnen und Bürger
                     der im Leitfaden dargestellten Kooperations-           in die präventive Arbeit einzubinden. Dies
                     möglichkeiten mit Moscheevereinen dienen               gilt im Besonderen für die Zusammenarbeit
                     dazu, anhand praktischer Arbeit („Learning             mit Muslimen. Hier kann die Akzeptanz der
                     by Doing“) interkulturelle Kompetenz bei               polizeilichen Arbeit nachhaltig verbessert
                     den eingesetzten Polizeibeamtinnen und                 werden.
                     -beamten zu entwickeln bzw. diese in ihrer
                     Handlungssicherheit zu stärken.

TFADENS              Transfer interkultureller Kompetenz
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                     INFORMATIONEN Z
                     KULTUR UND RELI
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                     4. INFORMATIONEN ZU KULTUR UND RELIGION

                     4.1 Interkulturelle Kompetenz                     Aus der Praxis

                        Teilweise begegnen Polizeibeamtin-            Wenn Polizeibeamte beispielsweise an der
                     nen und -beamte dem Begriff „interkul-           Tür einer arabischen Familie klingeln, müs-
                     turelle Kompetenz“ mit Skepsis. Damit            sen sie damit rechnen, dass die in der
                     verbinden sie nämlich zunächst den               Wohnung allein anwesende Hausfrau nicht
                     latenten Vorwurf der Diskriminierung             öffnet, weil es ihr Ehemann verboten hat. Bis
                     ethnischer Minderheiten und sodann als           sie doch öffnet, kann es eine Weile dauern,
                     Reaktion    der   Polizeiführung     den         weil sie vielleicht erst überredet werden
                     Pflichtbesuch interkultureller Trainings-        musste und dann noch Zeit brauchte, sich zu
                     programme.                                       verhüllen. Selbst die endlich geöffnete
                                                                      Wohnungstür bedeutet noch nicht, dass die
                                  Interkulturelle Kompetenz ist       Frau, falls sie überhaupt Sprachkenntnisse
                               die Fähigkeit, in „interkulturellen    hat, auch tatsächlich Fragen beantwortet;
                               Überschneidungssituationen“ an-        denn üblicherweise ist es Frauen verboten,
                               gemessen zu handeln. Solche            mit Fremden – jedenfalls aber mit fremden
                               Überschneidungssituationen tre-        Männern – zu sprechen. Gelingt es doch, die
                               ten auf, wenn wir mit Menschen         Frau zum Reden zu bringen, so dürfte sie
                               einer anderen Kultur umgehen           zuerst das Versprechen verlangen, ihrem
                               müssen, welche die Situation           Mann nichts von dem Gespräch zu erzählen ...
                               anders wahrnehmen und sich in
                               bestimmten Lagen anders verhal-           Allerdings sind die Lebensumstände der
                               ten als wir.                          Einwanderer in sich vielfältig: So kann ein
                                                                     Polizeibeamter nicht davon ausgehen, jedes
                        Wir leben in einer modernen Gesellschaft     Mal, wenn er bei einer arabischen Familie
                     mit einer kulturellen Vielfalt in den unter-    klingelt, ähnliche Verhaltensformen vorzufin-
                     schiedlichen Lebensbereichen. So kommen         den; er kann ebenso gut eine Frau antreffen,
                     wir täglich in Situationen oder auch            die ihm die Tür aufmacht und selbstbewusst
                     Institutionen, in denen andere als die im       mit ihm verhandelt.
                     eigenen Bezugsfeld gewohnten Sitten gelten,
                     die auf uns befremdlich wirken. Das                Interkulturelle Kompetenz bedeutet also
                     Besondere an den Lebensumständen einiger        nicht, bestimmten Einwanderergruppen
                     Einwanderer – und das begründet die             bestimmte Verhaltensmuster zuzuordnen!
                     Notwendigkeit, eine spezielle interkulturelle   Vielmehr sollen Polizeibeamtinnen und
                     Kompetenz zu entwickeln – ist ihre kulturelle   -beamte die Bandbreite möglicher Verhal-
                     Fremdheit. Diese Fremdheit kann verunsi-        tensmuster kennen und ein Gespür dafür ent-
                     chern, weil der Unterschied zur eigenen         wickeln, wie sie sich innerhalb dieser
                     Wahrnehmung der Wirklichkeit und zu eige-       Bandbreite von Möglichkeiten verhalten kön-
                     nen Verhaltensmustern zu groß ist. Die          nen. Ein solches Gespür entwickelt man im

 ZU                  Vermittlung interkultureller Kompetenz hilft,
                     diese Verunsicherung zu überwinden und der
                     Polizei Handlungssicherheit zu geben.
                                                                     Verlauf eines längeren Zeitraumes. Die
                                                                     Polizei hat mit ihren Mitarbeitern bereits
                                                                     besonders positive Voraussetzungen, inter-

