TRENDREPORT 2/2015 - FORBA

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TRENDREPORT 2/2015 - FORBA
TRENDREPORT 2/2015
ARBEIT I BILDUNG I SOZIALES                         ÖSTERREICH IM EUROPAVERGLEICH

Liberalisierung in Europa:
Schienenverkehr im Fokus
PERSONENVERKEHR                 LIBERALISIERUNG              SOZIALE GLEICHHEIT
Öffentliche Auftragsvergabe     Auswirkungen auf             Öffentliche Dienstleistungen
und Sozialkriterien  SEITE 4   Beschäftigte      SEITE 9   fördern Gleichheit  SEITE 18
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TRENDREPORT 2/2015

Kurznachrichten

Fairer Wettbewerb in der Verkehrsbranche                                                   Rekommunalisierung
                                                                                           Geht es um die Zukunft
Seit neun Jahren macht der deutsche           und vorbildliche Lohn- und Sozialstan-       öffentlicher Dienstleistun-
Verein „mobifair“ gegen schwarze Schafe       dards. Der Verein bietet eine Fülle an       gen, sind in Europa derzeit
in der Verkehrsbranche erfolgreich mo-        Informationsmaterial und praktischen         zwei widerstreitende Ent-
bil. In der Mobilitätswirtschaft kommt es     Tipps für Verbraucher/innen und Be-          wicklungen       anzutreffen.
häufig zu Überschreitungen von Arbeits-       triebsrät/innen auf seiner Website, in-      Dem Ruf nach mehr öffent-
zeitbestimmungen, zur Ausbeutung von          klusive einem Arbeitszeitrechner (für        licher Verantwortung steht
Beschäftigten und zu Lohn- und Sozial­        Deutschland) sowie das von mobifair          ein verschärfter Spar- und
dumping. mobifair zeigt kriminelle Ge-        vierteljährlich herausgegebene Online-       Privatisierungskurs gegen­
schäftspraktiken dieser Art auf und bringt    Magazin „mopinio“.                           über. Wird das neoliberale
sie zur Anzeige. Immer mehr Unterneh-                                                      Korsett noch enger ge-
men setzen daher auf die mobifair-Zer-        Mehr Informationen siehe                     schnürt, oder kommt es
tifizierung für faire Arbeitsbedingungen      www.mobifair.eu                              zum Kurswechsel? Was
                                                                                           folgt auf die bisherigen Er-
                                                                                           fahrungen mit der EU-Li-
„Faire Vergaben sichern Arbeitsplätze!“                                                    beralisierungspolitik? Wie
                                                                                           steht es um aktuelle Ent-
Unter diesem Motto fordert eine österrei-     des Vergaberechts auf das Best- vor Bil-     wicklungen zur Rücknah-
chische Sozialpartner-Initiative von drei     ligstbieterprinzip, Maßnahmen gegen          me von Privatisierungen
Fachgewerkschaften, zwölf Bundesinnun-        die Gründung und Geschäftstätigkeit von      („Rekommunalisierung“)?
gen und zwei Fachverbänden fairen Wett-       Scheinfirmen, eine Novellierung des Lohn-    Welche Rolle können neue
bewerb in Österreich, besonders in der        und Sozialdumping-Bekämpfungsgeset-          internationale Handelsab-
Bauwirtschaft. Der zunehmend schärfere        zes, die rasche Umsetzung der EU-Ver-        kommen wie etwa „TTIP“
Wettbewerb zerstöre regionale Arbeits-        gaberichtlinie in nationales Recht und die   oder „TiSA“ in diesen Ausei-
plätze durch Billigstanbieter und gefährde    Änderung sonstiger Rahmenbedingungen.        nandersetzungen spielen?
die Existenz von kleinen und mittleren Ge-                                                 Diesen Fragen gehen zwei
werbebetrieben. Die Sozialpartner-Initiati-   Mehr Informationen siehe                     Expert/innen der Arbeiter-
ve fordert unter anderem eine Adaptierung     www.faire-vergaben.at                        kammer, Oliver Prausmül-
                                                                                           ler und Alice Wagner, in ih-
                                                                                           rem Sammelband „Reclaim
Im Dienste öffentlicher Güter                                                              Public Services“ nach.

Der öffentliche Sektor bildete über ei-       analysiert diesen Wandel der Arbeit in       Mehr Informationen siehe
nen langen Zeitraum hinweg den ar-            Krankenhäusern, bei der Post sowie           Prausmüller, O./Wagner,
beits- und sozialrechtlich stilbildenden      in den kommunalen Verwaltungen und           A. (Hrsg.) (2014): Reclaim
Kern der Arbeitsgesellschaft. In den          Diensten in Deutschland, Österreich          Public Services. Bilanz
letzten Jahren haben sich jedoch weite        und der Schweiz.                             und Alter-
Bereiche der öffentlichen Dienstleistun-                                                   nativen zur
gen von einem Stabilitätszentrum der          Mehr Informationen siehe Flecker, J.         neoliberalen
Arbeitswelt zu einem Ort der Umbrüche         et al. (Hrsg.) (2014): Im Dienste öffent­    Privatisie-
entwickelt, an dem prekäre Beschäfti-         licher Güter. Metamorphosen der              rungspolitik,
gungsverhältnisse deutlich an Gewicht         Arbeit aus der Sicht der Beschäftigten,      VSA (Preis
gewinnen. Ein FORBA-Forschungsband            edition sigma (Preis € 25,90)                € 22,80)

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TRENDREPORT 2/2015 - FORBA
TRENDREPORT 2/2015
 ARBEIT I BILDUNG I SOZIALES                       ÖSTERREICH IM EUROPAVERGLEICH

                                                                                                               Brennpunkt
                                                                                                               Liberalisierung
                                                                                                               Wie öffentliche Dienstleistungen in Zukunft
                                                                                                               organisiert werden sollen, ist Gegenstand
 Liberalisierung in Europa:                                                                                    umfassender politischer und ökonomischer

                                                                                           Inhalt
 Schienenverkehr im Fokus
 PERSONENVERKEHR
 Öffentliche Auftragsvergabe
                               LIBERALISIERUNG
                               Auswirkungen auf
                                                            SOZIALE GLEICHHEIT
                                                            Öffentliche Dienstleistungen
                                                                                                               Auseinandersetzungen. Nach drei Jahrzehn-
 und Sozialkriterien SEITE 4   Beschäftigte       SEITE 9   fördern Gleichheit SEITE 18

                                                                                                               ten der schrittweisen Liberalisierung und
                                                                                                               Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen
                                                                                                               wurden vielerorts kritische Resümees gezo-
                                                                                                               gen. Die aktuelle Ausgabe des Trendreport
                                                                                                               behandelt schwerpunktmäßig die bisherigen
SCHWERPUNKTHEFT                                                                                                Erfahrungen mit Liberalisierung und Privati-
                                                                                                               sierung im öffentlichen Nah- und Schienen-
  Fair reisen – soziale Auftragsvergabe im Personenverkehr                                                     verkehr. Im Mittelpunkt der Analysen stehen
  Die Koppelung von sozialen Kriterien an die öffentliche Auftragsvergabe                                      ihre Auswirkungen auf Arbeitsverhältnisse,
  ist national und EU-weit im Vormarsch …                         SEITE 04                                    die Qualität der Dienstleistung und die Rolle
                                                                                                               der öffentlichen Hand als Auftraggeber, Kon-
  Beschäftigtenschutz im liberalisierten öffentlichen Verkehr                                                  troll- und Lenkungsinstanz der öffentlichen
  Die Liberalisierung des öffentlichen Verkehrs hat Auswirkungen auf die                                       Daseinsvorsorge.
  Arbeitsrealitäten der Beschäftigten …                         SEITE 09                                              Die Europäische Kommission plant mit
                                                                                                               dem vierten Eisenbahnpaket die vollständige
  Interview mit dem Rechtswissenschafter Markus Krajewski                                                      Liberalisierung des Eisenbahn-Personenver-
  „Freihandelsabkommen zielen darauf ab, öffentliche Monopole                                                  kehrs. Wird es zu Einsparungen kommen, oder
  abzubauen“ …                                              SEITE12                                           werden möglicherweise Mehrkosten für die All-
                                                                                                               gemeinheit entstehen? Und was bedeutet die
  Eisenbahn-Personenverkehr: die Tücken der Liberalisierung                                                    Liberalisierung von Verkehrsdienstleistungen
  Die Europäische Kommission plant im vierten Eisenbahnpaket die voll-                                         für die Arbeitsrealitäten der Beschäftigten?
  ständige Liberalisierung des Eisenbahn-Personenverkehrs … SEITE  15                                         Nutzt die Koppelung von sozialen Kriterien an
                                                                                                               die öffentliche Auftragsvergabe den Beschäftig-
  Liberalisierung auf Kosten von Gleichheit                                                                    ten und Kund/innen?
  Öffentliche nicht-kommerzielle Dienstleistungen fördern die soziale                                                  Abseits dieses Schwerpunkts auf
  Gleichheit …                                                   SEITE 18                                     Verkehrsdienstleistungen befasst sich der
                                                                                                               Trendreport mit den sozialen Auswirkungen
  Strom, Gas, Handy: Billigtarife kann sich nicht jeder leisten                                                der Liberalisierung von Dienstleistungen der
  Privatisierungen der Netzwerkindustrien sind die Eckpfeiler des von der                                      Strom-, Gas- und Telekommunikationsbran-
  EU verfolgten Reformkurses …                                    SEITE20                                     chen. Öffentliche Dienstleistungen fördern so-
                                                                                                               ziale Gleichheit. Höhlen Privatisierungen und
  Infografik                                                                                                   Liberalisierungen diesen Effekt aus und tragen
  Einstellung zu Liberalisierung und öffentlichen                                                              sie zu einer zunehmenden Ungleichheit bei?
  Dienstleistungen …                                                                                SEITE22           Im Interview spricht der Rechtswissen-
                                                                                                               schafter Markus Krajewski über das Konflikt-
  Abkürzungen für Ländernamen                                                                       SEITE23   potenzial zwischen Freihandel und öffentlichen
                                                                                                               Dienstleistungen, die Infografik präsentiert eu-
                                                                                                               ropäische Daten über die Einstellung zu Libe-
                                                                                                               ralisierung und öffentlichen Dienstleistungen.

