UNGLEICHES HESSEN WIE KÖNNEN GLEICHWERTIGE LEBENSVERHÄLTNISSE ERREICHT WERDEN? - Stefan Fina, Bastian Heider - Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung
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Stefan Fina, Bastian Heider UNGLEICHES HESSEN WIE KÖNNEN GLEICHWERTIGE LEBENSVERHÄLTNISSE ERREICHT WERDEN?
Die Friedrich-Ebert-Stiftung Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) wurde 1925 gegründet und ist die traditionsreichs- te politische Stiftung Deutschlands. Dem Vermächtnis ihres Namensgebers ist sie bis heute verpflichtet und setzt sich für die Grundwerte der Sozialen Demokratie ein: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Ideell ist sie der Sozialdemokratie und den freien Gewerkschaften verbunden. Die FES fördert die Soziale Demokratie vor allem durch: – politische Bildungsarbeit zur Stärkung der Zivilgesellschaft; – Politikberatung; – internationale Zusammenarbeit mit Auslandsbüros in über 100 Ländern; – Begabtenförderung; – das kollektive Gedächtnis der Sozialen Demokratie mit u. a. Archiv und Bibliothek. Über die Autor_innen Stefan Fina ist im Rahmen einer gemeinsamen Berufung der RWTH Aachen Uni- versity und des ILS – Institut für Landes-und Stadtentwicklungsforschung gGmbH Dortmund Professor für Analyse und Monitoring urbaner Räume und leitet den Bereich Geoinformation und Monitoring am ILS. Bastian Heider arbeitet als Postdoktorand am ILS – Institut für Landes- und Stadt- entwicklungsforschung gGmbH und ist stellvertretender Leiter des Bereichs Geo- information und Monitoring. Unter Mitarbeit von: Katinka Gehrig-Fitting (Textbearbeitung), Christian Gerten (WebGIS), Jutta Rönsch (Karten und Abbildungen), Benjamin Scholz (Datenrecher- chen und Analysen). Für diese Publikation ist in der FES verantwortlich Severin Schmidt, Leiter des Landesbüros Hessen der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Stefan Fina, Bastian Heider UNGLEICHES HESSEN WIE KÖNNEN GLEICHWERTIGE LEBENSVERHÄLTNISSE ERREICHT WERDEN? Vorwort 3 1 Pandemie und Ungleichheit 4 2 Ungleiches Hessen im Überblick 6 2.1 Raumtypen der Ungleichheit in Hessen 7 2.2 Variante: Drei Raumtypen 13 3 Dimensionen der Ungleichheit 16 3.1 Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Beschäftigung 16 3.2 Lebens- und Bildungschancen 26 3.3 Wohlstand und Gesundheit 37 3.4 Staatliches Handeln und Partizipation 48 3.5 Wanderungen 58 4 Zusammenfassung und Ausblick 64 Anhang A: Dokumentation der Indikatoren 66 Anhang B: Wertebereiche der Indikatoren 68 Anhang C: Methodische Erläuterungen zur Hauptkomponenten- und Clusteranalyse 70 Anhang D: Kartografische Umsetzung und Lesehilfe 72 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis 74 Literaturverzeichnis 76
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Landesbüro Hessen
UNGLEICHES HESSEN 3 Vorwort Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist ein wichtiges munen, die in schwachen Regionen weniger investieren kön- politisches Ziel in Deutschland und in Hessen. Im Grundgesetz nen. Es ist ein Teufelskreis, der politisch durchbrochen werden für die Bundesrepublik Deutschland findet sich der Begriff im muss. Artikel 72, in der Hessischen Landesverfassung in Artikel 26d. Im Jahr 2019 legten gleich drei Bundesministerien einen ge- In dieser Studie geben die Autor_innen eine detaillierte Über- meinsamen Plan vor, wie diese Gleichwertigkeit hergestellt sicht der sozioökonomischen Situation der unterschiedlichen werden kann. Regionen Hessens und leiten darauf basierend konkrete Vor- schläge für die Politik ab. Wir hoffen, damit als Friedrich- Das Thema hat eine überragende politische Bedeutung – zu Ebert-Stiftung Hessen einen Beitrag zu einer lebhaften poli- Recht. Denn politisch stabil kann eine Gesellschaft nur dann tischen Debatte leisten zu können. bleiben, wenn sie sich am Ziel gleichwertiger Lebensverhält- nisse orientiert und diese Gleichwertigkeit auch immer wieder Wir danken Prof. Dr. Stefan Fina und Dr. Bastian Heider sowie erreicht wird. Erfahrungen aus anderen Ländern haben gezeigt, dem gesamten Team des Instituts für Landes- und Stadtent- dass ein Auseinanderdriften etwa von städtischen und länd- wicklungsforschung (ILS) sehr herzlich für die gute Zusammen- lichen Räumen zu Ungleichgewichten führt, die letztlich die arbeit und wünschen Ihnen eine gewinnbringende Lektüre. Akzeptanz demokratischer Institutionen verringern. In der vorliegenden Studie nehmen die Autor_innen das Bun- SEVERIN SCHMIDT desland Hessen genauer in den Blick. Basierend auf Indikato- Leiter des Landesbüros Hessen der ren zu den Themen Arbeitsmarkt und Beschäftigung, Lebens- Friedrich-Ebert-Stiftung und Bildungschancen, Wohlstand und Gesundheit, Wanderung sowie staatliches Handeln und Partizipation arbeiten sie vier „Cluster” für das Bundesland Hessen heraus: 1. Dynamische Städte und Umlandgemeinden mit Exklusionsgefahr 2. Hessens solide Mitte 3. Städte und Gemeinden mit deutlichen sozio ökonomischen Herausforderungen 4. Ländliche Gemeinden mit langfristigen strukturellen Herausforderungen Natürlich wird die Lebensqualität in den unterschiedlichen Re- gionen auch unterschiedlich wahrgenommen. So empfinden viele Menschen in ländlichen Räumen die vergleichsweise niedrigen Mieten, die Nähe zur Natur und die Gemeinschaft in kleineren Städten und Dörfern als großen Gewinn für ihre Lebensqualität. Bewohner_innen von Großstädten wissen oft das größere kulturelle Angebot oder die gute Infrastruktur zu schätzen. Gleichwertigkeit bedeutet nicht Gleichheit. Problematisch wird es, wenn die Lebenschancen negativ be- einflusst werden. Erfahrungen aus der Vergangenheit haben gezeigt, dass in Deutschland bestimmte Regionen in Phasen des Wirtschaftswachstums weniger profitieren und in ökono- misch schwierigen Zeiten stärker negativ betroffen sind. Dies hat unter anderem Auswirkungen auf die Haushalte der Kom-
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Landesbüro Hessen 4 1 PANDEMIE UND UNGLEICHHEIT Dieser Bericht wäre ohne einführende Worte zu den aktuellen Abbildung 1 Kurzarbeit März/April 2020 Dynamiken der Corona-Krise unvollständig. Auch wenn heute Anteil an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten niemand wissen kann, wie sich die disruptiven Entwicklungen in Prozent des Jahres 2020 mittel- und langfristig auswirken werden: NIEDER- Die im Verlauf der Pandemie getroffenen Entscheidungen SACHSEN und Maßnahmen setzen neue Rahmenbedingungen für die Kassel Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse. In der ersten Kassel Hälfte des Jahres 2020 hat es Deutschland zwar weitestge- Werra-Meißner-Kreis hend geschafft, die Gesundheitsversorgung für das aufge- NORDRHEIN- Waldeck-Frankenberg kommene Infektionsgeschehen sicherzustellen. Dafür muss- WESTFALEN ten allerdings erhebliche sozioökonomische Einschränkungen Schwalm-Eder-Kreis Hersfeld-Rotenburg in Kauf genommen werden, die sich räumlich