Predigt zum Reformationstag 2021 - Landeskirche Braunschweig

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Predigt zum Reformationstag 2021
                              über Gal 5,1-6

                  Landesbischof Dr. Christoph Meyns

Gal 5,1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und
lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 2 Siehe, ich,
Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus
nichts nützen. 3 Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden
lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4 Ihr habt Christus
verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade
seid ihr herausgefallen. 5 Denn wir warten im Geist durch den Glauben
auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6 Denn in Christus Jesus gilt
weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube,
der durch die Liebe tätig ist.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn
Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

Es ist der 17. April 1521. Martin Luther wird in Worms vor den Kaiser
geführt. Er soll widerrufen, um der Einheit der Kirche willen und der Ru-
he im Staat. Er habe Bibelstellen verdreht und fromme Seelen verführt.
Er solle Buße tun und seine Irrtümer eingestehen. Dann werde sich der
Kaiser für ihn beim Papst einsetzen, damit der die Verurteilung als Ket-
zer aufhebt. Luther bittet um einen Tag Bedenkzeit. Dann tritt er erneut
vor den Kaiser und weigert sich zu widerrufen. Es müsse im Blick auf das
Wort Gottes Spannungen und unterschiedliche Meinungen geben dürfen.
Konflikte zu unterdrücken, würde die bestehenden Übel im kirchlichen
Leben nur anwachsen lassen.

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Er schließt mit den Worten: „Weil denn Eure allergnädigste Majestät
und fürstlichen Gnaden eine einfache Antwort verlangen, will ich sie ohne
Spitzfindigkeiten und unverfänglich erteilen, nämlich so: Wenn ich nicht
mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt
werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe,
und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort. Denn ich glaube
weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es offenkundig ist, daß
sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben. Widerrufen kann
und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein
Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen.“

Da ist sie, die Freiheit in der Bindung des Gewissens an Jesus Christus.
Luther bezieht sich dabei indirekt auf das, was Paulus im Galaterbrief
schreibt: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Dabei war es Paulus ur-
sprünglich nicht um die Freiheit von kirchlichen Traditionen und dem Ge-
horsam gegenüber Hierarchien gegangen, sondern um die Freiheit von der
Observanz jüdischer Gesetze. Er hatte die Gemeinden in der Landschaft
Galatien gegründet. Aber nach seinem Weggang kamen Missionare in die
Dörfer, die etwas anderes predigen: Ihr müsst erst Juden werden, euch
beschneiden lassen und die Speisegebote der Torah halten, um Christen
zu sein.

Wie könnt ihr nur so dumm sein, eure Freiheit aufzugeben, so schreibt er
ihnen daraufhin. Ihr seid doch befreit in Jesus Christus. Ihr müsst den
Göttern keine Opfer mehr bringen, um sie gnädig zu stimmen. Gott ist
euch gnädig um Jesu willen. Ihr müsst das jüdische Gesetz nicht halten,
um vor Gott als Gerechte dazustehen. Es gilt als erfüllt in Christus. Ihr
müsst euch auch nicht beschneiden lassen, um Gott zu gefallen. Das alles
ist völlig unnötig. Es zählen nur noch zwei Dinge: der Glaube, dass das
so sei, und die Nächstenliebe, die daraus erwächst. Warum wollt ihr euch
unter das Joch einer alten Autorität begeben, wo ihr doch befreit seid?
Werdet was ihr seid: Bewahrt euch die Freiheit, zu der ihr befreit seid
und gestaltet aus ihr heraus euer Leben.