                                                                                                               Wir wünschen eine anregende Lektüre!
 Bestellung der kostenlosen elektronischen Ausgabe
 und von Print-Abonnements: trendreport@forba.at                                                               Bettina Haidinger
 Download: www.forba.at/de/publications/trendreport/                                                           für die Redaktion
TRENDREPORT 2/2015 - FORBA
TRENDREPORT 2/2015

          Fair reisen – soziale Auftragsver-
          gabe im Personenverkehr

          ANALYSE: Aktuell wird die Koppelung von sozialen Kriterien an die öffentliche
          Auftragsvergabe bei Verkehrsdienstleistungen auf europäischer und nationaler Ebene
          vorangetrieben. Beschäftigte im Verkehrsdienst und Reisende werden davon profitieren.
                                                                                   Bettina Haidinger

          Die Liberalisierung des Personenverkehrs sollte güns-     Euro).1 Öffentliche Auftraggeber sind neben den Ge-
          tigere, sicherere und effizientere Verkehrsdienst-        bietskörperschaften auch ausgegliederte Sonderge-
GEFASST

          leistungen bringen. Studien zeigen jedoch, dass der       sellschaften wie ASFINAG, die Sozialversicherungen,
KURZ

          uneingeschränkte Wettbewerb Kund/innen, Beschäf-          Krankenhäuser, Universitäten oder Bildungs- und So-
          tigte und den Staat oft teuer zu stehen kommt. Direkte    zialeinrichtungen, Verkehrsverbünde oder die ÖBB. Ihr
          Vergaben und die Verankerung sozialer und Qualitäts-      Nachfrageverhalten ist ein wesentlicher ökonomischer
          Kriterien könnten die negativen Auswirkungen der Li-      Einflussfaktor. Es hat Signalwirkung auf die Ökonomie
          beralisierung bremsen.                                    als Gesamtes, zusätzlich können öffentliche Auftragge-
                                                                    ber als Vorbilder wirken für die sozialen, ökologischen
                                                                    und qualitativen Bedingungen, unter denen die Leistun-
          Wirtschaftsfaktor öffentliche Auftragsvergabe             gen erstellt werden sollen.
          Im Zuge der Integration des Europäischen Binnenmarkts
          und der Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen     Rechtliches Dickicht: die Besten
          wurde das öffentliche Förder- und Auftragswesen neu       oder die Billigsten?
          geregelt und schrittweise europaweit harmonisiert. Die    Die öffentliche Auftragsvergabe ist eine komplexe Angele-
          Auflösung von staatlichen Unternehmen und der Rück-       genheit. Sie wird rechtlich permanent novelliert und auch
          zug des öffentlichen Sektors als direkter Bereitsteller   maßgeblich von der Rechtsprechung und Auslegung der
          von Dienstleistungen schufen einen großen Markt, in       gesetzlichen Grundlagen beeinflusst. Grundsätzlich kann
          dem um öffentliche Aufträge zur Erfüllung bestimm-        der öffentliche Auftraggeber nach dem wirtschaftlich und
          ter Leistungen konkurriert wird. Liberalisierung und      technisch günstigsten Angebot (Bestbieterprinzip) oder
          Ausschreibungswettbewerb sind die zwei Seiten ei-         niedrigsten Preis (Billigstbieterprinzip) vergeben, wobei
          ner Medaille. Gab es früher meist nur einen Anbieter      das Bestbieterprinzip größeren Spielraum für die Integra-
          in öffentlicher Hand, scharen sich nun viele nationale    tion von sozialen Kriterien ermöglicht.
          und internationale Anbieter auf dem Markt öffentlicher             Als primärer Grundsatz öffentlicher Ausschrei-
          Aufträge. Auch Dienstleistungen der Daseinsvorsorge,      bungsprozesse gilt eine transparente, effiziente, diskri-
          etwa im öffentlichen Personenverkehr, werden wettbe-      minierungsfreie und günstige Beschaffung von Waren,
          werblich ausgeschrieben. Wen man nach welchen Kri-        Dienstleistungen und Bauleistungen auf der Basis eines
          terien auswählt, einen Auftrag effizient und umfassend    freien EU-weiten Wettbewerbs. Soziale, ökologische und
          zu erfüllen, ist Gegenstand komplexer Ausschreibungs-     Qualitäts-Kriterien sind bis dato eher Kann- als Muss-Be-
          und Vergabeprozesse.                                      stimmungen. Orientiert sich die Ausrichtung der öffentli-
                 Laut Berechnungen der OECD betrug das Volu-        chen Auftragsvergabe an ökonomischen Effizienzkriterien,
          men der öffentlichen Auftragsvergabe für Waren, Bau-      so tritt das Verständnis dafür in den Hintergrund, die Auf-
          arbeiten und Dienstleistungen in Österreich im Jahr       tragsvergabe auch als wirtschafts-, sozial-, bzw. umwelt-
          2013 etwa 13,25 Prozent des BIP (ca. 43 Milliarden        politisches Steuerungsinstrument einsetzen zu können.