LIGION
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   INFORMATIONEN ZU .
              kulturell kompetent zu handeln: Unter ihren        4.2 Was man über den Islam wissen
              besonderen Arbeitsbedingungen haben die            sollte – in Stichworten
              Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Polizei
              Eigenschaften entwickelt, die als Grundvor-        4.2.1 Einheit und Vielfalt
              aussetzung für den Erwerb interkultureller
              Kompetenz gelten – Belastbarkeit, Ertragen             Mit über einer Milliarde Anhängern ist der
              von Situationen der Unsicherheit, Frustrati-       Islam eine der größten und ältesten Weltreligio-
              onstoleranz und die ausgeprägte Fähigkeit          nen neben dem Christentum, Judentum, dem
              zu lageangepasstem Handeln. Solche Eigen-          Hinduismus und dem Buddhismus. Wie alle
              schaften werden in der Polizeiarbeit täglich       Weltreligionen ist auch der Islam im Laufe seiner
              eingeübt; kaum ein anderer Beruf erfordert         über 1400-jährigen Geschichte immer vielfälti-
              einerseits so formal korrektes, andererseits in    ger geworden; die Vorstellung von einer rein
              heiklen, sensiblen Situationen spontanes, dabei    arabisch geprägten Religion ist falsch.
              angemessenes und lösungsorientiertes Handeln.
                                                                     Die muslimische Weltbevölkerung erstreckt sich
                 Zum polizeilichen Alltag gehören auch           heute über 56 Staaten, zu denen die Türkei,
              soziale Kompetenzen wie die Fähigkeit zum          Malaysia, Indien, Pakistan ebenso zählen wie der
              Rollen- und Perspektivenwechsel – also sich in     Iran, nordafrikanische Staaten und schließlich die
              die Lage des Anderen hineinversetzen und           klassischen islamischen Staaten auf der arabischen
              mögliche Handlungen vorausschauend er-             Halbinsel. Etwa 80 Prozent der Muslime sprechen
              schließen zu können – sowie die Fähigkeit          Arabisch nicht mehr als Muttersprache. So hat
              zum Aufbau von Beziehungen. Bei der                „der Islam“ vielfältige, national und ethnisch ge-
              Entwicklung interkultureller Kompetenz hat         prägte Gesichter. Dies zeigt sich auch an starken
              die Polizei die Aufgabe, mit diesen bereits vor-   sprachlichen Unterschieden: Das Arabische ist
              handenen Eigenschaften zu lernen, auch in der      zwar Sprache des Korans und dient als einheitliche
              Interaktion mit Einwanderer- oder Migran-          Schriftsprache, es zerfällt im Gesprochenen aber
              tengruppen stets situationsadäquat zu handeln.     in vielfältige Dialekte, die sich insbesondere zwi-
                                                                 schen den Ländern des Maghreb (Marokko,
                 Wie das Modellprojekt gezeigt hat, ist der      Tunesien, Algerien) und jenen des Nahen
              Aufbau einer Kooperation mit Moscheever-           Ostens voneinander unterscheiden.
              einen eine ausgezeichnete Möglichkeit, sich
              diese Kompetenz zu erschließen, gleichzeitig          Große Unterschiede gibt es auch zwischen
              die islamischen Gemeinden in die Verant-           sunnitischen und schiitischen Muslimen: Im Irak
              wortung für die Kriminalprävention einzu-          und Iran leben bekanntlich mehrheitlich
              binden und damit eine zusätzliche Möglich-         Schiiten, während die meisten anderen islami-
              keit der Kriminalitätsbekämpfung zu nutzen.        schen Staaten sunnitisch geprägt sind.

                                                                     Hinzu kommen weitere, von den klassischen
                                                                 Islamvorstellungen abweichende Strömungen
                                                                 wie die islamischen Mystiker mit ihren zahlrei-
                                                                 chen Orden und lokalen Vereinigungen und

                                                                                                                       14
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                    die Aleviten4, die immerhin 15 bis 20 Prozent                                Der Islam sieht sich als Schluss- und Höhe-
                    der türkischen Bevölkerung ausmachen.                                    punkt der Religions- und Prophetengeschich-
                                                                                             te: Mohammed (auch Muhammad, 570 – 632
                        Viele Muslime sehen Religion ähnlich wie                             n. Chr.) gilt als der letzte Prophet, der nach
                    in Europa primär als Privatsache und lehnen                              Moses und Jesus Offenbarungen und Weisun-
                    Vorstellungen einer islamisch geprägten                                  gen von Gott erhalten hat. Im Zentrum aller
                    Politik vehement ab. Dies trifft insbesondere                            Offenbarungen und prophetischen Botschaf-
                    für die modernen Städte der Türkei oder                                  ten steht der Glaube an einen einzigen Gott
                    Tunesiens zu. Weite Teile der islamischen                                (Monotheismus) – ein Glaube, den der Islam
                    Welt haben die Trennung von Religion und                                 also mit dem Christentum und dem Judentum
                    Politik jedoch noch nicht vollzogen. Islamisti-                          teilt. Mit diesen Religionen beruft sich der
                    sche Strömungen, für die „der Islam“ – oder                              Islam auf die biblische Urgestalt Abraham, den
                    eine strikte Ausrichtung der Gesellschaft an                             Vater aller Gläubigen und Gottergebenen,
                    islamischen Vorgaben – die Lösung sozialer                               daher werden diese drei großen monotheisti-
                    und wirtschaftlicher Probleme bedeutet, sind                             schen Religionen auch „abrahamitisch“ genannt.
                    nicht zu unterschätzen. Allen diesen hier nur
                    kurz erwähnten Strömungen begegnet man                                       Der Islam stützt sich auf den Koran, das
                    auch in der muslimisch geprägten Bevöl-                                  heilige Offenbarungsbuch der Muslime. Das
                    kerung in Deutschland.                                                   in 114 Kapitel (Suren) unterteilte Buch enthält
                                                                                             Offenbarungen, die Mohammed zwischen
                        Fazit: In der polizeilichen Arbeit mit                               610 und 632 in Mekka und Medina im heu-
                        Muslimen in Deutschland muss man sich                                tigen Saudi-Arabien in „klarer arabischer
                        auf eine große Vielfalt einstellen. „Den                             Sprache“ erhalten hat. Der Koran gilt als die
                        Muslim“ gibt es ebenso wenig wie „den                                Bestätigung und Weiterführung von Thora
                        Christen“; auch Muslime entwickeln                                   und Bibel und enthält nach orthodoxer Auf-
                        regelmäßig ihren eigenen, ganz persön-                               fassung die endgültige Festlegung der gesetz-
                        lichen Stil im Umgang mit ihrer Religion.                            lichen Bestimmungen, die der islamischen
                                                                                             Lebensführung zugrunde liegen. Die Bedeu-
                                                                                             tung dieses Buches kann nicht überschätzt
                                                                                             werden: Der Islam ist die Buchreligion an sich. Im
                    4.2.2 Grundzüge im islamischen                                           Umgang mit dem Koran ist daher äußerste
                    Selbstverständnis                                                        Sensibilität geboten.