und sozial stark Marburg-Biedenkopf selektiv auswirken. Einzelne Wirtschaftszweige und Unter- THÜRINGEN Lahn-Dill-Kreis nehmen sind beispielsweise sehr viel stärker von Kundenver- Vogelsbergkreis lust, Produktionseinbußen und Verdienstausfällen betroffen Gießen Fulda als andere. Strukturschwächere ländliche Regionen sind mit Limburg-Weilburg anderen Herausforderungen konfrontiert als dynamisch wach- Wetteraukreis Hochtaunus- sende Städte mit weiter steigenden Lebenshaltungskosten kreis BAYERN (Hövermann 2020). Rheingau-Taunus-Kreis Main- Main-Kinzig-Kreis Taunus- Frankfurt Wiesbaden Kreis a.M. Zwei ausgewählte Karten illustrieren einführend, wie Auswir- Offenbach kungen und Risiken dieser Krise in Hessen räumlich variieren. Groß-Gerau Darm- Darmstadt- stadt RHEINLAND- Dieburg in Prozent Abbildung 1 zeigt den Anteil der gemeldeten Kurzarbeiter_ PFALZ innen an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in den Odenwaldkreis bis unter 10 Bergstraße hessischen kreisfreien Städten und Landkreisen für die Zeit 10 bis unter 20 des Krisenbeginns im März und April 2020. Die Karte liefert 20 bis unter 30 Anhaltspunkte dafür, wo vermehrt temporäre Unterstützungs- 0 10 20 km BADEN- 30 bis unter 40 WÜRTTEMBERG leistungen zur Krisenbewältigung abgerufen wurden. Die 40 und mehr höchsten Werte sind im nordwestlich gelegenen Kreis Wal- keine Daten deck-Franckenberg anzutreffen (41,2 Prozent), der einen ver- gleichsweise hohen Anteil an Beschäftigten im produzierenden Quelle: eigene Darstellung. Datengrundlage: Bundesagentur für Arbeit, GeoBasis-DE/BKG 2020. Gewerbe aufweist, ähnlich wie Landkreis (35,1 Prozent) und Stadt Kassel (38,9 Prozent). In Frankfurt am Main (33,1 Prozent) und im Landkreis Offenbach (30,5 Prozent) sind ebenfalls überdurschschnittlich hohe Werte anzutreffen. Hier dürfte die hoch spezialisierten Unternehmen. In der Krise gelten allerdings Bedeutung des Flughafens Frankfurt als Arbeitgeber für zahl- Diversität und Vielfalt als wichtige Eckpunkte resilienter Ar- reiche betroffene Beschäftigte eine große Rolle spielen. beitsmärkte. Konzentrationen in anfälligen Wirtschaftszweigen führen dagegen zu entsprechend stärkerer Betroffenheit. Im weiteren bisherigen Verlauf der Corona-Krise sind viele Kurz- arbeiter_innen mittlerweile in die Beschäftigung zurückgekehrt. Abbildung 2 zeigt in diesem Zusammenhang eine Bewertung Dennoch zeigt die räumliche Ungleichverteilung strukturelle der Branchenbetroffenheit durch Lockdown-Maßnahmen in Anfälligkeiten für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in der Corona-Krise. Dargestellt ist der Anteil von Beschäftigten einigen Wirtschaftszweigen auf, mit denen sich Strukturpolitik in Branchen mit hoher Betroffenheit, die das Prognos Institut auseinandersetzen muss. Die regionale Konzentration von Be- für diesen Zweck aus den Wirtschaftszweigeklassifikationen schäftigten in einzelnen Wirtschaftszweigen mag außerhalb der Bundesagentur für Arbeit definiert hat (Prognos 2020). von Krisenzeiten ein Standortvorteil für die Regionen sein, zum Dazu gehören die Wirtschaftszweige Tourismus und Gastge- Beispiel durch Kooperationen und Wissenstransfer zwischen werbe, Kultur und Kreativwirtschaft, Metall- und Elektroindus-
UNGLEICHES HESSEN 5 trie sowie die Herstellung von Vorleistungen (Zulieferbetriebe). Die Erfahrung des Homeschoolings hat auch gezeigt, dass die Auch in dieser Betrachtung zeigt der Nordwesten Hessens mit digitale Infrastruktur als Voraussetzung für einen funktionie- den Landkreisen Kassel (38,4 Prozent) und Waldeck-Franken- renden Schulunterricht noch sehr viel schneller ausgebaut und berg (32,2 Prozent) entsprechende Konzentrationen auf dem von weiteren bildungspolitischen Maßnahmen flankiert wer- Arbeitsmarkt. Der Lahn-Dill-Kreis (36,2 Prozent) sowie der den muss. Weiterhin entstehen in manchen Wohnlagen neue Odenwaldkreis (31,1 Prozent) sind ebenfalls in der rot einge- Versorgungsengpässe, wenn eine Vielzahl Beschäftigter im färbten Klasse mit hohen Anteilen an Beschäftigten in Wirt- Homeoffice plötzlich Angebote im unmittelbaren Wohnumfeld schaftszweigen mit hoher Krisenbetroffenheit zu finden. Es sehr viel stärker nachfragt als zuvor. wird in diesem Zusammenhang zu erörtern sein, inwiefern in laufenden Strukturwandelprozessen zukünftig Diversifizie- Die Krisendynamik des weltweiten Ausbruchs von SARS-CoV-2 rungsstrategien berücksichtigt werden können, die krisenre- beeinflusst somit bestehende Ungleichheiten sehr unmittelbar. siliente Arbeitsmarktstrukturen zum Ziel haben. Sozial- und Strukturpolitik wird Lebensverhältnisse und -chancen daher künftig noch sehr viel stärker mit einem stetig zu aktu- alisierenden Verständnis für Krisengefahren erfassen müssen. Abbildung 2 Aber auch längerfristige Anpassungsanforderungen unterlie- Krisenbetroffenheit 2020 gen ungleichen Voraussetzungen, bezogen auf naturräumliche Anteil der Beschäftigten in Branchen mit hoher Krisenbetroffenheit in Prozent Spezifika in der Klimaanpassung beispielsweise. Das Ziel gleich- wertiger Lebensverhältnisse bedarf deshalb zielgruppenspe- NIEDER- SACHSEN zifischer und räumlich koordinierter Maßnahmenbündel. Kassel Gleichzeitig birgt der Verständigungsprozess über geeignete Kassel Maßnahmen in Zeiten der Unsicherheit die Gefahr, dass die Divergenz von Handlungsmöglichkeiten zum gesellschaftlichen Werra-Meißner-Kreis NORDRHEIN- Waldeck-Frankenberg Problem wird. Die schärfer werdenden Debatten um die rich- NORDRHEIN WESTFALEN -WESTFALEN tigen Maßnahmen im Umgang mit der Krise zeigen jetzt Schwalm-Eder-Kreis schon, dass sich Politik und Gesellschaft auf zunehmend frag- Hersfeld-Rotenburg Marburg-Biedenkopf mentierte Positionen einstellen müssen (Iskan 2020). THÜRINGEN Lahn-Dill-Kreis Vogelsbergkreis In Anbetracht der Krise erweist sich politische Handlungs Gießen Fulda fähigkeit dabei bislang weniger als das Ergebnis internationa- Limburg-Weilburg ler oder zwischenstaatlicher Kooperation. Sie wird eher durch Wetteraukreis eine Rückbesinnung auf nationalstaatliche Souveränität und Hochtaunus- kreis BAYERN lokale Entscheidungskompetenzen bestimmt. Gerade im Rheingau-Taunus-Kreis Main- Main-Kinzig-Kreis föderalen System Deutschlands sind die unterschiedlichen Frankfurt Erfahrungen mit Maßnahmen im Abgleich mit dem lokalen Taunus- Wiesbaden Kreis a.M. Offenbach Infektionsgeschehen hilfreich. Die Ausbreitungsmöglichkeiten Groß-Gerau Darm- Darmstadt- stadt des Virus können so von Ländern und ihren Kommunen an- RHEINLAND RHEINLAND- Dieburg in Prozent -PFALZ PFALZ lassbezogen und mit Blick auf sozioökonomische Auswirkun- Odenwaldkreis bis unter 15 gen bekämpft werden. Im Umkehrschluss bleibt jedoch frag- Bergstraße 15 bis unter 20 lich, ob eine durch die Krise ausgebremste internationale 20 bis unter 25 Politik die Bekämpfung globaler Krisen wie Klimawandel, 0 10 20 km B.