           4
ARBEIT ı BILDUNG ı SOZIALES – ÖSTERREICH IM EUROPAVERGLEICH

Geringe Personalkosten erhöhen die Chancen                      Regeln des Vergaberechts erfüllen: nicht-diskriminierend,
In Zeiten vermeintlich leerer Staatskassen wird meist           transparent, objektiv, nicht willkürlich, auftragsgegen-
das Billigstbieterprinzip gewählt, also jene Dienstleis-        ständlich etc. Sie schaffen somit die Möglichkeit für natio-
tungs- oder Warenerbringung mit dem niedrigsten Preis           nale Gesetzgeber, derartige Kriterien ausdrücklich in den
– oftmals mit dem Ergebnis eines harten Verdrängungs-           entsprechenden Rechtsakten zu verankern und im Verga-
wettbewerbs auf Kosten von Anbietern, die vielleicht nicht      beprozess anzuwenden. Solche Kriterien sind bereits teil-
das billigste, jedoch ein qualitativ besseres Anbot legen. In   weise eingebaut. So kann etwa die betrieblich-soziale Ein-
Branchen, in denen Lohn- und Personalkosten einen ho-           gliederung bestimmter Beschäftigtengruppen wie Frauen,
hen Anteil der Gesamtkosten und öffentliche Aufträge ei-        ältere Arbeitnehmer/innen oder Menschen mit Behinde-
nen hohen Anteil der Gesamtnachfrage ausmachen, etwa            rung gefördert werden.7 Auch die stärkere Berücksichti-
bei Baudienstleistungen oder Verkehrsdienstleistungen,          gung von Betrieben die Lehrlinge ausbilden, ist zulässig.
führt dies nicht nur zu Lohndruck auf die in der betrof-        Ebenfalls können spezifische Bestimmungen für die Ver-
fenen Firma tätigen Arbeitnehmer/innen, sondern in der          gabe von Unteraufträgen an Subunternehmen, z.B. die
Branche als Ganzes. Ausschreibungswettbewerbe sind              Bildung einer Haftungskette oder die Einschränkung der
ein Instrument, um Liberalisierung und Privatisierung           Unterauftragsvergabe, zur Anwendung kommen. So ergab
öffentlicher Dienstleistungen in der Europäischen Union         eine Studie von mobifair8 über sozial nachhaltige Vergabe-
umzusetzen. Eine Studie2 über die Auswirkungen von Li-          politik im Schienenpersonennahverkehr in Deutschland,
beralisierung und Privatisierung auf Beschäftigung, Pro-        dass manche Eisenbahnverkehrsunternehmen, die Nah-
duktivität und Qualität bei öffentlichen Dienstleistungen       verkehrsleistungen für deutsche Bundesländer erbrach-
ergab, dass die Senkung von Personalkosten eine wichtige        ten, Lokführer über (unterbeauftragte) Leiharbeitsfirmen
Unternehmensstrategie ist, um im EU-weiten Wettbewerb           einstellten oder gar „selbstständige“ Lokführer im Einsatz
um öffentliche Dienstleistungen bestehen zu können. Um          hatten.
dies zu erreichen, wird Personal abgebaut, werden Pro-
duktionsprozesse durch arbeitssparende Technik ratio-           „Horizontale Sozialklausel“ und Durchsetzung
nalisiert, werden Löhne gesenkt oder es wird auf prekäre        Darüber hinaus beinhalten die neuen EU-Richtlinien eine
Arbeit ausgewichen.                                             „horizontale Sozialklausel“, die „an die Einhaltung ökolo-
                                                                gischer, sozialer und arbeitsrechtlicher Grundsätze, die im
Vergaberechtsreform 2015                                        nationalen, internationalen oder EU-Recht oder Tarifver-
Die Bedeutung und tatsächliche Anwendung von sozialen,          trägen verankert sind“, erinnert. Unternehmen, die diesen
ökologischen und Qualitäts-Kriterien bei der öffentlichen       Verpflichtungen nicht nachkommen oder unangemessen
Auftragsvergabe sind seit geraumer Zeit Gegenstand              niedrige Angebote legen, können vom Vergabeverfahren
rechtlicher und politischer Auseinandersetzungen. Laut          ausgeschlossen werden. Die neuen Richtlinien legen auch
einer Umfrage der EU-Kommission3 halten es 88 Prozent           klar, dass öffentliche Auftraggeber den „Umständen“ der
der EU-Bürger/innen für richtig, wenn der Staat seine Auf-      Herstellung bestimmter Waren bzw. der Bereitstellung
träge nicht einfach an den billigsten Anbieter vergibt, son-    gewünschter Bau- und Dienstleistungen sowie den Ar-
dern auf soziale Aspekte achtet. Um mehr Klarheit für die       beitsbedingungen der Beschäftigten (betriebliche Wei-
Zulässigkeit dieser Kriterien bei der öffentlichen Auftrags-    terbildung, Qualifikation, Gesundheitsschutz) Rechnung
vergabe zu schaffen und sie deutlicher im Gesetzestext zu       tragen können.
verankern, wurden die einschlägigen EU-Richtlinien (Sek-                Wesentlich für die nachhaltige Durchsetzung von
torenrichtlinie 2004/17/EG, Vergaberichtlinie 2004/18/EG)       sozialen Kriterien sind auch damit einhergehende Ahn-
überarbeitet.4 Im Juli 2015 verabschiedete der österreichi-     dungs- und Sanktionsmöglichkeiten im Falle einer Nicht-
sche Ministerrat eine Novelle des Vergaberechts, die den        Einhaltung. Zur Koppelung der öffentlichen Auftragsver-
neuen EU-Vergaberichtlinien teilweise Rechnung trägt            gabe an Mindestsozialstandards zeigt Holley9 am Beispiel
und zumindest für Bauaufträge der öffentlichen Hand ab          der Auslagerung von Schulwarttätigkeiten aus dem Schul-
einer Million Euro das Bestbieterprinzip verpflichtend ein-     wesen in Australien, dass Vertragsklauseln in der öffent-
geführt hat.5                                                   lichen Auftragsvergabe, die bestimmte Mindeststandards
                                                                vorsehen, zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende
Was sind soziale Kriterien?                                     Voraussetzung dafür sind, dass diese auch eingehalten
Die neuen EU-Regeln für öffentliche Beschaffung ver-            werden. Es braucht jedenfalls Kapazitäten, um Mindest-
deutlichen die Anwendung von sozialen, ökologischen und         standards zu überwachen und durchzusetzen sowie rea-
Qualitäts-Kriterien6 in Ausschreibungen, sofern sie die         listische Sanktionsmöglichkeiten.

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TRENDREPORT 2/2015

Anwendungsbeispiel Busverkehrsdienstleistungen                  planen und die einschlägigen Gesetze an die Verordnung
Öffentliche Auftraggeber können und sollen die beschrie-        1370/2007 und die sozialen Notwendigkeiten anzupassen,
benen sozialen, ökologischen und Qualitäts-Kriterien an         die mit einer Liberalisierung einhergehen.
unterschiedlichen und vor allem an den richtigen Stellen
des Vergabeprozesses einfordern. Das ist eine rechtlich         Beispiel Busverkehr …
nicht triviale Herausforderung. Entsprechend hat das            Im österreichischen (regionalen) Busverkehr laufen Aus-
Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Techno-           schreibungen seit 2011 in fast allen Bundesländern und
logie (bmvit) jüngst einen Leitfaden10 zur Anwendung von        werden von den Verkehrsverbünden im Auftrag der Länder
Sozial- und Qualitätskriterien bei der Vergabe von Busver-      durchgeführt. Der damit einhergehende Wettbewerb geht
kehrsdienstleistungen veröffentlicht. Die Initiative fußt auf   zulasten der Beschäftigten, die im preislichen Wettbewerb
den rechtlichen Weichenstellungen auf EU-Ebene bezüg-           eine „Preispufferzone“ bilden. Bei Ausschreibungen sind
lich der öffentlichen Auftragsvergabe und auf den anhal-        vor allem jene im Vorteil, die mit den kleinstmöglichen Ein-
tenden Debatten um die Vorbildwirkung des öffentlichen          stiegs-Kollektivverträgen kalkulieren, junge Fahrer/innen
Sektors als Auftraggeber, besonders von Verkehrsdienst-         beschäftigen und auf sonstige Sozialleistungen verzichten.
leistungen. Der Leitfaden bietet einen Katalog „politisch       Entsprechend fordert der österreichische Gesetzgeber ver-
abgestimmter, jedoch unverbindlicher Qualitätskriterien“        pflichtende Sozialkriterien bei Ausschreibungen, die Prü-
und hält konkrete Vorschläge fest, wie und an welcher           fung von zu niedrig erscheinenden Angeboten, die Perso-
Stelle des Ausschreibungsprozesses öffentliche Auftrag-         nalübernahme bei Betreiberwechsel (siehe Beitrag S. 9-11)
geber soziale, ökologische und Qualitäts-Kriterien an die       und das Bestbieterprinzip in allen Branchen zu verankern
Auftragsvergabe, in diesem Falle Busverkehrsdienstleis-         – wie in der PSO-Verordnung 1370/2007 vorgeschlagen. Ein
tungen, knüpfen können.                                         wichtiger politischer Schritt ist mit der Veröffentlichung des
                                                                (jedoch unverbindlichen) bmvit-Leitfadens zu Qualitäts-,
Noch besteht Wahlfreiheit                                       sozialen und ökologischen Kriterien bei der Vergabe von
Die Regulierung des öffentlichen Personenverkehrs ist           Busverkehrsdienstleistungen gesetzt worden.
Gegenstand fortdauernder Auseinandersetzung zwischen
Liberalisierungsbefürworter/innen, die etwa durch die För-      … und Schienenverkehr
derung des Wettbewerbs über Ausschreibungen eine „ef-           Noch besteht die Möglichkeit, Dienstleistungen im Schie-
fizientere“ Gewährleistung von Verkehrsdienstleistungen         nenverkehr direkt zu vergeben. Nach einem Vorschlag
erwarten, und denjenigen, die den (geförderten) öffentli-       der Europäischen Kommission soll es jedoch – mit we-
chen Verkehr als wesentlichen Bestandteil der Daseins-          nigen Ausnahmen – ausschließlich verpflichtende Aus-
vorsorge erhalten wollen. Kummer et al. verweisen in ihrer      schreibungen für alle Verkehrsdienste geben. Das hieße,
Studie11 über den Ausschreibungswettbewerb im Schie-            dass der Schienenpersonenverkehr in Österreich nicht
nenpersonenverkehr in der EU darauf, dass die bisherigen        mehr direkt an die ÖBB und die Privatbahnen vergeben
Regelungen der Vergabe von Verkehrsdienstleistungen ei-         werden könnte, sondern dass Österreich seinen nationa-
nen großen Spielraum dafür lassen, wie der Wettbewerb im        len Eisenbahnmarkt einem europaweiten wettbewerb-
regionalen Personenverkehr umgesetzt wird. Neben den            lichen Ausschreibungsverfahren unterwerfen müss-
oben debattierten Vergaberichtlinien ist hierbei vor allem      te. Hinzu kommt eine Trennung von Bahninfrastruktur
die Verordnung 1370/2007 wesentlich. Diese lässt Auftrag-       und Betrieb ab dem Jahr 2019 (siehe Beitrag S. 15-17).
gebern im öffentlichen Verkehrsbereich, den Kommunen            Franz Stöger, kaufmännischer Vorstand der Wiener
und Ländern, die Wahl zwischen Direktvergabe im Eisen-          Lokalbahnen, sieht dadurch auf kleine Bahnen mit integ-
bahnverkehr, Inhouse-Vergabe bei Busverkehrsdienstleis-         rierter Verwaltung große Probleme zukommen:12
tungen und kompetitiven Ausschreibungen und sieht auch
die mögliche Anwendung von Sozialkriterien vor. In Diskus-
sion ist, ob sich diese Wahlmöglichkeiten mit den Regelun-
                                                                „Die Ausschreibung der Bahnverkehre führt
gen, die das vierte Eisenbahnpaket mit sich bringen wird,       in eine teurere Doppelstruktur von Verkehr
ändern werden (siehe Beitrag S. 15-17). Mit Sicherheit wird     und Infrastruktur. Und die undifferenzierte
aber die Anzahl der Ausschreibungen im Personenverkehr          europaweite Harmonisierung der technischen
insgesamt zunehmen. Mitterlehner et al. empfehlen daher
auf Grundlage ihrer vergleichenden Studie über Sozial-
                                                                Standards für Nebenbahnen wie die Wiener
kriterien in vergaberechtlich relevanten Rechtsakten,7 die      Lokalbahnen erfordert unfinanzierbare
Ausgestaltung von Vergabeprozessen vorausschauend zu            Änderungen im Infrastrukturbereich.“

