SEHNSUCHT GEMISCHTE GEFÜHLE - Magazin "leben!"

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SEHNSUCHT GEMISCHTE GEFÜHLE - Magazin "leben!"
MAGAZIN DER KATHOLISCHEN KIRCHE IM BISTUM MÜNSTER / Ausgabe #6 / Herbst 2020

                                                                                                   GEMISCHTE G E F Ü HL E

                                                                                   S EHN SUC H T
www.magazinleben.de

                                                                                 LANDLIEBE                 KINDERZEIT                    FERNWEH
                                                                                 Junge Bauern und das   Warum es wichtig ist, die   Tamina Kallert über
                                                                                 große Glück auf der    prägendste Lebensphase        Heimweh, Heimat
                                                                                 eigenen Scholle             wachzuhalten           und heimliche Ziele
SEHNSUCHT GEMISCHTE GEFÜHLE - Magazin "leben!"
leben!
    Farmers
    Flirt
    Wie Leute
    vom Land ganz
    normal die große

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    Liebe suchen.

    Mutter-
    Suche
    Rainer Wrage
    erfuhr erst als
    junger Mann:

                         16
    Ich bin adoptiert.

    Sehnsucht
    auf Reisen
    TV-Moderatorin
    Tamina Kallert
    über Heimweh

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    und Heimat.

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SEHNSUCHT GEMISCHTE GEFÜHLE - Magazin "leben!"
#6
      Herbst 2020                    Liebe Leserin,
                                     lieber Leser!
                                     Was hatten wir gehofft, wir hätten es endlich hinter uns!
Leichtes                             Dieses Virus, dieses Corona-Auf-und-Ab, mal hü, mal hott.
Gepäck                               Kann das nicht bitte endlich alles vorbei sein und alles
                                     wieder normal? Covid 19 nervt. Macht doch wieder krank,
Hans-Gerd Paus
                                     macht doch wieder Angst. Zumindest Sorge. Trotzdem:
will sein Leben                      Dieses vermaledeite Virus lehrt uns auch einiges. Wie
auf Rucksack-                        wertvoll Gesundheit ist. Oder wem wir trauen können,

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                                     zum Beispiel: eher den nüchtern-sachlichen Wissen-
größe reduzieren.
                                     schaftlern als denen, die uns mit einfachen Lösungen
                                     oder undurchschaubaren Hirngespinsten vorgaukeln, uns
                                     unser „normales“ Leben zurückzugeben. Vergessen Sie's!

                                     Was klar ist: Lange nicht mehr waren wir so voll von
                                     Sehnsucht. Nach Nähe und Umarmung. Nach Leichtigkeit
                                     und maskenlosem Lächeln! Nach fernen Ländern und
                                     freiem Reisen. Diese Ausgabe von leben! erzählt in bewe-
Klosterburg statt                    genden Geschichten und Bildern, warum die Sehnsucht
Kalifornien                          so wichtig bleibt, wie sie uns zu tollstem, mutigem Einsatz
                                     für eine bessere Welt antreibt. Aber auch, wie weh sie tun
Wie eine Frau
                                     kann, wo sie von Verlust erzählt. Weise Menschen sagen:
aus den USA                          Die Sehnsucht braucht eine echte Perspektive, damit sie
in Dinklage                          einen Ort findet, an dem sie zur Ruhe kommen kann.

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glücklich wurde.                     Wir würden uns freuen, wenn diese Ausgabe von leben!,
                                     dem katholischen Magazin für Lebensfreude aus dem
                                     Bistum Münster, für Sie ein kleiner Wegweiser dorthin ist.
                                     Bleiben Sie gesund – und behütet!

                                     Herzliche Grüße!
3 x „Ruhe jetzt!“	              4
Herz-Experte Augustinus         5   Ihr Markus Nolte
                                     Redaktionsleiter
Sorgentelefon für Landfamilien 11
Erfüllte Lebensträume          12
                                     Magazin leben!
Fünf reale Sehnsuchts-Tipps    15   Cheruskerring 19
Rosenkohl-Walnuss-Pesto	       19   48147 Münster
Wenn Eltern um Kinder trauern 20    Telefon 0251-4839-123

Das große Quiz der Sehnsucht   24   info@magazinleben.de

Impressum	                     34

                                                                                                   3
SEHNSUCHT GEMISCHTE GEFÜHLE - Magazin "leben!"
VOLL DAS LEBEN

     3                „Ruhe jetzt!“
    Irgendwas ist immer! Ständig wil
    Und dann noch die allgegenwärt
                                     l irgendwer etwas von uns.
                                    ige Lärmverschmutzung um
                                       , wie sie abschalten.
    uns herum. Drei Menschen zeigen                          VON
                                                       MICHAEL BÖNTE

                                                                                 DIE SIEBEN KILOMETER
                                                                                   MIT DEM FAHRRAD
                                                                                 von der Arbeit nach Haus sind
                                                                                   wichtig, sagt Irina Thieme.

                                                                                Dann kann die Erzieherin die Ge-
                                                                                räuschkulisse aus dem Kindergar-
                                                                                ten hinter sich lassen. „Lebhafte
                                                                                und laute Kinder sind schön, aber

                   UNRUHE IST ALLTAG
            bei Anästhesie-Pflegerin Sandra Ruhnau
                                                                            „MEINE RUHE IST
       Der Piepser, das Telefon, die Wege über die Flure                     KEINE STILLE“,
       im St. Marien-Hospital in Lüdinghausen. „Ich gehe               sagt Allessandro Sardoux Santos.
       sofort von 0 auf 100, muss ständig damit rech-
       nen, dass es Notfälle oder Komplikationen gibt.“           Nach einem Arbeitstag im Garten- und
       Der Stress ist ebenso schnell vergessen, wenn sie          Landschaftsbau setzt er oft den Gehör-
       ­Feierabend hat. Mit dem Kaffee auf dem heimi­             schutz ab und die Kopfhörer auf: Musik,
        schen Sofa, bei Spaziergängen am Kanal oder auf           nicht laut, meist Klänge aus seiner
        Radtouren. Den Jakobsweg ist sie auch schon               Heimat Brasilien. Und dann joggt er los
        einmal gegangen. Es bleibt eine andere Rastlosig-         – fast immer zehn Kilometer um den
        keit, sagt sie: „Ich nehme das Leben der Patienten        münsterschen Aasee, manchmal auch
        mit in mein Leben.“ All die Ängste und Sorgen. „Ich       mehr. „Da kann ich abschalten, den
        will ihnen nahe sein – dafür liebe ich meinen Job.“       Kopf frei kriegen.“ Das ist seine Ruhe:
        Die Nähe schafft Emotionen, die sie antreiben.            keine lautlose Stille, aber ein beruhi-
        Zur Ruhe kommt sie, wenn sie mit Freunden und             gender Rhythmus.
        Arbeitskollegen darüber sprechen kann. „Sie haben
        Verständnis, können vieles nachvollziehen.“

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SEHNSUCHT GEMISCHTE GEFÜHLE - Magazin "leben!"
anstrengend.“ Ausgleich findet sie
auch beim Spaziergang mit dem
Hund durch den Wald. Und im Ur-
laub: „Dann wähle ich Orte, an de-
nen nicht viele Kinder sind.“ Das
hat vor allem etwas mit innerer
Ruhe zu tun. „Wenn ich ein Kind
weinen höre, werde ich unruhig
und möchte ihm helfen.“
                                               DER HERZ-EXPERTE
                                                       AU G U ST I NU S
                                                        VON MARKUS NOLTE

                                       Was macht mein Leben rund? Was macht mich glücklich?
                                        Was gibt mir Sinn? Familie ganz bestimmt, die Liebe des
                                     Lebens, Freundinnen und Freunde auf jeden Fall. Geld auch?
                                      Erfolg? Aussehen? Einer, der viel von alldem hatte, trotzdem
                                        lange Zeit unzufrieden war und dessen Lebenslauf alles
                                     andere als gerade verlief – ausgerechnet der hat im Christen-
                                       tum den Ruf, ein Experte in Sehnsuchts-Erfüllung zu sein.
                                      Er heißt Augustinus, lebte im vierten Jahrhundert, unter an-
                                      derem in Mailand. Er hatte so ziemlich alles gelesen, was es
                                      von den klassischen Philosophen über den Sinn des Lebens
                                        zu lesen gab. Dann hörte er die Predigten eines Bischofs
                                     namens Ambrosius. Und Augustinus ging auf, dass es für die
                                         Erfüllung aller Sehnsucht in der Menschenseele einen
                                       Namen gibt: Gott. Er ließ sich taufen, wurde sogar Bischof
                                      und gilt als einer der wichtigsten Lehrer des Christentums.
                                       Sein bekanntester Satz (den er oben im Foto auf Latein in
                                         der Hand hält): „Herr, auf dich hin sind wir geschaffen.
                                          Und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“

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LEBENSWEISHEIT

          Traumlandschaft
          Irgendwann packt sie jeden: die Sehnsucht nach dem einen Ort, an dem wir
          ­Wurzeln schlagen, wo wir zuhause sind. Vielleicht malen wir uns ein solches
           Ziel zu traumhaft. Immer muss die S      ­ onne scheinen, immer muss alles blühen,
           alles außerordentlich und perfekt sein. Doch so ist das Leben nicht. Auf einmal
           geschieht es, frühmorgens an einem nebelumwaberten Feldweg. Auf einmal ist
           alles klar: Es ist alles da. Es ist alles gut. In diesem Augenblick fehlt nichts mehr.
           Angekommen. Wie schön.

