Pseudojournalismus Berichterstattungsmuster im Wandel

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Communicatio Socialis 36 (2003), Nr. 3: 223–243
                                                                             Quelle: www.communicatio-socialis.de
ATZ

      Ralf Hohlfeld    Vom Informations- zum
                       Pseudojournalismus
                       Berichterstattungsmuster im Wandel

Journalismus ist stets ein Kind seiner Zeit. Die Art und Weise der Be-
richterstattung folgt den gesellschaftlichen Randbedingungen, die den
Journalismus in jeder Epoche umschließen. Technik, Wirtschaft und Ge-
sellschaftspolitik sind die maßgeblichen Einflussfaktoren, die journali-
stische Berichterstattungsmuster im 20. und 21. Jahrhundert formen
und Journalismus als institutionelle Ordnung jeweils begründen. Sieg-
fried Weisehenberg zufolge handelt es sich bei diesen Mustern um "die
Gesamtstrategien des Wirklichkeitsbezugs und der Thematisierung im
Journalismus".l Diese Gesamtstrategien beziehen sich nicht allein auf
die Quellen der Berichterstattung, die Recherchemethoden und die Prä-
sentationsmodi, sondern erstrecken sich auch auf die Inszenierung des
Wirklichkeitsbezugs in Medienaussagen.
   Journalistische Berichterstattungsmuster sind demzufolge historisch
variant2, sie ändern sich mit den gesellschaftlichen Randbedingungen.
Als Paradigmen von Selektion und Thematisierung geben sie Auskunft
auch über die ökonomischen Produktionsverhältnisse im System der
Massenmedien - vor allem aber beschreiben sie die wesentlichen Bezüge
im Journalismus und deren Bedeutung. So geben sie gewissermaßen
auch die Folie ab, auf der sich Qualitäten in der Medienberichterstattung
entwickeln. Diese Qualitäten werden, so die These des Beitrags, massiv
durch die dominanten Inszenierungsstrategien im Mediensystem beein-
flusst.

Informationsjournalismus

Da Journalismus in seiner Funktion der Herstellung und Bereitstellung
von aktuellen Themen zur öffentlichen Kommunikation3 den Kriterien
der Warenproduktion in modernen industrialisierten Gesellschaften un-
terliegt, muss er organisatorisch und technisch so gestaltet sein, dass er
den Effizienzkriterien der Wirtschaft entspricht.4 Als angemessenes,

1 Siegfried Weischenberg: Journalistik. Theorie und Praxis aktueller Medienkommuni-
  kation. Band 2: Medientechnik, Medienfunktionen, Medienakteure. Opladen 1995, S.
  111.
2 Vgl. ebd., S. 112. ~
3 Vgl. Manfred Rühl: Journalismus und Gesellschaft. Bestandsaufnahme und Theorie-
  entwurf. Mainz 1980, S. 322ff.
4 Vgl. Weischenberg: Journalistik 2, a.a.O., S. 112.