 6
ARBEIT ı BILDUNG ı SOZIALES – ÖSTERREICH IM EUROPAVERGLEICH

Stolperfalle Ausschreibungswettbewerb                        öffentliche Hand kann als wesentlicher Auftraggeber von
Studien zeigen, dass in bestimmten Bereichen der Da-         Dienst-, Bau- und Warenleistungen im Allgemeinen und
seinsvorsorge, so auch im öffentlichen Nahverkehr, die       Verkehrsdienstleistungen im Besonderen ihren Einfluss
bestmögliche Versorgungsvariante nicht unbedingt über        geltend machen und das beste dem preislich günstigs-
kompetitive Ausschreibungsprozesse ausgewählt wird.          ten Anbot vorziehen. Jüngste Novellierungen der EU-
Kummer et al. fanden in ihrer Studie11 heraus, dass Libe-    Vergaberichtlinien betonen die soziale Dimension bei
ralisierung und Wettbewerb in den Ausschreibungspro-         der öffentlichen Auftragsvergabe und interpretieren sie
zessen im Schienenpersonenverkehr nicht automatisch          stärker als wirtschafts-, sozial-und umweltpolitisches
die vermeintlichen Ineffizienzen von Staatsbahnsyste-        Steuerungsinstrument. Nun liegt es an den nationalen
men ausräumen. Nur begleitende Marktregulierung,             Gesetzgebern, diese Möglichkeiten in den einschlägigen
genügend Übergangszeit, kompetente und potente Mit-          Rechtsakten zu verankern und an den Auftraggebern,
bieter und eine überregionale Verkehrsstrategie führen       diese in verbindliche Praxis umzusetzen.
zu den erwünschten Ergebnissen eines besseren Bahn-
angebots. Beispielhaft zeigen die Autoren, wie Schweden
und Großbritannien durch eine chaotische Liberalisie-        Bettina Haidinger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungs-
rung, die teilweise in Wiederverstaatlichung gemündet        und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA). Inhaltliche Schwerpunkte:
ist, weder ihr Bahnangebot flächendeckend verbessern         Industrielle Beziehungen und Wertschöpfungsketten sowie Arbeit,
noch Ticketpreise durchgehend senken konnten. Darü-          Migration und Geschlechterverhältnisse. Kontakt: haidinger@forba.at
ber hinaus führt verpflichtender Ausschreibungswett-
bewerb im Schienenpersonenverkehr in vielen Fällen
zu sinkenden Anbieterzahlen und Oligopolbildungen: so
haben sich die Staatsbahnen „Deutsche Bahn“ und die
französische „SNCF“ zu European players entwickelt.
Außerdem birgt der Ausschreibungswettbewerb die Ge-          1
                                                                OECD (2015): Government at a Glance 2015
fahr, Kostensenkungen auf dem Rücken der Beschäftig-         2
                                                                Hermann, C./Flecker, J. (2012): Privatization of Public Services.
ten auszutragen, etwa durch Beschäftigungsabbau und             Impacts for Employment, Working Conditions, and Service Quality
Subvertragsvergaben oder durch Tarifflucht. Eingangs            in Europe
formulierte Kosten- und Leistungsziele konnten im Zuge       3
                                                                Eurobarometer 2011
von Ausschreibungswettbewerben im Personenverkehr            4
                                                                Die Richtlinie 2014/24/EU ersetzt die Richtlinie 2004/18/EG
meist nur eingeschränkt erreicht werden. Für das Aus-           (Öffentliche Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsauf­
schreibungsmanagement sowie für Regulierungs- und               träge); Richtlinie 2014/25/EU ersetzt die Richtlinie 2004/17/EG
Koordinationsaufgaben müssen zusätzliche Aufwendun-             (Beschaffung im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrs­
gen berücksichtigt werden. Die Studienautoren11 warnen          versorgung sowie der Postdienste).
in diesem Zusammenhang „vor einer Überschätzung              5
                                                                Pressemitteilung AK Wien/vida (16.7.2015)
marktlicher Selbstorganisation und Selbstkoordination“       6
                                                                Erläuterungen der EU-Kommission zu den sozialen Aspekten
und halten fest, dass „die Hoffnungen, die in puncto An-        der neuen Regeln in der öffentlichen Auftragsvergabe
gebotsverbesserungen im Schienenpersonenverkehr an           7
                                                                Mitterlehner, B. et al. (2013): Die Organisation des SPNV und
den Ausschreibungswettbewerb geknüpft waren, von Be-            Kraftfahrlinienpersonenverkehrs in Österreich, ausgewählten
ginn an zu optimistisch [waren]“.                               EU-Mitgliedstaaten und der Schweiz, P/S/R Public Social
                                                                Responsibility Institut
Politik am Zug                                               8
                                                                Mobifair (2011): Fairer Wettbewerb im Ausschreibungsverfahren
Ein wesentlicher Teil der Liberalisierung öffentlicher       9
                                                                Holley, S. (2014): The monitoring and enforcement of labour stan-
Dienstleistungen ist deren Ausschreibung in kompeti-            dards when services are contracted out, in: The Journal of Industrial
tiven Verfahren. Bei Verkehrsdienstleistungen stellten          Relations 56 (5), S. 672-690
sich die gewünschten Effekte von Ausschreibungswett-         10
                                                                bmvit-Leitfaden: Qualitätskriterien, soziale und ökologische Kriterien
bewerben, nämlich günstigere, effizientere und fahrgast-        bei der Vergabe von Busverkehrsdienstleistungen
freundlichere Dienstleistungen bereit zu stellen, auf län-   11
                                                                Kummer, S. et al. (2013): Ausschreibungswettbewerb im europä-
gere Sicht oft nicht ein. Dazu kommt, dass der preisliche       ischen SPNV – Was kann Österreich aus den Erfahrungen von
Wettbewerb auf Kosten der Beschäftigten ausgetragen             Ausschreibungen in Europa lernen? Zentrum Transportwirtschaft
wird. Nichtsdestotrotz wird das Ausschreibungsvolumen           Logistik Schulungs- & Beratungs-GmbH
bei Verkehrsdienstleistungen in Zukunft steigen. Die         12
                                                                Diskussionsveranstaltung des VCÖ