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SEHNSUCHT GEMISCHTE GEFÜHLE - Magazin "leben!"
LEBENSLUST

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                           Farmers Flirt
               Partnersuche auf dem Land hat meist wenig zu tun mit RTL-Romantik
                  à la „Bauer sucht Frau“. Sondern mit Erwartungen, Sehnsüchten
               und manchmal mit der ganz großen Liebe – genauso wie in der Stadt.

                                              VON MICHAEL ROTTMANN

    A
            uf dem Erntedankfest hat es dann gefunkt.         goldenen Feldern, und der Vater des Jung-Landwirts
            Lena-Marie Niemann lächelt. „Wir kannten uns      brummt mit einem Aufsitzmäher ums Haus. Einen Enkel
            vom Sehen. Ich bin mit Christophs Schwester       hat er dabei auf dem Schoß. Idylle pur.
    zur Schule gegangen.“ Viel Kontakt hatten die beiden da
    noch nicht. „Guten Tag, guten Weg“ – das war‘s. Fragend   Christoph Fortmann lächelt zufrieden. „Hier kann man es
    schaut sie den jungen Mann an. „Es war doch beim Ern-     gut aushalten und dem Getreide beim Wachsen zusehen.“
    tedankfest der Landjugend, oder?“ Christoph Fortmann      Das gehört zu seinem Traum von der Zukunft. Der eigene
    nickt lächelnd. „Stimmt.“                                 Hof, eine Frau und irgendwann mal Kinder. Die zwei ha-
                                                              ben sich gefunden. Die Zukunft kann kommen.
    Mittlerweile sind sie ein Paar: der 28-jährige Landwirt   Glück gehabt, oder? Ist die Sache mit der Partnersuche
    aus der zum oldenburgischen Lohne gehörenden Bau-         für Landwirte eigentlich schwerer als für andere? Nein
    erschaft Brockdorf und die 23-Jährige, die aus Bokern     – so antwortete vor zwei Jahren die Mehrheit (64 Pro-
    stammt, einem anderen Lohner Ortsteil, und Landwirt-      zent) der Teilnehmer einer Umfrage des Internet-Por-
    schaft studiert. Verliebt auf dem Erntedankfest – ein     tals „agrarheute“. Etwas mehr als ein Drittel allerdings
    Klischee? Stimmt! Aber so war es eben bei den beiden,     bestätigte, was auch die Flirt-Trainerin Annett Gaida im
    die auf der Terrasse des Fortmann-Hofes sitzen. Spatzen   Interview mit dem Branchenblatt „top agrar“ als eines
    schauen kurz vorbei, die Sonne steht über den gelb-       der Handicaps von Landwirten bei der Partnersuche

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SEHNSUCHT GEMISCHTE GEFÜHLE - Magazin "leben!"
„    In Städten gibt es doch auch viele
                              Menschen, die vergeblich nach einer
                              Beziehung suchen.

benennt: „Sie sind räumlich und zeitlich stark gebunden    der Nähe von Dinklage. Die 32-Jährige führt ihren Betrieb
und dadurch weniger mobil.“                                gemeinsam mit den Eltern, einem Auszubildenden und
                                                           einem Angestellten. Bullenmast, Sauenhaltung und Fer-
Christoph Fortmann weiß, was sie meint. Sein Hof mit       kelaufzucht im so genannten geschlossenen System. Sie
4000 Schweine- und 270 Bullenmastplätzen fordert ihn       ärgert sich, wenn Landwirte pauschal abgestempelt und
von früh (und manchmal auch) bis ziemlich spät. Urlaub     zum Beispiel als rückständig dargestellt werden. „Dabei
muss gut geplant werden. „Das muss eine Partnerin oder     sind Landwirtinnen und Landwirte selbstständige und
ein Partner wissen, der oder die auf einen Hof zieht.“     großartige Menschen, die mit ihren Ideen ihre Höfe wei-
                                                           terentwickeln wollen, damit die nachfolgende Generation
Der Tag zwischen Ställen, Weiden, Feldern und Büro ist     sie weiter bewirtschaften kann.“
eben manchmal randvoll. Normalerweise steht Chris­
toph Fortmann um halb sieben auf. Ein Kaffee vorweg,       Laptops und elektronisch gesteuerte Ställe gehören
kurz mit dem Vater und dem Lehrling schnacken und im       schon lange zum Standard. Für manche auch die Partner-
Bullenstall übrig gebliebenes Futter auf die Buchten der   suche per Internet. Schützen- oder Landjugendfeste sind
Tiere verteilen. So beginnt der Tag. Um neun Uhr Früh-     zwar immer noch Hotspots zum Anbandeln, jeder siebte
stück, um halb eins Mittag. Feierabend ist immer unter-    Single-Landwirt nutzt laut der „agrarheute“-Umfrage
schiedlich. In den Hoch-Zeiten, etwa während Saat oder     dafür aber auch soziale Netzwerke oder Internetportale.
Ernte, wird es auch schon mal 23 Uhr.                      Durchaus erfolgreich. „Ich habe gestern noch einen Kol-
                                                           legen getroffen, der seine Freundin auf Tinder kennenge-
„Selbstständig heißt eben auch ,selbst‘ und ,ständig‘“,    lernt hat“, sagt Christoph Fortmann. „Die sind schon eine
meint der Junglandwirt achselzuckend. Und immer            ganze Zeit lang zusammen.“
bleibt der Job auch ein Wagnis, abhängig vom Wetter,
der Marktsituation, guten und schlechten Jahren. Sich      Vorurteile und Klischees – dazu zählt auch der Scherz
als Paar auf diese Unsicherheit einzulassen – auch dazu    mit den karierten Hemden, die Landwirte angeblich be-
muss eine Partnerin oder ein Partner bereit sein.          vorzugen. An den Karos, so heißt es, lasse sich bei Schüt-
Harte Wirklichkeit statt niedlicher Klatsch-
mohn- und Kornblumenidylle. Dazu zählt
auch jede Menge Schreibtischarbeit. Das habe
nur wenig zu tun mit dem, was zum Beispiel
bei der RTL-Kuppel-Show „Bauer sucht Frau“
vermittelt werde, sagt Christoph Fortmann.
„Manche Stellen der Sendung sind kompletter
Blödsinn“, sagt er. „Da werden Landwirte
mit hundert Hühnern gezeigt und das sollen
Vollerwerbsbetriebe sein. Davon kann doch
kein Landwirt existieren. So ein Quatsch!“ Das
zeige ein falsches Bild von dem, was auf Höfen
heute geleistet werde.

„Wir Landwirte wollen nicht in eine Schubla-
de gesteckt werden und auch keine Klischees
bedienen“, betont auch Stephanie Barlage aus

                              Julius große Macke
SEHNSUCHT GEMISCHTE GEFÜHLE - Magazin "leben!"
LEBENSLUST

     zen- oder Landjugendfesten die Hektarzahl eines Hofes
     ablesen. Nach dem Motto: je kleiner die Karos, desto
     größer der Hof. Damit interessierte Damen und Herren
     schon mal wissen, woauf sie sich einlassen.