                        https://doi.org/10.5771/0010-3497-2003-3-223, am 11.01.2022, 05:14:04
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       weil wirtschaftlich vernünftiges und zum Wertesystem konformes Wirk-
       lichkeitsmodell hat sich schon früh der Infonnationsjpumalismus ausge-
       bildet Dieses Organisationsmuster ist eng verknüpft mit der Objektivi-
       tätsnorm "Objective Reporting", für deren Entstehung ein ganzes Ursa-
       chenbündel auszumachen ist: Das Aufkommen der Massenpresse und die
       Einführung des Telegraphen führten ebenso zu mehr Neutralität, Sach-
       lichkeit und Faktengenauigkeit wie der Wandel des allgemeinen Politik-
       verständnisses. Die aufblühenden Massenblätter (hier vor allem die so
       genannte Penny Press) begünstigten objektive Berichterstattung inso-
       fern, als Nachrichten eine vergleichsweise marktfönnige Ausrichtung be-
       sitzen. Vor allem in angelsächsischen Ländern begannen um 1880
       Blätter wie Joseph Pulltzers "New York World" ihr Erscheinungsbild
       allmählich zu ändern: Präsentationsformen und Nachrichtenstil passten
       sich den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ans, die
       durch Industrialisierung und Urbanisierung vorgegeben wurden.6 Fakten
       waren eine handhab bare, konvertible Ware, die ideal in den Wirtschafts-
       kreislauf passten. Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg wurde das
       "Objective Reporting" von der Nachrichtenagentur "Associated Press"
       gleichsam offiziell eingeführt.
          Daneben schlug auch das Eigeninteresse der Profession auf die objek-
       tive Berichterstattung durch.7 Zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
       versuchten nordamerikanische Journalisten ihren gesellschaftlichen Sta-
       tus aufzuwerten. Sie begannen, sich durch die Suche nach beruflichen
       Nonnen zu legitimieren. Das Unpersönlich-Technische und Sachliche,
       das Wertneutrale schien geeignet zu sein, um sich wie andere etablierte
       Professionen gegen Kritik und Zensur abzusichern. In diesem Be grün-
       dungs-und Legitimationszusammenhang konnte das Postulat der Tren-
       nung von Nachricht und Meinung gedeihen; es lautet: "Facts are sacred,
       comment is free". Mit der objektiven Berichterstattung einher geht die
       Entstehung der professionellen Berufsrolle "Vennittler" _8

       s Vgl. Marion T. Marzof: American ,New Journalism' Takes Root in Europe at the End
         of 19th Century. In: Joumalism Quarterly, 61. Jg 1984, H. 3, S. 529-536.
       6 Vgl. Phillip J. Ault/Edwin Emery: Reporting the News. New York 1963, S. 11.
       7 Vgl. Michael Schudson: The objectivity norm in American journalism. In: J ournalism,
         2.Jg. 2001, H. 2, S. 149-170.
       8 Die jüngsten Kommunikatorbefragungen in Deutschland aus den Neunzigerjahren
         ermittelten beim Rollenselbstbild ein journalistisches Selbstverständnis als neutraler
         Vermittler. Die "Journalismus-in-Deutschland-Studie" von Weisehenberg und Mitar-
         beitern beispielsweise ergab höchste Zustimmungswerte das für Aufgabenverständ-
         nis als Vermittler neutraler und präziser Information, für die schnelle und wahr-
         heitsgemäße Faktenwiedergabe und für die Abbildung von Realität - alles Kommu-
         nikationsabsichten, die auf objektive Berichterstattung schließen lassen. Vgl. Wei-
         schenberg: Journalistik 2, a.a.O., S. 150.

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VOM INFORMATIONS- ZUM PSEUDOJOURNALISMUS

   Der Informationsjournalismus ist heute als zentrales Grundmuster in
allen westlichen Demokratien vorherrschend. 9 In den einschlägigen
Lehrbüchern findet sich immer wieder der Hinweis, in Deutschland sei
diese institutionelle Ordnung des Journalismus erst mit gehöriger
Verzögerung nach Ende des Zweiten Weltkriegs von den Alliierten imple-
mentiert worden, unter anderem in den "Zehn Geboten", die im Entwurf
zu einer Erklärung der Rundfunkfreiheit in Deutschland vom Mai 1946
niedergelegt wurden.lO Philomen Schönhagen hat in ihrer Dissertation
jedoch nachgewiesen, dass zumindest das Unparteilichkeitsprinzip in
Deutschland schon wesentlich älter ist und bis in die Anfänge des pe-
riodischen Zeitungswesen zurückreicht.ll Grundsätze wie das "audiatur
et altera pars", "relata refero" (sinngemäßes Weitergeben von Mitteilun-
gen) und die "unvergreifliche Darstellung" (Trennung von Nachricht und
Kommentar) haben sich nicht erst unter den Bedingungen der Demokra-
tie, sondern schon im Absolutismus entwickelt - rein pragmatisch, aus
ökonomischen Erwägungen. Vor allem für lokale und regionale Zeitungen
mit begrenzten Verbreitungsgebieten war es damals nötig, auf opportuni-
stisches Parteigängerturn zu verzichten. Richtig ist aber auch, dass die
Partei- und Weltanschauungspresse im 19. Jahrhundert die weitere
Durchsetzung dieses Prinzips zunächst verhindert hat.
    Das berufliche Selbstverständnis des aktuellen Informationsjournalis-
mus wird jedoch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht durch-
weg unkritisch gesehen. Im Journalisten ein relativ passives Glied in der
Kommunikationskette zu betrachten, stößt zum Teil auf Einwände. Be-