Szenenwechsel: Der Abend des 13. November 1933. Die Deutschen Chris-
ten haben den Sportpalast in Berlin gemietet. Der Riesensaal ist mit
20.000 Menschen bis auf den letzten Platz gefüllt. Der Religionspädago-
ge Dr. Reinhold Krause ergreift das Wort. Er entwirft das Bild einer

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neuen Volkskirche: Alles Undeutsche müsse aus dem Gottesdienst ent-
fernt werden, das Alte Testament, die Briefe des Paulus, der Gedanke
der Erlösung am Kreuz. Getaufte Juden sollten aus den Gemeinden aus-
geschlossen werden. Die reine Jesuslehre, die sich restlos mit dem Natio-
nalsozialismus decke, müsse künftig Grundlage der Kirche sein. Es gebe
eine enge Verwandtschaft mit dem nordischen Geist und dem heldischen
Jesusgeist. Es ist die völkische Religion, die hier zur Sprache kommt, wie
sie im 19. Jh. entstanden war, und wie sie auch Alfred Rosenberg als
führender Ideologe der NSDAP vertrat.

Die Rede löst einen binnenkirchlichen Skandal aus. Der Pfarrernotbund
entwarf eine Erklärung. Sie wurde in tausenden von Gemeinden von der
Kanzel verlesen. Dort heißt es u.a.: „Wir bekennen uns ausdrücklich zur
Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments als einziger Regel und
Richtschnur unseres Glaubens und Lebens, und zu den Bekenntnissen
unserer Väter, als ihrer reformatorischen Auslegung.“

Hier ist sie wieder, die Freiheit des Glaubens, dieses Mal nicht in der
Freiheit von den Vorschriften des jüdischen Glaubens oder in der Bin-
dung des Gewissens an die Schrift gegen päpstliche Macht, sondern im
Streit gegen eine völkische Ideologie, die den Kern christlicher Identität
ablehnt. Viele Protestanten distanzieren sich in der Folge von den Deut-
schen Christen. Sie verlieren ihren Einfluss und zerfallen in verschiedene
Gruppierungen. Der Versuch, die evangelische Kirche ideologisch gleich-
zuschalten, ist gescheitert.

Trotzdem: Sie bleibt bis zum Kriegsende gespalten in ihrer politischen
Haltung gegenüber dem Regime: in Befürworter und Gegner sowie in ei-
ne dritte Gruppe, die zu vermitteln versucht. Auch in unserer Landeskir-
che. Mein Vorgänger im Amt Landesbischof Helmuth Johnsen verstand
sich als Lutheraner und Nationalsozialist. Es sind nur wenige, die in den
Widerstand gehen: Dietrich Bonhoeffer ist der bekannteste von ihnen. Er
bleibt eine Ausnahme.

Und zur Wahrheit gehört auch dies: So bewundernswert die von christli-
cher Freiheit geprägte Haltung eines Paulus, eines Martin Luthers oder
des Pfarrernotbundes ist, sie hatte nicht nur positive, sondern immer auch
ungewollt zerstörerische Nebenwirkungen. Paulus hat durch seine polemi-
sche Abgrenzung vom jüdischen Glauben mit dazu beigetragen, dass der

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Antijudaismus Teil der christlichen Kultur wurde mit allen Folgen bis hin
zum Antisemitismus unserer Tage. Luthers schroffe Ablehnung von Tra-
dition und bischöflichem Amt führte zur Zersplitterung des Christentums
in miteinander verfeindete Konfessionen, befeuerte die Konfessionskrie-
ge des 16. Jahrhunderts, war ein Faktor für den Dreißigjährigen Krieg
und die Diskriminierung von Katholiken nach 1871 im Kaiserreich. Die
Spaltungen innerhalb der evangelischen Kirche während der Zeit des Na-
tionalsozialismus haben den Protestantismus in seiner Widerstandskraft
gegen die Unmenschlichkeit des Regimes gelähmt.