     Auch so ein Klischee. Denn Hektarzahl und Trecker-PS
     sind auch bei der Partnersuche eher zweitrangig. Auch
     das hat eine „top agrar“-Leser-Umfrage unter 600 Sing-
     les ergeben. Ihnen kommt es eher an auf Eigenschaften
     wie Ausstrahlung, Intelligenz, Aufgeschlossenheit, Um-
     gangsformen und Familiensinn. Dagegen spielen Her-
     kunft vom Hof oder gute Mitgift für mehr als 80 Prozent                                                 Stephanie Barlage
     überhaupt keine Rolle.
     Falsche Vorstellungen. Dass sie für viele Menschen das
     Bild der Landwirtschaft prägen, das sieht auch Julius        Für Julius große Macke ist der Beruf Berufung. Mit
     große Macke so. Der 28-Jährige bewirtschaftet einen          leuchtenden Augen kann er von den besonderen Mo-
     Legehennen-Betrieb in der Bauerschaft Addrup in der          menten erzählen, wenn er frühmorgens über die Fel­
     Gemeinde Essen bei Cloppenburg. Bis vor kurzem war           der zu seinen Tieren geht. Aber auch er weiß um seine
     er zudem Landesvorsitzender der Katholischen Land­           besondere Verantwortung für Tiere und Betrieb. „Da
     jugendbewegung (KLJB) im Oldenburger Land.                   ist man dann zum Beispiel während der Ernte mit dem
                                                                  Kopf auch mal ganz woanders.“ Aber es sei ja nicht stän-
     Auch er warnt vor Klischees und Verallgemeinerungen.         dig Erntezeit. „Und wenn man mal für ein Wochenende
     „Es gibt nicht die Landwirte“, betont er. Und viele aus      gemeinsam wegfahren will, dann geht das meistens
     der neuen Generation führten ihre Betriebe anders            auch.“
     als früher: „Sie haben zum Beispiel gelernt, alles so zu
     organisieren, dass auch Urlaub möglich ist. Darauf legen     Christoph Fortmann etwa findet regelmäßig die Zeit,
     die jungen, top ausgebildeten Leute Wert.“ Die meisten       seine Freundin im Studium in Rostock zu besuchen.
     hätten deshalb auch keine Probleme bei der Partner-          „Problem ist nur das Spontane“, sagt er. „Es muss gut
     suche, jedenfalls nicht mehr als Menschen aus anderen        geplant werden. Aber dann lässt sich alles regeln.“ Und
     Berufen. Julius große Macke hat in Göttingen studiert. Er    in den Wochen vor der Ernte ist er auch schon mal am
     sagt: „In den Städten gibt es doch auch viele Menschen,      frühen Nachmittag mit seinem Tagwerk durch und kann
     die vergeblich nach einer Beziehung suchen.“                 mit seiner Freundin zum Baden an einen See fahren.

     Spezielle Flirt-Nachhilfe bräuchten Landwirte jedenfalls     Er ist froh, dass zum Hof auch ein Nebengebäude ge-
     nicht, ist sich auch Sandra Kramer sicher. „Es ist einfach   hört, in dem er jetzt wohnt. „Ein eigener Bereich“, sagt
     eine Typfrage“, sagt sie. „Introvertierte Menschen und       er, „damit man nicht zusammen mit den Schwiegereltern
     Eigenbrötler gibt es in der Stadt genauso wie auf dem        in ein und derselben Küche miteinander wurschtelt.“
     Dorf.“ Die 30-Jährige lebt mit ihrer Familie in Benstrup     Rückzugs­­möglichkeiten seien wichtig, unterstreicht auch
     in der Nähe von Cloppenburg. Sie wohnt gerne auf dem         Julius große Macke. Zusammenarbeiten mit den Eltern,
     Land, schwärmt vom Zusammenhalt der Menschen, der            ja. „Aber nicht als Paar noch abends mit Mama und Papa
     Weite, der Natur, den Spielmöglichkeiten für die Kinder.     vor dem Fernseher sitzen. Das passt einfach nicht.“

     „Ich bin überzeugt, dass es Landwirte bei der Part-          Auch Christoph Fortmann hat sich keine Frau „für den
     nersuche nicht schwerer haben als andere“, sagt auch         Hof“ gesucht. Seine Freundin studiert zwar Landwirt-
     Landwirt Christoph Fröhle (31) aus der Lastruper             schaft, hat aber nicht im Sinn, später Bäuerin zu werden.
     Bauerschaft Hammel. Auch deshalb, weil junge Frauen          „Das ist nicht mein Plan“, sagt sie selbstbewusst. „Auch,
     mit dem Umzug auf einen Hof nicht mehr automatisch           um ein Einkommen neben den Erträgen vom Hof zu
     selbst auch Bäuerin werden müssten. „Das war vielleicht      haben.“ Christoph Fortmann findet das gut. „Weil dann
     früher mal so.“ Seine Freundin ist Lehrerin. Und das soll    die Gespräche nicht zu eintönig werden, wenn sie sich
     auch so bleiben.                                             immer nur um Tiere, Acker und Futter drehen.“

10
LANDWIRTSCHAFT
                 ist nicht Bullerbü
  Was macht die Suche nach einem Partner für Landwirte manchmal kompliziert? Woran
   liegt das? Was kann helfen? Fragen an Constanze Brinkmann, Geschäftsführerin des
  Landwirtschaftlichen Sorgentelefons und der Ländlichen Familienberatung in Oesede.

Frau Brinkmann, was macht die Partnersuche für               Und was ist mit den Schwiegereltern?
Landwirte und Landwirtinnen manchmal kompliziert?            Sie bringen sich ja meist mit ihrer Arbeit noch stark
Es kann an den besonderen Lebensumständen liegen.            ein und haben oft ein Wörtchen mitzureden. Gerade
Arbeiten und Privates sind eng verknüpft, und meistens       zwischen Hofnachfolger und Schwiegermutter kann es
leben und arbeiten mehrere Generationen zusammen             eine starke Verbindung geben. Kommt eine junge Frau
auf dem Betrieb. Eine Partnerin oder ein Partner müs-        auf den Hof, steht der Sohn manchmal „zwischen den
sen sich daher nicht nur auf einen Menschen einlassen,       Stühlen“. Zudem hat der Hof oft eine große emotionale
sondern auf die anderen Familienmitglieder auf dem           Bedeutung für die Familienmitglieder. Er ist Lebens­
Hof gleich mit.                                              mittelpunkt für alle Generationen. Auch Geschwister,
                                                             die längst schon ausgezogen sind, fühlen sich noch wie
Welche Rolle spielen falsche Vorstellungen?                  zu Hause. Das alles nachzuempfinden, fällt den hin-
In der Presse entsteht, meiner Meinung nach, ein             zukommenden Partnern manchmal schwer, wenn sie
klischeehaftes Bild vom Bauern, der keine Frau findet.       anders aufgewachsen sind.
Dazu kommt: Landwirtschaft ist nicht „Bullerbü“, son-
dern in erster Linie viel Arbeit rund um die Uhr. Insofern   Wie kann es trotzdem gutgehen, wenn eine Sekretärin
hat das Arbeitsleben des Partners einen großen Ein-          aus der Großstadt einen Rindermäster vom Dorf heira-
fluss auf das Privatleben. Landwirtinnen und Landwirte       tet? Was raten Sie jungen Paaren?
identifizieren sich stark mit ihrem Beruf und wünschen       Wir geben grundsätzlich keine Ratschläge. Jede Familie
sich Toleranz und Wertschätzung. Die auch der neuen          muss ihren eigenen gemeinsamen Weg erarbeiten. Da
Partnerin oder dem neuen Partner entgegenzubringen,          gibt es kein Patentrezept. Wichtig ist ein ehrlicher Aus-
ist ein wichtiger erster Schritt. Aber das hat eigentlich    tausch über unterschiedliche Ansichten, Wünsche und
gar nichts mit der Landwirtschaft zu tun, sondern das        Vorstellungen. Möchte die Frau auf dem Hof miteinstei-
sind menschliche Qualitäten, die beim Auf bau von Be-        gen oder möchte sie ihren Beruf weiter ausüben? Klare
ziehungen eine Rolle spielen.                                Absprachen helfen beim Zusammenleben. Und eine klare
                                                             Positionierung des Hofnachfolgers zwischen der Her-
Wer einen Bauern heiratet, heiratet Hof und Tiere –          kunftsfamilie und der eigenen Familie. Getrennte Wohn-
stimmt das?                                                  bereiche haben sich auf vielen Höfen als richtig erwiesen.
Ja, da ist schon etwas dran. Jeder Landwirt, der seinen
Hof mit Leib und Seele betreibt, übernimmt Verant-                             www.sorgentelefon-landwirtschaft.de
wortung für die Tiere. Daran hat auch der technische
Fortschritt nichts geändert. Wenn es Probleme im Stall
gibt, muss alles andere liegen bleiben. Da muss dann die
Einladung zum Geburtstag ausfallen, weil vielleicht ge-
rade eine Kuh kalbt oder die Lüftungsanlage im Schwei-
nestall streikt.

                                                                                                                          11
LEBENSBILDER

                                                                  Erfüllte
                                                                  VON MICHAEL BÖNTE, MARKUS NOLTE UND

                      Endlich Bauer!