                                                                                                                                   7
TRENDREPORT 2/2015

8
ARBEIT ı BILDUNG ı SOZIALES – ÖSTERREICH IM EUROPAVERGLEICH

Beschäftigtenschutz im liberali-
sierten öffentlichen Verkehr
FÜR SIE GELESEN: 2009 wurde der öffentliche Verkehr innerhalb der EU weitgehend liberali-
siert. Was das für die Arbeitsrealitäten der Beschäftigten bedeutet, wird in der von den euro-
päischen Sozialpartnern im Bahnsektor (CER und ETF)1 beauftragen Studie zusammengefasst.2

In Österreich wird so viel mit der Eisenbahn gefahren wie     Im System des öffentlichen Verkehrs findet auf eu-
in keinem anderen EU-Land: Im Jahr 2013 betrug die            ropäischer Ebene ein Strukturwandel im Sinne eines

                                                                                                                           GEFASST
durchschnittlich zurückgelegte Strecke 1.425 Kilometer        neoliberalen Umbaus statt, der Beschäftigte zuneh-

                                                                                                                           KURZ
pro Person. Insgesamt wurden 274 Millionen Fahrgäste          mend dem freien Markt unterwirft. Durch massive
und 11 Prozent der gesamten Personenverkehrsleistung          Lobbyarbeit der Sozialpartner im Bahnsektor wurde
durch die Bahn erbracht.3 Darüber hinaus beförderte           es aber möglich, bei der Vergabe von öffentlichen
ÖBB-Postbus als größtes Busunternehmen Österreichs            Aufträgen in diesem Bereich auch soziale Kriterien
2014 224 Millionen Fahrgäste.4 Die Wiener Linien haben        zu berücksichtigen.
zum Ziel, bis 2020 40 Prozent des Personenverkehrs ab-
zudecken, was einer Fahrgastzahl von über einer Milli-
arde jährlich gleichkommt.5 Öffentliche Verkehrsmittel       Qualitäts- und Sozialstandards bei Ausschreibungen be-
gewährleisten Mobilität für periphere Regionen, ermög-       rücksichtigt werden. Demnach entscheidet nicht mehr
lichen den Schulweg, leisten einen wichtigen Beitrag zur     das Billigstbieter-, sondern das Bestbieterprinzip. Damit
Reduktion des motorisierten Individualverkehrs und somit     wurde ein Mittel zur Verhinderung von Lohn- und Preis-
zum Klimaschutz und zur Lebensqualität in den Städten.       dumping geschaffen sowie die Möglichkeit, bei einem Be-
Zudem zählen Betreiber öffentlicher Verkehrsmittel zu        treiberwechsel eine Personalübernahme zu verlangen. Ob
den größten Arbeitgebern Österreichs (ÖBB: 40.000, Wie-      dieses Potenzial genutzt wird, bleibt aber schlussendlich
ner Linien: 9.000 Beschäftigte). Wie die Aufträge vergeben   der vergebenden Stelle überlassen. Von der PSO-Verord-
werden, ist allerdings den wenigsten bekannt. Wie wird       nung sind der Betrieb von Eisenbahnen, U-Bahnen, re-
etwa festgelegt, wer den städtischen Nahverkehr in Wien      gionalen sowie städtischen Bussen und Straßenbahnen
betreibt? Welche Schienenstrecken werden von den ÖBB,        betroffen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass Aufträge
welche von privaten Anbietern bedient? Was bedeutet der      neben der Vergabe im Wettbewerb und dem wettbewerb-
zunehmende Anteil an privaten Betreibern (siehe Grafik       lichen Vergabeverfahren nun auch direkt vergeben werden
S. 11) für die Beschäftigten und wie können die Beschäf-     können.6 Da die Verordnung in allen EU-Staaten gültig ist,
tigten bei Betriebsübergängen geschützt werden? Diese        müssen die nationalen Gesetze entsprechend der Verord-
Fragen werden in der Studie der europäischen Sozialpart-     nung angepasst werden.
ner des Bahnsektors (ETF und CER) behandelt.2
                                                             Schutz der Beschäftigten im
Die PSO-Verordnung                                           internationalen Vergleich
Unter dem sperrigen Namen „EU-Verordnung 1370/2007           In der hier zusammengefassten Studie, die die
über öffentliche Dienstleistung und ihre Erbringung auf      EU-27-Staaten (exklusive Malta und Zypern), sowie
Schiene und Straße“ (PSO-Verordnung für public service       die Schweiz und Norwegen umfasst, werden folgende
obligations) versteckt sich ein seit 2009 gültiges Regu-     zentralen Fragen behandelt:
lativ für die Vergabe von öffentlichen Verkehrsaufträgen.    In welchem Ausmaß kommen auf Wettbewerb

Nun können gemäß Artikel 4, Absatz 5 und 6 bestimmte           ausgerichtete Ausschreibungen zum Einsatz?

                                                                                                                     9
TRENDREPORT 2/2015

Wie  unterscheiden sich die Bestimmungen hin-                  legen die Vergabestellen die Vergabemethode fest. In den
  sichtlich Sozial- und Qualitätsstandards bei einem             restlichen Ländern kommen Direktvergaben zum Einsatz.
  Betreiberwechsel?                                              Im öffentlichen Personennahverkehr [ÖPNV] werden die
Inwieweit werden soziale Kriterien in Ausschreibungen          Aufträge nur in vier Ländern ausschließlich kom­   pe­ti­
                                                                                                                         tiv
  einbezogen und welche Rolle hat die PSO-Verordnung             vergeben. Beim Großteil der Länder (18) entscheiden die
  in diesem Kontext?                                             Vergabestellen über die Art der Vergabe.
Welche Schutzmaßnahmen werden bei einem                                In den Ausschreibungen können soziale Mindest-
  Betreiberwechsel in Folge einer öffentlichen Aus-              standards wie ein Mindestlohn, Bezahlung oberhalb des
  schreibung getroffen?                                          Mindestlohns, Zusatzlöhne und Lohnnebenleistungen, die
                                                                 Arbeitszeitorganisation, Ausbildungsmöglichkeiten, Si-
Hinsichtlich der Art der Vergabe im öffentlichen Schienen-       cherheit und Gesundheitsschutz sowie Pensionsansprü-
personenverkehr [ÖSPV] haben bis 2013 nur Schweden               che geregelt werden. Im ÖSPV wenden fünf Länder (DE,
und das Vereinigte Königreich rein kompetitive Ausschrei-        DK, IT, NL, UK) soziale Kriterien in Ausschreibungen an,
bungen durchgeführt, die somit ausschließlich auf Wett-          sieben im ÖPNV (AT, BG, DE, FI, FR, NO, ES). Besonders
bewerb ausgerichtet waren. In der Tschechischen Repub-           relevant ist die Festlegung von Sozialstandards in Aus-
lik, Dänemark, Deutschland, den Niederlanden und Italien         schreibungen, wenn weder flächendeckende Tarifverträge
                                                                 noch hohe gesetzliche Mindeststandards existieren.
                                                                         Neben der Verordnung zur Einhaltung gewisser
                                                                 Sozialstandards ist der Beschäftigungsschutz beim Be-
     Negativbeispiel einer                                       treiberwechsel zentral. Von den untersuchten Ländern
     Ausschreibung in Polen                                      ist der Personalübergang in sieben Ländern entweder
                                                                 gesetzlich oder kollektivvertraglich geregelt. In sechs
     2012 wurden die drei in der Woiwodschaft Kujawsko-
                                                                 Ländern, darunter Österreich, ist er optional und in fünf
     Pomorskie existierenden Bahnlinien für den Zeitraum
                                                                 Ländern gibt es keine diesbezüglichen Standards. Re-
     von 2013 bis 2015 ausgeschrieben. Bis 2012 wurden alle
                                                                 levant für eine gelingende Personalübernahme sind die
     Strecken von Przewozy Regionale S.A. betrieben. Das
     Streckennetz wurde in drei Lose aufgeteilt. Neben dem       Art des angewandten rechtlichen Rahmens (Richtlinie
     etablierten Anbieter beteiligte sich Arriva RP als Zweit-   2001/23/EG7 oder PSO-Verordnung), die Einzelheiten
     bieter. Auswahlkriterien waren lediglich die Kosten (90     der angewandten Bestimmungen, das Ansehen und die
     Prozent Gewichtung) und die Einhaltung der Fahrpläne        Stärke der Gewerkschaft und gemeinsame Interessen
     (10 Prozent Gewichtung). Anforderungen an die Sozial-       zwischen Betriebsveräußerer und -erwerber. Zentrale
     bedingungen oder die Personalübernahme wurden von           Fragen für die Personalübernahme sind: wer (Subauf-
     der zuständigen Vergabestelle keine gestellt. Es galten     tragnehmer/innen, befristet Beschäftigte, Bedienstete,
     also lediglich die gesetzlichen Mindeststandards. Arriva    die nur einen Teil der veräußerten Strecke bedienen) wird
     erhielt im September 2012 die Zuschläge für zwei der
                                                                 zu welchen Bedingungen übernommen und wie lange
     drei Lose und wollte mit Przewozy Regionale hinsichtlich
                                                                 haben Übergangsregeln Gültigkeit?
     des Betriebsübergangs kooperieren, um einen reibungs-
                                                                         Ein Fallbeispiel aus Polen (siehe Kästchen linke
     losen Wechsel des Hauptpersonals (und damit auch des
                                                                 Spalte) zeigt, welche negativen Folgen für die Beschäf-
     Streckenbetriebs) zu gewährleisten. Przewozy Regionale
     verweigerte jedoch die Kooperation mit dem Konkurren-       tigten durch mangelnden Schutz beim Betriebsübergang
     ten und leitete Kündigungen des Personals für die nicht     entstehen können, wenn keine Regelungen bezüglich der
     mehr bedienten Strecken ein. Viele der Entlassenen wa-      Personalübernahme existieren.
     ren dadurch gezwungen sich daraufhin bei Arriva zu be-              Generell hängt die Ausgestaltung sehr stark von
     werben. Die faktische Ausgestaltung der neuen Arbeits-      den nationalen Gesetzen und Konventionen ab. Im Ver-
     verträge ist nun jedoch dem freien Markt unterworfen        einigten Königreich etwa wird meist das gesamte Perso-
     und hängt sehr stark von der Marktposition der Arbeit-      nal mit allen Arbeitsbedingungen übernommen. Kündi-
     nehmer/innen ab. Während etwa Triebfahrzeugführer/          gungen sind aber aus wirtschaftlichen, technischen und
     innen aufgrund eines Mangels an qualifizierten Perso-
                                                                 organisatorischen Gründen möglich. Vergleichsweise
     nen vergleichsweise große Verhandlungsmacht haben,
                                                                 wenig Erfahrung gibt es beim Übergang von Beschäf-
     ist ein Großteil der Entlassenen am Arbeitsmarkt we-
                                                                 tigten mit beamtenähnlichen Dienstverträgen. In Däne-
     niger gefragt und daher in einer schlechteren Verhand-
                                                                 mark etwa steht ihnen frei, zwischen der Entsendung
     lungsposition und muss dementsprechend schlechtere
     Bedingungen akzeptieren.                                    zum neuen Betrieb, einer Freistellung beim alten Betrieb
                                                                 mit befristeter Beschäftigung beim neuen Betreiber oder

