REFORMATION AKTUELL Diskussionsimpulse Thesen zur Bedeutung von Reformation heute

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REFORMATION AKTUELL Diskussionsimpulse Thesen zur Bedeutung von Reformation heute
REFORMATION AKTUELL

    Diskussionsimpulse

          Thesen zur
       Bedeutung von
         Reformation
               heute
REFORMATION AKTUELL Diskussionsimpulse Thesen zur Bedeutung von Reformation heute
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REFORMATION
    AKTUELL
           Diskussionsimpulse

Thesen zur Bedeutung
von Reformation heute
     herausgegeben vom Beauftragten
 der Evangelischen Landeskirche in Baden
       für das Reformationsjubiläum
            Wolfgang Brjanzew

            Die Broschüre kann bezogen werden über:
     Evang. Oberkirchenrat, Blumenstraße 1–7, 76133 Karlsruhe
             E-Mail: gisela.kirchberg-krueger@ekiba.de
REFORMATION AKTUELL Diskussionsimpulse Thesen zur Bedeutung von Reformation heute
Karl Vollmer: „Luther im Profil, Muddy Waters nicht unähnlich“, 2015,
Mischtechnik auf Packpapier, 199 x 178 cm
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       6

A. DIE BEDEUTUNG VON REFORMATION FÜR UNS HEUTE
   Thesen von Wolfgang Brjanzew . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .               8
    I.   Die stets reformbedürftige Kirche
         Thesen zur bleibenden Aktualität von Reformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                    8
    II. Die Botschaft der Kirche für Menschen von heute
        Thesen zur konkreten Identifikation aktuell besonders relevanter Kerninhalte
        kirchlicher Verkündigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .           9

B. DIE BEDEUTUNG VON REFORMATION FÜR UNS HEUTE
   Thesen von Dr. Uwe Hauser. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .            15

C. DIE BEDEUTUNG VON REFORMATION FÜR UNS HEUTE
   Thesen von Dr. Gerrit Hohage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .            21

D. DIE BEDEUTUNG VON REFORMATION FÜR UNS HEUTE
   Thesen von Dr. Anne Helene Kratzert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .               27

E. DIE BDEDEUTUNG VON REFORMATION FÜR UNS HEUTE
   Thesen von Dr. Matthias Kreplin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .            34

ZUR DISKUSSION GESTELLT
   Impulse für den Gebrauch des Thesenheftes im Blick auf Gesprächsveranstaltungen
   von Wolfgang Brjanzew . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .           40

REFORMATION AKTUELL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .            40

A. Anregungen für eine einmalige Gesprächsveranstaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                      40

B. Anregungen für eine einmalige Gesprächsveranstaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                      41

C. Anregungen für eine mehrteilige Gesprächsreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                    42

D. Anhang
   500 Jahre Reformation – Wie es dazu kam und was daraus wurde
   von Wolfgang Brjanzew . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .           44

BILDRECHTE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     47

IMPRESSUM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    47

                                                                                                                                         5
VORWORT
Die Kirche ist „ecclesia semper reformanda“ also stets    sen dürfte besonders für Pfarrkonvente, Bezirks­synoden,
reformationsbedürftige Kirche. So hatte es der nieder-    Ältestenkreise, Bezirkskirchenräte oder andere theo-
ländische Theologe Jodocus van Lodenstein in einer        logisch interessierte Gruppen und Kreise eine lohnende
von ihm 1674 veröffentlichten Schrift erstmals formu-     Aktion (nicht nur) im Rahmen des Reformationsjubi­
liert. In diesem Sinne kann auch 500 Jahre nach Luthers   läums sein. Wir brauchen in unserer Kirche neben vie-
Thesenanschlag das Thema „Reformation“ nicht einfach      len anderen Formen und Ebenen der Kommunikation
nur Anlass zu historischem Gedenken sein. Das aktu-       auch den anspruchsvollen Austausch über theologische
elle Reformationsjubiläum fordert vielmehr besonders      Grundsatzfragen. Dass dieser angesichts einer Fülle
dazu heraus, zu prüfen, was gerade heute geschehen        anderer Aktivitäten und Aufgaben oft zu kurz kommt,
muss, damit die Kirche der Reformation ihrem Auftrag      wird gerade von kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mit-
gemäß wahrhaft „evangelische“ Kirche ist und bleibt. Da   arbeitern häufig beklagt. Hier kann das vorliegende Heft
es auf die Frage nach der Bedeutung von Reformation       eine Hilfe sein. Es bietet Material an, das didaktisch
für die Gegenwart mehr als nur eine Antwort gibt, muss    sinnvoll eingesetzt, die motivierende Ausgangsbasis
um ihre Klärung und die damit verbundenen Konsequen-      für einen längst überfälligen inhaltlichen Diskurs dar-
zen diskursiv gerungen werden. Nach evangelischem         stellen kann. In diesem Sinne laden wir die Leserinnen
Selbstverständnis ist es ja ein bewährtes Verfahren,      und Leser dieser Broschüre ein: Gönnen Sie sich die
theologische Klärungen „sine vi sed verbo“, also ohne     Auseinandersetzung mit den hier veröffentlichten The-
Gewalt sondern allein durch die Überzeugungskraft         sen. Seien Sie so frei und schnappen Sie nach den auf
des Wortes zu erzielen.                                   diese Weise ins Spiel gebrachten „Knochen“. Ob Sie
                                                          zustimmen, widersprechen oder ihre eigenen Thesen
Auf diesem Hintergrund und ganz im Sinne des badischen
                                                          entwickeln – lassen Sie sich durch die fünf Beiträge in
Jubiläumsmottos „Ich bin so frei“ haben eine Theolo-
                                                          diesem Heft inspirieren zum Weiterdenken und zur
gin und vier Theologen unserer Landeskirche jeweils
                                                          Diskussion. Wir wünschen Ihnen dazu gute Einfälle,
auf ihre Weise und aus ihrer ganz individuellen Sicht
                                                          Freiräume, engagierte Gesprächspartner und vor allem
heraus Thesen zur Bedeutung von Reformation heute
                                                          Gottes Segen.
formuliert. Mit ihrer Veröffentlichung verbinden wir
die Hoffnung, dass diese sehr unterschiedlichen per-
sönlichen Statements zu einer offenen und möglichst
breiten Diskussion über die Aktualität von Reformation    Karlsruhe, im Oktober 2016
heute anregen mögen.                                      Wolfgang Brjanzew
Die Beschäftigung mit den in diesem Heft publizierten     Landeskirchlicher Beauftragter
Denkansätzen oder einzelnen daraus ausgewählten The-      für das Reformationsjubiläum

6
Titelblatt des Urdrucks der von Martin Luthers 1520 veröffentlichten Schrift „Von der Freiheit eines Christen-
menschen“ (lateinischer Titel: „De libertate christiana“). In der Einfassung oben sind die sächischen Schwerter,
unten das Wappen Wittenbergs zu sehen.

                                                                                                              7
Wolfgang Brjanzew
                                                                 Beauftragter der Evangelischen
                                                                         Landeskirche in Baden
                                                                   für die Reformationsdekade,
                                                                                      Karlsruhe

A. DIE BEDEUTUNG VON REFORMATION FÜR UNS HEUTE
       Thesen von Wolfgang Brjanzew

I.     Die stets reformbedürftige Kirche
       Thesen zur bleibenden Aktualität von Reformation

Die Kirche stand und steht fortwährend in der Gefahr,          nahmen zur Erneuerung der Kirche notwendig. Das gilt
sich von ihrem im neuen Testament gründenden Auftrag           im Blick auf ihre Lehre und Verkündigung ebenso wie
zu entfernen. Häresien, Traditionalismus, Modernismus,         für ihre institutionelle Gestalt. Die folgenden Thesen
Ignoranz, Machtstreben, Weltflucht oder Verweltlichung –       beziehen sich auf einige grundlegende Aspekte, die mit
dies alles und noch andere Faktoren machten und                der permanenten Reformbedürftigkeit der Kirche im
machen bis heute immer wieder reformatorische Maß-             Zusammenhang stehen.