                                                                                            Der eigen
        Elmar Wecks (56) +++ kaufte 1993 mit seiner Frau ei-
        nen Kotten in der Bauerschaft Sellen bei Steinfurt +++
        sein Lebensweg ist durch drei „B“ gekennzeichnet: vom
        Bau zur Bank zum Bauernhof+++ Der studierte Archi-
                                                                                Helga Streffing (64) aus
        tekt arbeitete zuvor bei der Erschließungsgesellschaft
                                                                                Rheine +++ Machte vor
        für Bauland eines Geldinstituts +++ Beschloss, seine
                                                                                zwölf Jahren ein Sabbat-
        Freude an artgerechter Haltung landwirtschaftlicher
                                                                                jahr +++ Nutzt die Zeit,
        Nutztierrassen in die Tat umzusetzen +++ Sagt: „Mein
                                                                                um ihre geheime Sehn-
        gesamter Lebensweg ist nicht konform.“ +++ Anfangs
                                                                                sucht Wirklichkeit wer-
        wurde er zuweilen über seinen Entschluss belächelt
                                                                                den zu lassen: einmal
        und bemitleidet +++ war schon vor 30 Jahren über-
                                                                                einen Krimi schreiben
        zeugt von der Öko-Bewegung +++ Seine ersten fünf
                                                                                – nur für sich +++ Inzwi-
        Schafe kaufte er 1996 für insgesamt 100 DM +++ hatte
                                                                                schen hat sie sechs Bü-
        bald mehr als einen Meter Literatur über Schafhaltung
                                                                                cher veröffentlicht, das
        im Regal +++ züchtet und verwertet Moorschnucken,
                                                                                siebte kommt jetzt pas-
        eine vom Aussterben bedrohte Schafrasse +++ Seine
                                                                                send   zu   Weihnachten:
        Antwort auf die Frage, wie viele Schafe er zurzeit hat:
                                                                                „Tod   im   Nachbarhaus“
        „Frage ich Sie nach Ihrem Kontostand?“ +++ hält auch
                                                                                +++ Alle Krimis spielen
        Hochlandrinder und Wollschweine +++ bezeichnet sei-
                                                                                im Müns­
                                                                                       terland, Schul-
        ne Lebenswende als „Glück“ oder „Schicksal“ +++ Seine
                                                                                psychologin      Hannah
        Erkenntnis: „Irgendwann ist man Rentner, dann geht so
        etwas nicht mehr“ +++

12
Sehnsucht
 ANNETTE SAAL

                                       Einmal ins Heilige Land!
ne Krimi!

                                Gertrud Loebke (73) aus Senden +++ Pilgerfahrt nach
                                Rom und den Jakobsweg nach Santiago de Com-
  Schmielink ermittelt auf      postela hatte sie schon lange hinter sich +++ Aber
  eigene Faust, Blut fließt     sie hatte noch einen Traum: Israel +++ „Da musste
  in den Büchern nie +++        ich einfach hin“, weil sie das Land der Bibel erleben
  „Es macht mir riesigen        wollte +++ 2014 und 2016 war sie dort +++ See Gene-
  Spaß, mir Figuren auszu-      zareth, Bethlehem, Jerusalem +++ ein sinnliches Er-
  denken, Wendungen und         lebnis +++ „Ich konnte sehen, hören und schmecken,
  Irrwege, auf die ich die      wie das vor 2000 Jahren war“ +++ Die Highlights der
  Leser führen will“ +++ Die    Reise spielten aber nicht in der Vergangenheit +++
  besten Ideen kommen           Sondern heute: Besuch des Caritas-Baby-Hospitals in
  ihr morgens zwischen          Bethlehem +++ Und: Tanzen mit israelischen Solda-
  vier und fünf +++ Sie liebt   ten vor der Klagemauer +++ „Das war purer Frieden“
  es, für Lesungen durchs       +++ Kreuz aus Olivenholz erinnert sie jeden Tag an
  Münsterland zu reisen         das Erlebte +++ Wochen im Heiligen Land haben bis
  +++ Seit Kurzem ist sie       heute Spuren hinterlassen, „sie waren intensiver für
  im Ruhestand, eine Idee       meinen Glauben als jeder andere Impuls“ +++
  für einen neuen Krimi
  hat sie schon ...

                                                                                        13
LEBENSGESTALTUNG

                                         Kind müsste man
                                         nochmal sein ...
                                         INTERVIEW: ANNETTE SAAL

                                         Frau Sicking-Schürmann, manche Menschen blicken als Erwachsene
                                         voller Sehnsucht auf ihre Kindheit zurück. Neigt der Mensch zum
                                         Idealisieren?
                                         Ich glaube, dass es sogar eine gute Eigenschaft ist, im Nachhinein
                                         etwas zu idealisieren. Es kann eine wichtige Ressource sein. Natür-
                                         lich gibt es aber auch Menschen, die in ihrer Kindheit Schlimmes
                                         erlebt haben. Die werden das ganz bestimmt nicht verklärt sehen.

                                         Kann aber bei denjenigen, die eine gute Kindheit hatten, der Gedanke
                                         daran helfen, schwierige Situationen auszuhalten?
                                         Auf jeden Fall! Sehnsucht hat ja immer etwas mit Bedürfnissen zu
                                         tun. Wie bei traumatisierten Menschen durch bestimmte Auslöser
                                         schlechte Gefühle hervorgerufen werden können, kann die Erin-
                                         nerung an schöne Situationen und an liebevolle Begegnungen auch
                                         das gute Gefühl von damals wieder wachrufen.

                                         Ist Sehnsucht für Sie generell mit etwas Unerreichbarem verbunden?
                                         Nein, überhaupt nicht. Sehnsucht ist auch nichts Schlimmes, das
                                         man vermeiden muss, sondern eine Ressource. Übrigens empfinden
                                         Menschen, die an einer Depression erkrankt sind, keine Sehnsucht.
                                         Sehnsucht bringt eine bunte Farbe ins Leben, während die Depres-
                                         sion eher grau ist.

                                         Was verstehen Sie überhaupt unter Sehnsucht?
                                         Ich habe ein Zitat gefunden, das finde ich wunderschön. Sinnge-
                                         mäß lautet es: „Sehnsucht ist die Brücke zwischen Realität und
                                         Möglichkeit.“

                                         Wie deuten Sie das?
                                         Wenn ich merke, dass ich mich nach etwas sehne, schaue ich auf
                                         mein Leben, wie es jetzt ist. Die Sehnsucht sagt mir, dass da auch
                                         etwas Ungelebtes ist, dass etwas fehlt, dass ich etwas brauche.
                                         Wenn ich dieser Sehnsucht nachgehe, komme ich vielleicht auch
                                         darauf, was es ist. Möglicherweise brauche ich mehr Lebensfreude,
                                         mehr Intensität in der Partnerschaft - oder es ist die Sehnsucht,
                                         endlich ein Kind zu haben. Wenn man sich mit der Sehnsucht aus-
                                         einandersetzt, öffnen sich Möglichkeiten. Sehnsucht strebt nach
                                         Realisierung. Das ist nicht nur etwas Nostalgisches, das in der Ver-
                                         gangenheit verankert ist, sondern es will umgesetzt werden.
        Christa Sicking-Schürmann
            ist Diplom-Psychologin       Wie kann man sich Kindliches bewahren, ohne naiv zu wirken?
             sowie Ehe-, Familien-       Ich glaube, man muss sich etwas Kindliches bewahren, um sich dem
          und Lebensberaterin bei der    Leben stellen zu können. In der Lebensberatung arbeiten wir ja viel
         katholischen Kirche in Ahaus.   mit dem Bild des inneren Kindes. Das innere Kind will gelebt wer-

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den. Es schreit danach, dass ich intensive Erfahrungen          Mutter. Und wenn wir gute Erfahrungen gemacht haben
mache, dass ich mal den Alltag und seine Normen durch-          – wenn wir uns gesehen, geliebt und bedingungslos an-
breche, dass ich auch mit intensivem Gefühl reagieren           genommen fühlen –, dann wird das auch unser Gottes-
darf. Wenn es kindliche Sehnsucht nicht gäbe – wer              bild prägen und uns eher befähigen, uns in Notlagen an
würde denn dann tanzen gehen?                                   Gott Vater oder auch die Gottesmutter zu wenden.

Was sind die Fundamente aus der Kindheit, die uns im            Worauf sollten Eltern achten, die ihrem Kind tragfähige
späteren Leben widerstandsfähig machen?                         Fundamente fürs Leben mitgeben wollen?
Eigentlich ist es dieser paradiesische Zustand, die Sym-        Bei uns Menschen liegen zwei Bedürfnisse auf dem
biose mit der Mutter – sowohl während der Schwanger-            gleichen Strang: das Bedürfnis nach Bindung und das
schaft als auch in der ersten Zeit nach der Geburt. Dann        Bedürfnis nach Autonomie. Das bedeutet, sowohl den
ist ein Kind ja absolut auf die stillende Mutter oder den       sicheren Hafen zu haben als auch etwas ausprobieren zu
versorgenden Vater angewiesen. Es erlebt, dass seine            dürfen. Eltern, die entsprechend sensibel sind, spüren,
fundamentalen Bedürfnisse befriedigt werden – nach              ob das Kind jetzt das eine braucht oder das andere.
Nahrung, Nähe, Berührung, Sicherheit, Liebe und Ge-
borgenheit. Wichtig ist aber auch das Bedürfnis, aus sich       Wie kann man mit unerfüllten Sehnsüchten umgehen?
herauszuwachsen – etwas ausprobieren zu dürfen.                 Manche Frauen und Männer haben eine große Sehn-
                                                                sucht danach, Kinder zu haben. Diese tiefe Sehnsucht
Kann der von Ihnen angesprochene paradiesische Zustand          kann ganz fest im Lebenskonzept verankert sein. Wenn
des Vertrauens und der Geborgenheit auch eine gute              sie merken: das geht nicht mehr, ist es wichtig, darum zu
Grundlage für einen lebendigen, tragenden Glauben sein?         trauern.
Ja, auf jeden Fall! Ich glaube, dass es kein Zufall ist, dass
wir von Gott Vater und der Mutter Gottes sprechen.              Würden Sie in solchen Fällen sogar dazu ermuntern?
Unsere Sehnsucht nach Transzendenz und Spiritualität            Unbedingt! Um möglicherweise zu schauen, wie man die
verbinden wir mit unseren Erfahrungen von Vater und             unerfüllte Sehnsucht nutzen kann.