                       Trotz der angesprochenen Vielfalt gibt es                                 Als „Wort Gottes“ sollte er von Nicht-
                    Grundzüge im Selbstverständnis des Islam,                                muslimen nur auf Nachfrage berührt werden.
                    die auch für die polizeiliche Arbeit mit                                 Zudem darf man aus Gründen des Respekts
                    Muslimen oder Moscheevereinen wichtig                                    nichts essen und nichts anderes lesen, während
                    sind. Wer diese „Selbstverständlichkeiten“                               im Koran gelesen wird. Als Buch ist der Koran
                    im Kopf hat, wird schneller und leichter von                             meist an seinem grünen Ledereinband – Grün
                    den Kontaktpartnern akzeptiert und kann                                  ist die Farbe des Islam – und seiner aufwändi-
                    möglichen Konflikten begegnen.                                           gen kalligraphischen Verzierung zu erkennen.

                    4
                     Bei den Aleviten handelt es sich ursprünglich um eine schiitische Untergruppe, die vor allem in Zentralanatolien angesiedelt ist. Im Laufe der
                    Geschichte haben sich die Aleviten durch eine starke Besinnung auf mystische und vorislamische Elemente zu einer eigenständigen Glaubens-
                    gruppe entwickelt. Beispielsweise sind weder die Wallfahrt noch das Fasten fester Bestandteil der religiösen Praxis und der Koran darf einer
                    nichtwortwörtlichen Auslegung unterzogen werden. Aufgrund solcher Unterschiede werden die Aleviten sowohl von den Sunniten als auch
                    von den Schiiten kritisch betrachtet. Obwohl die Aleviten in der Türkei eine Minderheit bilden, stellen sie aufgrund der relativ starken
                    Auswanderung aus Zentralanatolien mit ca. 410.000 Personen nach den Sunniten (ca. 2,5 Mio.) die zweitstärkste muslimische
                    Bevölkerungsgruppe in Deutschland. [vgl. hierzu: Aleviten, in: Kleines Islam-Lexikon, bpb 2002 und Müller, Christiane: Zum Umgang mit

         15         Personen aus dem islamisch geprägten Kulturkreis in der Polizeiarbeit, Freistaat Sachsen 2004, S. 13 ff.]
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   INFORMATIONEN ZU .
              4.2.3 Die fünf Säulen des Islam

                 Im Zentrum des islamischen Glaubens stehen       2. Das Gebet (Salat) in Form einer rituel-
              die fünf Säulen des Islam, die trotz der         len Niederwerfung: Das Pflichtgebet wird
              Unterschiede für alle Muslime verbindlich        fünf Mal täglich verrichtet, in der Morgen-
              sind. Bekleidungsvorschriften (wie das           dämmerung, am Mittag, am Nachmittag,
              Kopftuch) gehören ausdrücklich nicht zu den      nach Sonnenuntergang sowie am Abend. Die
              fünf Säulen.                                     Gläubigen müssen sich hierzu in einem
                                                               Zustand ritueller Reinheit (rituelle Waschung)
                  1. Das Glaubensbekenntnis (Schahada):        befinden.
              „Ich bezeuge, es gibt keinen Gott neben
              Allah und Mohammed ist sein Prophet.“               Es wird in der Regel auf einem Gebetstep-
              Damit unterstreicht die Schahada den             pich und nach Mekka ausgerichtet durchgeführt.
              Monotheismus als Glaubensgrundsatz des
              Islam. Wird sie in der Absicht, Muslim zu wer-      Freitags wird das Gebet in der Regel
              den, vor Zeugen gesprochen, begründet dies       gemeinsam in der Moschee verrichtet.
              den Übertritt zum Islam.                         Generell ist darauf zu achten: Im Gebets-
                                                               bereich ist rituelle Reinheit vorgeschrieben,
                 Neben dieser Art der Konversion kennt         damit das Gebet gültig ist. Deshalb müssen
              der Islam auch die Annahme der Religion          vor dem Betreten des Gebetsbereichs (auch
              durch die Geburt, wobei der Islam vom Vater      von Nichtmuslimen) die Schuhe ausgezogen
              auf die Kinder übergeht.                         werden. Ebenso dürfen keine Tiere, insbeson-
                                                               dere unreine Tiere wie Hunde, die Moschee
                                                               betreten. Diese Regeln sollten auch beim
                                                               Betreten privater Wohnbereiche beachtet
                                                               werden.