(1)    ecclesia semper reformanda – die fehlbare und darum immer wieder zu reformierende Kirche

Die Kirche ist und bleibt eine fehlbare Institution. Wo sie im Blick auf die Erfüllung ihres Auftrages versagt,
bedarf sie der Reformation im Sinne eines Weges der Umkehr und Erneuerung. Da sie immer wieder ver-
sagt, bedarf sie auch immer wieder eines ihren Kurs korrigierenden reformatorischen Handelns.
Die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen besteht aus          wie jeder einzelne Mensch so steht auch die Kirche als
fehlbaren Menschen. Darum ist auch sie selbst als Ins-         organisierte menschliche Gemeinschaft unter dem Ruf
titution fehlbar. Sie versagt immer wieder, weil sowohl        Jesu zur Buße. Wo sie ihm folgt und umkehrt zu einer
die zu ihr gehörenden Menschen als auch die von ihnen          Form bzw. einer Praxis, die ihrem Auftrag entspricht,
entwickelten kirchlichen Strukturen immer wieder               da geschieht Reformation. Die de-formierte Kirche
versagen. Dabei besteht ihr Versagen vor allem darin,          wird im Sinne ihres Auftraggebers re-formiert. Das ist
dass sie fortwährend entweder das Evangelium oder              nicht ein für allemal zu leisten. Reformation ist viel-
die ihr anbefohlenen Menschen oder beides aus dem              mehr ein aus wechselnden Anlässen heraus immer
Blick verliert. Wo dies der Fall ist, erfüllt sie ihren Auf-   wieder aktuell notwendiger Prozess.
trag nicht mehr im Sinne ihres Auftraggebers. Doch

(2)    Prüft aber alles – das evangelische Prinzip permanenter Kritik

Reformation ist nicht nur ein epochaler historischer Ereigniszusammenhang oder eine einmalige von be-
stimmten theologischen Inhalten geprägte Bewegung. Der Begriff steht vielmehr zugleich auch für ein bleiben-
des paradigmatisches Modell geistlich-theologischer Erneuerung. Es beinhaltet sowohl die institutionalisierte
Pflege einer Kultur kritischer Selbstanalyse innerhalb der Kirche als auch eine grundsätzliche Offenheit für
konstruktive Kritik von außen. Reformation als evangelisches Prinzip permanenter Kritik ist eine Art „qua-
litätssicherndes“ Handeln der Kirche. Es zielt auf die stetige Orientierung der Kirche an ihrem im Evangelium
gründenden Auftrag und an den ihr anbefohlenen Menschen in ihrer jeweils konkret vorfindlichen Lebens-
wirklichkeit.

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Die Institution Kirche ist eingebunden in eine sich stän-   aber von seiner Grundgestalt her nicht zur Disposition.
dig verändernde Welt. Damit ist sie auch permanent          Anders verhält es sich bei den politischen, ökonomi-
herausgefordert, auf diese Veränderungen angemessen         schen, soziokulturellen und individuellen Verhältnissen
zu reagieren. Ihr apostolischer Auftrag stellt sie grund-   der Menschen. Sie verändern sich ständig. Darum muss
sätzlich unter Gottes Zuspruch und Anspruch. Er ver-        die Kirche ihre organisatorischen Strukturen sowie die
pflichtet sie zur Verkündigung des Evangeliums, zur         Schwerpunkte und Methoden ihres Handelns kontinuier-
stiftungsgemäßen Verwaltung der Sakramente, zur             lich auf sich verändernde Lebenswelten abstimmen.
Pflege geschwisterlicher Gemeinschaft und zum Dienst        Nur so kann sie ihren apostolischen Auftrag in der Weise
der Liebe. Dieser umfassende Auftrag an sich ist zwar       realisieren, dass sie dabei den betroffenen Menschen
ein dauerhaft bleibender, aber er muss unter sich           angemessen gerecht wird. Damit die Kirche sowohl
ständig verändernden Rahmenbedingungen erfüllt und          ihre institutionelle Gestalt als auch ihr praktisches
praktisch umgesetzt werden. Das ihm zugrundeliegende        Handeln auftragsgemäß an den jeweils aktuellen Er-
und zur Weitergabe anvertraute Evangelium ist eine          fordernissen orientieren kann, muss sie beides immer
nicht austauschbare verbindliche Vorgabe. Es ist zwar       wieder unter dem Aspekt sachlicher Angemessenheit
innerhalb bestimmter Parameter interpretierbar, steht       auf den Prüfstand stellen.

(3)   Nicht um jeden Preis modern, aber zeitgemäß – die situative Umsetzung des kirchlichen Auftrags

Die dem Evangelium und den ihr aktuell anbefohlenen Menschen gleichermaßen verpflichtete Kirche erfüllt
ihren Auftrag zeitgemäß. Darum ist sie prinzipiell offen für entsprechende reformatorische Impulse. Sie
handelt weder restaurativ noch am Mainstream orientiert. Sie nimmt ihren Auftrag vielmehr in der Weise
ernst, dass sie ihn jeweils aktuell und situationsbezogen umsetzt. Das gilt sowohl im Blick auf ihre organi-
satorische Gestalt als auch hinsichtlich ihrer Lehre und ihres gesamten praktischen Handelns.
Immer wieder kann man der Forderung begegnen, die           bindlichkeit her nicht zur Disposition stehenden Evan-
Kirche müsse „modern“ sein bzw. werden. Wenn dieser         geliums entschieden werden. Dabei kann kirchliches
Wunsch so zu verstehen ist, dass Kirche um jeden Preis      Handeln unter Umständen gerade darin zeitgemäß
à la Mode auftreten und handeln müsse, also gemäß           sein, dass es vom Evangelium her Gegenstände thema-
dem gerade jeweils allgemein vorherrschenden Mehr-          tisiert oder Fragen stellt, die aktuell auf der Agenda der
heitsgeschmack, dann ist dem eine klare Absage zu er-       übrigen Welt keine Rolle spielen. Die Kirche muss im
teilen. Wenn aber mit „modern“ kirchliche Strukturen        Zweifels- oder Konfliktfall ihren im Evangelium grün-
und Handlungsweise gemeint sind, die in dem Sinne „zeit-
                                                            denden Auftrag über ihre eigene Tradition, aber auch
gemäß“ sind, dass sie in dem vom Evangelium her be-
                                                            über den jeweils vorherrschenden Mainstream stellen.
schriebenen Rahmen den jeweiligen Zeit­umständen an-
                                                            Reformation ist weder Restauration noch opportunisti-
gemessen Rechnung tragen, dann darf und muss Kirche
                                                            sche Anpassung an das, was gerade mehrheitlich als
modern sein. Sie kann ja ihrem apostolischen Auftrag
nur dann gerecht werden, wenn sie die Menschen, die         „angesagt“ gilt. Um ihren jeweils für sie zeitgemäßen
ihr anbefohlen sind, innerhalb ihrer zeitgebundenen         Weg zu finden, bedarf die Kirche einer institutionellen
Lebenssituation ernst nimmt. Was „zeitgemäß“ im Blick       Offenheit für entsprechende reformatorische Impulse.
auf die Kirche als Institution bzw. ihre Schwerpunkt­       Voraussetzung dafür ist, dass sie verfassungsmäßig, or-
bildung oder die praktische Gestaltung ihres Handelns       ganisatorisch und strukturell eine Kultur des offenen
konkret bedeutet, kann aber nur unter gleichzeitiger        innerkirchlichen Diskurses über die angemessene Um-
Berücksichtigung des inhaltlich und von seiner Ver-         setzung ihres Auftrages ermöglicht und pflegt.