5 MOMENTE
in denen die Schätze der Kindheit lebendig werden
von Christa Sicking-Schürmann

GERÜCHE sind besonders effektiv. Denken Sie nur                  ich Pfannekuchen – natürlich wende ich sie mit
an Zimt und Nelken – schon sind Sie in der Weih-                 Mutters Pfannendeckel. Oder das Glöckchen, das
nachtsbäckerei. Sie sehen Ihre Mutter mit der gro-               das Christkind benutzte, wenn es die Geschenke
ßen Schürze vor sich, sich selbst als Kind Plätzchen             gebracht hatte: wenn der zarte Klang einer solchen
formen mit roten Wangen und die Rührschüssel                     Glocke ertönt, dann ist wieder Weihnachten als
auslecken. Heimeligkeit pur. Oder der nasse Badean-              Kind: Aufregung, Vorfreude, Staunen, pures Glück
zug, den Sie vergessen haben aufzuhängen: Sommer,
Freundinnen, Freiheit im Freibad oder am See.                    KNARZENDE KUNSTLEDERSITZE – wie in Vaters
                                                                 Auto. Im Sommer klebten die nackten Beine an den
BESTIMMTE GERÄUSCHE: gackernde Hühner. Die                       warmen Sitzen. Ein Geheimnis mit Papi teilen: er
gab es bei Opa und Oma im Garten oder auf dem Hof.               sagt, er fährt tanken, ich darf mit, er kauft mir ein ge-
Abenteuer, das durch fürsorgliche Großeltern gesi-               heimes Eis in der Tankstelle. Geteilte Geheimnisse
chert wurde. In den Hühnerstall gehen und selbst                 machen eine besondere Beziehungsqualität. An die
nach Eiern suchen. Der Stolz, sich das zu trauen und             werde ich erinnert, wenn ich auf Kunstleder sitze.
tatsächlich welche gefunden zu haben.
                                                                 BLUMEN UND PFLANZEN. Wir hatten Löwenmäul-
BESTIMMTE GEGENSTÄNDE: Mutters Pfannen-                          chen im Garten. Und riesigen Spaß daran, die Blüten
deckel, hässlich und angegriffen. Den sie schon von              zusammenzuquetschen – sah tatsächlich aus wie
ihrer Mutter bekommen hat, immer beim Pfanneku-                  das Maul eines gefährlichen Tieres. Und ich war der
chenbacken benutzt hat. Ein Pfannekuchen kann                    Löwenbändiger. Wenn ich Mut brauche, gehe ich in
besser trösten als Schokolade. Und ich habe ihn                  meinen Garten, in dem es natürlich Löwenmäulchen
von Mutter geerbt. Wenn ich Trost brauche, backe                 gibt. (Strategie klappt leider nur im Sommer.)
                                                                                                                             15
LEBENSWEG

                 STUMMER SCHREI
                 NACH MUTTERLIEBE
                 VON MICHAEL BÖNTE

                 Rainer Wrage war bereits 23, als er erfuhr, dass er ein Adoptivkind ist.
                 Von seinen Wurzeln in Haltern am See hatte der Hamburger bis dahin
                 nichts gewusst. Aber geahnt hatte er etwas – vage, unkonkret,
                 quälend. Plötzlich machte vieles Sinn, aber auch wütend und traurig.

16
V
        om Elbstrand geht es die Auffahrt            Erzählt von seinem guten Gedächtnis, das ihm
        hinauf zur prachtvollen Villa. Große         erlaubte, ohne Computer kleinste Passagen aus
        Terrassen ermöglichen einen unver-           alten Verträgen im Archiv zu orten. Von seiner
bauten Blick auf die vorbeifahrenden Schiffe.        kommunikativen, offenen und ehrlichen Art, die
Der weitläufige Garten zieht sich hinunter bis       ihm viele wichtige Kontakte brachte. Von seinem
zum Fluss. Auch der angrenzende Mischwald            guten Bauchgefühl für Wahrheit und Lüge.
gehört zum Anwesen. Wer hier am Falkenauer
Ufer im Hamburger Stadtteil Blankenese wohnt,        Auf der anderen Seite war da von Anfang an ein
hat etwas gemacht aus seinem Leben. Mit dem          Gefühl der Unsicherheit. Eines, das ihn als Kind
scheint es das Schicksal gut gemeint zu haben.       schon nachdenklich und traurig machte. Das
Der dürfte nicht zweifeln, ob sein Weg die rich-     sich damals bereits in Fragen an seine Adoptiv-
tigen Wendungen genommen hat.                        eltern Bahn brach, etwa warum sie eine andere
                                                     Haarfarbe hatten als er. Das ihn nicht selten
„Ich würde auf all das verzichten, wenn die          stundenlang traurig in den Himmel schauen ließ.
Dinge anders gelaufen wären.“ Rainer Wrage hat       Ohne zu wissen, warum. „Mein Leben fühlte sich
sich im Sessel vor dem Panoramafenster zurück-       in vielen Momenten unecht an.“
gelehnt. Ein Containerschiff zieht vorüber und
lässt das Gefühl der großen weiten Welt zurück.      Der Tag, ab dem all das eine Erklärung finden
Die Worte des 74-Jährigen zielen auf ein ent-        sollte, kam abrupt und zufällig, im Bezirksamt
scheidendes Ereignis in seinem Leben. Er war 23      in Eppendorf. Er brauchte ein Visum für Argen-
Jahre, als er erfuhr, dass er ein Adoptivkind ist.   tinien. „Wissen Sie, dass Sie adoptiert sind?“,
„Alles, was vorher geschehen war, wurde damit        fragte der Beamte. „Ja“, log Wrage. „Vor dem Amt
auf den Prüfstand gestellt.“                         sackten mir die Beine weg, ich ließ mich auf eine
                                                     Bank fallen.“
Alles. Das waren Kindheit und Jugend mit seinen
liebevollen Adoptiveltern, die alles taten, um       Es war die Information, die ihm vieles erklären,
ihren Sohn glücklich zu machen. Das waren die        aber auch vieles in Frage stellen sollte. Seinen
vielen Dinge, die er von ihnen mit auf den Weg       Adoptiveltern stellte er die für ihn wichtigste
bekam. Das waren Ehrgeiz, Disziplin und Ge-          Frage noch am selben Tag: „Warum habt ihr mir
schäftssinn, die er von ihnen lernte. Und damit      nichts gesagt?“ Es habe nie den richtigen Zeit-
war es auch der berufliche Erfolg, der ihn als       punkt gegeben, sagten sie. Es dauerte lange, bis
Banker zunächst nach Argentinien führte und          er ihnen diese Antwort verzieh. Erst nach Jahren
ihm später die Tür in den Vorstand einer großen      nahm er wieder Kontakt auf.
internationalen Bank öffnete.
                                                     „Meine Adoptiveltern waren gute Lügner“, sagt
Rainer Wrage hatte sich nach einer „chaotischen      Wrage. Denn seinen diffusen Verdacht hatte er
Schulzeit mit schlechten Noten“ über eine            zuvor immer wieder geäußert. „Warum bin ich
Banklehre in diese Position hochgearbeitet. Sein     erst mit vier Jahren getauft worden?“, fragte er
Wohlstand ist hausgemacht. „Das alles ist ma-        als Jugendlicher einmal. „Weil deine Patentante
teriell – es kommt und geht“, sagt er dazu. „Ich     aus Berlin nicht früher anreisen konnte“, sagten
würde es hergeben, wenn ich die schweren Ka-         die Eltern. Die Wahrheit aber war eine andere.
pitel meiner Geschichte dafür streichen könnte.“     Direkt nach der Geburt war er in eine Pflege­
Dann aber hält er inne. „Oder doch nicht“, sagt      familie gekommen, erst vier Jahre später adop-
Wrage bitter. „Steine können wenigstens nicht        tiert worden.
lügen oder einfach weglaufen.“
                                                     Sein Grundgefühl in all den Jahren beschreibt er
Wieder geht sein Blick hinüber zum Fluss. Dieses     im Rückblick so: „Ich hatte es bei meinen Adop-
Mal zur Elbinsel auf der anderen Seite, auf die      tiveltern wirklich gut, war aber irgendwie verun-
er als Kind mit dem Boot zum Baden fuhr. Seine       sichert.“ Als Heranwachsender hatte er nicht die
Unentschiedenheit ist oft herauszuhören, wenn        Möglichkeit, den Gründen dafür nachzugehen.
er über seinen Weg spricht. Auf der einen Seite      Um damit fertig zu werden, entwickelte er eine
beschreibt er das „große Glück“, das er hatte.       Strategie. „Ich habe immer freundlich gelächelt,

                                                                                                         17
„    Es war mein ständiger
              Schrei nach Liebe, nach
              dem Gefühl, bedingungslos
              angenommen zu sein.

