"Team Coverage" im Kunstturnen - mehr als nur Physiotherapie? Sportbetreuung aus physiotherapeutischer Sicht - SEMS-journal

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"Team Coverage" im Kunstturnen - mehr als nur Physiotherapie? Sportbetreuung aus physiotherapeutischer Sicht - SEMS-journal
published online on 09.03.2021
                                            https://doi.org/10.34045/SEMS/2021/2

   TEAM COVERAGE -
   PHYSICAL THERAPY

«Team Coverage» im Kunstturnen – mehr als nur
Physiotherapie? Sportbetreuung aus
physiotherapeutischer Sicht
EXERCISE IS MEDICINE

Corti Danilo M.
Gesundheitszentrum Physio in Fit, Zuchwil
"Team Coverage" im Kunstturnen - mehr als nur Physiotherapie? Sportbetreuung aus physiotherapeutischer Sicht - SEMS-journal
published online on 09.03.2021
                                                                                https://doi.org/10.34045/SEMS/2021/2

Abstract
Unlike in the hospital or the physiotherapy practice, the sports physiotherapist is a allrounder. From
planning regenerative treatments and treating minor complaints to complete rehabilitation programs and
consultations in all areas of life, everything is required. It is not enough to know wound healing and
training science, the sport must be analyzed in detail. This article describes the challenges of a
performance focused world with the athlete at the center. Everything that goes with it demands a lot of
commitment. But it also offers an incredible opportunity for professional and personal development.

Zusammenfassung
Anders als im Spital oder der Physiotherapiepraxis ist der Sportphysiotherapeut in der Betreuung der
Athleten das «Mädchen für alles». Von der Planung regenerativer Massnahmen und Behandlung kleinerer
Beschwerden über komplette Rehabilitationsprogramme bis zu Beratungen in allen Lebensbereichen wird
alles gefordert. Es reicht nicht, Wundheilung und Trainingslehre zu kennen, die Sportart muss genau
analysiert werden. Dieser Artikel beschreibt die Herausforderungen einer auf Leistung fokussierten Welt
mit dem Athleten als Mittelpunkt. Alles, was dazugehört, fordert viel Engagement. Es bietet aber auch eine
unglaubliche Möglichkeit, sich fachlich und menschlich weiterzuentwickeln.

Einleitung
Athletinnen, Athleten und Sportteams, egal auf welchem Niveau, wollen immer ihre maximale Leistung
abrufen können und gewinnen. Es gibt unzählige Faktoren, welche auf diese Leistung Einfluss haben
können. Manchmal sind es äussere Faktoren wie das Wetter, welche nicht gelenkt werden können,
manchmal sind es Faktoren, welche nur der Athlet oder die Athletin selbst beeinflussen kann. Der Staff um
die Sportlerinnen und Sportler herum kann nur versuchen, das optimale Umfeld zu schaffen, damit sich
die Athleten vollkommen auf ihre Leistung fokussieren können. Eine Person des Staffs ist meist eine
Physiotherapeutin oder ein Physiotherapeut. Was zum Aufgabenbereich gehört und welche Fertigkeiten
mitgebracht werden müssen, wird hier beleuchtet.

Was gehört alles dazu
Der Aufgabenbereich des Physiotherapeuten ist in der Sportlerwelt sehr breit abgesteckt. Er unterscheidet
sich sogar stark von Sportart zu Sportart. Ausserdem macht es einen grossen Unterschied, auf welchem
Leistungsniveau gearbeitet wird. Von der Vorbereitung des Tapes für die Reckhandschuhe, dem Auffüllen
der Trinkflasche, dem Durchführen regenerativer Massnahmen, der Massage und Manipulationen bis hin
zur Behandlung medizinischer Notfälle und darüber hinaus kann alles dabei sein. Je nach Erfahrungsgrad
oder Ausbildung der Trainer gehört auch Beratung zu Trainingslehre, Regeneration oder Periodisierung
dazu. Da man viel Zeit mit den Athletinnen und Athleten verbringt, kann es auch häufig vorkommen, dass
der Physiotherapeut die Vermittlungsperson zwischen Trainier und Athlet darstellt. Denn der
Physiotherapeut ist häufig die einzige nicht nur leistungsorientierte Person im Team.
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                                                                              https://doi.org/10.34045/SEMS/2021/2