9    Lutz Erbring zufolge wird jedoch gegen die Trennungsnorm in Deutschland
     mittlerweile häufig verstoßen. Aktualität als herausragender Nachrichtenfaktor
     bedeute heute auch, Tageszeitungen werden als Nachrichtenträger von den
     elektronischen Medien abgelöst und verlegen sich verstärkt auf interpretierende
     Aufarbeitung. Da für magazinierte Hörfunk- und Fernsehbeiträge die Trennungs-
     norm in ihrer klassischen Form aus dramaturgischen Gründen nicht gleichermaßen
     praktikabel sei, werde insgesamt die Trennungsnorm unwichtiger. Vgl. Lutz Erbring:
     Nachrichten zwischen Professionalität und Manipulation. Journalistische Berufsnor-
     men und politische Kultur. In: Max Kaase/Winfried Schulz (Hg.): Massenkommuni-
     kation. Theorien, Methoden, Befunde. Sonderheft 30 der Kölner Zeitschrift für
     Soziologie und Sozialpsychologie. Opladen 1989, S. 301-313, hier S. 312.
10   Dort heißt es unter Punkt 6: Es verpflichtet sich die Leitung eines jeden Senders
     und auch jeder Rundfunkanstalt, die ganze Berichterstattung auf ein hohes Niveau
     walrrheitsgetreuer Objektivität an Inhalt, Stil und Wiedergabe einzustellen und bei
     jeder Nachrichtensendungen offenbare oder versteckte Kommentierung zu unterlas-
     sen (zitiert nach H.:ms Bausch: Rundfunkpolitik nach 1945. Erster Teil: 1945-1962.
     München 1980, S. 73f.).
11   Vgl. Philomen Schönhagen: Unparteilichkeit im Journalismus. Tradition einer
     Qualitätsnorm. Tübingen 1998.
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       sonders in der Berichterstattung über den Vietnamkrieg wird deutlich,
       dass vermeintlich objektive Berichterstattung, die ,schlicht die Toten
       zählt, ihre Grenzen hat. Mit ausschließlicher Faktenorientierung lassen
        sich keine Hintergründe und Zusammenhänge darstellen, keine Struktu-
        ren und Ursachen sichtbar machen. Ereignisse müssen, gerade wenn sie
        komplex sind, auch interpretiert und eingeordnet werden. Und es reicht
        offenbar in den Sechzigetjahren auch nicht mehr allen Journalisten, beim
        Nachrichtenaufbau einem sicheren und bequemen Schema zu folgen, das
       die Welt auf Fakten und Meinungen reduziert, die man möglichst ausge-
       wogen zitieren kann, ohne sich selbst mit Wahrheitsbeweisen aus dem
       Fenster lehnen zu müssen.l2 Die Folge einer Berichterstattung, die nur
       an der faktischen Oberfläche der Ereignisse bleibt, sei - so die Kritik -
       ein stark vergröberndes WirklichkeitsmodelL Und überdies: Das formale
       Prinzip des Aussageentstehungsprozesses und die Konzentration auf das
       "Wer" und "Was" samt notwendiger Zuspitzung auf Personen und Dra-
       matisierung von Vorgängen machen es dem "bürokratischen Apparat"
       leicht, Ereignisse im Sinne dieses Nachrichtenschemas nicht nur zu for-
       men, sondern in der Konzentration auf das formale Prinzip sogar unsicht-
       bar zu machen. Unter Hinweis auf konkurrierende Informationssysteme
       wie PublicRelations weist Ulrich Saxerauf die Problematik von Schema-
       tisierungen hin: "Der Journalismus büßt im kommunikativen Leistungs-
       wettbewerb an andere Akteure Terrain ein, weil er sich in seinen eigenen
       Informationsroutinen wie dem selbstverschuldeten Aktualitätsdiktat ver-
       fängt und diese durch andere Informationsanbieter unterlaufen läßt."13
          Eine schrittweise Abkehr vom alleinigen Paradigma Informationsjour-
       nalismus in den Sechzigetjahren des 20. Jahrhunderts hat also mit
       Schwächen und Unzulänglichkeiten dieses Wirklichkeitsmodells zu tun
       - vor allem damit, dass der implizite Objektivitätsanspruch eine "Para-
       Ideologie" sei, wie der Soziologe Herbert J. Gans diesen Ansatz kriti-
       siert.l4 Dagobert Lindlau bezeichnet die seiner Auffassung nach "falsche
       Objektivität" als kapitalistischen Realismus: "Wichtigstes Kennzeichen:
       Die routinemäßige Entfernung von einer berichtenswerten Realität durch
       Selektion, Glättung und Anpassung an die erlaubten Stereotypen." 15