-W. BADEN- 25 bis unter 30 Flüchtlingsmigration oder Unterbrechung globaler Wertschöp- WÜRTTEMBERG fungsketten wieder aufnehmen kann, ohne sozioökonomische 30 und mehr Ungleichheiten weiter zu verfestigen oder zu verschärfen. Quelle: eigene Darstellung. Vertrauenskrisen in die Krisenbewältigung sind somit nicht Datengrundlage: https://www.prognos.com/presse/news/detailansicht/1931/ nur eine Frage räumlicher und gesellschaftlicher Lebensver- 7191bb33fdbdd1d3fdcf799f77ee0846/, GeoBasis-DE/BKG 2020. hältnisse in Deutschland. Sie sind eingebettet in internationa- le Kontexte, deren Dynamik für sozial- und strukturpolitische Maßnahmen zu berücksichtigen ist (Brand 2020). Große Hoffnung wird dabei in ortsungebundene Tätigkeiten gesetzt, die einer Vielzahl von Arbeitssuchenden neue Mög- Ein wissensbasiertes Verständnis bestehender räumlicher lichkeiten der Beschäftigung im Homeoffice ermöglichen. Die Ungleichgewichte ist die Voraussetzung, um entsprechende vielfach beschriebene Katalysatorwirkung, die die Corona-Krise Konzepte für die Zukunft zu entwickeln. Die nachfolgenden für innovative digitale Geschäftsmodelle auch im ländlichen Ausführungen werden deshalb im Text immer wieder erste Raum darstellt, ist allerdings auch mit Blick auf gesamtgesell- Hinweise liefern, inwiefern pandemiebedingte Krisenauswir- schaftliche Herausforderungen zu diskutieren. So zeigte die kungen die aufgezeigten sozioökonomischen Disparitäten in Krise nämlich, dass beim Wegbrechen von Aufträgen flexible Hessen beeinflussen. Arbeitsarrangements sehr viel unmittelbarer zur Disposition stehen können als tariflich abgesicherte Anstellungen. Zudem erfahren Haushalte mit Betreuungsverpflichtungen für An gehörige erheblichen psychosozialen Stress durch Doppel- belastungen, wenn gleichzeitig digital gearbeitet werden soll.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Landesbüro Hessen 6 2 UNGLEICHES HESSEN IM ÜBERBLICK Ausgangslage halb, Kenngrößen einzubeziehen, die Auskunft über das Vor- bereitetsein für verschiedene Zukuntsszenarien geben: Infor- „Zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse und zur mationen, die Rahmenbedingungen für die Raumentwicklung Sicherung der Lebensgrundlagen und der Lebenschancen zu- zusammenführen, die Ergebnisse zusammenfassend aufbe- künftiger Generationen soll das Land Hessen in seiner Ge- reiten, aber auch Details bereithalten. samtheit und in seinen Teilräumen wirtschafts-, sozial- und umweltverträglich entwickelt werden“ (Hessisches Ministerium In diesem Sinne geben die folgenden Ausführungen Einblicke für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen 2020: 18). Mit in eine Gesamtbewertung ungleicher Lebensverhältnisse und diesem Grundsatz aus dem Ende 2019 vorgelegten Entwurf Raumstrukturen in Hessen, die im weiteren Verlauf in ihren zur Fortschreibung des Landesentwicklungsplans bekennt sich einzelnen Dimensionen und Kenngrößen beschrieben werden. die hessische Landesregierung zu den Kernaussagen der Detaillierten Einblick in die Datengrundlagen der Studie bietet Regierungskommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ die zusammen mit dieser Studie veröffentlichte Webseite (Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat 2019). www.ungleiches-hessen.de. Doch was bedeutet dieser Grundsatz konkret für ein Bundes- Wir beginnen mit einer Einordnung hessischer Lebenslagen land wie Hessen? Ist der Handlungsdruck, diesem Ziel politisch im gesamtdeutschen Vergleich. mehr Gewicht zu verleihen, nicht auch Ergebnis eines drohen- den Kontrollverlusts gegenüber den wirkmächtigen Treibern Einordnung im deutschlandweiten Vergleich von Ungleichheit im 21. Jahrhundert? Auch hessische Struktur- und Sozialpolitik ist einem globalen Wettbewerb um wirt- Sozioökonomische Rahmenbedinungen in hessischen Städten schaftliche Produktivität und Ressourcen ausgesetzt, die in und Landkreisen entsprechen in ihrer Mehrzahl dem Bundes- umstrittenen Abwägungsprozessen Prioritäten setzen muss. durchschnitt. Diese Erkenntnis ergibt sich aus Messverfahren, In der Praxis zeigt sich folglich immer wieder, dass Prioritäten mit denen in einem deutschlandweiten Bericht Kenngrößen und Ziele in ihrer Um- und Durchsetzung angepasst werden der Ungleichheit ausgewertet wurden (siehe die Ergebnis- (müssen), sobald sie auf widerstrebende Interessen treffen. karte in Abbildung 3). Eine Auszählung der hessischen Städte und Landkreise zeigt, dass diese in ihrer Mehrzahl dem Die Ausgangslage für die Herstellung gleichwertiger Lebens- sogenannten Raumtyp der soliden Mitte entsprechen. In verhältnisse in Hessen ist schon deshalb herausfordernd. Be- diesem Raumtyp sind zum Beispiel durchschnittlich viele kannt ist weiterhin, dass die Geografie Hessens ungleiche Menschen hoch qualifiziert, Armutsquoten sind ebenso Voraussetzungen für die Raumentwicklung in den Teilräumen durchschnittlich wie Wohlstandskennziffern (Einkommen, Süd-, Mittel- und Nordhessen mitbringt und durch die zen- Gehälter) oder Belastungen wie Mietpreise. Durchschnittlich trale Lage in Deutschland ganz besonders von den räumlichen viele Bürger_innen in diesem Raumtyp gehen wählen und Dynamiken Gesamtdeutschlands beeinflusst wird. Die Lan- verfügen über eine durchschnittlich gute infrastrukturelle desplanung sieht in diesem Zusammenhang besondere He- Ausstattung (Breitbandanschlüsse, Erreichbarkeit von Haus- rausforderungen in der Anpassung von Infrastruktur und Da- ärzt_innen, vgl. Fina et al. 2019). seinsvorsorge an demografische Veränderungen, in der Stär- kung der Dezentralisierung und des ländlichen Raums sowie Der soliden Mitte gehören von den 26 hessischen Städten in der Konzentration der Raumentwicklung entlang von Ent- und Kreisen 17 an. Weitere fünf Städte (Frankfurt am Main, wicklungsachsen (Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Ener- Darmstadt, Gießen, Kassel und Wiesbaden) gehören zum gie, Verkehr und Wohnen 2020: 18ff.). Klar ist aber auch, dass Raumtyp der dynamischen Großstädte mit Exklusionsgefahr: alle Anpassungen die Herausforderungen der Zukunft zu be- Diese Städte bieten einem größeren Teil der Bevölkerung sehr rücksichtigen haben, die wir erst andeutungsweise kennen. gute Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten sowie Der Klimawandel und die digitale Transformation weiter Le- eine hohe Lebensqualität, die man sich allerdings leisten bensbereiche sind nur die bekanntesten Beispiele, die durch können muss. Hohe Armuts- und Arbeitslosigkeitsquoten in die disruptiven Entwicklungen der Corona-Pandemie neue Kombination mit hohen Lebenshaltungskosten behindern Bewertungen erfahren werden. Umso wichtiger erscheint es benachteiligte Haushalte in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe. in einer Bestandsaufnahme wie der vorliegenden Studie des- Überdurchschnittlich ausgeprägt sind diese eher negativ kon-