Warum der Physiotherapeut wichtig ist
Physiotherapeuten sind meistens die Personen mit dem häufigsten direkten Kontakt zu den Athleten.
Besonders in einer Rehabilitationsphase sehen die Ärzte die Athleten meist nur zu Kontrollterminen, und
die Trainer sehen sie selten oder gar nicht, da sie am regulären Training nicht teilnehmen können. Zudem
verbringen die Therapeuten oft Stunden allein mit dem Athleten oder der Athletin. Dies bietet viel Raum
für private Gespräche und Einblicke. Deshalb ist der Physiotherapeut oft eine der wenigen Personen des
Staffs, welche einen ganzheitlichen Einblick in die Welt des Sportlers erhält. Wichtig ist, dass mit diesem
Wissen sehr vorsichtig umgegangen wird. Je höher das sportliche Niveau ist, desto mehr sind die
Athletinnen und Athleten Personen der Öffentlichkeit. Daher ist ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis
zwischen Physiotherapeut und Athlet essenziell.
Durch dieses Vertrauensverhältnis zum Athleten erhält der Physiotherapeut auch eine zentrale Funktion
und kann somit den Athletinnen und Athleten als Ratgeber zur Seite stehen. Dies können auch Themen
wie Strukturierung des Alltags, Regeneration oder Ernährung sein oder einen Hinweis an wen sie sich
wenden können. Wichtig dabei ist, dass die Kommunikation zu den anderen Personen des Staffs
funktioniert, um nicht widersprüchliche Informationen an Athleten weiterzugeben.
Die ständige Anwesenheit des Physiotherapeuten bedeutet für diese, rund um die Uhr verfügbar zu sein.
Den Athleten gibt dies die Möglichkeit, die eigenen Ressourcen optimal zu nutzen. So können sie zum
Beispiel zwischen den Geräten detonisierende Massnahmen oder ein Tape in Anspruch nehmen und
direkt nach der Leistung mit der Regeneration starten. Je nach Schwierigkeit der Übungen können
besonders bei Hang-Geräten im Kunstturnen die Unterarme sehr stark belastet sein. Kurze detonisierende
Massnahmen sind in diesem Fall für den weiteren Verlauf des Wettkampfes entscheidend. Genauso kann
die dauernde Verfügbarkeit des Physiotherapeuten sehr wichtig sein. Muss der Athlet zum Beispiel vor
dem Wettkampftag mitten in der Nacht erbrechen, ist ein rasches Handeln absolut notwendig.

Kompetenzen eines Sportphysiotherapeuten
Abgesehen von seiner zwischenmenschlichen Kompetenz ist der Sportphysiotherapeut speziell darauf
ausgebildet, bei akuten Verletzungen schnell und korrekt zu handeln. Gerade im Kunstturnen ist an
kleineren Anlässen wie einem Länderkampf oder einem Trainingslager kein Arzt im Team dabei. Daher
muss der Physiotherapeut einschätzen können, wie schlimm eine Verletzung ist und ob weitergeturnt
werden kann. Je nach Schweregrad muss der Sportphysiotherapeut noch weitere Schritte einleiten.
Zusätzlich sind spezifische Kenntnisse in Pharmakologie notwendig und dies nicht nur im
Schmerzbereich. In einem Trainingslager kann Diverses auftreten.
Zum Spezialgebiet des Sportphysiotherapeuten gehört die Wundheilung und die strukturspezifische
Belastung während der Wundheilung [1].

«Die Trainer sind nicht dazu ausgebildet, die Belastung in der Rehabilitation einzuschätzen. Dazu haben und
brauchen wir eine gute Kooperation und Kommunikation mit den Physiotherapeuten. Wenn es heisst, er darf
wieder turnen, muss der Athlet wieder 100% belastbar sein.»
Rolf Thalmann, Assistenztrainer Nachwuchs/Elite Kunstturnen Männer
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Dabei ist bei grösseren Verletzungen die Gewebestruktur mit der langsamsten Wundheilung massgebend
für die Rehabilitationsplanung. Dazu gehört auch eine Sportartanalyse, um die spezifischen Belastungen
zu definieren [1].