II. Die Botschaft der Kirche für Menschen von heute
      Thesen zur konkreten Identifikation aktuell besonders relevanter Kerninhalte kirchlicher Verkündigung

Der Verkündigungsauftrag der Kirche bezieht sich grund-     kann ihrem Auftrag nur dann angemessen gerecht wer-
sätzlich auf das ganze Evangelium. Das schließt jedoch      den, wenn sie für sich in verantwortlicher Weise immer
bei seiner Weitergabe eine an aktuellen Erfordernissen      wieder neu die Frage beantwortet: Welche Kern­inhalte
orientierte inhaltliche Prioritätensetzungen nicht aus.     der christlichen Botschaft müssen gerade jetzt unter
Diese sind vielmehr unerlässlich, um Menschen ange-         diesen oder jenen vorfindlichen Bedingungen ganz be-
sichts ihrer aktuellen Situation genau dort zu erreichen    sonders in den Fokus der Verkündigung gerückt werden?
und abzuholen, wo sie sich gerade befinden. Kirche          Um die Beantwortung dieser grundlegenden Frage geht

                                                                                                                    9
es in den folgenden Thesen. Sie reagieren ohne Voll-        diese Inhalte wenig oder gar nichts mehr sagen. Hier ist
ständigkeitsanspruch auf die Wahrnehmung, dass vielen       eine angemessen gegensteuernde Priorisierung ihrer
Menschen unserer Tage für das Wesen des christlichen        Vermittlung eine reformatorische Herausforderung,
Glaubens unverzichtbare Inhalte nicht mehr präsent          der sich die Kirche stellen muss. In dieser Hinsicht
sind bzw. für sie nur noch geringe oder gar keine Be-       wollen die nachfolgenden Thesen exemplarisch zu
                                                            ­
deutung mehr haben. Zweifellos sind etliche der in den      einer weiterführenden Diskussion über die Identifika-
nachfolgenden Thesen identifizierten Verkündigungs-         tion aktuell besonders relevanter Verkündigungsinhalte
inhalte durchaus noch für einen mehr oder minder signi-     anregen. Dabei geht es an dieser Stelle nur um Inhalte
fikanten Teil der Kirchenglieder relevant. Doch aktuelle    und noch nicht um die ebenfalls wichtige Frage nach
Umfragen zeigen, dass die Zahl derer wächst, denen          wirksamen Methoden ihrer Vermittlung.

(1)   Totgesagte leben länger – Die Realität Gottes

Der christliche Glaube geht von der realen Existenz Gottes aus, die in der Bibel bezeugt wird. Auf diesem
Hintergrund bekennt sich die Kirche zu Gott als dem Schöpfer der Welt, der sich in Jesus Christus den Men-
schen als Mensch offenbart hat. Er hat einen guten Plan mit ihnen und gibt ihrem Leben neben wegweisen-
der Orientierung eine Würde und Sinnhaftigkeit, die sie sich nicht selbst geben können. Durch das Wirken
seines Geistes machen Menschen persönliche Erfahrungen mit ihm. Diese wecken und stärken ihr Ver-
trauen in sein heilvolles Handeln und verbinden die Gläubigen zur spirituellen Gemeinschaft seiner Kinder.
Immer wieder wurde und wird die Existenz Gottes be-         Voraussetzung des Glaubens relativiert oder gar ge-
stritten. Er wurde und wird vielfach als ein Produkt        leugnet wird, bedeutet Reformation heute das deut­
menschlicher Fantasien, Wünsche und Träume be-              liche Eintreten für das Bekenntnis zur alles umfassen-
trachtet. Unter anderem provozierte und polemisierte        den Wirklichkeit Gottes, wie sie in der Heiligen Schrift
der Philosoph Friedrich Nietzsche mit der Parole „Gott      bezeugt wird. Wurde er in früheren Zeiten oft sehr ein-
ist tot“. Es gab auch eine theologische Richtung, die       seitig als richtender und strafender Gott gepredigt, so
diese Behauptung aufstellte. Doch Gott hat alle seine       wird er heute innerhalb der kirchlichen Verkündigung
Leugner und Kritiker „überlebt“. Seine Existenz kann        nicht selten in geradezu läppischer Weise verharmlost.
allerdings nicht im naturwissenschaftlichen Sinne nach-     Da erscheint er dann nur noch als „lieber“ Gott, guter
gewiesen und dokumentiert werden. Sie sprengt die           Kumpel oder stets freundlicher Dienstleister in allen
Grenzen menschlicher Vorstellungskraft und ist nur der      Lebenslagen. Was auch immer Menschen getan oder
Erfahrung des Glaubens zugänglich. Angesichts gegen-        versäumt haben, er mag sie alle. Reformatorische Kri-
wärtig weit verbreiteter atheistischer und agnostischer     tik ist da angebracht, wo Gott in verantwortungsloser
Positionen und Haltungen ist der christliche Glaube an      Weise verniedlicht oder nur noch mit Teilaspekten sei-
einen real existierenden persönlichen Gott keineswegs       nes Wesens gleichgesetzt wird. Obwohl von ihm häufig
selbstverständlich. Auch innerhalb der Kirche wird er       in Bildern gesprochen wird, darf er nicht einfach nur
nach neueren Umfragen von rund einem Drittel ihrer          auf das eine oder andere Bild von ihm reduziert werden.
Mitglieder nicht geteilt. Wo immer im Bereich von Kirche    Er ist und bleibt der in vielfacher Hinsicht Geheimnis-
und Theologie die reale Existenz Gottes als Basis und       volle und letztlich ganz Andere.

(2)   Hinterm Horizont geht‘s weiter – Leben mit Zukunft

Der christliche Glaube basiert auf dem Vertrauen, dass die persönliche Verbundenheit mit Gott nicht durch
den Tod beendet wird, sondern weit über das hinausgeht, was Menschen als ihre biologisch-vegetative Da-
seinsweise wahrnehmen. Er gründet sich dabei auf biblische Verheißungen, die in anschaulichen Bildern
von einer beglückenden und niemals endenden Gemeinschaft mit Gott sprechen. Diese wird nicht als eine
Verlängerung irdischen Daseins ins Unendliche gedacht, sondern als ein Zustand der Erlösung jenseits aller
menschlichen Erfahrungen, an der die gesamte Schöpfung teilhaben wird.
Der christliche Glaube überschreitet in mancherlei Hin-     Todes mit der Hoffnung, dass Gottes Plan mit den
sicht die Grenzen menschlicher Vernunft und Erkennt-        Menschen über deren endliche Existenz hinaus eine
nisfähigkeit. So vertraut und hofft er unter anderem        Zukunft hat. Weil aber das, worum es hier geht, den
auf die Vollendung des Individuums zu einer bleiben-        Horizont menschlichen Denkens übersteigt, sprechen
den Teilhabe an der alles umfassenden Wirklichkeit          die biblischen Überlieferungen davon nur andeutungs-
Gottes, die größer ist als das, was Menschen natürlicher-   weise. Dazu benutzen sie vor allem Bilder. Da ist dann
weise von ihr wahrnehmen können. In diesem Sinne            vom „Reich Gottes“, vom „Himmelreich“ und vom
verbindet der Glaube das Wissen um die Realität des         „ewigen Leben“ die Rede oder von einem Fest oder

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von einer neuen Welt, in der Gott unter den Menschen       schrieben oder in ungebührlicher Weise konkretisiert
wohnen und ihre Tränen abwischen wird, in der es kei-      wird. Die Aussicht auf eine beglückende Zukunft in
nen Tod, kein Leid und keine Schmerzen mehr geben          ungebrochener Gemeinschaft mit Gott kann helfen,
wird. Solche Bilder weisen über sich selbst hinaus. Sie    angesichts aktueller Erfahrungen von Not, Leid und
können letztlich nur ahnen lassen, worum es in letzter     Tod zu bestehen. Sie darf allerdings nicht als billige
Konsequenz geht, nämlich um die bleibende Beheima-         Vertröstung instrumentalisiert werden oder als Argu-
tung der Glaubenden in einem Zustand innigster Ge-         ment für die widerspruchslose Hinnahme von Verhält-
meinschaft mit Gott. Diese Verheißung gehört zum           nissen, die in erkennbarem Gegensatz zum Willen
Kern des Evangeliums und kann von diesem nicht abge-       Gottes stehen. Es ist gänzlich inakzeptabel, dass die
trennt werden, ohne es in seiner Gesamtheit zu ver­        Hoffnung auf Gottes neue Welt als Narkotikum miss-
fälschen und in Frage zu stellen. Darum bedarf es eines    braucht wird. Aber sie kann sehr wohl dazu beflügeln,
konsequenten reformatorischen Handelns, wo immer           die Welt schon hier und heute im Lichte künftiger Voll-
im Bereich der Kirche die ewige Gemeinschaft mit           endung zu gestalten. Der hier angesprochene Themen-
Gott als ungeklärte Frage offengelassen, ignoriert, ge-    bereich eröffnet ein weites Feld für Reformation im
leugnet, als Ergebnis menschlicher Bemühungen be-          Sinne evangelischer Erneuerung.