10
ARBEIT ı BILDUNG ı SOZIALES – ÖSTERREICH IM EUROPAVERGLEICH

            Marktanteile der privaten                         der Umsatz um 4,2 Prozent auf drei Euro pro Kilometer
       Eisenbahnverkehrsunternehmen im                        gefallen, wohingegen der Aufwand um 6,6 Prozent auf 3,5
         Personenverkehr in Österreich                        Euro pro Kilometer gestiegen ist. Die gefahrenen Kilome-
                   Quelle: Schienen-Control                   ter pro Autobus seien um 26 Prozent gesunken, jene pro
16%                                                           Lenker um 15 Prozent, während die Leerkilometer pro
14%                                                           Bus um 16,1 Prozent gestiegen sind. Dienstleistungen wie
12%                                                           eine Fahrplanauskunft würden nicht mehr extra finanziert,
10%                                                           die Zuständigkeiten seien aufgeteilt und würden Synergi-
8%                                                            en zwischen den Betreibern verhindern, außerdem wür-
6%                                                            den die Fahrzeuge unwirtschaftlich eingesetzt.
4%
2%
                                                              Dynamisierung und
0%
        2009       2010        2011           2012   2013
                                                              gewerkschaftliches Engagement
                                                              Auch wenn in Österreich die (ehemaligen) staatlichen Be-
      Reisende
                                                              treiber noch den höchsten Anteil am öffentlichen Personen-
      Personenkilometer
                                                              verkehr erbringen, ist durch den steigenden Anteil von pri-
      Personenzugkilometer
                                                              vaten Linien – 2013 betrug er bei den Bahnreisenden schon
                                                              rund 14 Prozent – vermutlich auch hier von einer Dynami-
einer Übernahme durch den neuen Betreiber zu wählen.          sierung auszugehen. Aus diesem Grund sind Informationen
Es entschieden sich nur 15 Prozent für eine Übernahme.        darüber, wie bei Ausschreibungen Sozialstandards eingefor-
                                                              dert werden und welche gewerkschaftlichen Maßnahmen
Die Situation in Österreich                                   getroffen werden können, besonders wichtig. Die Verkehrs-
Dieses Thema hat auch in Österreich mit rund 60 Pro-          und Dienstleistungsgewerkschaft vida veröffentlichte 2011
zent pragmatisierten Bediensteten im öffentlichen Ver-        ein Positionspapier zur PSO-Verordnung, das einen guten
kehr große Relevanz. Bis 1995 (Postbus) bzw. 2005 (ÖBB)       Überblick bietet und eine Checkliste für Gewerkschafter/
wurden noch beamtenähnliche Dienstverträge vergeben.          innen beinhaltet.10 Ein umfangreicherer Handlungsleitfaden
ÖBB-Postbus etwa hat 68 Prozent pragmatisierte Be-            zur PSO-Verordnung wurde auch von ETF bereitgestellt.11 So
schäftigte und 15 verschiedene Dienstrechte, was bei Aus-     sollen auch in Zukunft faire Arbeitsbedingungen im öffentli-
schreibungen aufgrund höherer Kosten zu einem Wettbe-         chen Personenverkehr gewährleistet werden können.
werbsnachteil führt.8 Wie damit in Zukunft umgegangen
werden kann, ist noch unklar.                                                                                    Text: Franz Astleithner
                                                                                               Institut für Soziologie, Universität Wien
Grundsätzlich kommen in Österreich unterschiedliche
Vergabemethoden zum Einsatz:
Die Ausschreibungen im ÖPNV geschehen durch die

  acht Verkehrsverbünde im Namen der Gemeinden und            1
                                                                 CER ist der europäische Arbeitgeberverband, ETF
  Bundesländer. Bis 2010 wurden nur neue Strecken                (European Transport Workers' Federation) die europäische
  ausgeschrieben, seit 2010 werden aber auch                     Gewerkschaft für den Bahnsektor.
  bestehende Strecken vergeben.                               2
                                                                 Weber, T./Frenzel, H. (2013): Soziale Aspekte und Schutz der
Anders ist die Situation im ÖSPV, wo die Aufträge              Beschäftigten bei einem Wechsel des Bahnbetreibers:
  bisher immer direkt vergeben wurden.                           Die aktuelle Situation - ein Bericht für ETF und CER
Die Aufträge für den Betrieb der Wiener Linien können,      3
                                                                 bmvit
  da sie als Teil der Wiener Stadtwerke im Besitz der         4
                                                                 Postbus
  Stadt Wien sind, direkt vergeben werden.                    5
                                                                 Wiener Linien
                                                              6
                                                                 Die Direktvergabe ist für interne Betreiber, für kleine und
Dass allerdings Ausschreibungen nicht immer zu optima-           mittlere Unternehmen und Eisenbahnbetreiber möglich.
len Ergebnissen führen, belegen Aussagen von Christian        7
                                                                 Richtlinie zum Betriebsübergang
Kern, Vorstand der ÖBB-Holding:9 Durch die Ausschrei-         8
                                                                 Der Standard am 13.12.2013
bungen von Verkehrsdienstleistungen sei der Druck enorm       9
                                                                 Der Standard am 23.3.2015
gestiegen. Zwar konnte ÖBB-Postbus 86 Prozent der aus-        10
                                                                 vida Fakten, Fokus Wirtschaft, April 2011
geschrieben Kilometer für sich entscheiden, allerdings ist    11
                                                                 ETF, Ein Gewerkschaftsleitfaden zur EU-Verordnung 1370

                                                                                                                                    11
TRENDREPORT 2/2015

„Freihandelsabkommen
zielen darauf ab, öffentliche
Monopole abzubauen“

INTERVIEW: Die EU verhandelt derzeit mehrere Freihandelsabkommen. Über deren
mögliche Auswirkungen auf öffentliche Dienstleistungen und die Gefahr künftiger
Liberalisierungsverpflichtungen spricht der deutsche Rechtswissenschafter
MARKUS KRAJEWSKI im Interview mit der Arbeitssoziologin Bettina Haidinger (FORBA).