Der Reformationstag ist deshalb nicht nur Anlass zur Würdigung der
Freiheit des Glaubens im Gedenken an den Reichstag in Worms vor 500
Jahren. Er nötigt zugleich, die Gefährdungen wahrzunehmen, die von ih-
rem Missbrauch ausgehen. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, das
kann Ausdruck von Starrköpfigkeit, Borniertheit und Intoleranz sein. Die
Rede von der Freiheit kann instrumentalisiert werden zur Abwertung an-
derer bis hin zu Gewalt. Sie kann Ausdruck einer narzisstischen Störung
sein, die von der Bewunderung anderer lebt.

Mich haben im vergangenen Jahr einige Briefe und Mails erreicht, die
forderten, die Kirche müsse sich gegen Eingriffe des Staates in die Religi-
onsfreiheit durch Infektionsmaßnahmen wehren. Christliche Freiheit aber
ist nicht Selbstbestimmung, Autarkie oder Willkür. Christliche Freiheit
ist die von Gott befreite Freiheit zur Liebe. Paulus wollte erreichen, dass
seine Gemeinden ohne Ängstlichkeit um den eigenen Stand bei Gott ihr
Leben in Liebe zueinander gestalten.

Freiheit vollzieht sich, wenn ich vor Gott stehend befreit bin von der Sorge
um mich selbst und zur Freiheit anderer beitrage. Was Corona betrifft,
bedeutet das, Ruhe, Geduld und Gelassenheit bewahren; durch unser
Verhalten dazu beitragen, die Infektionsketten einzudämmen; nicht kla-
gen über persönliche Einschränkungen, sondern danach fragen, was wir
tun können, damit wir andere nicht anstecken; durch unsere Steuern mit
dazu beitragen, Härten zu mildern; Verschwörungstheoretikern und Co-
ronaleugnern im Bekanntenkreis entgegentreten, Ängste vor Impfungen
nehmen.

Natürlich gibt es trotzdem auch auch heute immer wieder Anlässe, das
Wort kritisch zu erheben. So nötigt die Situation auf dem Mittelmeer und

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in den Lagern auf den griechischen Inseln und neuerdings an der polnisch-
belarussischen Grenze dazu, immer wieder politische Lösungen für die
Not der Menschen anzumahnen und mit Hilfe von Diakonie und Caritas
ihre Situation zu verbessern. Beim Thema Sterbehilfe geht es darum, dass
bei allem Verständnis für individuelle Notlagen nicht ein gesellschaftliches
Klima entsteht, in dem alte, kranke oder pflegebedürftige Menschen unter
Druck geraten, ihr Leben zu beenden, um anderen nicht zur Last zu
fallen.

Bei der Rückreise von Worms wurde Martin Luther bekanntlich heimlich
auf die Wartburg in Eisenach gebracht, um ihn für eine Weile aus der
politischen Schusslinie zu bringen, bis die Lage sich beruhigte. Als Junker
Jörg, getarnt mit einem dichten Vollbart, verbrachte er dort ein dreivier-
tel Jahr. Damals entstand die erste Übersetzung des Neuen Testaments
ins Deutsche. Sie erschien im September 1521 im Druck. Bis 1534 über-
setzte er zusammen mit Philipp Melanchthon, Justus Jonas, Johannes
Bugenhagen, Caspar Cruziger und anderen die gesamte Bibel.

Luther verdankte seine innere Freiheit im Umgang mit theologischen
Denktraditionen und kirchlichen Hierarchien dem Studium der Heiligen
Schrift. Er wollte, dass möglichst viele Menschen sie lesen, um wie er in
diese Freiheit hineinzufinden. Die Bibel in deutscher Sprache ist deshalb
im Rückblick betrachtet Luthers größte Leistung. Sie wirkte nicht nur
glaubensfördernd. Sie hat den Bildungsstand zahlloser Menschen geför-
dert. Sie hat Sprache und Kultur Deutschlands unermesslich gefördert
und bereichert. Deswegen haben wir heute die Freiheit, über den Ab-
stand von 2000 Jahren hinweg die Worte des Paulus von der Freiheit des
Glaubens selbst zu lesen und uns davon inspirieren zu lassen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere
Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

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