                                                                                     Rainer Wrage als Kind mit seinen Adoptiveltern.
     wollte Liebkind von allen sein.“ Heute kann er das einord-
     nen. „Es war mein ständiger Schrei nach Liebe, nach dem
     Gefühl, bedingungslos angenommen zu sein.“ Nach dem
     Urvertrauen in eine Mutterliebe.
                                                                  bekannt vorkamen. „Sie trank Cappuccino“, weiß er heute
     Als er bewusst mit der Aufarbeitung dieses Gefühls           noch, 20 Jahre danach. „Und trug eine Seidenbluse mit
     begann, waren etwa 25 Jahre vergangen, seitdem er vor        kurzen Ärmeln.“ Ihr Gesicht sei ihm vertraut vorgekom-
     dem Amt in Eppendorf auf die Bank gesackt war. Er rang       men. Und noch etwas: „Sie riecht gut“, erzählte er damals
     sich zum Schritt durch, Kontakt mit seiner leiblichen        seiner Lebensgefährtin. „Es war dieser Geruch, den ich
     Mutter aufzunehmen. Die Sehnsucht war zu groß ge-            bei meiner Adoptivmutter vermisst hatte.“
     worden. Nur mit einem Trick gelangte er an ihre Adresse.
     „Ich besaß lediglich den Nachnamen und ihren Geburts-        Viele Besuche folgten. In Haltern, im Seniorenheim in
     ort Haltern am See.“ Er gab vor, ein Konto auflösen zu       Münster, im Pflegeheim. Wie wichtig diese intensive Zeit
     wollen und schrieb an das Einwohnermeldeamt. „Eine           war, wurde bald deutlich. Seine Mutter erkrankte an
     Woche später stand ich vor ihrem Haus in Haltern.“           Alzheimer und verlor nach und nach die Erinnerungen,
                                                                  die für ihn so wichtig waren. Bei ihrer Beerdigung erlebte
     Stundenlang saß er damals mit ihr im Eiscafé, stellte eine   Wrage noch einmal einen intensiven Moment. Sein Stief-
     Frage nach der anderen. Und bekam viele Antworten. Sie       bruder hatte den Blumenschmuck besorgt. Auf einem
     war damals mit ihm schwanger geworden, ohne verheira-        Gebinde stand „In Liebe, dein Sohn Rainer“. Unmissver-
     tet zu sein. Sie galt als „gefallenes Mädchen“ und musste    ständlich.
     ihren Sohn abgeben. Der leibliche Vater heiratete eine
     andere Frau und starb früh bei einem Autounfall. Wrage       Denn diese Liebe überragt alles. Alle Vorwürfe, alle Zwei-
     erfuhr auch, dass er einen Halbbruder und eine Halb-         fel und allen Schmerz, der mit der Aufarbeitung verbun-
     schwester hat. Vom ersten Treffen blieben aber vor allem     den ist. „Sie hat mir das Leben geschenkt, obwohl sie
     andere Dinge hängen. Er hatte seine Mutter bis in Details    damit in große Schwierigkeiten kam“, sagt Wrage. „Und
     beobachtet. Hatte auf ihre Gestik und Mimik geachtet.        dafür liebe ich sie.“ Zu einem wirklichen Vorwurf hat er
     Hatte nach Dingen gesucht, die ihm                                     sich bis heute nicht durchringen können. „Du
                                                                            dumme Kuh, warum hast du mich weggegeben“,
                                                                            könnte er sagen. „Wie irgendeine Ware.“ Viel-
     Rainer Wrage: Nuckeldecke                                              leicht wären solche Worte befreiend, ein Loslas-
     Die Geschichte einer Adoption                                          sen von einer lebenslangen Auseinandersetzung
     (Leonardo-Verlag, 16,90 Euro).
                                                                            mit Schuld, Ängsten und Orientierungslosigkeit.
     „Nuckeldecke“ heißt das Buch, das Rai-
                                                                           Wrage schaut länger aufs Wasser, während er
     ner Wrage über sein Leben geschrieben
     hat. Dabei handelt es sich um eine                                    dem Gedanken nachgeht. Gerade passiert kein
     alte Stoffwindel, die er als Kind zum                                 Schiff sein Blickfeld. Der Wind treibt Regen
     Kuscheln nutzte. Er sagt, dass diese                                  gegen die Fensterfront. Er atmet tief durch.
     Decke ihn bis heute begleitet. Sie ist für                            „Sie ist für mich wie eine Heilige, die ich mit
     ihn zum Bild für die Zerrissenheit und                                solchen Worten auch im Himmel nicht verlet-
     Verarbeitung seines Lebens als Adop-                                  zen möchte.“
     tivkind geworden.

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LECKER LEBEN

 Rosenkohl-
 Walnuss-Pesto
 mit Schinkenchip
VON THERESA BAUER

ZUTATEN FÜR 4 PERSONEN:          130 ml Olivenöl
300 g Rosenkohl                  1 TL Honig
30 g Walnusskerne                4 Scheiben luftgetrockneter
50 g Parmesankäse                Schinken aus Ihrer Region
1 Knoblauchzehe                  Salz
1 EL Zitronensaft                Pfeffer

 1 Den Backofen auf 200 Grad Ober-/    kerne ohne Öl in einer beschichteten   saft, Parmesan und 100 ml Olivenöl
Unterhitze vorheizen. Rosenkohl        Pfanne rösten.                         mit einem Pürierstab oder im Mixer
waschen, welke Blätter entfernen,                                             zerkleinern, bis eine cremige Masse
halbieren und auf ein mit Backpapier    4 Schinkenscheiben nebeneinan-        entsteht. Eventuell noch etwas Oli-
ausgelegtes Blech verteilen.           der auf ein Blech legen. Gerösteten    venöl zugeben.
                                       Rosenkohl und Knoblauch aus dem
 2 2 EL Olivenöl mit Honig und Zi-     Ofen holen und diesen auf 160 Grad      6 Zum Schluss mit Salz und Pfeffer
tronensaft vermischen und über den     einstellen. Den Schinken 10 Minuten    abschmecken.
Rosenkohl geben. Die Knoblauchzehe     darin trocknen.                        Das Pesto unter die Lieblingspasta he-
mit Schale dazugeben. Für 15 bis 20                                           ben und mit dem knusprigen Schin-
Minuten im Ofen rösten.                 5 Den Knoblauch aus der Schale        ken servieren.
                                       pressen und zusammen mit dem
3 In der Zwischenzeit die Walnuss-     Rosenkohl, Walnusskernen, Zitronen-    Guten Appetit!

                                                                                                                       19
LEBENSAUFGABE

            Das Licht der
            toten Kinder
            Ein totes Kind zerreißt die Welt. Uli Michel kennt das aus ihrer
            Arbeit mit Eltern von „Sternenkindern“, die vor, während oder kurz
            nach der Geburt starben. Sie hat sich zur Sterbeamme ausbilden
            lassen. Weil sie die große Sprachlosigkeit nicht akzeptieren wollte,
            die sie als Hebamme in diesen Situationen erlebt.

            VON MICHAEL BÖNTE

20
„   Die Eltern erleben
                                        eine Zerrissenheit, die
                                        kein Außenstehender
                                        mitfühlen kann.