Trendreport: Derzeit werden für die EU zahlreiche        und unumkehrbar zu machen, den sogenannten
Handelsabkommen angebahnt, darunter das Abkom-           Ratchet-Effekt. Was ist damit gemeint?
men mit den USA (TTIP), das mit Kanada (CETA) und
ein plurilaterales Abkommen über den freien Dienst-      Krajewski: Bei den EU-Handelsabkommen der neuen
leistungsverkehr (TiSA). Diese sollen auch im Bereich    Generation kommt der sogenannte Negativlistenansatz
der öffentlichen Dienstleistungen Liberalisierungsver-   zur Anwendung. Das heißt, dass Dienstleistungen, die
pflichtungen und mehr Marktöffnung schaffen. Welches     NICHT explizit in einer Liste angeführt werden, demnach
Konfliktpotenzial sehen Sie zwischen derartigen Frei-    liberalisiert werden müssen. Bisher war eine Positivlis-
handelsabkommen und öffentlichen Dienstleistungen?       te üblich, bei der nur jene Dienstleistungen liberalisiert
                                                         werden mussten, die ausdrücklich genannt sind.
Krajewski: Freihandelsabkommen wie CETA, TTIP                    Verschärft wird dieser Ansatz noch durch eine
und TiSA zielen unter anderem darauf ab, öffentliche     so genannte Ratchet-Klausel, die vorsieht, dass Dienst-
Monopole oder andere Beschränkungen der Zahl der         leistungen, die zwar auf der Liste genannt sind, aber
Anbieter einer Dienstleistung abzubauen. Damit gera-     dann doch liberalisiert werden, später nicht mehr zu-
ten typische Regulierungsinstrumente für öffentliche     rückgeführt werden können. Diese Klausel gilt aber
Dienstleistungen unter Druck. Nicht selten kann dies     nicht für alle Dienstleistungen, sondern nur für solche,
auch zu einem faktischen Privatisierungsdruck führen,    für die besondere Verpflichtungen übernommen wur-
obwohl die Abkommen formal hierzu nicht verpflichten.    den. In diesen Fällen müssen die Staaten genau ange-
Wenn sich die Staaten vor derartigen Auswirkungen ei-    ben, welche aktuellen Regelungen bei ihnen noch be-
nes Freihandelsabkommens schützen wollen, müssen         stehen, die den Marktzugang noch beschränken.
sie ihre Verpflichtungen und Ausnahmen sehr genau                Werden diese Maßnahmen dann im Zuge einer
festlegen und darauf achten, dass ihnen auch zukünftig   staatlichen Liberalisierungspolitik beseitigt, können sie
Regulierungsspielräume bleiben. Das ist theoretisch      später nicht wieder eingeführt werden, obwohl sie aus-
möglich, aber nicht einfach.                             drücklich als Ausnahme angegeben wurden. Das ist vor
                                                         allem dann problematisch, wenn nach einem Politik-
                                                         oder Regierungswechsel Liberalisierungsmaßnahmen
Trendreport: Ein spezifischer Kritikpunkt bezieht sich   wieder zurückgenommen werden sollen. Will man die
auf die Gefahr, künftige Liberalisierungsverpflichtun-   Wirkungen der Ratchet-Klausel vermeiden, muss man
gen auf Dauer in diesen Abkommen festzuschreiben         sich zukünftige Änderungen ausdrücklich vorbehalten.

12
ARBEIT ı BILDUNG ı SOZIALES – ÖSTERREICH IM EUROPAVERGLEICH

Trendreport: Im Zuge von Freihandelsabkommen wird          werden und sicherstellen, dass auch zukünftige und
auch die öffentliche Auftragsvergabe neuen Regelun-        neue Aufgaben der Daseinsvorsorge erfasst werden
gen unterworfen. Was bedeutet das für die Zulässigkeit     können. Außerdem müssen diese Ausnahmeklauseln
von Instrumenten der kommunalen Selbstverwaltung           alle Liberalisierungspflichten erfassen und auch für
und der interkommunalen Zusammenarbeit, etwa von           den Grundsatz der Inländerbehandlung gelten.
Verkehrsverbünden?

Krajewski: Hier ist sehr genau zu prüfen, ob die soge-     Trendreport: Herzlichen Dank für das Interview!
nannte „Inhouse-Vergabe“ oder interkommunale Ko-
operation weiterhin ausschreibungsfrei möglich ist. Da
die Kapitel zur öffentlichen Auftragsvergabe in Freihan-
delsabkommen ganz anders strukturiert sind als das
EU-Vergaberecht, können die Lösungen des EU-Rechts
nicht einfach übertragen werden. Im CETA hat man eine
Formulierung gefunden, die interkommunale Koopera-
tion und Inhouse-Vergabe weiterhin möglich erscheinen
lässt. Die Definition könnte jedoch noch klarer sein.

Trendreport: Um Konflikte zwischen öffentlichen
Dienstleistungen und Freihandelsabkommen zu re-
duzieren, können Ausnahmeklauseln für ihren An-
wendungsbereich und bezüglich ihres Schutzniveaus
erstellt werden. Könnte der öffentliche Personen-

                                                                                                             © Harald Sippel
nahverkehr in eine solche Ausnahmeregelung fallen?
Wenn ja, auf welcher Ebene?

Krajewski: Es gibt mehrere Ebenen, auf denen Aus-
nahmeklauseln für öffentliche Dienstleistungen in
Freihandelsabkommen verwendet werden können. Ob                             Zur Person:
der ÖPNV unter eine solche Klausel fällt, hängt auch
                                                                            Prof. Dr. Markus Krajewski lehrt
vom Wortlaut der jeweiligen Ausnahmeklausel ab. So
                                                                            öffentliches Recht und Völker-
dürfte der ÖPNV von der allgemeinen Ausnahmeklau-
                                                                            recht an der Universität Erlan-
sel für „Dienstleistungen, die in Ausübung hoheitlicher
                                                                            gen-Nürnberg. Zu seinen For-
Gewalt erbracht werden“, nicht erfasst werden. Am
                                                                            schungsschwerpunkten zählen
sichersten ist es, wenn in den Listen mit spezifischen
                                                                            Wirtschaftsvölkerrecht, Europäi-
Zugeständnissen der EU und der Mitgliedstaaten ent-
                                                                            sches Außenwirtschaftsrecht und
sprechende Ausnahmeklauseln in den Abschnitten für
                                                                            das Recht öffentlicher Dienst-
schienen- und straßengebundene Personenverkehrs-
                                                                            leistungen. Er ist Mitglied des
dienstleitungen formuliert werden.
                                                                            Wissenschaftlichen Beirats der
                                                                            Bundesvereinigung öffentlicher
                                                                            Dienstleistungen (bvöd) und berät
Trendreport: Wie müssten aus Ihrer Warte rechtssi-
                                                                            Gewerkschaften, kommunale Un-
chere und umfassende Schutzriegel für öffentliche
                                                                            ternehmen und Verbände zu Fra-
Dienstleistungen in internationalen Freihandelsab-
                                                                            gen des internationalen Handels-
kommen gestaltet sein?
                                                                            und Investitionsschutzrechts.