                                                                                                                16
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                        3. Das Almosen (Zakat oder Zakah, ara-             5. Die Pilgerfahrt (Haj oder Hadsch):
                    bisch für Reinigung): Es ist einmal jährlich von   Jeder Muslim – ob Mann oder Frau – sollte
                    allen erwachsenen Muslimen als obligatori-         einmal im Leben die „große Pilgerfahrt“ nach
                    sche Wohlfahrtsspende zu zahlen und auf 2,5        Mekka       unternehmen.     Die     jährliche
                    Prozent des Kapitalvermögens festgesetzt,          Pilgerfahrt findet während des 12. Monats
                    das ein definiertes Minimum übersteigt.            statt. Einer der Höhepunkte ist das Opferfest,
                    Neben der verpflichtenden Form des                 an dem in Erinnerung an das Opfer Abrahams
                    Almosens gibt es auch die Form freiwilliger        Schlachtopfer dargebracht und unter
                    Geschenke.                                         Bedürftigen verteilt werden. Das Opferfest
                                                                       wird auch in Deutschland gefeiert und von
                        4. Das Fasten (Siam oder Saum) wäh-            den Moscheevereinen organisiert.
                    rend des Ramadan: Der Beginn des Fasten-
                    monats Ramadan wird durch die Beobach-
                    tung des Mondes festgesetzt; er wechselt also
                    jährlich. Das Fastengebot gilt während dieser
                    Zeit für alle erwachsenen und gesunden
                    Muslime solange es hell ist und bezieht sich
                    auf das Essen, Trinken, Rauchen und den
                    Geschlechtsverkehr. Abends erfolgt alltäglich
                    das Fastenbrechen (iftar), am Ende des
                    Ramadan findet das Fest des Fastenbrechens
                    (id al-fitr) statt.

                        Die Moscheen sind während des Ramadan
                    in der Regel stärker besucht als üblich. Im
                    Kontakt mit Moscheevereinen empfiehlt es
                    sich, frühzeitig die Termine dieser zentralen
                    religiösen Feste zu erfragen.

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                                                               mungen des Korans. Der Koran wird als
                                                               Verfügung Gottes mit absoluter Autorität
                                                               angesehen. Neben dem Koran bildet die Sunna
                                                               (= Tradition) die Hauptquelle für die Glaubens-
                                                               und Pflichtenlehre des Islam: Mit Sunna sind
                                                               die von Mohammed überlieferten Aussprüche,
                                                               Entscheidungen       und     Verhaltensweisen
                                                               gemeint, die im Islam als Richtschnur des
                                                               Handelns für Einzelpersonen, Gesellschaften
                                                               und Staaten gelten. Koran und Sunna schließ-
                                                               lich bilden die Quellen der Scharia, die sich als
                                                               Pflichtenlehre und religiöses Gesetz des Islam
                                                               bezeichnen lässt. Hierzu gehören die kulti-
                                                               schen Pflichten und die ethischen Normen,
                                                               aber auch Rechtsgrundsätze für alle Lebens-
                                                               bereiche, unter anderem für Ehe, Erbschaft,
              4.2.4 Islam und                                  Vermögen oder für Strafen.
              modernes Leben
                                                                  Das Problem: Die Scharia ist inzwischen
                 Ansprüche auf Absolutheit und Endgültig-      über tausend Jahre alt und spiegelt die
              keit prägen die orthodoxen Auslegungen des       Rechtsverhältnisse, Sitten und Normen der
              Korans. Diese verbinden sich mit dem politi-     damaligen Zeit wider. Von orthodoxen
              schen Anspruch des Islam, auch die staatlichen   Muslimen wird die Scharia weiterhin als
              Angelegenheiten umfassend zu ordnen; denn        Gottesrecht angesehen, das nicht verändert
              Mohammed sah sich als Prophet und Staats-        werden darf. Eine praktische Umsetzung dieser
              mann. Der Islam (wörtlich = Hingabe an Gott)     Vorstellungen ist mit dem deutschen Grund-
              fordert vom gläubigen Muslim einen vorbe-        gesetz und mit allgemeinen Grundsätzen einer
              haltlosen Gehorsam gegenüber den Bestim-         rechtsstaatlichen Demokratie europäischen

                                                                                                                   18
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                    Zuschnitts allerdings nicht vereinbar. Gelehrte     des Islam, als Selbstbeschränkung der Entwick-
                    wie der Großmufti von Marseille, Soheib             lung der muslimischen Gesellschaften. Was in
                    Bencheikh, verlangen daher einen neuen              dem einen Jahrhundert Recht ist, wird zu
                    Umgang mit dem Koran und der Scharia: „Im           Unrecht in einem anderen.“ (Interview mit Le
                    Islam ist der Gläubige frei in seiner               Monde, 20. November 2001).
                    Interpretation. (...) Der Islam besitzt nur einen
                    Koran, er kennt dagegen eine Vielzahl von               Wir beobachten eine heftige internationa-
                    Interpretationen, die sich je nach Ort,             le Diskussion um die Auslegung des Korans,
                    Lebensumständen, Klasse und zivilisatorischem       die noch nicht entschieden ist. Der Islam hat –
                    Entwicklungsstand voneinander unterschei-           anders als das Christentum – keine Kirche
                    den.“ Und weiter: „Das aus patriarchalischen        (geschweige denn einen mit göttlicher Auto-
                    Gesellschaften stammende muslimische Recht          rität ausgestatteten Papst). Auch in Deutsch-
                    zu einer Art allzeit geltendem Universalrecht       land gibt es erste Ansätze für eine Moderni-
                    zu erheben, bezeichne ich als ,Beduinisierung’      sierung und Reform des Islam.

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   INFORMATIONEN ZU .
                                                                                  Anwerbevereinbarungen schloss, entstan-
                                                                                  den ab den 1960er-Jahren auch bei uns isla-
                                                                                  mische Diasporagemeinden.

                                                                                     Als sich in den 1970er-Jahren für viele tür-
                                                                                  kische „Gastarbeiter“ eine Rückkehr in die
                                                                                  Türkei wegen der dortigen wirtschaftlichen
                                                                                  Situation als schwierig erwies und der
                                                                                  Anwerbestopp eine spätere Rückkehr nach
                                                                                  Deutschland ausschloss, begann die Phase
                                                                                  der Familienzusammenführung. Dadurch
                                                                                  nahm die türkische Wohnbevölkerung in
                                                                                  Deutschland zu, sie setzte sich nun nicht
                                                                                  mehr primär aus männlichen Arbeitskräften,
                                                                                  sondern vermehrt auch aus Frauen und
                                                                                  Kindern zusammen. Daher sind heute zwei
              4.2.5 Der Islam in Deutschland – so                                 Drittel der schätzungsweise drei Millionen
              vielfältig wie der Weltislam                                        Muslime in Deutschland türkischer Herkunft.