L
       uisa, Emma und Mattis sind dabei in die-    kurz nach der Geburt gestorben sind. „Sie erle-
       sem Stuhlkreis. Ohne ihre Kinder wäre       ben eine Zerrissenheit, die kein Außenstehen-
       es für die Eltern nicht möglich, dort       der mitfühlen kann.“
Platz zu nehmen. Ohne ihre Kinder würden
die Gespräche alle vier Wochen keinen Sinn         Auch sie selbst nicht, sagt die 50-jährige Mut-
machen. Ohne ihre Kinder würde die helfende        ter zweier erwachsener Kinder. Sie kann den
Zeit in dieser Runde zur großen Leere werden.      natürlichen Reflex vieler Menschen nachvoll-
Sie müssen dabei sein – in Gedanken, Erinne-       ziehen, wenn sie mit einer solchen Situation
rungen, in ihren Herzen.                           konfrontiert werden: „Wegsehen, weglaufen,
                                                   nicht wahrhaben wollen.“ Für sie kam Weg­
Mattis starb im Bauch seiner Mutter, Emma          ducken nie in Frage. Vielleicht weil sie so er-
überlebte ihre Geburt nicht, Luisa starb wenige    zogen wurde, als Tochter eines evangelischen
Wochen nach ihrer Geburt. „Es ist ein stetiger     Pfarrers. „Wenn es Not gab, wurde gehandelt
Kampf für mein unsichtbares Kind“, sagt eine       – Ignoranz gab es nicht.“ Ihre Freunde be-
der Mütter. „Ich will dafür kämpfen, dass es       schreiben sie so: „Du gibst dich nicht damit
gesehen wird, dass es nicht totgeschwiegen         zufrieden, wenn etwas nicht stimmt.“ Ein „Ist
wird.“ In den alltäglichen Begegnungen ist diese   halt so“ kennt sie nicht.
Erinnerung einige Monate nach den Schicksals-
schlägen längst nicht mehr der Normalfall. Im      Not erlebte sie von Beginn an auch in ihrem
Gespräch mit Verwandten, Freunden und Ar-          Beruf als Hebamme, sagt Michel. „Mehr als
beitskollegen muss sie oft eingefordert werden.    viele weinen – da geht es nicht nur um das
„Ich will aber, dass es selbstverständlich ist.“   große Glück der Geburt.“ Sie überlegt kurz
                                                   und präsentiert mit einer abwägenden Hand-
Die Wucht der Gefühle ist enorm und hat            bewegung eine Hochrechnung: „Halbe, halbe.
kaum etwas an Kraft verloren. Das ist in dieser    Die Hälfte sind wunderbare Erfahrungen vom
Runde deutlich zu spüren. Mal kommen die           Anfang des Lebens, die andere Hälfte schwe-
Worte gebrochen mit dem Blick zum Boden,           re und traurige Ereignisse.“ Sie spricht vom
mal energisch mit Wut in der Stimme, mal mit       „ganzen Elend der Welt“, das auch vor dem
einem Lächeln in Gedanken an die Zeit vor          Kreißsaal nicht Halt macht. Von Gewalt-Erfah-
dem Schicksalsschlag. Uli Michel kennt diese       rungen, Schmerzen und Ängsten, mit denen
Gemengelage aus ihren vielen Begegnungen           die Frauen dorthin kommen. Von Behinde-
mit Familien in dieser Situation. Sie ist Hebam-   rungen, Krankheiten und Tod der Kinder. Und
me, hat einige Zeit einen Hospiz-Dienst gelei-     sie spricht energisch von einer großen Hilflo-
tet und ist Trauma-Fachberaterin. Und sie ließ     sigkeit vieler Menschen in dieser Situation.
sich zur „Sterbeamme“ ausbilden, mit dem Ziel,
Sterbende und ihre Angehörigen zu begleiten.       Die war der Auslöser für den Weg, den sie
Ihre Hauptzielgruppe dabei sind „Sternen-          einschlug. Sie erinnert sich an ihr erstes
kinder-Eltern“, deren Kinder vor, während oder     Praktikum, das sie mit 22 Jahren in einem

                                                                                                     21
LEBENSAUFGABE

                            Die Hand auf dem Knie des Partners als wichtige Stütze: Eltern eines toten Kindes im Gesprächskreis von Uli Michel.

     Krankenhaus im Ruhrgebiet machte. Im Kreißsaal erlebte              Kind nie aufhört“, sagt eine andere Mutter. „Auch wenn
     sie die Kaiserschnitt-Geburt eines Kindes, das uner-                sie mit Tränen verbunden ist.“ Ihr Mann hält ihre Hand
     wartet mit schwerer Behinderung zur Welt kam. „Die                  und nickt. „Ich will einfach nicht akzeptieren, dass es
     Hebamme brach zusammen und verließ den Raum, der                    Dinge gibt, die wichtiger werden können als die Verbin-
     Arzt war überfordert, die Pfleger überlastet.“ Die Mutter           dung zu meinem Kind.“
     wurde sediert, keiner fand den Mut, die Situation mit ihr
     aufzuarbeiten. Als Michel in der Nacht am Bett der Frau             In jedem Gedanken bleibt das Kind „ein wenig am Leben“,
     saß, dachte sie über diese Sprachlosigkeit nach. „Seitdem           sagt Uli Michel. Sie weiß, dass dies Gedanken sind, die
     beschäftigte mich die Angst aller Beteiligten.“                     ausgrenzen können. Nicht weil die Familie, die Nachbarn
                                                                         oder die Kollegen bewusst die Nase rümpfen. Sondern
     Eine solche Flucht oder ein Erstarren ist für die Eltern            weil sie mit dieser ungeheuren Wucht der Situation
     in ihrer Gesprächsrunde besonders schmerzhaft. Weil                 überfordert sind. Wie die Hebamme im Kreißsaal bei der
     das weit weg ist von der ständig präsenten Sehnsucht,               Geburt des Kindes mit Behinderung.
     mit der sie seit dem Tod ihrer Kinder leben. „Es ist wie
     ein unglaublicher Liebeskummer, nur viel existenzieller“,           So verständlich das ist, so wenig wollte Michel das ak-
     sagt eine Mutter. Omnipräsent, in allen Gedanken und                zeptieren. Gerade bei jenen, die in dieser Situation an der
     Gefühlen. „Alle anderen Wünsche, die ich hatte, sind                Seite der Betroffenen stehen sollten. Dazu zählt sie auch
     verschwunden.“                                                      sich selbst als Hebamme. Als sie einmal mit ihrem Vater
                                                                         über die Hilflosigkeit beim Tod eines Kindes sprach, sagte
     Kommen sie wieder, entstehen oft Schuldgefühle. „Ich                er etwas, das ihr im Gedächtnis blieb: „Die schwersten
     habe die Sehnsucht, dass die Sehnsucht nach meinem                  Momente für mich als Pfarrer sind die, wenn ich hinter

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einem kleinen weißen Sarg hergehen muss – für diese                    sind auch Momente, in denen sie erleben, dass andere
Augenblicke habe ich nie eine Ausbildung bekommen.“                    ihre verstorbenen Kinder eben nicht vergessen. Als
Es geht um Professionalität – bei allen Emotionen, die                 der Cousin von Luisa zu Besuch war, sagte er, dass das
auch für Michel dazu gehören. „Die sind wichtig und                    Rollo vom Dachfenster doch auf bleiben müsste. „Sonst
müssen auch bleiben.“ Kein durchstrukturiertes Han-                    könne sie uns doch nicht sehen“, erinnert sich die
deln ohne Herz, aber die Möglichkeit, mit der richtigen                Mutter. „Dann spüre ich, dass sie noch lebt.“
Ansprache und geeigneten Methoden reagieren zu
können. „Da gibt es in Deutschland wenig Angebote“,                    Es wird gelacht. Nicht ständig, aber immer mal wieder
sagt sie. „Nur ein kleines Netzwerk engagierter Seel-                  – auch beim anschließenden Eiskaffee am Küchen-
sorger, Hebammen und Ärzte.“                                           block. Völlig gelöst ist die Stimmung nie. Dafür müssten
                                                                       sich die Eltern von der Sehnsucht nach ihren verstor-
Sie selbst suchte die Professionalität, bildete sich fort,             benen Kindern lösen. „Darum geht es nicht“, sagt Mi-
belegte Kurse. Ihre Berufserfahrung aus vielen Jahren                  chel. „Die Bindung wird sich nicht verlieren.“ Der Blick
als selbstständige Hebamme ergänzte sie nach und                       darauf soll aber nicht schwarz bleiben. Das treibt sie
nach mit dem Wissen aus der Palliativmedizin, Psy-                     an. Weil sie Wege durch das Leid erlebt, die gut enden.
chologie, aus der Trauerbegleitung, Hospiz-Arbeit und                  Auf denen ungeahnte Kräfte entstehen, Mut wächst
Traumatherapie. Das alles floss nach und nach zusam-                   und Lebensfreude zurückkehrt. Und weil sie dabei als
men und mündete 2019 in die Leitung der Sternen-                       Sterbeamme genauso viele schöne Momente erleben
kinder-Beratungsstelle Münster-Osnabrück. Getragen                     darf, wie sie als Hebamme im Kreißsaal erlebte. „Wenn
wird die Einrichtung von der Bethanien-Dia­konissen-                   Eltern ihre Traurigkeit endlich in Worte fassen können,
Stiftung, die Angebote für die Klienten sind kostenlos.                wenn sie weinen können oder wenn ich sehe, mit wie
Sie reichen von der Vorbereitung auf eine Geburt, bei                  viel Liebe ein Paar die Situation meis­tert.“
der das Kind sterben wird, über Rückbildungsgymnas­
tik nach Totgeburten bis zu Einzel- und Gruppenge-                                                       www.uli-michel.de
sprächen sowie Fortbildungen.                                                                     www.bethanien-stiftung.de

Ihr Arbeitsplatz ist ein Neubau in einem Wohngebiet
von Lengerich. Die Wohnung ist sichtbar nicht als Be-
ratungsstelle konzipiert worden. Sekretariat, Bespre-
chungs- und Sitzungsräume haben Platz in Zimmern
gefunden, die als Schlafzimmer, Büroraum oder Wohn-
küche geplant waren. „Mir war so eine lebensnahe und
lebendige Umgebung wichtig.“ Jetzt sitzt sie dort mit
den Eltern im Kreis um ein Blumengesteck. Durch die
bodentiefen Fenster scheint die Sonne auf das helle
Parkett. Auf dem Küchenblock im Hintergrund stehen
kühle Getränke.