Man muss den Sport kennen
Wie bereits erwähnt, ist es enorm wichtig, die Sportart, deren häufigste Verletzungen und übliche
Probleme zu kennen [1,2].

«Trotz langjähriger Erfahrungen und spezifischen Ausbildungen kann es Jahre dauern, bis man die
sportspezifischen Belastungen und Verletzungen rasch diagnostizieren und entsprechend handeln kann.»
Dr. med. Adrian Burki, Sportmediziner und ehemaliger leitender Arzt des SOMC

Durch die Kenntnis des Sports erhält man eine Vorstellung der biomechanischen Kräfte, die auf den
Körper des Athleten wirken [3]. Gerade im Kunstturnen wirken enorme Geschwindigkeiten und Kräfte auf
gewisse Gelenke. Wie viel Belastung dies bei einem spezifischen Gerät ist und wie die gesamte Belastung
über sechs Geräte aussieht, ist daher äusserst relevant, um zu entscheiden, wann ein Athlet wieder
trainieren oder in einem Wettkampf starten kann.
Nicht nur für die Rehabilitation, sondern auch für die Betreuung am Spielfeldrand sind gründliche
Kenntnisse der Sportart und deren Regelwerk notwendig. Im Kunstturnen ist genau festgelegt, wie viele
Personen das «field of play» betreten dürfen und wie viele Personen mit dem Athleten das Podium
betreten können. Muss der Arzt auf den Platz, muss der Physiotherapeut zuerst das «field of play»
verlassen und die Akkreditierung übergeben. Ebenfalls ist es essenziell, die Startreihenfolge und die
Reihenfolge der Geräte zu kennen. Dies erlaubt es dem Physiotherapeuten einzuschätzen, was in einer
nötigen Behandlung priorisiert werden muss und wie viel Zeit noch bleibt.
Bei einem Handballspiel darf der «Medical» nur aufs Spielfeld zum verletzten Spieler, wenn er vom
Schiedsrichter gerufen wird. Wird für das Geschehene keine Strafe für den Gegner ausgesprochen, so darf
der Spieler die nächsten drei Angriffe der eigenen Mannschaft nicht spielen.
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Der ehemalige Sportler ist im Vorteil
Im oberen Abschnitt wurde erwähnt, dass eine Sportartanalyse durchgeführt werden sollte, um die
spezifischen Belastungen zu kennen. Gerade im Kunstturnen auf internationalem Niveau besteht das
meiste medizinische Personal aus ehemaligen Turnerinnen und Turnern.

«Der Physiotherapeut ist auch im Kunstturnen nicht mehr wegzudenken. Von Vorteil ist, wenn der
Physiotherapeut über mehrere Jahre selbst diese Sportart ausgeübt hat. Er kann sich bestens vorstellen «wo
der Schuh drückt», was guttut und kann sich auch während der Behandlung über das Turnen an und für sich
mit dem Turner unterhalten. Er kennt genau die Problematik der Turner und kann gezielt die Verletzungen
behandeln. Oft ist er eine Vertrauensperson der Turner und bekommt so Äusserungen mit, die dem Trainer
nicht mitgeteilt werden. Täglich unterstützt er mit seinen Fachkenntnissen nicht nur die Kunstturner, sondern
auch die Trainer vor, während und nach dem Training. Er berät das Trainerteam und unterstützt sie beim
Lösungen suchen. Ganz besonders engen Kontakt hält er während der Vorbereitungen zum und im
Wettkampf, und er übernimmt deshalb eine wichtige Rolle zum guten Gelingen.»
Bernhard Fluck, Cheftrainer 2009–2020, Kunstturnen Männer

Die körperlichen Belastungen sind hier so spezifisch, dass sogar Männer und Frauen andere
Verletzungshäufigkeiten aufweisen [2]. Natürlich ist es möglich, sich dieses Wissen auch anzueignen. Auch
der Ablauf, die individuelle Vorbereitung und die mentale Belastung der Athleten sind idealerweise zu
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kennen. Wenn man den ganzen Ablauf schon kennt und auch die gesamten Eindrücke schon erlebt hat,
bleibt man gelassener und ist von der gesamten Kulisse nicht so stark beeindruckt. Zudem kennt man als
ehemaliger Athlet meist viele Personen des Umfeldes und kann je nach Situation schneller reagieren.