                 Die wirtschaftliche Schwäche in vielen                              80 Prozent der Muslime in Deutschland
              arabischen Staaten und auch in der Türkei                           sind Sunniten. Daneben finden sich die
              führte vor allem nach dem Zweiten Welt-                             Gruppen der Aleviten (vor allem aus der
              krieg zu einer zunehmenden islamischen                              Türkei) und der Ahmadiyya5, die allerdings
              Einwanderung nach Europa, wo teilweise                              von vielen Muslimen nicht als muslimisch
              großer Arbeitskräftemangel herrschte.                               akzeptiert werden. Als Minderheit unter den
              Hinzu kamen – wie in Frankreich – enge                              Muslimen leben in Deutschland auch Schiiten
              koloniale Verbindungen mit den islami-                              (vor allem aus dem Iran) und Angehörige des
              schen Staaten Nordafrikas. Da Deutschland                           mystischen Islam. Die Zahl der deutschen
              nicht nur mit südeuropäischen Staaten, son-                         Muslime – sei es durch die Annahme der
              dern auch mit der Türkei, Marokko,                                  deutschen Staatsbürgerschaft durch Muslime
              Tunesien und dem damaligen Jugoslawien                              ausländischer Herkunft, sei es durch die Kon-

              5
               Die Ahmadiyya wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Pakistan von Mirza G. Ahmad ins Leben gerufen, der sich selbst als christliche und
              islamische Reinkarnation des Messias begriff. Die Ahmadis werden von der Mehrheit der Muslime nicht als solche anerkannt und erhal-
              ten als verfolgte Minderheit in Deutschland Asylanspruch. [Vgl. hierzu auch Müller, Christiane: Zum Umgang mit Personen aus dem
              islamisch geprägten Kulturkreis in der Polizeiarbeit, Freistaat Sachsen 2004, S. 14]

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                    version deutscher Staatsbürger zum Islam –           Rund drei Millionen Menschen muslimi-
                    bildet eine im Wachsen begriffene Minder-        schen Glaubens leben gegenwärtig in
                    heit.                                            Deutschland. Da – wie oben erwähnt – der
                                                                     Islam etwas Vergleichbares wie Konfessionen
                       Die ersten islamischen „Gastarbeiter“ rich-   oder Kirchen nicht kennt, ist nur ein Teil der
                    teten in Wohnheimen und an ihren                 hier lebenden Muslime organisiert. Es gibt
                    Arbeitsstätten Gebetsräume ein, um ihre reli-    eine     Vielzahl   von     Verbänden       und
                    giösen Pflichten erfüllen zu können.             Gruppierungen, die sich um das religiöse
                    Moscheen entstanden erst im Zuge der             Leben in den Moscheen, aber auch um kultu-
                    Familienzusammenführung und waren damit          relle und soziale Fragen kümmern. Die
                    auch Ausdruck für die Entscheidung, den          Vielfalt in diesen Vereinen dürfte hinsichtlich
                    Lebensmittelpunkt nach Deutschland zu ver-       kultureller, nationaler, ethnischer und religiö-
                    legen. Derzeit gibt es in Deutschland etwa       ser Besonderheiten ebenso breit gefächert
                    zweitausend islamische Gebetsstätten, deren      sein, wie wir es aus den über 50 islamisch
                    Gestaltung von Räumen in Hinterhöfen bis         geprägten Staaten weltweit kennen.
                    hin zu repräsentativen Moscheebauten
                    reicht.                                             Allerdings sind nach Expertenschätzungen
                                                                     nur etwa 10 bis 20 Prozent der hiesigen
                                                                     Muslime diesen Vereinen angeschlossen.
                     Eine Moschee, auch wenn sie häufig in           Über die nicht organisierte „schweigende
                     Fabriketagen oder Hinterhäusern ange-           Mehrheit“ der Muslime wissen wir nach wie
                     siedelt ist, ist immer eine wichtige soziale    vor sehr wenig.
                     Anlaufstelle und mehr als ein Gebets-
                     haus. Hier gibt es Aufenthaltsräume für
                     Jugend- und Frauengruppen, es werden
                     Korankurse angeboten. Oft finden wir
                     auch Restaurants und Läden, die islami-
                     sche Lebensmittel und Publikationen
                     anbieten. Es ist wichtig, auch diese sozia-
                     len Funktionen der Moscheen für die
                     Präventionsarbeit nutzbar zu machen.

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   INFORMATIONEN ZU .
              4.2.6 Muslimische Vereine und
              Dachverbände