UNGLEICHES HESSEN 7 Abbildung 3 2.1 RAUMTYPEN DER UNGLEICHHEIT Disparitätenkarte Deutschland 2019 IN HESSEN Flensburg Kiel Methodik Rostock Lübeck Schwerin Räumliche Ungleichheit hat mehrere Dimensionen, die sich mit Hamburg einzelnen Kennziffern aus unterschiedlichen Themenbereichen Bremerhaven Oldenburg Bremen veranschaulichen lassen. Auf diese Art und Weise werden Stär- ken und Schwächen der 432 hessischen Städte und Gemein- Berlin Osnabrück Hannover Wolfsburg Potsdam Frankfurt (Oder) den einander vergleichend gegenübergestellt. Ähnliche Aus- prägungen der zugrundeliegenden Kennziffern führen zu einer Hildesheim Magdeburg Braunschweig Bielefeld Salzgitter Münster Bottrop Hamm Paderborn Zusammenfassung in Raumtypen der Ungleichheit. Die Kenn- Duisburg Göttingen ziffern stehen repräsentativ für die nachfolgend genannten Halle (Saale) Dortmund Essen Kassel Leipzig Hagen Krefeld Wuppertal Düsseldorf Themenbereiche. Mögliche selbst verstärkende Effekte durch Dresden Erfurt Jena Aachen Köln Siegen Siegen Chemnitz Bonn die Einbeziehung von Kennziffern, die voneinander abhängen Koblenz Frankfurt (korrelieren), wurden mit statistischen Methoden ausgeschlos- a.M. sen (siehe Anhang C). Als Resultat dieser Analyse werden die Wiesbaden Mainz Darmstadt Trier Würzburg Mannheim Erlangen Fürth Städte und Gemeinden in Hessen in vier Raumtypen mit ähn- Saarbrücken Ludwigs- hafen Heidel- berg Heilbronn Nürnberg lichen Werteausprägungen eingordnet, die im weiteren Verlauf dieses Abschnitts detailliert beschrieben werden. Karlsruhe Regensburg Pforzheim Stuttgart Ingolstadt Passau Reutlingen Ulm Die folgenden Themenbereiche und Indikatoren gingen in die Augsburg München Freiburg oben beschriebene Analyse ein: Konstanz 1. Arbeitsmarkt und Beschäftigung (Arbeitslosigkeit, dynamische Groß- und Mittelstädte mit Exklusionsgefahr starkes (Um-)Land hoch qualifizierte Beschäftigte, Pendelnde mit 50 Deutschlands solide Mitte Kilometer und mehr Arbeitsweg) ländlich geprägte Räume in der dauerhaften Strukturkrise Erwerbstätigkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für städtisch geprägte Regionen im andauernden Strukturwandel regionalen Wohlstand und die wirtschaftliche Zukunfts- Stadtstaaten Berlin, Hamburg, Bremen (ohne Daten für kommunale Finanzen) fähigkeit einer Region. Der Anteil der Arbeitslosen an den Quelle: eigene Darstellung (aus: Fina et al. 2019: 6). zivilen Erwerbspersonen (am Wohnort) gibt Auskunft da- Datengrundlage: GeoBasis-DE/BKG 201. rüber, inwiefern ein Arbeitsmarkt passfähige Angebote für Erwerbstätige vorhält. Eine hohe Arbeitslosenquote deutet auf strukturelle Problemlagen bezüglich der regio- notierten Kenngrößen in der Stadt Offenbach am Main, die nalen Wirtschaftsstruktur und/oder des Qualifikationsni- sich folglich im Raumtyp der städtisch geprägten Regionen veaus der Bevölkerung hin. Arbeitslosigkeit korreliert da- im andauernden Strukturwandel wiederfindet. Wohlhabende rüber hinaus stark mit einem erhöhten Armutsrisiko in Umlandgemeinden wie Darmstadt-Dieburg sowie Hochtau- der Bevölkerung. nuskreis und Main-Taunus-Kreis gehören zum sogenannten starken (Um )Land, in dem Einwohner_innen seit langer Zeit Bildung ist eine wesentliche Zugangsvoraussetzung für von der räumlichen Nähe zu lukrativen Arbeitsmärkten profi- den Arbeitsmarkt, insbesondere hinsichtlich lukrativer tieren. Hier sind weniger soziale Problemlagen als Überlastun- und zukunftsorientierter Beschäftigungsverhältnisse. Der gen der Infrastruktur ein negativer Nebeneffekt, zum Beispiel Anteil der Beschäftigten mit Hochschulabschluss an allen im Hinblick auf Stauzeiten im Pendelverkehr und den stetig sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Arbeitsort hohen Zuzugsraten durch Binnenmigration. beschreibt, inwieweit die zunehmende Nachfrage nach wissensintensiver Arbeit auf entsprechend hoch qualifi- Diese Ergebnisse können im Detail in der Langfassung der ge- zierte Fachkräfte trifft. Umso höher der Anteil, desto bes- nannten Vorgängerstudie nachgeschlagen werden. Die Ergeb- ser sind die Zukunftsperspektiven für Beschäftigte und nisse wurden zudem für eine Webanwendung (https://www. Unternehmen. fes.de/ungleiches-deutschland) aufbereitet, in der die Ergeb- nisse interaktiv erschlossen werden können. Die folgenden Lange Wege zwischen Wohn- und Arbeitsort können zu Ausführungen orientieren sich an der Methodik dieser Studie, einer erheblichen finanziellen und psychischen Mehrbe- gehen aber noch einen Schritt weiter: Neben einer umfassenden lastung für die betroffenen Personen führen. Der Anteil Aktualisierung der Datenbasis wurden weitere Indikatoren ein- der Pendelnden mit einem Arbeitsweg von 50 Kilometer bezogen, in der überwiegenden Anzahl auf der Ebene von und mehr an den Beschäftigten am Wohnort gibt Auf- Gemeinden. So wird neben der thematischen Vielfalt auch die schluss darüber, inwieweit die regionale Bevölkerung von räumliche Auflösung der Bewertung deutlich verbessert und derartigen Mehrbelastungen betroffen ist. Überdurch- erlaubt damit präzisere Einblicke und Deutungen der Muster schnittlich lange Arbeitswege sind darüber hinaus ein an Ungleichheit für das Bundesland Hessen. Im folgenden Ab- Zeichen für ein räumliches Ungleichgewicht zwischen dem schnitt werden mit weiteren Ausführungen zum methodischen Angebot an Arbeitsplätzen und entsprechend qualifizier- Ansatz die dabei ermittelten Raumtypen vorgestellt. ten Arbeitskräften.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Landesbüro Hessen 8 2. Lebens- und Bildungschancen (Kinderarmut, Er- re im ländlichen Raum aus Wirtschaftlichkeitserwägungen reichbarkeit von Grundschulen) zurückziehen. Für Kinder und Jugendliche ist Armut eine schwerwie- gende Belastung und Bürde für den weiteren Lebensweg 4. Staatliches Handeln und Partizipation (Steuerkraft, zugleich. Sie ist oftmals ein Grund für geringere Chancen Wahlbeteiligung) auf dem zukünftigen Bildungs- und Berufsweg. Als Kenn- Kommunale Steuereinnahmen definieren den Rahmen ziffer gehen die Leistungsempfänger_innen an den Per- lokaler staatlicher Handlungsmöglichkeiten. Die kommu- sonen unter 18 Jahren in die Analyse ein. Sie geben das nale Steuerkraft je Einwohner_in gibt die Steuereinnah- aktuelle Ausmaß von Kinderarmut in einer Untersu- men an, die eine Gemeinde bei einer statistisch vergleich- chungsregion und die Abhängigkeit von staatlichen Leis- baren (normierten) Anpassung ihrer Steuerquellen tungen der Grundsicherung wieder. erzielen würde. Je niedriger die Steuerkraft, desto einge- schränkter sind die Möglichkeiten, regionale Entwick- Die Gewährung gleichwertiger Bildungschancen in allen lungsimpulse durch Investitionen zu realisieren. Teilregionen des Landes ist Teil des grundgesetzlich ver- ankerten Ziels der Gewährleistung gleichwertiger Le- Politische Teilhabe ist ein grundlegender Pfeiler des ge- bensverhältnisse. Dennoch kann die schlechte Erreich- sellschaftlichen Zusammenhalts. Mangelnde Beteiligung barkeit von Bildungseinrichtungen in einigen Regionen größerer Bevölkerungsteile am demokratischen Prozess als nicht unerhebliche Barriere des Zugangs zu Bildung deutet auf mangelnde politische Repräsentanz bestimm- verstanden werden. Die mittlere Pkw-Wegezeit zur ter Bevölkerungsgruppen und/oder eine grundlegende nächstgelegenen Grundschule gibt demnach das Aus- Unzufriedenheit hin. Unter bestimmten Voraussetzungen maß der Mehrbelastung wieder, die Schüler_innen und kann diese Unzufriedenheit zum Nährboden populisti- ihre Familien für den täglichen Schulweg auf sich neh- scher und antidemokratischer Bewegungen werden. Die men müssen. Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen wird als Indikator herangezogen, um diesen Aspekt in die Analysen einzu- 3. Wohlstand und Gesundheit (Mediangehalt am beziehen. Wohnort, Mietpreise, Erholungsflächen, Hausarzt- besatz) 5. Wanderungen (Gesamtwanderungssaldo) Finanzieller Wohlstand lässt sich für viele Menschen auf Das Wanderungsverhalten der Bevölkerung lässt sich mit das erzielte Arbeitseinkommen zurückführen. Der Medi- der Bilanz aus Zuzügen und Fortzügen je 1.000 Einwoh- an der monatlichen Bruttoarbeitsentgelte von sozialver ner_innen im Ausgangsjahr messen. Es gilt als Ausdruck sicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten (ohne Aus zu von Wohnstandortpräferenzen und damit als Einschätzung bildende) gibt Auskunft über das durchschnittliche der Menschen zu erwünschten Lebensbedingungen. Ver- Einkommen, das Beschäftigten am Wohnort zur Verfü- zerrt werden diese Zahlen jedoch von der staatlich gesteu- gung steht. erten Flüchtlingszuwanderung im Beobachtungszeitraum. Hohe Mieten sind eine erhebliche finanzielle Mehrbelas- Abbildung 4 zeigt die räumliche Ausprägung der Ergebnisse tung insbesondere für Familien und einkommensschwä- der Clusteranalyse als Gesamtkarte (Disparitätenkarte Hessen). chere Haushalte. Die durchschnittlichen Angebotsmieten Für die Interpretation wurden die einzelnen Cluster mit „spre- (Kaltmieten) geben Aufschluss über die Höhe dieser chenden Namen“ versehen und in Tabelle 1 anhand der ver- Mehrbelastung. Steigende Mietpreise können zudem zur wendeten Indikatoren charakterisiert. Die Symbole bewerten Verdrängung einkommensschwacher Haushalte aus be- die Ausprägung der Indikatoren im Vergleich aller hessischen troffenen Regionen führen und sind somit ein treibender Gemeinden als positiv (stark positiv: ; positiv: ) beziehungs- Faktor räumlicher Ungleichheit. weise negativ (stark negativ: ; negativ: ). Das Symbol steht für den Durchschnitt. Die Bewertungen sind normativ Mangelnder Zugang zu Grün- und Erholungsflächen zu verstehen. So zeigt ein geringer Wert für Kinderarmut einen kann das persönliche Wohlbefinden sowie die Gesund- geringen Anteil an armutsgefährdeten Kindern an: Das ist po- heit gerade weniger mobiler Personengruppen erheblich sitiv zu bewerten, der Pfeil zeigt nach oben. Bei Mietpreisen beeinträchtigen. Die Erholungsfläche je Einwohner_in in ist ein hoher Wert negativ zu werten, der Pfeil zeigt nach Quadratmetern gibt Auskunft über die Ausstattung einer unten. Die Indikatormittelwerte für jeden Raumtyp stehen in Region mit frei zugänglichen Möglichkeiten der Naherho- grauer Textfarbe in Klammern. Der Text greift die normative lung. Eine unterdurchschnittliche Versorgung mit Erho- Einordnung der Cluster auf und ergänzt weitere charakteris- lungspotenzialen deutet auf potenzielle Defizite für be- tische Merkmale. troffene Anwohner_innen hin. Die vier in der Clusterkarte in Abbildung 4 abgebildeten Raum- Insbesondere für ältere und weniger mobile Menschen typen weisen sehr unterschiedliche standörtliche Vorteile und ist die Erreichbarkeit von Hausärzt_innen ein wesentli- Problemlagen auf und stellen somit äußerst differenzierte cher Aspekt der medizinischen Grundversorgung. Der strukturpolitische Herausforderungen dar. Auf der einen Seite verwendete Indikator beschreibt die durchschnittliche stehen 40 dynamische Städte und Umlandgemeinden Pkw-Fahrzeit zur nächsten Hausarztpraxis. Lange Fahr mit Exklusionsgefahr mit insgesamt rund 1,68 Millionen zeiten resultieren in der Regel daraus, dass die Versor- Einwohner_innen (Stand 2018) sowie deren erweitertes gungslage dünn ist und sich Hausarztpraxen insbesonde- Einzugsgebiet, das sich aus 152 Gemeinden mit insgesamt
UNGLEICHES HESSEN 9 Abbildung 4 Disparitätenkarte Hessen Northeim NIEDER- SACHSEN Höxter Kassel Kassel Eichsfeld Hochsauer- landkreis Werra-Meißner-Kreis Waldeck-Frankenberg NORDRHEIN- NORDRHEIN WESTFALEN -WESTFALEN Schwalm-Eder-Kreis Eisenach Siegen- Wittgenstein Hersfeld-Rotenburg THÜRINGEN Marburg-Biedenkopf Wartburgkreis Lahn-Dill-Kreis Vogelsbergkreis Westerwaldkreis Gießen Fulda Limburg-Weilburg Wetteraukreis Hochtaunus- kreis Rhein-Lahn-Kreis BAYERN Main-Kinzig-Kreis Rheingau-Taunus-Kreis Main- Taunus- Frankfurt BAYERN Kreis a.M. Wiesbaden Aschaffenburg Offenbach Aschaffenburg Mainz-Bingen Groß-Gerau Darm- stadt Darmstadt- Dieburg Miltenberg RHEINLAND- RHEINLAND PFALZ -PFALZ Odenwaldkreis Bergstraße B.-W.BADEN- WÜRTTEMBERG dynamische Städte und Umlandgemeinden mit Exklusionsgefahr Autobahnnetz Hessens solide Mitte Kreisgrenzen Städte und Gemeinden mit deutlichen sozioökonomischen Herausforderungen Ländergrenzen ländliche Gemeinden mit langfristigen strukturellen Herausforderungen keine Daten 0 10 20 km Quelle: eigene Darstellung. Datengrundlage: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung; GeoBasis-DE/BKG 2020.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Landesbüro Hessen 10 2,18 Millionen Einwohner_innen zusammensetzt und als der einzelnen Cluster herrscht. In Tabelle 2 sind daher die Hessens solide Mitte bezeichnen lässt. Beide Regionstypen Minimal- und Maximalwerte der Indikatoren für jeden Cluster profitieren von der wirtschaftlichen Stärke, Zukunftsfähigkeit mit Angabe der betreffenden Gemeinde aufgelistet. Auf die- und Zentralität der Großstädte, insbesondere des Rhein-Main- se Weise wird nicht nur die Bandbreite und Heterogenität Gebiets, was sich u. a. in guten Verdienstmöglichkeiten und innerhalb der vier Cluster deutlich, sondern es lassen sich auch der schnellen Erreichbarkeit von Grundschulen und Hausärzt_ einzelne Gemeinden identifizieren, die durch untypische Indi- innen äußert. Die hohe Wahlbeteiligung deutet darüber hinaus katorausprägungen innerhalb ihres Clusters auffallen. So auf einen hohen Grad an Partizipation und Zufriedenheit mit weisen z. B. die Mietpreise in Cluster 3 eine extrem große politischen Prozessen hin. Allerdings sind auch diese wirt- Bandbreite auf, die von 4,20 Euro pro Quadratmeter in Bad schaftlich und infrastrukturell stark aufgestellten Raumtypen Karlshafen bis 11,70 Euro pro Quadratmeter in Kelsterbach nicht frei von sozioökonomischen Herausforderungen. Vor reicht. Der zur Beschreibung der Cluster verwendete Mittelwert allem die hohen Mietpreise bereiten Grund zur Sorge und ist in diesem Fall