(3)   Vertrauen ist der Anfang von allem – Das Geschenk des Glaubens

Damit Menschen Gottes Gnade, seinen Segen und seine vielfältigen Selbstmitteilungen an sie auch wirklich
als solche erkennen, zu Herzen und für sich in Anspruch nehmen können, bedürfen sie des Glaubens. Dar-
unter ist eine Haltung tiefen Vertrauens auf Gott und sein heilvolles Handeln zu verstehen. Der Glaube ist
keine natürlicherweise zur Verfügung stehende Möglichkeit oder gar eine menschliche Leistung, sondern
ein von Gott angebotenes Geschenk. Er ist die Ebene, auf der Gott zu einem Menschen Kontakt aufnimmt
und auf der dieser seinerseits mit Gott kommunizieren kann. Vielfältig sind die Wege, auf denen Gott Glauben
weckt. Doch niemals wendet er dabei Zwang an. Er will, dass der Mensch ihm aus freien Stücken gehorsam
ist und ihm ohne äußeren Druck sein Vertrauen und seine Liebe schenkt. Wo diese persönliche Beziehung
mit Zustimmung des Menschen zustande kommt, gelangt Gottes guter Plan mit ihm ans Ziel.
Martin Luther hat schon bei seiner kritischen Aus­         sich ganz persönlich gelten lässt, was Christus durch
einandersetzung mit der Ablasspraxis der Kirche und        seinen Tod am Kreuz für alle Menschen getan hat, er-
darüber hinaus in vielen anderen Zusammenhängen            langt er die Vergebung seiner Sünden und die Versöh-
leidenschaftlich darauf hingewiesen, dass der Mensch       nung mit Gott. Wo die Heilsnotwendigkeit des Glaubens
allein durch den Glauben selig werden könne und nicht      ignoriert oder geleugnet wird oder der Glaube zu einer
durch seine Werke. Gottes Gnade könne weder gegen          frommen Leistung des Menschen hochstilisiert wird, da
Geld gekauft noch durch irgendwelche anderen An-           bedarf es auch heute einer deutlichen Klarstellung im
strengungen des Menschen verdient werden. Luther           Sinne des zuvor umrissenen reformatorischen Verständ-
verstand nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift den         nisses von der Bedeutung des Glaubens im Sinne eines
Glauben als die Ebene, auf welcher der Mensch die Ver-     bedingungslosen Vertrauens auf die rettende Gnade
gebung seiner Sünden gnadenhalber (gratis) empfängt.       Gottes. Angesichts der heute weit verbreiteten Auffas-
Es geht also nicht an, dass jemand Gott eine Rechnung      sung, dass die Zugehörigkeit zu einer Religion oder
aufmacht, indem er sich auf eigene Leistungen beruft.      Weltanschauung in erster Linie die inhaltliche Zustim-
Wo dies dennoch geschieht, ist dem eine deutliche Ab-      mung zu einer Lehre oder einem bestimmten Programm
sage zu erteilen. Hier muss im Sinne evangelischer Lehre   umfasse, geht es beim Glauben aus christlicher Sicht
klargestellt werden: Es gibt keinen sich auf persönliche   um ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis, um die
Verdienste gründenden Anspruch des Menschen auf            auf Vertrauen, Gehorsam und Liebe beruhende persön-
die Vergebung seiner Sünden und seine Teilhabe an der      liche Beziehung des Menschen zu Gott. Dies für Men-
ewigen Gemeinschaft mit Gott. Allerdings existiert         schen unserer Zeit in vielfältiger Weise zum Leuchten
auch kein Heilsautomatismus. Nur wenn der einzelne         zu bringen, ist ein wichtiger Aspekt im Prozess einer
Mensch im Glauben seine Schuld bereut und das für          am Evangelium orientierten kirchlichen Erneuerung.

(4)   Hin zur Quelle – Die Bibel als Ur-kunde göttlicher Offenbarung

Die Bibel ist das heilige Buch der Christenheit. Sie ist für die Christenheit die Ur-kunde göttlicher Offenbarung
und unverzichtbare Grundlage des Glaubens. Immer wieder haben Menschen sie als Quelle der Selbstmit-
teilung Gottes erlebt.

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Die Bibel bezeugt und deutet in vielfältiger Weise das      der biblischen Überlieferungen höchste Priorität ein-
Wirken Gottes und grundlegende Erfahrungen mit ihm.         räumt. Da ist aktuelles reformatorisches Handeln drin-
Zu allen Zeiten haben Menschen in der Begegnung mit         gend erforderlich. Luther und andere Reformatoren
der Heiligen Schrift diese auch als aktuelle Selbst­        hatten sich mit großem Engagement für eine qualitativ
mitteilung Gottes sowie als ihnen persönlich geltende       hochwertige Übersetzung der Bibel eingesetzt. Sie
Einladung zum Glauben und zu einem ihm entspre-             wollten, dass jeder Christ sie in seiner Muttersprache
chenden Handeln in der Nachfolge Jesu erlebt. Diese         lesen und verstehen kann. Heute gibt es in unserem
Erfahrung spiegelt sich bis heute unter anderem darin       Land keinen Mangel an geeigneten Bibelübersetzungen
wider, dass die Bibel häufig als „Wort Gottes“ bezeich-     und einen so hohen allgemeinen Bildungsstandard,
net wird. Sie bietet maßgebliche Wegweisungen für           dass fast alle bei uns lebenden Menschen in der Lage
verantwortlich gelebten Glauben, ein am Willen Gottes       sind, die Bibel zu lesen. Dass diese dennoch auch inner-
orientiertes Handeln und die praktische Gestaltung          halb der christlichen Kirchen nur wenigen wirklich ver-
christlicher Gemeinschaft. Nach evangelischem Ver-          traut ist, kann nicht einfach nur zur Kenntnis genommen
ständnis müssen Lehre, Verkündigung und Organisation        werden. Vielmehr stellt die methodisch und didaktisch
der Kirche sowie die individuelle Lebensführung der         ansprechende Vermittlung der biblischen Inhalte und
Gläubigen in angemessener Weise schriftgemäß also           ein vielfältiger anwendungsbezogener Umgang mit
von den zentralen Überlieferungen der Bibel her be-         ihnen eine große reformatorische Herausforderung im
gründet bzw. mit ihnen vereinbar sein. Reformation          Sinne evangelischer Erneuerung dar. Ihr gilt es sich zu
heute bedeutet unter anderem eine klare Absage an           stellen. Die Bibel ist die alle Christen auf der Welt mit-
alle Formen kirchlicher Lehre und Verkündigung oder         einander verbindende Erzählung. Darum ist darauf zu
kirchlichen Handelns, die nicht mit der Bibel in Einklang   achten, dass sie nicht in Vergessenheit gerät oder zur
stehen. Nun ist aber inzwischen die Bibel innerhalb         Lektüre für wenige Spezialisten wird. Kirche ist nur
des Kulturbereichs des sogenannten christlichen Abend-      dann wahrhaft evangelisch, wenn das befreiende Evan-
landes und auch für gar nicht wenige Glieder der Kirche     gelium von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus
zu einem weithin unbekannten Buch geworden. Darauf          den Gliedern der Kirche Jesu Christi auch wirklich be-
muss die Kirche reagieren, indem sie der Vermittlung        kannt ist und von ihnen wertgeschätzt wird.