              DITIB (Türkisch-Islamische Union der             Islamrat und Milli Görüs
              Anstalt für Religion)
                                                                   Der Islamrat als zweitgrößter Dachver-
                 Die DITIB mit Sitz in Köln ist der größte     band besteht im Wesentlichen aus der türki-
              Dachverband mit 776 Mitgliedsvereinen: Er        schen Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs
              ist ein Ableger der staatlichen Religions-       (IGMG) und zahlreichen zugeordneten
              behörde in Ankara (Diyanet = Präsidium für       Vereinen, die oft weder im Namen noch in
              Religionsangelegenheiten), die in der Türkei     der Satzung als Teil der IGMG erkennbar sind.
              für die staatliche Überwachung aller religiö-    Mit etwa 26.500 Mitgliedern ist sie gleichzei-
              sen Angelegenheiten zuständig ist.               tig die mitgliederstärkste islamistische
                                                               Organisation in Deutschland. Die IGMG ist
                 DITIB ist für die religiöse Betreuung der     politisch und ideologisch mit der von
              türkischen Muslime in Deutschland zuständig      Necmettin Erbakan beeinflussten türkisch-
              und vertritt die Interessen des türkischen       islamistischen Partei verbunden und wird
              Staates. Die dort tätigen Imame werden aus       vom Verfassungsschutz zu den ausländerex-
              Ankara entsandt und zurzeit nach drei Jahren     tremistischen Organisationen gezählt (Ver-
              wieder ausgetauscht. Entsprechend schwach        fassungsschutzbericht der BRD 2004; S. 186).
              sind in der Regel (noch) die Deutschkennt-       Sie verhalten sich prinzipiell legal, wollen
              nisse; seit kurzer Zeit gibt es für sie jedoch   jedoch politisch bei ihren Mitgliedern in
              ein Programm zum Deutschlernen.                  Deutschland ein „schariakonformes“ Leben –
                                                               etwa in Bezug auf das Kopftuchtragen im
                 Es empfiehlt sich daher, mit den              öffentlichen Dienst, das Schächten, auf
              Vorständen der Mitgliedsvereine (Moschee-        Sonderregelungen für muslimische Kinder in
              vereine) Kontakt aufzunehmen, die schon          den Schulen und so weiter – durchsetzen.
              länger in Deutschland sesshaft geworden          Dennoch ist auch hier von einer großen
              sind. Von den DITIB-Moscheen ist in der Regel    Vielfalt der Erscheinungsformen und Verhal-
              eine große Kooperationsbereitschaft zu           tensweisen auszugehen, die es möglich
              erwarten.                                        machen, auch polizeiliche Kontakte nach kla-
                                                               ren Vorgaben – ergänzt durch Informationen
                                                               des zuständigen Amts für Verfassungsschutz –
                                                               aufzunehmen.

                                                                                                                22
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                    Zentralrat der Muslime (ZMD)                      Verband der Islamischen Kulturzentren
                                                                      (VIKZ)
                        Der Zentralrat der Muslime (ZMD) ist ein
                    stark arabisch geprägter Verband, der nur             Der VIKZ ist ein Verband der so genannten
                    einen türkischen Verein (ATIB) in seinen          Süleymancis, die der Lehre des türkischen
                    Reihen hat. Hinzu kommen unterschiedliche         Süleyman Efendi folgen, einer eher mystisch-
                    so genannte „Islamische Zentren“ in München       sufistischen Richtung des Islam. Der VIKZ ver-
                    und Aachen, die den „Muslimbrüdern“ nahe          tritt etwa 304 Moscheegemeinden mit 21.000
                    stehen; ferner so unterschiedliche Organi-        Mitgliedern. Die Moscheen sind in der Regel
                    sationen wie die Deutsche Muslimliga Bonn,        klar dem VIKZ zugeordnet und an öffentli-
                    die Muslimische Studentenvereinigung, das         chen sowie sozialen Kontakten mit der deut-
                    Schiitische Islamische Zentrum Hamburg            schen Verwaltung interessiert.
                    sowie die „Islamische Gemeinschaft Deutsch-
                    land“, die ebenfalls vom Verfassungsschutz            Einige der genannten Gruppen bekennen
                    beobachtet wird. Auch hier gilt ebenso wie        sich inzwischen zu einer stärkeren Integrati-
                    für den Islamrat die große Vielfalt der loka-     on der Muslime in die deutsche Gesellschaft;
                    len, an den Zentralrat angeschlossenen            einige bemühen sich auf unterschiedliche
                    Moscheevereine, die oft mit der Verbands-         Weise um eine staatliche Anerkennung als
                    politik nichts zu tun haben. Anders als der       Kooperations- sowie Ansprechpartner und
                    Name vermuten lässt, ist der Zentralrat           suchen eine Beteiligung am bekenntnisorien-
                    jedoch nicht die größte Organisation unter        tierten Religionsunterricht in den Schulen.
                    den Dachverbänden, sondern repräsentiert          Wegen der Zersplitterung der Verbände, der
                    nur ca. 20.000 Mitglieder. Sitz des Zentralrats   noch nicht abgeschlossenen Debatte über ihr
                    ist Eschwege bei Aachen.                          Verhältnis zum Grundgesetz, der oft nicht
                                                                      durchsichtigen Verbindungen ins Ausland
                                                                      und der prinzipiell anderen organisatori-
                                                                      schen Aufstellung islamischer Religions-
                                                                      gemeinschaften wird dieses Bemühen jedoch
                                                                      immer wieder kritisch kommentiert.

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   INFORMATIONEN ZU .
              4.3 Hinweise für die Begegnung mit
              Muslimen

                 Die beschriebene „Vielfalt in der Einheit“    werden, sondern signalisiert Achtung und
              macht es schwer, Verhaltensregeln in der         Respekt. Vertrauen bildet sich auf der Basis
              Begegnung mit Muslimen aufzustellen.             regelmäßiger, persönlicher Kontakte und
              Schon die Bezeichnung aller aus dem türki-       nicht allein durch die Anerkennung des
              schen oder arabischen Raum stammenden            Amtes, das jemand bekleidet. Kooperations-
              und in Deutschland lebenden Menschen als         gespräche durch die Polizei sollten möglichst
              „Muslime“ bringt Probleme, da nicht jeder        über einen längeren Zeitraum durch ein und
              türkischstämmige Mensch als gläubiger und        dieselbe/denselben Beamtin/Beamten ge-
              praktizierender Muslim anzusehen ist und         führt werden.
              auch nicht als solcher bezeichnet werden
              möchte. Für sie trifft eher die Bezeichnung      4.3.2 Religiöse Feste sollte man kennen!
              „Kulturmuslime“ oder „nominelle Muslime“ zu.
                                                                   Feiertage sind eine gute Ausgangsbasis.
                  Dagegen ist im Umfeld der Moscheever-        Bedenken Sie, wie stark sich etwa der Fasten-
              eine natürlich von einer hohen Bedeutung         monat Ramadan oder das Zuckerfest auf das
              der Religion sowie einzelner Vorschriften,       Leben des Einzelnen und der Gemeinde auswirkt
              Regeln und Feiertage auszugehen. Auf Grund       und wie wichtig die zentralen religiösen Feste in
              der Projekterfahrungen konnten einige Leit-      den Moscheegemeinden (vergleichbar mit christ-
              linien „herausgefiltert“ werden – sie bieten     lichen Gemeinden) sind. Eine Aufmerksamkeit vor
              erste Orientierungen, sind aber keine fertigen   oder während dieser Festtage, vielleicht auch nur
              „Gebrauchsanweisungen“.                          ein Anruf mit guten Wünschen, ist zu empfehlen.