also nur bedingt aussagekräftig. Weitere weisen auf Exklusionsgefahr hin, von der vor allem einkom- Beispiele für Indikatoren mit einer hohen Spannweite innerhalb mensschwächere Haushalte betroffen sein dürften. Hierbei ist der Cluster sind die Wanderungssalden (Cluster 1 und 3) zu beachten, dass die extremen Mietpreissteigerungen in den oder der Anteil an Langstreckenpendler_innen (Cluster 1 und 4). Großstädten teilweise auch ins Umland ausstrahlen und zu Weiterhin wird deutlich, dass Wiesbaden innerhalb von erwarten ist, dass sich damit verbundene Verdrängungspro- Cluster 2 eine deutliche Ausnahmestellung einnimmt, die zesse weiter fortsetzen. sich durch große Abweichungen in den Indikatoren Kinder armut, Mieten, Arbeitslosigkeit und hoch qualifizierte Beschäf- Auf der anderen Seite stehen zwei Raumtypen, die einen be- tigte auszeichnet. Städte wie Wiesbaden oder auch Limburg sonderen strukturpolitischen Fokus verlangen, dabei aber an der Lahn in Cluster 4 sind im Gesamtkontext aller hessi- gänzlich unterschiedliche Herausforderungen aufweisen. Zum schen Gemeinden nur schwierig eindeutig einem der vier einen wäre da eine Gruppe aus 65 Städten und Gemeinden Raumtypen zuzuordnen. mit deutlichen sozioökonomischen Herausforderungen (rund 1,42 Millionen Einwohner_innen), die durch verschiede- ne sich überlappende ökonomische, infrastrukturelle und so- ziale Problemlagen gekennzeichnet ist. Hohe Arbeitslosigkeit, geringe Verdienstmöglichkeiten und durch erhöhte Kinderar- mut und die unterdurchschnittliche Erreichbarkeit von Grund- schulen beeinträchtigte Lebenschancen stehen beispielhaft für die Nachteile dieses Raumtyps. Die niedrige Wahlbeteili- gung deutet zudem auf ein geringes Maß an politischer Par- tizipation hin. Trotz der Probleme wiesen diese Gemeinden in den vergangenen fünf Jahren einen positiven Gesamtwande- rungssaldo auf. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass dieser durch die staatlich gelenkte Fluchtzuwanderung stark beeinflusst wurde. Räumlich weist dieser Cluster die größte Streuung auf. Er umfasst sowohl eher ländliche Regionen als auch größere Städte wie Kassel und Offenbach und ist in allen Landesteilen vertreten. Mit gänzlich anderen Herausforderungen haben die 138 Ge- meinden mit insgesamt 0,86 Millionen Einwohner_innen zu kämpfen, die als ländliche Gemeinden mit langfristigen strukturellen Herausforderungen bezeichnet werden. Der Nachteil dieser Gemeinden lässt sich im Wesentlichen durch ihre periphere Lage abseits der bedeutenden Zentren des Rhein-Main-Gebiets erklären. Diese kann als kausal für die unterdurchschnittliche Erreichbarkeit von Grundschulen und Hausärzt_innen, die langen Pendeldistanzen sowie das nied- rige Angebot an wissensintensiven Beschäftigungsmöglich- keiten angesehen werden. Obwohl dieser Cluster bei Indika- toren wie Arbeitslosigkeit und Kinderarmut überdurchschnittlich gut abschneidet, deuten insbesondere die geringe Wissensin- tensität der lokalen Wirtschaft sowie der niedrige Gesamt- wanderungssaldo darauf hin, dass diese Gemeinden Gefahr laufen, langfristig den Anschluss an die wirtschaftlichen Zen- tren des Landes zu verlieren. Die in Tabelle 1 präsentierten Mittelwerte verdecken teilweise die große Bandbreite an Werteausprägungen, die innerhalb
UNGLEICHES HESSEN 11 Tabelle 1 Beschreibung der Raumtypen Charakterisierung Vor- oder Nachteil räumliche Ausdehnung Cluster 1: Dynamische Städte und Umlandgemeinden mit Exklusionsgefahr (40 Gemeinden; 1,68. Mio. Einw.) Ein ungewöhnlich hoher Anteil hoch qualifizierter Beschäftigter, außerordentlich Arbeitslosenquote: (4,2 %) hohe Mediangehälter und Steuerkraft sind kennzeichnend für den Cluster der wirt- HQ-Beschäftigte: (19,9 %) schaftlichen Boomgemeinden, der sich im Wesentlichen aus den wohlhabenden Pendelnde (> 50 km): (13,1 %) Gemeinden des Rhein-Main-Gebiets sowie den Universitätsstädten Marburg und Kinderarmut: (8,4 %) Darmstadt zusammensetzt und somit das Süd-Nord-Gefälle innerhalb Hessens Erreichbarkeit Grundschulen: (3,16 Min.) verdeutlicht. Weitere Merkmale dieses Clusters sind eine überdurchschnittliche Mediangehalt WO: (4.185 EUR) Wahlbeteiligung, positive Werte bei den Erreichbarkeitsindikatoren und ein über- Mieten: (9,5 EUR) durchschnittlich hoher Gesamtwanderungssaldo. Bei aller wirtschaftlichen Stärke Erholungsflächen: (29,8 m2) gibt es allerdings auch hier Hinweise auf sozioökonomische Herausforderungen. Erreichbarkeit Hausärzt_innen: (3,18 Min.) Neben dem überdurchschnittlichen Anteil an Langstreckenpendler_innen und Steuerkraft: (1.363 EUR) dem Fehlen von Erholungsflächen deuten vor allem die im hessischen Vergleich Wahlbeteiligung: (81,9 %) extrem hohen Mietpreise auf erhöhte Exklusionsgefahr insbesondere einkommens- Gesamtwanderungssaldo: schwächerer Haushalte hin. (43,6 Pers. je 1.000 Einw.) Cluster 2: Hessens solide Mitte (152 Gemeinden; 2,18 Mio. Einw.) Durch gute Erreichbarkeit von Hausärzt_innen und kurze Pendeldistanzen sowie Arbeitslosenquote: (4,6 %) überdurchschnittlich hohe Mediangehälter zeichnen sich die Gemeinden des HQ-Beschäftigte: (10,3 %) z weiten Clusters aus. Diese beziehen ihre Standortvorteile weitgehend aus ihrer Pendelnde (> 50 km): (9,5 %) Lage im erweiterten Einzugsbereich der wirtschaftlichen Zentren des Landes und Kinderarmut: (9,4 %) liegen bei einer Vielzahl an weiteren Indikatoren im soliden hessischen Mittelfeld. Erreichbarkeit Grundschulen: (3,35 Min.) Eine Ausnahme stellt Wiesbaden dar, welche als einzige Großstadt innerhalb Mediangehalt WO: (3.679 EUR) dieses Clusters bei einzelnen Indikatoren positiv (hoch qualifizierte Beschäftigte) Mieten: (7,4 EUR) oder negativ (Arbeitslosigkeit, Kinderarmut) heraussticht. Ähnlich wie bei den Erholungsflächen: (37,4 m2) dynamischen Städten deuten auch bei Hessens solider Mitte das relativ hohe Miet Erreichbarkeit Hausärzt_innen: (3,54 Min.) niveau und die geringe Verfügbarkeit von Erholungsflächen auf eine gewisse Ex- Steuerkraft: (891 EUR) klusionsgefahr bzw. Nachteile in der Lebensqualität hin. Wahlbeteiligung: (79,4 %) Gesamtwanderungssaldo: (33,5 Pers. je 1.000 Einw.) Cluster 3: Städte und Gemeinden mit deutlichen sozioökonomischen Herausforderungen (65 Gemeinden; 1,42 Mio. Einw.) Die größte geografische Streuung weist Cluster 3 auf. Diese Gemeinden sind über Arbeitslosenquote: (6,3 %) alle Landesteile verteilt und umfassen sowohl ländliche Gemeinden als auch grö- HQ-Beschäftigte: (10,6 %) ßere Städte wie Kassel und Offenbach. Während der Anteil der hoch qualifizierten Pendelnde (> 50 km): (10,8 %) Beschäftigten, die Pendeldistanzen, das Mietniveau, die Erholungsflächen und die Kinderarmut: (15,1 %) Steuerkraft hier im Mittelfeld liegen, bündeln sich innerhalb dieses Clusters unter- Erreichbarkeit Grundschulen: (4,11 Min.) schiedliche Problemlagen aus den verschiedenen Themenbereichen. Vor allem die Mediangehalt WO: (3.273 EUR) Arbeitslosenquoten, die Kinderarmut