       12   Vgl. Weischenberg: Journalistik 2, a.a.O., S. 118.
       13   Ulrich Saxer: Medienkonkurrenz und Joumalismustypen. Thesen aus der Sicht eines
            Kommunikationswissenschaftlers. In: Walter Hömberg/Jan Tonnemacher (Hg.):
            Journalisten in der Medienkonkurrenz. Eichstätt 1994, S. 16-27, hier S. 18.
       14   Herbert J. Gans: Decidingwhat's News. A Study of CBS Evening News, NBC Nightly
            News, Neewswek and Time. New York 1980, S. 182ff.
       15   Dagobert Lindlau: Die Exekution der Wirklichkeit - Oder: Wider die falsche Objek-
            tivität. In: Wolfgang R. Langenbucher (Hg.): Journalismus & Journalismus. München
            1980, S. 41-46, hier S. 42.

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VOM INFORMATIONS- ZUM PSEUDOJOURNALISMUS

Schon lange vor der Karriere des radikalen Konstruktivismus war offen-
bar, dass Objektivität ein "strategisches Ritual zur Sicherung der Ar-
beitsfähigkeit des Journalismus" und damit zur Immunisierung gegen
Kritik ist, wie es Gaye Tuchman formuliert.l6 Alle Gegenentwürfe setzten
zuerst an der vermeintlichen Objektivität an, die sich letztlich als Ober-
flächlichkeit darstellte und deren Kritik weniger auf das Wahrheitspro-
blem als auf das Relevanzproblem abzielte.l7

Präzisionsjournalismus

Der amerikanische Journalismusforscher Philip Meyer bezeichnet den
Informationsjournalismus als altmodische Berichterstattung, die keinen
Anker brauche; sie schaukele auf der Oberfläche der Nachrichten, wie ein
Tischtennisball, der den Fluß runtertreibt.l8 Meyer setzt ein mit sozial-
wissenschaftlichen Methoden arbeitendes journalistisches Verfahren da-
gegen. Eine Kombination der Recherche- und Befragungsmethoden, die
im Ergebnis sowohl große Ähnlichkeiten zum Erkenntniszugang der em-
pirischen Sozialforschung als auch zur klassischen journalistischen Re-
portage aufweist. Für diese Liason zwischen den "ungleichen Brüdern"
Journalismus und Sozialforschung, wie Hannes Haas sie nenntl9, steht
der Name Robert Ezra Park, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die
wissenschaftlich fundierte Sozialreportage mit begründete. 20
   Journalismus als empirisches Arbeiten an aktuellen Problemen sozia-
ler Wirklichkeit, das auf gerrauen Recherchen vor Ort und einer akkura-
ten, detaillierten Berichterstattung beruht - dieser Gedanke wurde von
Meyer aufgegriffen und in seinem einflussreichen Lehrbuch zum "Preci-
sion Journalism" weitergedacht. Gefordert wird dort in denneueren Auf-