              4.3.1 Vielfalt, Vielfalt, Vielfalt – auch in
              der Kommunikation                                  Islamische Feiertage
                                                                 (Richten sich nach dem islamischen Mondkalender
                  Herkunftsland, soziale Schicht, familiäre      und verschieben sich jährlich um etwa 11 Tage)

              Erfahrungen, Bildungsstand etc. sind mindes-
              tens ebenso wichtig wie die Religion. Ent-         • Das Opferfest
              sprechend muss sich auch der Kommunikati-          • Das Fastenbrechen- bzw. Zuckerfest
              onsstil flexibel gestalten: Insbesondere zu          (Ende der Fastenzeit)
                                                                 Diese beiden Feste sind unumstritten für alle
              Beginn eines Kontaktes mit Moscheevereinen         islamischen Völker verbindlich und gelten als die
              empfiehlt es sich, auch Gespräche über             eigentlichen Feste im Islam.
              Unwesentliches (etwa Fußball!) zu führen           Weitere wichtige Tage im
              und sich an den indirekten und sehr perso-         islamischen Kalender:
              nenbezogenen Kommunikationsstil anzupas-           • Das islamische Neujahr
              sen. Direkte Fragen sollten eher vermieden         • Ashura
              werden; ein nur knappes „Ja“ oder „Nein“              (Fasten- und Rettungstag des Propheten Mose)
              gilt als unhöflich. Mangelnder Blickkontakt        • Mevlid (Geburtstag des Propheten
              sollte nicht als Ausdruck der Verlegenheit           Mohammed)
              oder eines schlechten Gewissens interpretiert      • 1. Ramadan (Anfang des Fastenmonats)

                                                                                                                     24
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                    4.3.3 Frauenwelt – Männerwelt

                       In den meisten Moscheegemeinden haben            einen Vater schlimmer sein, wenn seine
                    überwiegend ältere Männer das Sagen. Nach           Tochter öffentlich mit einem jungen Mann
                    wie vor bleibt die Welt der Frauen und              flirtet, als wenn sein Sohn einen Diebstahl
                    Männer getrennt – weibliche Moscheevor-             begeht. Aus arrangierten Ehen und Zwangs-
                    stände sind nicht bekannt. Stellen Sie sich         heiraten ergeben sich oft massive Familien-
                    darauf ein, dass der Händedruck in der Regel        probleme, falls sich die Töchter dem Zugriff
                    nur von Mann zu Mann gepflegt wird; beim            ihrer Familien entziehen wollen.
                    Erstkontakt werden es Polizistinnen schwerer
                    haben, mit traditionell orientierten Imamen            Männliche Jugendliche werden in ihren
                    oder Moscheevorständen zu verhandeln als            Familien oft privilegiert behandelt, sind
                    ihre männlichen Kollegen. Umgekehrt finden          jedoch häufig nicht in der Lage, schulische
                    Beamtinnen mit Sicherheit einen besseren            oder berufliche Anforderungen zu erfüllen.
                    Zugang zu den Müttern der Gemeinden, die            Die daraus resultierende Unzufriedenheit
                    unbedingt in die Präventionsarbeit einbezo-         kann mit zur Ursache von Kriminalität wer-
                    gen werden sollten.                                 den durch Suche nach Anerkennung und
                                                                        Konsumsymbolen auf „schnellem Weg“. Hier
                                                                        handelt es sich um ein zentrales und noch
                                                                        unbewältigtes Problem. Schnelle Lösungen
                    4.3.4 Traditionelle Familienorientierung:           sind nicht in Sicht. Die präventive Polizei-
                    Anknüpfungspunkt und Konflikt-                      arbeit sollte sich auch auf diese Konfliktlagen
                    potenzial                                           vorbereiten; Aufklärungsveranstaltungen,
                                                                        Gespräche mit den Imamen, Zusammenarbeit
                        Familie und Ehe gelten als zentrale und         mit Schulen und Eltern können zur Präven-
                    wertvolle Bestandteile im Leben aller               tion beitragen.
                    Muslime, das Wohlergehen der Kinder
                    (Schutz vor Kriminalität oder Verkehrsunfäl-
                    len) bildet also für alle Kontakte einen sehr
                                             guten Anknüpfungs-
                                             punkt. Viele Familien im
                                             Umkreis der Moschee-       Weiterführende Literatur
                                             vereine stammen aus
                                             einem ländlichen und          Müller, Christiane: Zum Umgang mit Perso-
                                             bildungsfernen Lebens-        nen aus dem islamisch geprägten Kulturkreis
                                             umfeld: Absoluter Ge-         in der Polizeiarbeit, Freistaat Sachsen, 2004
                                             horsam der Kinder,
                                             Unterordnung         der      Khoury, Adel Theodor et. al.: Handbuch
                                             Frauen und Töchter,           Recht und Kultur des Islams in der
                                             Ehrbegriffe aus einer         Deutschen     Gesellschaft, Gütersloher
                    ländlichen Umgebung spielen hier oft noch              Verlagshaus, 2000
                    eine zentrale Rolle. Das alles wird problema-
                    tisch, sobald diese Werte auf eine moderne             Metzger, Albrecht: Islam und Politik, Infor-
                    Kultur in Deutschland treffen. So kann es für          mationen zur politischen Bildung, bpb 2002