und die niedrige Wahlbeteiligung deuten auf Mieten: (6,4 EUR) große sozioökonomische Herausforderungen hin. Aber auch bei der Erreichbarkeit Erholungsflächen: (49,5 m2) von Hausärzt_innen sowie den Mediangehältern schneidet der Cluster unterdurch- Erreichbarkeit Hausärzt_innen: (5,25 Min.) schnittlich ab. Demgegenüber steht überraschenderweise ein überdurchschnittlich Steuerkraft: (758 EUR) positiver Gesamtwanderungssaldo, bei dem aber eine Verzerrung durch die Effekte Wahlbeteiligung: (74 %) der teils staatlich gesteuerten Fluchtzuwanderung nicht auszuschließen ist. Gesamtwanderungssaldo: (57,3 Pers. je 1.000 Einw.) Cluster 4: Ländliche Gemeinden mit langfristigen strukturellen Herausforderungen (138 Gemeinden; 0,86 Mio. Einw.) Auch in Cluster 4 manifestieren sich die deutlichen strukturellen Unterschiede Arbeitslosenquote: (3,7 %) z wischen Nord- und Südhessen. Er beinhaltet weitestgehend ländlich geprägte HQ-Beschäftigte: (7,3 %) Gemeinden nördlich des Rhein-Main-Gebiets und abseits der wirtschaftlichen Pendelnde (> 50 km): (13,1 %) Zentren. Niedrige Arbeitslosigkeit nahe der Vollbeschäftigung, niedrige Kinder Kinderarmut: (6,8 %) armut und Mieten sowie die überdurchschnittlich gute Verfügbarkeit von Erho- Erreichbarkeit Grundschulen: (3,93 Min.) lungsflächen deuten auf grundsätzlich positive Lebensverhältnisse hin. Lange Mediangehalt WO: (3.381 EUR) Pendeldistanzen, unterdurchschnittliche Erreichbarkeit von Hausärzt_innen sowie Mieten: (5,3 EUR) die niedrigen Mediangehälter und Steuerkraft zeigen aber, dass diese Gemeinden Erholungsflächen: (72,2 m2) langfristig strukturelle Herausforderungen zu bewältigen haben, um nicht den Erreichbarkeit Hausärzt_innen: (5,17 Min.) A nschluss an die dynamischen Großstädte und ihr Umland zu verlieren. Insbeson- Steuerkraft: (724 EUR) dere der niedrige Anteil an hoch qualifzierten Beschäftigten und der unterdurch- Wahlbeteiligung: (78,3 %) schnittliche Wanderungssaldo deuten auf aufkommende wirtschaftliche und Gesamtwanderungssaldo: demografische Problemlagen hin. (11,9 Pers. je 1.000 Einw.) (stark positiv: ; positiv: ; Durchschnitt: ; negativ: ; stark negativ: ; Abkürzungen: Pers. = Personen; Einw. = Einwohner_innen; HQ = Hochqualifizierte)
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Landesbüro Hessen 12 Tabelle 2 Bandbreiten in den Raumtypen Indikator Wert Cluster 1 Cluster 2 Cluster 3 Cluster 4 2,3 2,2 3,8 1,8 Minimum Arbeitslosigkeit (Kiedrich) (Niedenstein) (Biebesheim am Rhein) (Hohenroda) in Prozent 6,9 8,1 10,6 8,0 Maximum (Marburg) (Wiesbaden) (Wetzlar) (Limburg a. d. Lahn) 5,4 4,5 2,9 1,9 (Münchhausen hoch qualifizierte Minimum (Linsengericht) (Limeshain) (Grasellenbach) am Christenberg) Beschäftigte in Prozent 46,6 23,9 25,4 20,5 Maximum (Kronberg im Taunus) (Wiesbaden) (Rüsselsheim) (Bad Zwesten) 6,7 5,3 5,8 4,5 Pendelnde > 50 km Minimum (Hochheim am Main) (Eschenburg) (Hofgeismar) (Steffenberg) in 100 SV-Beschäf- tigten 32,3 17,8 20,5 38,8 Maximum (Brechen) (Linden) (Bad Orb) (Selters (Taunus)) 2,1 1,8 6,9 1,3 Kinderarmut Minimum (Kiedrich) (Ronneburg) (Reichelsheim) (Grebenau) in Prozent aller Kinder 19,8 21,0 26,4 18,6 Maximum (Darmstadt) (Wiesbaden) (Bad Schwalbach) (Limburg a. d. Lahn) 0,6 0,2 0,3 0,3 Erreichbarkeit Minimum (Darmstadt) (Ahnatal) (Hanau) (Niederaula) Grundschulen in Wegeminuten 8,1 10,8 10,0 11,8 Maximum (Dreieich) (Trebur) (Spangenberg) (Heidenrod) 3.663 3.281 2.840 2.751 Medianentgelt Minimum (Gelnhausen) (Gemünden (Wohra)) (Bad Salzschlirf) (Willingen (Upland)) am Wohnort in Euro 5.009 4.217 3.599 3.917 Maximum (Bad Soden am Taunus) (Niedernhausen) (Grävenwiesbach) (Selters (Taunus)) 6,0 5,0 4,2 4,0 Minimum Mieten in Euro (Brechen) (Gemünden (Wohra)) (Bad Karlshafen) (Nentershausen) pro Quadratmeter 13,4 10,3 11,7 8,0 Maximum (Frankfurt am Main) (Wiesbaden) (Kelsterbach) (Gernsheim) 7,4 10,9 16,0 20,4 Erholungsflächen Minimum (Kiedrich) (Einhausen) (Lützelbach) (Neckarsteinach) in Quadratmeter je Einwohner_in 70,4 102,3 138,1 253,0 Maximum (Kronberg im Taunus) (Messel) (Hofgeismar) (Waldeck) 2,0 1,7 2,4 2,4 Erreichbarkeit Minimum (Eschborn) (Heuchelheim) (Kassel) (Limburg a. d. Lahn) Hausärzt_innen in Wegeminuten 4,9 7,2 10,1 9,1 Maximum (Münzenberg) (Oestrich-Winkel) (Michelstadt) (Ludwigsau) 796 564 512 –505 Minimum Steuerkraft in Euro (Brechen) (Gemünden (Wohra)) (Neustadt) (Philippsthal (Werra)) je Einwohner_in 5.810 1.565 1.041 2.068 Maximum (Eschborn) (Baunatal) (Biebesheim am Rhein) (Hohenroda) 74,9 68,2 67,5 70,5 Minimum Wahlbeteiligung (Frankfurt am Main) (Dillenburg) (Raunheim) (Selters (Taunus)) in Prozent 86,5 85,1 81,1 85,9 Maximum (Wehrheim) (Fischbachtal) (Lorch am Rhein) (Schenklengsfeld) –12,4 –11,5 –3,1 –59,6 Gesamtwanderungs Minimum (Liederbach am Taunus) (Sinn) (Kelsterbach) (Kirchheim) saldo, Personen je 1.000 Einwohner_ 109,4 innen 83,1 171,0 73,4 Maximum (Bickenbach a. d. (Hattersheim am Main) (Michelstadt) (Elbtal) Bergstraße) Quelle: siehe Anhang A.
UNGLEICHES HESSEN 13 2.2 VARIANTE: DREI RAUMTYPEN Cluster 1 ist dabei in etwa äquivalent zur Gesamtheit der Clus- ter 1 und 2 in der ersten Variante. Diese Gemeinden zeichnen Das Ergebnis der Hauptkomponenten- und Clusteranalyse ist sich durch überdurchschnittlich positive Werte bei fast allen stark abhängig von der Auswahl der verwendeten Indikatoren. Indikatoren aus. Lediglich die hohen Mietpreise stechen ne- Neben der oben dargestellten Lösung mit vier Clustern wurde gativ heraus. Bei Arbeitslosigkeit und Kinderarmut liegt der deshalb eine zweite Variante mit leicht veränderter Indikatoren- Cluster im Mittelfeld. auswahl gerechnet. Die Indikatoren Pendelnde mit mindestens 50 Kilometer Arbeitsweg, Erreichbarkeit von Grundschulen und Cluster 2 kann hingegen als Pendant zu Cluster 3 in der Erholungsflächen fehlen in dieser Variante. Neu hinzugekommen Vier-Cluster-Variante gesehen werden. Hier überlappen sich ist hingegen ein Indikator, der den Anteil der Haushalte mit unterschiedliche sozioökonomische Problemlagen wie eine einem Breitbandanschluss mit einer Übertragungsrate von min- hohe Arbeitslosigkeit und Kinderarmut, niedrige Mediange- destens 50 Megabit pro Sekunde (Mbit/s) beschreibt und dem hälter und Wahlbeteiligung. Die Indikatoren Breitbandan- Themenbereich staatliches Handeln und Partizipation zuzuord- schluss und Wanderungssaldo stechen hingegen positiv her- nen ist. Schnelles Internet ist eine der Grundvoraussetzungen vor. Auffällig ist, dass in dieser Variante der Clusteranalyse für Teilhabe an Prozessen der Digitalisierung. Die Förderung des auch Wiesbaden den Gemeinden mit deutlichen sozioökono- Breitbandausbaus auch in eher ländlich geprägten Gebieten, mischen Herausforderungen zugeordnet wurde. Dies bekräf- wo dieser aus privatwirtschaftlichen Erwägungen nicht immer tigt den oben angedeuteten Ausnahmestatus der Stadt in- rentabel ist, ist deshalb ein wichtiger Fokus staatlichen Handelns. nerhalb