16   Gaye Tuchman: Objectivity as Strategie Ritual. An Examination of Newsmen- s
     Notions of Objektivity. In: American Journal of Sociology, 77. Jg. 1971, H. 4, S.
     660-679.
17   Vgl. Christoph Neuberger: Journalismus als Problembearbeitung. Objektivität und
     Relevanz in der öffentliche Kommunikation. Konstanz 1996, S. 135.
18   Philip Meyer: Precision Journalism. A Reporter's Introduction to Social Science
     Methods. Bloomington 1973, S. 6.
19   Hannes Haas: Journalismus und Sozialforschung. Zwillinge oder ungleiche Brüder?
     In: Wolfgang R. Langenbucher (Hg.): Paul F. Lazarsfeld. Die Wiener Tradition der
     empirischen Sozial· und Kommunikationsforschung. München 1990, S. 213-222,
     hier S. 213.
20   In der Tradition rler gemeindesoziologischen Forschung, den Social Surveys des
     ausgehenden 19. Jallrhunderts, arbeitete Park als früher ?Muckraker", der sich mit
     Akribie und Beharrlichkeit durch Schmutz und Filz der amerikanischen Politik
     wühlte.

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       lagen insbesondere der Einsatz von Umfrage- und Computertechnik und
       die Datenbankrecherche. 21 Journalistische Interpretation soll auflnstru-
       mente und Validitätskriterien empirischer Sozialforschung rekurrieren.
       Dadurch verkürze sich der Weg von den Fakten zur Interpretation.22
       "Angelpunkt ist dabei die Recherche, die den methodologischen Bedin-
       gungen der empirischen Sozialforschung folgt. "23
          Dieses Verfahren hat sich freilich eher in den Vereinigten Staaten
       durchgesetzt; in Deutschland finden sich heute einige Spuren davon in
       der Dokumentationsabteilung "Recherche und Verifikation" des Nach-
       richtenmagazins "Der Spiegel" mit einem Stab von annähernd 80 Fact-
       Checkers und einem Jahresetat von rund 10 Millionen Euro. 24 Das Maga-
       zin "Focus" hat zur Fundierung eigener sozialempirischer Erhebungen
       kürzlich sogar eine Research-Redaktion eingerichtet. Im Grunde aber
       hat sich der von Elisabeth Noelle-Neumann so genannte Daten-Präzi-
       sionsjournalismus25 selbst in Phasen der Hochkonjunktur demoskopi-
       scher Berichterstattung nicht flächendeckend etablieren können. 26

       lnvestigativer Journalismus

       Der Investigative Journalismus kommt zwar ohne expliziten Verweis auf
       die Sozialforschung aus, ist aber hinsichtlich der Recherche einem ähn-
       lichen Tiefenmusterverpflichtet Der Journalist ist Spürhund und Detek-
       tiv; er verfolgt Korruption, Filz und andere Missstände im politisch-
       administrativen System. Dazu spannt der Journalist ein engmaschiges
       Netz an Informanten - insbesondere im Bereich der Ministerialbürokra-
       tie. Informantenschutz und Zeugnisverweigerungsrecht spielen in diesem
       Muster eine zentrale Rolle. Gleichwohl kommt es vor allem auf den ein-