(5)   Heimat für den Glauben – Wir sind Kirche

Kirche ist nach evangelischem Verständnis die Gemeinschaft der an Jesus Christus Glaubenden. Ihr aposto-
lischer Auftrag stellt sie grundsätzlich unter Gottes Wort und Willen. Er verpflichtet sie zur Verkündigung des
Evangeliums, zur schriftgemäßen Verwaltung der Sakramente, zur Pflege geschwisterlicher Gemeinschaft
und zum Dienst der Liebe. Ihre Glieder teilen miteinander die ihnen anvertrauten Gaben und Möglich­
keiten. Sie handeln in der Nachfolge Jesu als seine Botschafter in der Welt.
Nach der alten römisch-katholischen Lehre ist die Kirche    Reformation heute bedeutet unter anderem, das Be-
eine von Gott gestiftete und vom Papst, den Bischö-         wusstsein dafür zu stärken, dass Kirche mehr ist als ein
fen, Priestern, Diakonen und Ordensleuten getragene         vereinsmäßiger Zusammenschluss Gleichgesinnter oder
Institution. Die Glaubenden kommen dabei nur insofern       ein religiöses Dienstleistungsunternehmen. Es scheint
in den Blick, als sie einen Anspruch auf Unterweisung,      so, als würden nicht wenige Glieder der evangelischen
Sakramentsempfang und Seelsorge haben. Von dieser           Kirche entgegen deren offizieller Lehre Kirche als
Sicht unterscheidet sich das evangelische Kirchenver-       etwas betrachten, das mehr oder minder unabhängig
ständnis deutlich. Hier können die Glaubenden sagen:        von ihnen besteht. Hier gilt es, Voraussetzungen dafür
„Wir sind Kirche und einige von uns nehmen in ihr auf       zu schaffen, dass möglichst viele Menschen entdecken
Grund entsprechender Eignung und Beauftragung be-           können: „Wir sind gemeinsam mit den anderen Gläubi-
stimmte Aufgaben wahr.“ Die reformatorische Lehre           gen Kirche und darum mitverantwortlich für deren Ge-
vom Priestertum aller Getauften lässt keine qualita-        staltung.“ Die besonders unter evangelischen Christen
tive Unterscheidung zwischen sogenannten Klerikern          durchaus verbreitete Einstellung „Ich kann auch ohne
und sogenannten Laien zu. Nach reformatorischem             Kirche ein guter Christ sein“ steht im Widerspruch
Verständnis ist die Kirche für die Glaubenden ein ihnen     dazu, dass Christen durch die Taufe in eine verbind­
von Gott anvertrautes Zuhause, in dem sie Gaben             liche Glaubens-, Bekenntnis- und Dienstgemeinschaft
und Aufgaben miteinander teilen, Gottesdienste fei-         berufen sind. Diese Tatsache hat Nikolaus Ludwig von
ern, die Sakramente empfangen, auf Gottes Wort              Zinzendorf auf die Formel gebracht: „Ich konstatiere
hören, sich wechselseitig seelsorgerlich beistehen und      kein Christentum ohne Gemeinschaft.“
so in vielfältiger Weise geistliche Stärkung empfangen.

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(6)   Die tun was – Glauben mit Hand und Fuß

Der Glaube äußert sich nach evangelischem Verständnis sehr wesentlich darin, dass sich Christen im Ge­
horsam gegenüber Gott und aus Liebe zu ihm und zum Nächsten in Wort und Tat für ihre hilfsbedürftigen
Mitmenschen einsetzen.
Im Sinne evangelischer Theologie sind gute Werke kein     als unverzichtbarer Lebensäußerung der Kirche und
Mittel, sich das Heil zu verdienen. Sie sind aber sehr    die praktische Gestaltung eines ihm entsprechenden
wohl Früchte, die aus einem lebendigen Glauben er-        institutionellen kirchlichen Handelns eingesetzt. Refor-
wachsen. Sie sind nicht die Voraussetzung für die heil-   mation heute bedeutet in diesem Sinne, dass Christen
volle persönliche Verbundenheit mit Gott, sondern         angesichts aktueller Notlagen den untrennbaren Zu-
deren Folge. Das bringt Martin Luther in Artikel 26       sammenhang von Glaube und Nächstenliebe bewusst
seiner Freiheitsschrift mit den Worten zum Ausdruck:      wahrnehmen und entsprechend diakonisch handeln.
„… weil ich doch durch meinen Glauben in allen Dingen     Christen sind in der Nachfolge Jesu zur praktischen
in Christus genug habe. Sieh, so fließt aus dem Glau-     Übernahme sozialer Verantwortung und zum Dienst in
ben die Liebe und die Lust zu Gott und aus der Liebe      der Welt berufen. Die Erfüllung des kirchlichen Auf­
ein freies, williges, fröhliches Leben, dem Nächsten      trages zur Verkündigung des Evangeliums wird dort
umsonst zu dienen.“ Im uneigennützigen diakonischen       glaubwürdig umgesetzt, wo es in Wort und Tat zu den
Handeln am bedürftigen Mitmenschen bekommt der            Menschen getragen wird. Wo diese Einheit von Wort
Glaube Hand und Fuß. Unter diesem Aspekt hat sich         und Tat unscharf oder gar preisgegeben wird, bedarf
unter anderem Johann Hinrich Wichern im 19. Jahr-         es einer am Evangelium orientierten Erneuerung.
hundert erfolgreich für ein Verständnis von Diakonie

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Karl Vollmer: „Philipp Melanchthon, Doppelportrait“, 2015,
Mischtechnik auf Bütten, 202 x 152 cm

14
Dr. Uwe Hauser,
                                                                                 Direktor des
                                                             Religionspädagogischen Instituts
                                                             der Evangelischen Landeskirche
                                                                         in Baden, Karlsruhe

B. DIE BEDEUTUNG VON REFORMATION FÜR UNS HEUTE
      Thesen von Dr. Uwe Hauser

1.    Rechtfertigung

Der Mensch kann sich nicht selbst rechtfertigen. Das kann auch kein anderer Mensch für ihn tun. Die Recht-
fertigung des Menschen geschieht allein durch Gott. Er tut es für uns durch Jesus Christus. Des Menschen
Werk ist es, darauf zu vertrauen, dass Gott es auch wirklich tut.
Themenfeld: Rechtfertigung und Leistung
Menschliches Leben muss sich weder am Anfang noch           geben kann. In den Augen mancher Menschen scheint
auf seiner Höhe noch an seinem Ende rechtfertigen. Es       das so zu sein (z. B. politische Gegner, Homosexuelle,
ist gegeben und von Gott geschenkt. Im Mensch ge-           Andersdenkende, Fremde, Kranke, Behinderte, Alte,
wordenen Gottessohn Jesus Christus hat Gott sein Ja         Ungeborene), vor Gott gilt das nicht. Unüberbietbar
dazu ein für alle Mal bekräftigt. Die in den Menschen       deutlich wird dies im Leben und in der Auferstehung
hineingelegten Fähigkeiten darf der Mensch daher            von Jesus Christus: Der von den Menschen aussortierte
dankbar und fröhlich zum Wohl anderer und damit zur         und weggeworfene Mensch wird von Gott anerkannt
Freude Gottes nutzen. Keine noch so große mensch­           und ins Recht gesetzt. Der Christenmensch traut Gott
liche Leistung wird dazu führen, dass ein Mensch mehr       das zu – mitten in seinem eigenen Gelingen und
oder weniger wert ist oder gar, dass es unwertes Leben      Scheitern.

2.    Freiheit und Gerechtigkeit

Der gerechtfertigte, von Gott angenommene Mensch darf frei mit allen Menschen und Dingen umgehen. Er
weiß um sein eigenes Versagen. Deswegen kann er auch fremdes Versagen ertragen. Er ist bereit, anderen
jederzeit die Möglichkeit zur Umkehr zuzugestehen.
Themenfeld: Fehlertoleranz und Moralismus
Politik und Gesellschaft sind von moralischer Über­         mal in dem besten Leben. Menschen irren, Menschen
flutung geprägt. Essen und Trinken, Konsum und Mobi-        versagen. Aber sie haben nach biblischer Tradition
lität, Politik und Handeln werden eingeteilt in gut und     immer wieder die Möglichkeit, noch einmal anzu­
böse, richtig und falsch („political correctness“). Diese   fangen, weil Gott sie immer wieder als „Anfänger“ be-
Form von Moralismus steht in scheinbarer Nähe und in        trachtet. Dieses Vertrauen geht durch Krisen. Erhalten
schärfstem Gegensatz zum christlichen Glauben. Denn         wird es durch das Hören auf das, was Gott mir durch
der Glaubende ist sich gewiss, dass kein Mensch durch       sein Wort zuspricht.
sein noch so richtiges Handeln gerecht wird, nicht ein-