Krajewski: Bereits bestehende Ausnahmeklauseln für                          Kontakt: markus.krajewski@fau.de
öffentliche Dienstleistungen müssten klarer formuliert

                                                                                                                        13
TRENDREPORT 2/2015

14
ARBEIT ı BILDUNG ı SOZIALES – ÖSTERREICH IM EUROPAVERGLEICH

Eisenbahn-Personenverkehr:
die Tücken der Liberalisierung

ANALYSE: Die Europäische Kommission plant im vierten Eisenbahnpaket die vollständige
Liberalisierung des Eisenbahn-Personenverkehrs. Überwiegen die vermeintlichen
Einsparungen durch die Liberalisierung oder die möglicherweise entstehenden
Mehrkosten für die Allgemeinheit?                                      Fjodor Gütermann

Das System Bahn in Österreich                                 Anhand von Erfahrungen in mehreren europäischen
Der Eisenbahnsektor in Österreich ist nicht nur Teil einer    Ländern wird der Frage nachgegangen, inwieweit die

                                                                                                                          GEFASST
leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur, sondern zugleich      von der Europäischen Kommission prognostizierten
auch ein sehr bedeutender Wirtschaftssektor. Laut einer       Ersparnisse realistisch sind. Durch die Darstellung

                                                                                                                          KURZ
Studie der Industriellenvereinigung generiert das Sys-        möglicher Mehrkosten werden die Prognosen der
tem Bahn in Österreich mit rund 54.000 Beschäftigten          Kommission relativiert.1
einen Umsatz von rund 8,4 Milliarden Euro jährlich. Da-
raus resultiert eine Bruttowertschöpfung von rund 4,1
Milliarden Euro, das sind in etwa 1,4 Prozent des öster-     Direktvergabe oder Ausschreibung?
reichischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 2011.2       In Österreich wird ein Großteil des Nah- und Regionalver-
Schätzt man auch die indirekten und induzierten Effekte3     kehrs direkt vom Bund über den Vertrag der Gemeinwirt-
auf Wertschöpfung und Beschäftigung, so erzeugt das          schaftlichen Leistungen (GWL) finanziert. GWL sind Leis-
System Bahn in Summe eine Inlandswertschöpfung von           tungen, deren Erbringung im öffentlichen Interesse liegt,
rund neun Milliarden Euro und sichert die Arbeitsplätze      deren Kosten jedoch nicht ausschließlich aus Tariferlö-
von rund 128.000 Beschäftigten in Österreich.4               sen gedeckt werden können. Da solche Leistungen am
                                                             freien Markt nicht angeboten werden würden, bedarf es
Das vierte Eisenbahnpaket                                    einer Mitfinanzierung durch öffentliche Stellen. Auch der
Die Europäische Kommission (EK) hat im Januar 2013 das       Straßenverkehr muss beispielsweise durch die öffentliche
vierte Eisenbahnpaket vorgelegt, in dem die vollständige     Hand subventioniert werden, da die erzielten Einnahmen
Liberalisierung des Schienenpersonenverkehrs (SPV)           nur rund ein Drittel der Kosten decken.
sowie die weitere strukturelle Trennung von Infrastruktur            Der Bund wendete im Jahr 2013 für die Abgeltung
und Verkehrsbetrieb vorgesehen sind. Außerdem strebt         gemeinwirtschaftlicher Leistungen bei den ÖBB rund 592
die EK ein Verbot der derzeit möglichen Wahlfreiheit         Millionen Euro auf. Hinzu kommen die Leistungen, die Län-
der zuständigen Behörden zwischen Direktvergabe und          der und Gemeinden bei den ÖBB bestellen sowie gemeinwirt-
Ausschreibungswettbewerb im Schienenverkehr an: Alle         schaftliche Leistungen diverser Privatbahnen. Im Jahr 2011
Verkehre, die mit öffentlichen Mitteln gestützt werden,      stammten so insgesamt 812,5 Millionen Euro aus der Erfül-
um Aufgaben der Daseinsvorsorge nachkommen zu kön-           lung von gemeinwirtschaftlichen Aufträgen5 – das sind rund
nen, müssten dann EU-weit ausgeschrieben werden. Die         46 Prozent der Umsatzerlöse der ÖBB-Personenverkehr AG.
EK erwartet dadurch Einsparungen von bis zu 30 Prozent
für die ausschreibenden Stellen. Im Fokus sind ebenso        Aggressive Preisstrategien
die Bahnkund/innen: Durch die weitere Liberalisierung        Diese Zahlen verdeutlichen nicht nur die Bedeutung der
erwartet sich die EK höhere Fahrgastzahlen und bessere       GWL-Verträge für den österreichischen Eisenbahnsek-
Servicequalität im SPV.                                      tor, sondern auch das Risiko, falls es zu einem Verbot

                                                                                                                    15
TRENDREPORT 2/2015

der Direktvergabe käme. Unternehmen wie die ÖBB sind                          Anreiz, mittels aggressiver Preisstrategie möglichst viele
nicht in der Lage, ihre Unternehmensgröße kurzfristig                         Ausschreibungen für sich zu entscheiden und auf Nachver-
beliebig zu verkleinern. Im Fall von Ausschreibungs-                          handlungen während der Vertragslaufzeit zu spekulieren.
wettbewerben müssten die ÖBB deswegen versuchen,
durch den Gewinn vieler Aufträge („Lose“) ihre Größe                          Auswirkungen auf Preise, Qualität
und ihr Geschäftsmodell zu halten – unter anderem                             und Beschäftigte
auch durch „unterpreisige“ Angebote bei Ausschreibun-                         Ein weiterer wichtiger Punkt in der Argumentation der EK
gen, um diese zu gewinnen.                                                    für die Liberalisierung des Bahnsektors ist das behaup-
         In Schweden hatte im Jahr 2003 eine ähnliche Situ-                   tete Einsparungspotenzial von bis zu 30 Prozent für die
ation kostspielige Folgen: Die Insolvenz des nationalen Be-                   ausschreibenden Stellen. Diese Einsparungen sollten in
treibers Statens Järnvägar (SJ) konnte nur durch staatliche                   weitere Folge durch niedrigere Ticketpreise an die Fahr-
Subventionen in der Höhe von knapp 200 Millionen Euro ab-                     gäste weitergegeben werden. Untersuchungen in Großbri-
gewendet werden.6 Die internationalen Erfahrungen in Aus-                     tannien7 und Schweden8 zeigten jedoch, dass die Ticket-
schreibungswettbewerben zeigen weiters, dass es nur bei                       preise nach der Liberalisierung signifikant angestiegen
der ersten Ausschreibungswelle zu Einsparungen kommt                          sind. Hinzu kommt, dass sich der Wettbewerb, gemäß der
(Billigbieterprinzip). Problematisch gestaltet sich insbe-                    Devise „Der Billigste bekommt den Zuschlag“, weitest-
sondere die beobachtete langfristig sinkende Zahl an Un-                      gehend zu Lasten der Qualität der erbrachten Leistung
ternehmen, die sich am Ausschreibungswettbewerb betei-                        sowie zu Lasten der Lohn- und Sozialstandards für die
ligen. Dies führt dazu, dass aufgrund der Marktbereinigung                    Beschäftigten realisierte. In Deutschland und Großbri-
und der damit verbundenen Oligopolisierung die Preise                         tannien verschafften sich private Verkehrsunternehmen
wieder steigen. Zusätzlich fehlt durch den Ausschreibungs-                    Wettbewerbsvorteile gegenüber ihren öffentlichen Kon-
wettbewerb auch die Flexibilität bei Nachfrageänderungen.                     kurrenten. Dies wurde erreicht, indem sie sich weigerten,
So müssen etwa Zusatzbestellungen aufgrund höherer                            kollektivvertragliche Regelungen einzuhalten.9
Fahrgastzahlen nachverhandelt werden, da dies im Vorhi-                               Nach den Vorstellungen der EK werden sich die
nein vertraglich nicht vereinbart war. Durch den Ausschrei-                   Verkehrsdienste durch den Wettbewerb – quasi automa-
bungswettbewerb entsteht für Unternehmen deswegen ein                         tisch – sowohl quantitativ als auch qualitativ verbessern.

                                Kein Zusammenhang zwischen Liberalisierungsgrad und
                                     Marktanteil der Bahnen am Personenverkehr
          Quellen: Kirchner, C. (2011): Rail Liberalisation Index 2011, S. 22, sowie European Commission (2011): EU Transport in figures, S. 43
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  0                                                                                                                                               0
              DE                  EE                   FR                  HU                   AT                  UK                  CH

           Liberalisierungsindex 2011 (Skala links)
          	                                                 Anteil der Bahn am Modal Split 2009 in Prozent (Skala rechts)

Anmerkung: Der Liberalisierungsindex beschreibt die Marktöffnung (market opening). Ein Wert zwischen 800 und 1000 Punkten bedeutet, dass die
Marktöffnung fortgeschritten ist (advanced), ein Wert zwischen 600 und 799 Punkten zeigt an, dass sie planmäßig vorangeht (on schedule) und ein Wert
zwischen 300 und 599 Punkten bedeutet, dass die Marktöffnung verspätet ist (delayed).

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