       21   Vgl. Weisehenberg: Journalistik 2, a.a.O., S. 115.
       22   Vgl. ebd.
       23   Haas: Journalismus und Sozialforschung, a.a.O., S. 214.
       24   Vgl. Kai·Hinrich Renner: Rauke Janssen, Spiegel Dokumentar. In: Süddeutsche
            Zeitung, Nr. 170 vom 26./27. Juli 2003, S. 32.
       25   Elisabeth Noelle-Neumann: Der demoskopische Korrespondent. Ein neuer Nachrich·
            tenstoff, eine neue Art Journalismus. In: Erhard Schreiher/Wolfgang R. Langen-
            bucher/Walter Hömberg (Hg.): Kommunikation im Wandel der Gesellschaft. Otto B.
            Roegele zum 60. Geburtstag. Düsseldorf 1980, S. 165-175.
       26   Vgl. Frank Brettschneider: Walllumfragen und Massenmedien. In: Politische Vier·
            teljallresschrift, 37. Jg. 1996, H. 3, S. 475-493; Frank Donovitz: Journalismus und
            Demoskopie. Wahlumfragen in den Medien. Berlin 1998; Sibylle Hardmeier: Mei-
            nungsumfragen im Journalismus: Nachrichtenwert, Präzision und Publikum. In:
            Medien & Kommunikationswissenschaft, 48. Jg. 2000, H. 3, S. 371-396.

                 https://doi.org/10.5771/0010-3497-2003-3-223, am 11.01.2022, 05:14:04
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VOM INFORMATIONS- ZUM PSEUDOJOURNAL/SMUS

zelnen Journalisten an, auf dessen Verantwortungsbewusstsein und
Kompetenz.27 Die Gefahr, dass die Jagd nach dem "Scoop" zum Selbst-
zweck wird, ist in diesem Gewerbe groß. Investigativ arbeitende J ournali-
sten sind nicht immer nur korrupten Politikern und kriminellen Unter-
nehmern auf der Spur, sie jagen auch oft zwanghaft nach Journalisten-
preisen. Dies hat in den USA dazu geführt hat, dass infolge nachlassen-
der Rechercheakribie und fehlender Quellenprüfung diverse Pulitzer-
Preisträger später als Scharlatane entlarvt wurden.
   Auch wenn erst mit der Watergate-Affäre dieses Berichterstattungs-
muster öffentlich sichtbar und schließlich durch Selbststilisierung der
Medien rasch zur Legende wurde, darf nicht unterschlagen werden, dass
die ersten "Muckraker", wie sie von Theodor Roosevelt abschätzig ge-
nannt wurden, schon viel früher ihr Werk begannen, etwa mit ersten
Enthüllungskampagnen wie der Tweed-Affäre um 1870.
   Das Rollenselbstbild für den investigativen Journalismus ist der
Wachhund; eine Rolle, die über Kritik und Kontrolle hinausgeht. Auch
wenn die Investigation in Deutschland nicht die Tradition hat wie im
angelsächsischen Raum, so verdankt sich die Aufklärung von Skandalen
wie Neue Heimat, Amigo und Parteispenden diesem Muster, das von
Nachrichtenmagazinen wie dem "Spiegel", politischen Magazinen im
öffentlich-rechtlichen Fernsehen und zuletzt auch zunehmend in der
überregionalen Tagespresse praktiziert wird. Über alle Medientypen und
-Organisationen ist dieses Berichterstattungsmuster hierzulande nicht
verbreitet, weil Aufbau und Pflege von Informantennetzwerken hohe Per-
sonalkosten binden. Die meisten Print- und elektronischen Medien kön-
nen es sich - eingedenk ungewisser und unkalkulierbarer Recherche-
erträge - schlicht nicht leisten, Reporterteams und Rechercheure vom
Redaktionsalltag freizustellen.
   Da die klassische Investigation untrennbar mit dem Aufdecken von
Skandalen verbunden ist, in Deutschland der Skandal jedoch stärker im
Bereich privater Enthüllung als im administrativen System der Politik