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3.    Bibel

Im Mittelpunkt der Bibel stehen das Sterben und die Auferstehung Jesu Christi. Von hierher ist die Bibel
­angemessen zu verstehen. Christenmenschen vertrauen auf Gott, der durch sein Wort wirksam eingreift.
 Aufgabe des Menschen ist es, dieses Wort als das von außen kommende Wort zu hören und zu glauben.
Themenfeld: Geist und Buchstabe
Gottes Weg mit den Menschen und dem Volk, das ihm          biblische Überlieferung hält dafür viele Beispiele be-
vertraut, geschah immer schon im Vertrauen und mit         reit: Abraham, Mose, David, Esther, Rut, Jeremia,
ganzer Hingabe an Gottes bewahrendes und befreien-         Amos und Hosea, Petrus, Maria, Paulus und viele an-
des Handeln. Leben, Sterben und Auferstehung Jesu          dere. Der Zugang zu Gott erfolgt daher nicht über die
bringt dies in unüberbietbarer Weise auf den Punkt. Es     strenge Einhaltung von einzelnen Regeln (auch keinen
ist daher nicht eine auslegende und verstehende Sicht-     „biblischen Regeln“, die in Bibelverse gegossen wer-
weise unter vielen, sondern die christliche Sichtweise     den und als unmittelbare Handlungs­   anweisungen zu
auf die Schrift. Denn sie verdichtet die ganze biblische   dienen scheinen), sondern in der immer wieder neu zu
Überlieferung so, dass hier deutlich wird: Gott hält es    stellenden Frage: Wie wird sie der Verdichtung der
mit denen, die sich rückhaltlos auf ihn verlassen. Nicht   biblischen Botschaft, die wir im Leben, Sterben und
einmal der Tod kann ihn stoppen und seine Beziehung        der Auferstehung Jesus Christi zu Gehör bekommen,
zu uns zerstören. Der Ausgang von Jesu Leiden wird         gerecht? „Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber
unsere im Glauben zu ergreifende Zukunft sein. Die         macht lebendig“ (2. Kor 3, 6).

4.     Glaube

Gott schafft den Glauben im Menschen, indem er ihn anspricht. Der Mensch empfängt es mit einem hören-
den Herzen und antwortet darauf mit Vertrauen in das von Gott gehörte Wort. In dieser Beziehung ereig-
net sich die Schöpfung in jedem Christenmenschen, der vertraut, immer wieder neu.
Themenfeld: Beziehung statt Formalisierung
Der Widerstand der Reformation entzündet sich theo-        den Prüfstand gestellt, was die ­Gottesbeziehung regle-
logisch stringent an der Frage nach dem Ablass. Denn       mentieren, ritualisieren, verrechtlichen und einfangen
das Ablasswesen setzt formale Abläufe und Materielles      will. Der Glaubende weiß um die Notwendigkeit einer
an die Stelle gelebter Liebe. Der lebendige Glaube und     rechtlichen Regelung menschlichen Zusammenlebens,
die dann daraus erwachsende tätige Liebe zu Gott und       aber auch um ihre durch die menschliche Sündhaftig-
dem realen Nächsten bilden die Grundlage des Glaubens.     keit gegebene Vorläufigkeit.
Aus dieser lebendigen Beziehung heraus wird alles auf

5.    Ökumene

Die Bibel hat einen Mittelpunkt und unterschiedliche Zugänge dazu. Die evangelische Kirche entspricht dem,
indem sie den geschenkten Reichtum der Verschiedenheit in Verbundenheit mit allen anderen Kirchen lebt,
ohne in ihnen aufzugehen.
Themenfeld: Ökumene
Ein Ertrag der wissenschaftlichen Erforschung der bib-     gemeinsamen geduldigen und solidarischen Fragen
lischen Texte ist es, die Vielfalt der dort zur Sprache    nach der Schrift immer wieder auszuhandeln sein. Hier
kommenden theologischen Ansätze herausgearbeitet           bedarf es eines gemeinsamen Suchens. Gefunden wer-
zu haben. Die evangelische Kirche betrachtet diese         den können nur Plausibilitäten und nicht letzte Wahr-
Vielfalt als Reichtum und nicht als Bedrohung ihrer        heiten. Denn diese bleiben Gott vorbehalten. Dieser
Identität. Diese Vielfalt hat sich von Anfang an auch in   Vorbehalt entbindet nicht von, sondern verdeutlicht
der Vielfalt der Denominationen und Konfessionen           nur die Notwendigkeit der Suche und nimmt jeder Ver-
­abgebildet. Inwiefern die evangelische und andere Kir-    suchung zur Rechthaberei von vorneherein ihre Be-
 chen der biblischen Botschaft entsprechen, wird im        rechtigung.

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6.    Gottesdienst

Die Kirche Jesu Christi lebt vom gehörten Wort Gottes, das sich hier und heute ereignet. Da sich Gottes
Wort an alle Menschen richtet, soll es allen verständlich und zugänglich sein. Daher sind die Predigt, die
Litur­gie, die Bibel, das Gesangbuch und der Unterricht in der jeweiligen Muttersprache abgefasst.
Themenfeld: Bildung und Unmittelbarkeit
Die jüdisch-christliche Tradition drängt von Anfang an       zum unmittelbaren Zugang zu den biblischen Quellen
auf Bildung. Denn darin und damit entspricht sie dem         und ihrem angemessenen Verständnis. Hören, lesen
ordnenden Handeln Gottes an der Welt und der Über-           und verstehen sind wichtige Zugangsweisen zum Heil.
windung des Chaos. Die Erforschung und Durchdringung         Jeder Mensch ist damit unmittelbar zu Gott. Den Zu-
der Welt als Gottes Werk ist eines der Ziele dieser im       gang zu Bildung allen offenzuhalten und zu fördern gilt
religiösen Kontext sich entfaltenden Bildung. Gleich-        die Sorge der Kirche – auch und gerade im digitalen
zeitig ist sie auch Voraussetzung zur Mündigkeit und         Zeitalter.

7.    Sakramente

Die von Christus eingesetzten Sakramente Taufe und Abendmahl eröffnen jedem Christenmenschen im
Glauben den gleichen und unmittelbaren Zugang zu Gott. Alle Christenmenschen verkehren daher inner-
halb der Kirche miteinander auf Augenhöhe.
Themenfeld: Freiheit von Hierarchie
Ein wichtiges Anliegen der Reformation war immer die         tigt diese Erfahrung immer und immer wieder und
Verständlichkeit der Botschaft. Dabei sollte niemand         macht uns deutlich: Wir leben nicht für uns allein. Wir
durch fehlende Bildung, Geschlecht, Alter oder Her-          stehen in einer Gemeinschaft, die füreinander ein-
kunft ausgeschlossen werden. Die Gemeinschaft in der         steht. In der Gemeinschaft der Getauften spielen die
Gemeinde sollte nicht an diesen Voraussetzungen              geschöpflich gesetzten Differenzen zwischen Menschen
scheitern.                                                   keine Rolle mehr. Sie sind ein Teil der von Gott über-
Die innere Gemeinschaft zwischen den Gliedern der            wundenen Wirklichkeit. Die gelebte Wirklichkeit der
Kirche stellt Gott her. Er tut dies, indem er den Men-       evangelischen Kirche hat sich daran zu orientieren.
schen hier und heute und in ihrer Situation das sagt,        „Klerikalisierung“, „Bürokratisierung“ und „Akademi-
was hilft, tröstet, stärkt, in Frage stellt und verändert.   sierung“ sind dunkle Möglichkeiten der äußeren Ge-
In der Taufe wird das jedem Getauften durch Gott ver-        stalt von Kirche. Evangelische Kirche hat daher immer
sprochen: „Du bist mein liebes Kind, in meinen Augen         daran festgehalten, dass alle Getauften unmittelbaren
bis du schön!“ (Mk 1, 9). Das Abendmahl vergegenwär-         Zugang zu Gott haben.