Hessens. Im Gegensatz zur ersten Variante mit vier Clustern wurden die Cluster 3 weist zu guter Letzt deutliche räumliche Überschnei- einzelnen Gemeinden in der zweiten Variante zu nur drei Clustern dungen mit Cluster 4 aus der ersten Variante auf. Die eher zusammengeführt. Die Indiaktorenmittelwerte der einzelnen ländlich geprägten Gemeinden abseits der Metropolräume Cluster sowie ihr Abschneiden im gesamthessischen Vergleich zeichnen sich durch niedrige Arbeitslosigkeit und Kinderarmut, sind in Tabelle 3 dargestellt. Abbildung 5 zeigt die räumliche niedrige Mieten, aber auch deutliche Defizite bei den hoch Ausprägung der Cluster als Karte. Im Gesamtbild lassen sich recht qualifizierten Beschäftigten, der Erreichbarkeit und Breitband- starke Überschneidungen mit der Vier-Cluster-Variante erkennen. infrastruktur sowie beim Wanderungssaldo aus. Tabelle 3 Beschreibung der Raumtypen der Variante Indikator Cluster 1 Cluster 2 Cluster 3 Arbeitslosigkeit 4,44 6,71 3,69 in Prozent hoch qualifizierte 13,04 11,05 7,37 Beschäftigte in Prozent Kinderarmut 9,19 15,80 6,78 in Prozent aller Kinder Mieten in Euro 8,16 6,55 5,37 pro Quadratmeter Medianentgelt am 3.834,13 3.284,13 3.413,47 Wohnort in Euro Erreichbarkeit Hausärzt_ 3,43 4,77 5,05 innen in Wegeminuten Steuerkraft in Euro je 1.027,37 788,63 728,80 Einwohner_in Wahlbeteiligung 80,38 73,82 78,32 in Prozent Breitbandanschluss 94,30 88,27 70,57 in Prozent Gesamtwanderungssaldo 39,38 54,27 13,27 je 1.000 Einwohner_innen Symbole: (stark positiv: ; positiv: ; Durchschnitt: ; negativ: ; stark negativ: ) Quelle: siehe Anhang A.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Landesbüro Hessen 14 Abbildung 5 5 Abbildung Variante der Disparitätenkarte Hessen mit drei Raumtypen Variante der Disparitätenkarte Hessen mit drei Raumtypen Northeim NIEDER- SACHSEN Höxter Kassel Kassel Eichsfeld Hochsauer- landkreis Werra-Meißner-Kreis Waldeck-Frankenberg NORDRHEIN- NORDRHEIN WESTFALEN -WESTFALEN Schwalm-Eder-Kreis Eisenach Siegen- Wittgenstein Hersfeld-Rotenburg THÜRINGEN Marburg-Biedenkopf Wartburgkreis Lahn-Dill-Kreis Vogelsbergkreis Westerwaldkreis Gießen Fulda Limburg-Weilburg Wetteraukreis Hochtaunus- kreis Rhein-Lahn-Kreis BAYERN Main-Kinzig-Kreis Rheingau-Taunus-Kreis Main- Taunus- Frankfurt BAYERN Kreis a.M. Wiesbaden Aschaffenburg Offenbach Aschaffenburg Mainz-Bingen Groß-Gerau Darm- stadt Darmstadt- Cluster Dieburg 1 Miltenberg RHEINLAND- RHEINLAND 2 PFALZ -PFALZ Odenwaldkreis 3 Bergstraße keine Daten Autobahnnetz Kreisgrenzen 0 10 20 km Ländergrenzen B.-W. BADEN- WÜRTTEMBERG Quelle: eigene Quelle: eigene Darstellung Darstellung. Datengrundlage: Bundesinstitut Datengrundlage: Bundesinstitut für Bau-, für Bau-, Stadt- Stadt- und Raumforschung; und Raumforschung; GeoBasis-DE/BKG GeoBasis-DE/BKG 2020. 2020
UNGLEICHES HESSEN 15
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Landesbüro Hessen 16 3 DIMENSIONEN DER UNGLEICHHEIT 3.1 WIRTSCHAFT, ARBEITSMARKT UND den Daten zum BIP nicht unterhalb der Ebene der Landkreise BESCHÄFTIGUNG und kreisfreien Städte veröffentlicht. Um eine vergleichbare Basis für die unterschiedlich großen Kreise zu schaffen, wird Einkommen aus Erwerbstätigkeit zu erzielen ist eine zentrale, das BIP hier in 1.000 Euro je erwerbstätiger Person dargestellt. entscheidende Bedingung für soziale Teilhabe, die Realisierung Es ist somit ein gut vergleichbares Maß für die Produktivität eigener Lebensentwürfe und die Vermeidung von Altersarmut. einer regionalen Ökonomie, auch wenn das BIP nicht immer Dabei spielt neben der grundsätzlichen Verfügbarkeit von am tatsächlichen Sitz der Produktion eines Unternehmens ver- Arbeitsplätzen insbesondere die Produktivität und Zukunfts- bucht wird. Dies trifft zum Beispiel auf Unternehmen mit fähigkeit der regionalen Wirtschaft eine entscheidende Rolle. Haupt- und Nebensitzen zu. Dennoch gibt das regional diffe- Die diesbezüglichen Angebote der regionalen Arbeitsmärkte renzierte BIP je erwerbstätiger Person eine recht zuverlässige weisen allerdings deutliche Disparitäten auf. Auskunft über die räumliche Verteilung der Wirtschaftskraft und die regionalen Produktivitätsunterschiede. Während die Arbeitslosigkeit in ländlich geprägten Regionen tendenziell sogar niedriger liegt als in den Verdichtungsräumen, äußert sich in der Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen und spe- Abbildung 6 Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen/Erwerbstätiger 2017 ziell in der Produktivität, der Wissensintensität und der Reprä- in 1.000 Euro sentanz von Zukunftsbranchen mit hoher Wissensintensität und Innovationskraft die deutliche Spitzenreiterstellung des Rhein- NIEDER- Main-Gebiets. Andere Regionen fallen dagegen in der Versor- SACHSEN gung mit gut bezahlten und zukunftssicheren Arbeitsstellen Kassel zurück. Hinsichtlich des zu erwartenden anhaltenden Struktur- Kassel wandels muss deshalb davon ausgegangen werden, dass sich Werra-Meißner-Kreis die gezeigten wirtschaftlichen Disparitäten auch zukünftig NORDRHEIN- Waldeck-Frankenberg NORDRHEIN WESTFALEN weiter verschärfen, auch wenn es punktuelle Aufholprozesse -WESTFALEN in bestimmten Regionen gibt. Eine wichtige Aufgabe der Struk- Schwalm-Eder-Kreis Hersfeld-Rotenburg turpolitik wird darin bestehen, die peripheren und vom Struk- Marburg-Biedenkopf turwandel betroffenen Regionen Nord- und Mittelhessens zu THÜRINGEN Lahn-Dill-Kreis stärken. Dies kann zum einen durch die bessere infrastruktu- Vogelsbergkreis relle Anbindung an die wirtschaftlichen Zentren und zum an- Gießen Fulda deren durch die gezielte Förderung endogener Potenziale in Limburg-Weilburg Zukunftsbranchen erfolgen. Aber auch in den dynamischen Wetteraukreis Hochtaunus- BAYERN Zentren des Rhein-Main-Gebiets gibt es Handlungsbedarf. kreis Main-Kinzig-Kreis Überdurchschnittliche Arbeitslosenquoten zeugen davon, dass Rheingau-Taunus-Kreis Main- Taunus- Frankfurt nicht alle Bewohner_innen gleichsam vom Wirtschaftswachs- Wiesbaden Kreis a.M. tum profitieren. Der zunehmenden Polarisierung der Arbeits- Offenbach märkte zwischen hoch bezahlten Beschäftigten der Wissens- Groß-Gerau Darm- Darmstadt- stadt Dieburg RHEINLAND RHEINLAND- in 1.000 Euro industrie und einem hohen Anteil von Menschen in wirtschaft- -PFALZ PFALZ bis unter 65 lich prekären Verhältnissen gilt es entgegenzuwirken. Odenwaldkreis Bergstraße 65 bis unter 75 75 bis unter 85 BRUTTOINLANDSPRODUKT 0 10 20 km B.-W. BADEN- WÜRTTEMBERG 85 bis unter 95 95 und mehr Aussagekraft des Indikators Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst die wirtschaftliche Quelle: eigene Darstellung. Leistung einer Region. Es drückt den Wert aller dort herge- Datengrundlage: INK AR: Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder, Eurostat Regio Datenbank, GeoBasis-DE/BKG 2020. stellten Waren und Dienstleistungen aus. In Deutschland wer-
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