Konflikte
Wie bereits erwähnt, ist der Physiotherapeut eine wichtige Person zwischen Trainer, Arzt und Athlet. Dies
kann auch zu Konflikten führen. Streng genommen unterliegt der Physiotherapeut derselben
Schweigepflicht wie ein Arzt. Meist ist in Verbänden oder Vereinen vertraglich geregelt, ob und wie genau
der Verband und die Trainer über den Zustand der Athletinnen und Athleten informiert werden müssen
oder dürfen. Es ist eine Gratwanderung, wie viele Personen davon hören dürfen.
Häufig kommt dazu, dass Sportreporter auch ehemalige Athleten sind, welche man noch kennt. In
unverbindlichen Gesprächen muss aufgepasst werden, was alles gesagt wird. Hier ist vom ehemaligen
Athleten wie auch dem gesamten Team viel Vorsicht geboten. Leider gibt es immer wieder Situationen, in
denen Journalisten zu viel wissen und die Athleten vor den Kopf gestossen werden. Solche Fehler dürfen
in einem Staff nicht geschehen.
Interessenkonflikte können auch zwischen Trainern, Ärzten, Therapeuten und sogar Sponsoren entstehen.
Zum Glück stehen solche Interessen im Kunstturnen eher etwas im Hintergrund, und die Gesundheit der
Athleten sowie die Prävention geniesst einen hohen Stellenwert.

Auch auf höchstem Niveau viel ehrenamtliche Arbeit
Im Gegensatz zu einigen grossen Sportarten kämpfen Randsportarten regelmässig mit finanziellen
Problemen. Das erschwert es, Ärzte und Therapeuten mit entsprechenden Ausbildungen und
Kompetenzen angemessen zu entlöhnen. Zudem werden solche Engagements häufig in der Freizeit
(Ferien) oder unbezahltem Urlaub ausgeübt. Meist können die Entschädigungen einen üblichen Lohn nicht
aufwiegen, und somit ist viel Engagement und «good will» gefragt.

Practical implications
Der Sportphysiotherapeut spielt in einem Team eine wichtige und zentrale Rolle als Vertrauensperson und
Vermittler von Trainer, Ärzten und vor allem Athleten. Dazu nötig ist eine fundierte Ausbildung, hohe
fachliche Kompetenz und viel Engagement.
Leider fehlen in vielen Sportarten die Ressourcen, um mit der Unterstützung eines Physiotherapeuten den
Sportler noch besser bei seinen Höchstleistungen zu unterstützen.

Acknowledgments, conflict of interest and funding
None declared.
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Corresponding author

Danilo M. Corti
Physiotherapeut MSc,
Schwerpunkt Sport
+41 79 743 03 51
dcorti@ggs.ch

References
  1. Duijn A van. Rehaplanung beim sportlichen Patienten. Sportphysio. Juli 2019;07(3):114-23.
  2. Westermann RW, Giblin M, Vaske A, Grosso K, Wolf BR. Evaluation of Men’s and Women’s
     Gymnastics Injuries: A 10-Year Observational Study. Sports Health: A Multidisciplinary Approach.
     März 2015;7(2):161-5.
  3. Atikovi A. RELATION BETWEEN VAULT DIFFICULTY VALUES AND BIOMECHANICAL PARAMETERS
     IN MEN’S ARTISTIC GYMNASTICS. 3(3):16.

ART GYMNASTICS     ATHLETE SUPPORT   PHYSIOTHERAPY    SPORTS PHYSIOTHERAPY
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