8.    Staat und Kirche

Die Theologie beginnt mit der Unterscheidung zwischen Gott und Mensch. Weder ist der Staat göttlich noch
die Kirche säkular. Sie sind in ihrer bleibenden Verschiedenheit aufeinander zu beziehen. Dies widerspricht
jedem Modell einer Zuordnung von Kirche und Staat, das die Welt göttlich („Gottesstaat“) oder die Welt rein
weltlich („Laicité“) machen möchte.
Themenfeld: Kirche und Staat
Der Staat hat mit seinen Möglichkeiten und in seinen         selbst nimmt dabei stellvertretend und unterstützend
ihm gesteckten Grenzen die Aufgabe, dafür zu sorgen,         Aufgaben wahr, die der Staat selbst nicht wahrnehmen
dass die Würde des Menschen gewahrt und jedem Men-           kann oder will. Sie ist weder Partei noch Kind einer
schen sein Recht zukommt. Dabei lebt der Staat davon,        Partei. Ihr Auftrag aber ist es, ohne Besserwisserei und
dass es Menschen gibt, die stellvertretend für diesen        Moralismus das Evangelium in die politische Gegenwart
Staat eintreten und ihre Aufgaben und Pflichten in diesem    hinein zur Geltung zu bringen. Ihr Auftrag, allen Men-
Staat wahrnehmen, seine Gesetze achten und halten.           schen die frohe Botschaft zu verkünden, ­      geschieht
                                                             ohne Gewalt, sondern nur durch das Wort Gottes.
Die evangelische Kirche unterstützt diejenigen, die
diese Aufgabe wahrnehmen, wo immer sie kann. Sie

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9.    Demokratie und Kirche

Die der evangelischen Kirche angemessene Lebensform ist das wechselseitige Füreinanderdasein. So bildet
sie die Grundlage für ein Gemeinwesen, das von Grundlagen lebt, die es selbst nicht herstellen kann.
Themenfeld: Kirche als gelebte Demokratie
Die der Kirche angemessene Lebensform ist die Ge-          für die Menschen da zu sein. Das ereignet sich im
meinde, in der alle Christenmenschen vor Gott gleich       Gottesdienst, der im Alltag jedes Christenmenschen
und insofern auch gleichberechtigt sind. Die Kirchen der   geschieht, in gelassen gelebtem Pragmatismus. Daher
Reformation haben dies mit dem Recht zur Pfarrwahl         widerstrebt die evangelische Kirche beiden möglichen
und der Wahl von Menschen, die die Gemeinde leiten         Fehlwegen: einem Rückzug auf sich selbst, der Pflege
(mehr oder minder deutlich) zum Ausdruck gebracht.         eines wie auch immer gearteten Individualismus bzw.
Ausgangspunkt blieb immer die gleiche Un­mittelbarkeit     einer rein innerlich verstandenen Frömmigkeit. Mit
jedes Christenmenschen zu Gott. Die Gemeinde hat           gleicher Klarheit hütet sie sich vor der Gefahr einer
aber keinen Selbstzweck, sondern hat füreinander und       Bürokratisierung und Hierarchisierung.

10.   Diakonie

Das Herz des christlichen Glaubens schlägt liebevoll. Das führt zu liebevollen Taten. Aus ihnen sind keiner-
lei Rechte, Vorrechte, oder gar Rechtfertigungen für den, der sie tut, abzuleiten.
Themenfeld: Diakonie
Die konsequent zweckrationale Denkweise hat Büro-          die Diakonie nie der Versuchung erliegen, ausschließ-
kratie, Wissenschaftssystem und Wirtschaftsordnung         lich zweckrationalen Kriterien und ihren Anliegen
durchdrungen. Eine affektuelle Bestimmung des Um-          nachzukommen. Diakonie darf dabei ihrem Ursprung
gangs zwischen den Menschen, wie sie uns in der Bibel      und ihrer Begründung als Konkretion der in Kreuz und
eröffnet wird, stellt sich quer dazu. Bei aller notwen-    Auferstehung Jesu Christi deutlich gewordenen Liebe
digen Orientierung an fachlichen Notwendigkeiten darf      Gottes nie verlustig gehen.

11.   Anthropologie

Ziel des Christenmenschen ist es, seinem Nächsten zum Christus zu werden. Umso entschlossener wider-
steht die Kirche der Vorstellung, das Ziel des Menschseins läge in einer möglichen Optimierbarkeit des
menschlichen Körpers und Geistes.
Themenfeld: Menschheitsdämmerung
Der Mensch besitzt eine hohe Weltoffenheit, Formbar-       tion in die eigenen Hände zu nehmen, wird er sich
keit, Lernfähigkeit und Erfindungsgabe, die ihn als        „optimieren“. Doch wer legt dabei die Richtung, die
Mensch kennzeichnen. Nach einer langen Phase in der        Opfer und Gewinner fest? Nach welchen Kriterien wird
Evolution, in der sich das Wesen des Menschen weit­        dabei gehandelt? Und verbirgt sich hinter der äußeren
gehend als Antwort auf ihm vorgegebene Lebens­             Optimierbarkeit nicht die letzte Sehnsucht des Men-
umstände entwickelt hat, bricht nun die Phase der          schen, wie Gott und damit unsterblich zu werden? Die
Menschheit an, in der sie in der Lage ist, mehr und        Entwicklung von Robotern, Cyborgs, androiden Wesen
mehr die eigene Evolution in die Hand zu nehmen.           und „denkenden Computern“ stellt die Frage nach dem
Folgt der Mensch der zweckrationalen Ausrichtung des       Wesen des Menschen und seiner Stellung in der Schöp-
Handelns, die ihn in die Lage versetzt hat, die Evolu-     fung neu.

12.   Weltverantwortung

Da das Kommen des „lieben jüngsten Tages“ gewiss ist, hat der Christenmensch bis dahin Verantwortung zu
tragen für das, was ihm anvertraut wurde. Er wird Rechenschaft über den Umgang mit sich selbst, seinem
Nächsten, den Tieren, Pflanzen und Ressourcen der Erde zu geben haben. Dabei behält sich Gott das letzte
Wort über uns vor.
Themenfeld: Verantwortung
Die Reformatoren lebten in der festen Überzeugung,         Verfügung stehende Zeit begrenzt ist. Dieser Horizont
dass sowohl die persönliche wie auch die kollektiv zur     ist in der Neuzeit angesichts einer unendlichen Aus-

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dehnung des Raumes und einer (im Durchschnitt be-          Shareholder oder anderen menschlichen Instanzen
trachtet) deutlich verlängerten Lebenszeit des Men-        allein verantwortlich für sein Tun sei. Ein rein zweck-
schen nahezu verschwunden. Damit rückt die Frage nach      rationaler Umgang mit der Welt, die Christenmenschen
einer letzten Verantwortlichkeit für alles Tun (und Las-   als Schöpfung verstehen, reduziert diese auf ein reines
sen) aus dem menschlichem Blickfeld. Angesichts einer      Mittel und wird ihrer Stellung als zum „Lobe Gottes ge-
immer mehr zusammenrückenden Welt wird die Frage           schaffen“ nicht gerecht. Die Folgen dieses Umgangs
nach der Verantwortung und den Verantwortlichkeiten        schlagen auf die Lebensmöglichkeiten des Menschen
für Handeln und Unterlassen neu gestellt. Entschieden      und aller anderen Geschöpfe zurück und bedrohen sie
zurückzuweisen ist die Vorstellung, dass der Mensch        elementar. Die Kirche Jesu Christi weiß um diese Ver-
nur seinem Gewissen, seinem Arbeitgeber, seinem            antwortung.

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Titelblatt des Neuen Testaments aus der ersten Gesamtausgabe der Bibelübersetzung, Wittenberg 1534

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Dr. Gerrit Hohage
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C. DIE BEDEUTUNG VON REFORMATION FÜR UNS HEUTE
      Thesen von Dr. Gerrit Hohage

(1) Die Frage der Reformatoren war nicht: Was können wir heute noch sagen? Sie fragten im Gegenteil nach
dem Mehrwert und Nährwert des ursprünglichen Evangeliums angesichts der geistlichen Mangelsituation
ihrer Zeit. Diese Fragerichtung ist integrale Eigenschaft einer „ecclesia semper reformanda“.
Die Tradition wissenschaftlicher Gegenreden und ge-         schaft, sondern mit ihrer Verdichtung, mit ihrer Kon-
sellschaftlicher Widerstände gegenüber dem christl­         zentration auf den Wesenskern zu begegnen ist. Die
ichen Glauben haben spätestens seit dem Ende der            gesellschaftlichen Delegitimierungsprozesse, die die
dialek­tischen Theologie zu einer Defensivtheologie ge-     Exkulturation des jüdisch-christlichen Gottes und des
führt. Je mehr Boden bereitwillig-selbstkritisch preis-     Christentums aus der Gesellschaft vorantreiben, können
gegeben wurde, desto mehr erinnert die evangelische         entgegen aller Hoffnungen nicht durch Konzessionen
Theologie an einen verlassenen Kokon, dessen Inhalt         oder Zurückweichen gestoppt werden – sie werden
nicht mehr zu finden oder mindestens nicht zu ver­          dadurch lediglich in den kirchlichen Wirkungsbereich
stehen ist. Schluss mit der Defensivtheologie! Die Wider-   hinein verlängert. Wir sollen stattdessen mit den
stände, die Entstrukturierung religiösen Wissens in der     Refor­matoren den provozierenden Mut haben, uns auf
heutigen Zeit sind als Mangelsituation zu begreifen,        unsere ureigenste Sache, die atemberaubende Fülle
der nicht mit einer Ausdünnung der kirchlichen Bot-         des „alte Evangeliums“, ganz neu einzulassen.