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                                                        PRAXISERF
                                                              26
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                                                                                                                  PRAXISERFAHRUNGEN
                     5. PRAXISERFAHRUNGEN

                               5.1 Grundsätzliches zu
                               Kooperationen

                                   Beim Aufbau einer Koopera-     Eine Kooperation sollte als ein langfristiger
                                tion muss jede Dienststelle an    Prozess gesehen werden. Dabei sollen die
                                ihre individuellen Vorausset-     Beteiligten ihr Wissen und ihre Handlungs-
                                zungen anknüpfen, also an ihre    kompetenz durch den Aufbau und die
                                Kenntnisse über den islami-       Konsolidierung der Kooperation schrittweise
                                schen Kulturkreis und an etwa     erweitern. Das heißt: Es ist nicht unbedingt
                                bestehende Kontakte zu musli-     mit schnellen Erfolgen zu rechnen, auch
                                mischen Gemeinden ihres Sozial-   Rückschläge und Enttäuschungen sind einzu-
                     raums. Daran müssen sich auch die Ziel-      planen!
                     setzungen für ein Kooperationsprojekt
                     orientieren. Eine Kooperation darf nicht        Dabei soll die Kooperation von vornherein
                     als bloße „Goodwillveranstaltung“ ohne       auf Nachhaltigkeit ausgelegt sein, damit sie
                     fest umrissene Aufgaben und Ziele miss-      auf Dauer fortbestehen kann und nicht nach
                     verstanden werden. Sie muss sich auf         ein paar Einzelaktionen wieder versandet.
                     aktuelle Konflikte beziehungsweise kon-      Am besten ist es, ein Kooperationsprojekt
                     krete Probleme aus der täglichen Polizei-    langfristig in ein Netzwerk mit Schulen sowie
                     arbeit beziehen. Beispiele für so konkrete   kommunalen und freien Trägern der
                     Kooperationsanlässe sind Gespräche mit       Jugendarbeit einzubetten.
                     Eltern auffälliger Jugendlicher, eine Ver-
                     mittlung bei Streitigkeiten innerhalb von
                     Hausgemeinschaften oder auch die Ver-
                     mittlung von Tipps, wie sich die Kinder im
                     Straßenverkehr verhalten sollen.

RFAHRUNGEN
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             PRAXISERFAHRUNGE
              Der Aufbau einer Kooperation verläuft in         5.1.1 Voraussetzungen seitens der
              mehreren Phasen:                                 Dienststelle

              Kontakt aufnehmen                                Kooperationsprojekte sind Chefsache
                Der erste Schritt ist oft der schwerste –          Kooperationen mit muslimischen Gemein-
              aber es gibt viele Gelegenheiten, einen          den oder Vereinen werden nur gelingen,
              Anfang zu machen.                                wenn sie von der Behördenleitung uneinge-
                                                               schränkt mitgetragen und gefördert werden.
              Vertrauen bilden                                 Kooperationsprojekte sind Chefsache! Leite-
                 Informationsveranstaltungen bei der           rinnen oder Leiter der damit betrauten
              Moschee über Themen wie Verkehrssicher-          Dienststellen müssen ihre Mitarbeiterinnen
              heit oder Schutz vor Kriminalität sowie          und Mitarbeiter umfassend über Sinn und
              Kontaktvermittlung zu anderen Behörden           Zweck einer Kooperation informieren und sie
              oder Polizeidienststellen können geeignete       durch ihr persönliches Engagement von der
              Maßnahmen der Vertrauensbildung sein.            Notwendigkeit und vom Nutzen der ange-
                                                               strebten Kooperation überzeugen. Hier müs-
              Gemeinsame Interessen feststellen                sen alle Vorgesetzten eindeutig Stellung
                  Ein zusammen von der Polizei und den         beziehen und darüber hinaus die notwendi-
              islamischen Gemeinden (Eltern, Moscheever-       gen Freiräume für die Mitarbeiterinnen und
              eine, andere Vereine) erarbeiteter Katalog       Mitarbeiter gewähren. Dabei gehören gerade
              zur Kriminalitätsprävention (z. B. bei Jugend-   Dienstkräfte der örtlichen „Basisdienststel-
              lichen) hilft, gemeinsame Probleme zu erken-     len“, also Kommissariate oder Dienstgruppen,
              nen und gemeinsame Interessen festzustellen.     in solche Projekte.

              Konkrete Probleme kooperativ lösen               Kooperationen erfordern Projektarbeit
                 Zu gemeinsam definierten Problemberei-           Es bietet sich an, die Kooperation als
              chen wie beispielsweise dem Umgang mit           „Projekt“ anzulegen. Folgende Punkte soll-
              jugendlichen Mehrfachtätern oder Täter-          ten beachtet werden:
              Opfer-Ausgleich können kooperative Lösungs-
              ansätze entwickelt werden.                         1) Festlegen des Projektzieles (z. B.: Was
                                                                 genau wollen wir mit der Kooperation
                 Im Folgenden werden als grobe Orientie-         erreichen? Wo wollen wir hin? Was soll in
              rung beispielhafte Wege zum Aufbau einer           einem Jahr, was in zwei Jahren anders sein
              solchen Kooperation aufgezeigt.                    als heute?).

                                                                                                              PRA
                                                                                                              28
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