Passt diese lichtdurchflutete Wohnatmosphäre zum
Thema? Was hat so viel Sonne mit der Tragik der Ster-
nenkinder zu tun? „Sie sind Lichtpunkte, so schwarz
der Hintergrund auch ist“, sagt Michel. Wie hell diese
Punkte leuchten können, ist unübersehbar. Immer
dann, wenn die Eltern sich an Momente erinnern, in
denen sie die Schwangerschaft oder die ersten Wo-
chen mit ihrem Kind unbeschwert genießen konn-
ten. „Wenn wir über Land fahren und es nicht so toll
riecht“, beschreibt die Mutter von Luisa einen solchen
Augenblick. „Da hat sie immer die Nase gerümpft.“ Es

            Uli Michel spricht mit den Eltern verstorbener Kinder in
              einer Wohnküche der Sternenkinder-Beratungsstelle.                                                                  23
DAS GANZE LEBEN IST EIN QUIZ

                       SEHNSUCHT
                              DAS GROSSE
                                 QUIZ
                                           VON ANNETTE SAAL

           Es ist ein großes Gefühl, das Dichter, Denker und Komponisten
       zu den reinsten Höhenflügen inspiriert hat. Doch auch im täglichen
      Sprachgebrauch spielt die Sehnsucht eine Rolle. Kennen Sie sich aus?
                 Machen Sie mit bei unserem Quiz und gewinnen Sie!

                        Schicken Sie die Lösung an:

                          quiz@magazinleben.de oder an:
                                 Magazin leben!
                                Cheruskerring 19
                                 48147 Münster

                  Unter den richtigen Einsendungen verlosen wir folgende Preise:
               1 x 200 €, 2 x 100 €, 4 x 50 €, 20 Buch-Gutscheine und 30 Thermo-Becher.
                    Adresse nicht vergessen! Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
                                    Einsendeschluss: 1. November 2020

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1. Wie heißt ein bekanntes Paar, dessen Sehnsucht     6. „Letztlich lieben wir die Sehnsucht, nicht das
zueinander im Mittelpunkt einer Tragödie von          Ersehnte“ – diese Erkenntnis stammt von
William Shakespeare steht?                            ERS      Friedrich Nitzsche
VER     Willi und Juli                                INF      Augustin Wibbelt
BRF     Rodeo und Jennifer                            MTR      Leo Tolstoi
ALL     Romeo und Julia                               ALC      Sigmund Freud
PRI     Rolf und Jutta
                                                       7. Welcher Komponist hatte die Idee für das soge-
2. Wie hieß eine Sängerin, die mit rauchiger Stimme    nannte Sehnsuchts-Motiv in „Tristan und Isolde“?
das Lied „Sehnsucht heißt ein altes Lied der Taiga“    NHF     Wolfgang Amadeus Mozart
sang?                                                  EHN     Richard Wagner
ESB     Alexandra                                      UNT     Robert Schumann
FRI     Anastasia                                      STA     Johannes Brahms
BLO     Alabasta
TAK     Apollonia                                      8. Wer sehnte sich in der Bibel danach, als Greis
                                                       noch den neugeborenen Jesus zu sehen – was ihm
3. Wonach sehnte sich in der Bibel das Volk Israel?    auch vergönnt war?
AGOR Nach dem gefiederten Band                         SPO     Simon Petrus
BRELL Nach dem gelben Sand                             FRI     Sirius
EGIN Nach dem gelobten Land                            SUC     Simeon
ATRU Nach der greifenden Hand                          DAB     Sion

4. In Johann Wolfgang Goethes Gedicht „Nur wer         9. Welches Wort passt vom Sinn her nicht in die
die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide“ kommt        Reihe?
folgender Vers vor: Es schwindelt mir, es brennt …     UC      ersehnt
AFK      mein Goldgeschmeide                           LD      erwartet
NTM mein Eingeweide                                    DB      erhofft
RJH      meins Herzens Weide                           HT      erbost
DEP      mein Samt und Seide

5. Welches Verb ist in Verbindung mit Sehnsucht
gebräuchlich?
EST     Jemand verzerrt sich vor Sehnsucht
TRI     Jemand verrennt sich vor Sehnsucht
BLA     Jemand verkennt sich vor Sehnsucht
ITD     Jemand verzehrt sich vor Sehnsucht

Tragen Sie die Buchstaben-Kombination, die zu der jeweils richtigen Antwort gehört, in die Kästchen ein.
Die Lösung ist der Titel eines Gedichts von Nelly Sachs:

LÖSUNG

                                                                                                           25
LEBENSZIEL

     TAMINA KALLERT
     was ist Ihr Sehnsuchtsort?
     INTERVIEW: ANNETTE SAAL

     Das Fernweh ist ja sozusagen die kleine
     Schwester der Sehnsucht. Wie versuchen Sie
     in Ihren Sendungen, die Menschen auf Ihre
     Reisen mitzunehmen?
     Ich glaube, das Wichtigste ist: Was du
     aussendest, kehrt zu dir zurück. Die Be-
     geisterung, die Neugier und das authen-
     tische, unvoreingenommene Entdecken
     – das versuche ich in meinen Sendungen als
     Haltung mitzubringen. Ich bekomme sehr
     viele Rückmeldungen von unseren Zuschau-
     erinnen und Zuschauern, die sagen: Es ist so      Haben Sie ein weiteres Beispiel für eine
     erfrischend, mit Ihnen unterwegs zu sein,         solche Begegnung, die Ihnen in Erinnerung
     da kommt so eine Herzenswärme rüber. Sie          bleiben wird?
     fühlen sich wirklich mitgenommen auf eine         Kürzlich bei der Sendung über den Tau-
     Reise. Auch ich kann dabei viel entdecken         ern-Radweg haben wir einen ganz faszinie-
     und habe mir meine Neugier bewahrt. Und           renden Herrn besucht, der oberhalb eines
     ich darf bei meiner Arbeit tollen Menschen        Sees in einer Hütte lebt und dort ab und zu
     begegnen.                                         für Besucher große, sehr leckere Kaas-No-
                                                       ckerln in einer riesigen Pfanne macht. Er hat
     Können Sie sich an jemanden erinnern, der         auch in Amerika bei den Bart-Weltmeister-
     Sie bei den Dreharbeiten besonders beein-         schaften gewonnen - ich durfte sogar in
     druckt hat?                                       seinen flauschig-weichen Bart reinfassen!
     Da gibt es ganz viele Begegnungen. Zum            Dann hat er mich in seinen Garten zum
     Beispiel diesen sympathischen Watt-Postbo-        Schnittlauch-Holen geschickt. Zum Schluss
     ten, mit dem wir vor einigen Jahren hinaus-       gab es noch einen Rachenputzer an seinem
     gewandert sind von der Insel Pellworm auf         großen Holztisch in der gemütlichen Stube.
     die Insel Hallig. Morgens früh um halb fünf       Er ist ein richtiges Original! Ich liebe sol-
     sind wir aufgestanden und haben uns dann          che Begegnungen, wo ich eintauchen kann
     am Watt getroffen. Er stand da mit nacktem        in eine andere Lebenswelt und von wo ich
     Oberkörper und sagte: „So, jetzt geht’s los.“     auch selbst etwas mitnehme. Immer wieder
     Er war erst ein bisschen schüchtern, doch es      stelle ich fest: Menschen interessieren sich
     ist mir, glaube ich, gelungen, sein Herz zu er-   für Menschen. Wenn sich meine Leiden-
     obern. Das Wandern durch das Watt mit den         schaft vermittelt, dann habe ich gute Arbeit
     Gezeiten ist ein ganz elementares Erlebnis.       geleistet.

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