(2) Das Erbe der Reformation zu pflegen und zu bewahren ist für die Kirchen der Reformation ein unaufgeb-
barer Imperativ – es zu kontextualisieren ein zweiter. Sie kann nicht etwas kontextualisieren, was sie nicht
bewahrt und in ihrer Mitte lebendig hält.
Die Reformation ist selbst das Beispiel, aufs Neue die      gebildet, der dann sogar philosophisch und kulturell
christliche Botschaft aus dem Munde Christi und der         schulbildend wurde. Diesen Weg gilt es ungeachtet der
Apostel genommen und in ihrer Gegenwart in alle             stets reaktiven Bezugnahme auf Mitgliedsstatistiken,
Lande ausgerufen zu haben (WA 12, S. 259). Obwohl           Milieustudien und Marketinggesichtspunkten auch heute
Martin Luther sich hierfür aus Strömungen zeitgenössi-      mitzugehen. Dabei könnte es hilfreich sein, das Wört-
scher Philosophie bedienen konnte, hat sich über der        chen „heute“ auf seine verborgenen dogmatischen
Beschäftigung mit dem Wort Gottes und seiner Vor-           Implikationen zu prüfen – und gründlich zu entmytho-
rangstellung vor die menschlichen Worte kirchlicher         logisieren.
Tradition ein völlig eigener Zugang zur Wirklichkeit

(3) Ausgangspunkt der Reformation war die Begegnung mit dem heiligen Gott als „tremendum et fascinosum“,
vor den sich Martin Luther im Gewitter bei Stotternheim unausweichlich gestellt wusste: Der Deus revela-
tus (lat., der offenbare Gott) ist ohne den Deus absconditus (lat., der verborgene Gott) nicht zu haben.
Ist es unsere Aufgabe, eine nette Kirche aus netten         Leuten bringen? Am Anfang der Reformation stand das
Pfarrern zu sein, die einen netten Gott zu netten           Zittern in Gestalt von Luthers Frage: „Wie kriege ich

                                                                                                               21
einen gnädigen Gott?“ Es ist schwer vorstellbar, dass       lautet: „Wie kriege ich einen heiligen Gott?“ – und
Luther ohne dieses „tremendum“ (R. Otto) zur Kraft-         dass diese Frage von der Kirche gar nicht verstanden
quelle des Evangeliums vorgedrungen wäre. Ein „netter       wird. Bücher wie „Gott – ungezähmt“ von Johannes
Gott“ ist ein belangloser Gott, der sich wunderbar als      Hartl oder „Gott braucht dich nicht“ von Esther Maria
fakultatives Puzzleteil der eigenen Wellness einbauen       Magnus zeugen davon ebenso wie die Mahnungen von
(und wieder ausbauen) lässt. Es ist durchaus möglich,       Politikern aller Couleur, die Kirche solle sich um das
dass die Frage heutiger Menschen genau andersherum          Ewige kümmern.

(4) Nicht ein Gottesbewusstsein, sondern ein Bewusstwerden von Gottes Sein bildet den Beginn der Ge-
schichte, aus der die Reformation wurde.
Im Sinnfeld der universitären theologischen Wissen-         sprünglichen Sinne in sich einholen kann. Die Frage, ob
schaft ist es seit der „anthropologischen Wende“ viel-      und wie Gott (und nicht nur „Gott“ oder /Gott/) in der
fach Usus geworden, von Gott nur noch in Form des           wissenschaftlichen Theologie historisch-kritischer Prä-
menschlichen Gottesbewusstseins (Schleiermacher)            gung vorkommen kann, ist identisch mit der Frage, in-
zu sprechen. Damit wird in diesem Sprachraum ein            wieweit diese Form der Ausbildung eigentlich zu einem
Wirklichkeitssegment definiert, das den Erfahrungs­         vollmächtigen kirchlichen Dienst im Sinne der Refor-
hintergrund der Reformation nicht mehr in seinem ur-        mation befähigt.

(5) Die Erfahrung der Reformation ist eine existentielle, dass nämlich die Frage nach dem Heil des Menschen
im Angesicht des Ewigen die Frage nach dem (augenblicklichen) Wohl an Bedeutung überragt: Theologie mit
der Reformation hat immer eine eschatologische Zielrichtung.
Es gab bereits verschiedentlich Phasen der evange­          19. Jahrhunderts, die dialektische Theologie) überholt
lischen Theologie, die sich durch eine Subtraktion des      worden. Besorgniserregend an der gegenwärtigen
Ewigen und die versuchsweise Entwicklung zu einer           Situa­tion ist, dass sich die zeitgenössischen Ansätze zu
reinen Diesseitstheologie (K. Beyschlag) auszeichne-        einer solchen Erneuerung fast nur noch außerhalb der
ten. Sie sind bisher alle gescheitert und durch inner-      evangelischen Fachtheologie bzw. außerhalb des Wir-
kirchliche Erneuerungsbewegungen (vgl. etwa die             kungsbereiches der evangelischen Landeskirchen an-
Erlanger Theologie, die Erweckungsbewegung des
­                                                           siedeln.

(6) Die existentielle Erfahrung der Reformation lässt sich beschreiben als das Gestellt-sein vor eine doppelte
Wahrheit, eine Wahrheit über (!) den Menschen, wie sie sich zeigt als Gesetz und Evangelium.
Diese Wahrheit macht nicht der Mensch – darin grün-         sondern sie wird ihm zuteil: Das zentrale Erbe der Re-
det sich der nachhaltige Widerstand der Reformatoren        formation liegt in der konsequenten Betonung des
gegen der „Menschen Satz(ungen)“ (vgl. EG 341, 10) –,       Christentums als Offenbarungsreligion.

(7) Diese Offenbarung ereignet sich weder durch das Schauen noch durch die dem Göttlichen entgegen­
flatternde Vernunft noch durch das Handeln („Werk“) des Menschen, sondern allein durch das Wort Gottes.
Die Heilige Schrift ist gleichermaßen dessen Sublimat und Quelle.
Nach Luther erwirkt die worthafte Offenbarung Gottes        vom Hören der persönlichen Anrede Gottes ist in­
die Heilige Schrift, liegt in ihr gefasst und wird durch    zwischen ökumenisches Allgemeingut. Zur Methode gilt
Gebrauch der Schrift als erstem Urgrund (primum             nach wie vor Luther: „Es sollen also die ersten Grund-
principium), als Maßstab für alle Worte in der Gegen-       sätze der Christen nur die göttlichen Worte sein, die
wart, als Quelle und Ausgangspunkt von Verkündigung         Worte der Menschen aber Schlußfolgerungen, die von
gegenwärtig freigesetzt. In den Worten der Schrift,         jenen abgeleitet und wieder auf sie zurückgeführt
in einer der „apostolischen Sukzession des Wortes“          werden und an ihnen geprüft werden müssen. Jene
gemäßen, schrifttreuen Verkündigung „hörist [du]            müssen zuallererst jedem völlig bekannt sein, nicht
deinen gott zu dir reden“ (Freiheitsschrift WA 7, S. 22).   aber dürfen sie durch Menschen kritisch untersucht
Diese Erfahrung von hörendem Schriftgebrauch und            werden, sondern es müssen die Menschen durch sie

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