27   Die Verletzung des Informantenschutzes wird als schwerwiegender Bruch eines
     ehernen journalistischen Gesetzes bewertet. Dass die Preisgabe eines Informanten
     einen ganzen Berufsstand desavouieren kann, zeigt das Beispiel der angesehenen
     Rundfunkanstalt BBC. Diese hatte im Juli 2003 den Wissenschaftler David Kelly als
     Quelle öffentlich gemacht, die das britische Geheimdienstmaterial über Massenver-
     nichtungswarfen im Irak als geschönt entlarvte. Kellys Selbstmord wenige Tage nach
     Bekanntwerden seines Namens löste nicht nur eine Debatte über die Bedrohung
     existenzieller Gruncilagen des J oumalismus, sondern auch eine Regierungskrise in
     Großbritannien aus. Vgl. Hans Leyendecker: Quellenangabe. Die BBC hat ein
     ehernes journalistisches Gesetz verletzt - den Schutz der Informanten. In:
     Süddeutsche Zeitung, Nr. 166 vom 22. Juli 2003, S. 15.

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       verwurzelt ist, wird ein positives investigatives Selbstverständnis
       zusätzlich behindert. "In Deutschland gilt es unter Journalisten [... ]nicht
       als erstrebenswert, ein zweiter Günter Wallraff zu werden."28 Als weitere
       Gründe für das Nischendasein journalistischer Investigation in Deutsch-
       land werden gewisse Barrieren durch eine hoheitsstaatliche Tradition,
       ein im Vergleich zu USA passiveres Kommunikationsverhalten der Jour-
       nalisten und ein restriktiver geregelter Zugang zu Regierungsunterlagen
       genannt.29 Eng verwandt mit dem investigativen Muster ist der Enthül-
       lungsjournalismus, der sich dadurch unterscheidet, dass die Informatio-
       nen nicht auf redaktionelle Initiative hin recherchiert werden, sondern
       aus dem Apparat selbst kommen, und zwar von Insidern30 - bekannt
       geworden im Fall von "Deep Throat". Liefern Insider und Informanten die
       Informationen über öffentlichkeitsrelevante Vorfälle gegen Bezahlung,
       spricht man von Scheckbuch-Journalismus.

       Neuer Journalismus

       Auch der Neue Journalismus hat sich in denSechziger-und Siebzigerjah-
       ren des 20. Jahrhunderts als Alternative zur objektiven Berichterstat-
       tung herausgebildet. Es handelt sich dabei um eine sehr persönliche
       Form journalistischer Darstellung: Lebensgefühl statt Fakten, innovative
       Erzähltechnik statt Nachrichtenwert machen das Wesen dieses Alterna-
       tiv- bzw. Untergrundjournalismus aus. Anders als beim investigativen
       und beim Präzisionsjournalismus geht es bei diesem Berichterstattungs-
       muster nicht um eine Veränderung oder Intensivierung der Recherche,
       sondern der Darstellung. Unter Rückgriff auf literarische Stilmittel be-
       kannte sich der Neue Journalismus zur subjektiven Berichterstattung.
       Journalisten wie Tom Wolfe, Jimmy Breslin, Gay Talese, aber auch Lite-
       raten wie Truman Capote und Norman Mailer bewegten sich dabei in
       einer Grauzone zwischen Journalismussystem und Literatursystem3 1,
       zwischen Fakten und Fiktionen. Gedeutet wird diese Bewegung junger

       28   Miriam Meckel/Henning Drath: I-Tüpfelchen Recherche. In: Message, Jg. 2001, H.
            1, S. 34-38, hier S. 36.
       29   Vgl. Weischenberg: Journalistik 2, a.a.O., S. 119.
       30   Deutschlands Vorzeige-Rechercheur Hans Leyendecker hält die Aufklärungsleistung
            deutscher Medien in der CDU-Spendenaffäre nicht für einen Ausweis von investi-
            gativem Journalismus, sondern für ein Paradebeispiel von Enthüllungsjournalis-
            mus: "Die Kohl-Affäre wäre ohne die Untersuchung durch die CDU nicht in vollem
            Umfang ans Licht gekommen" (zitiert nach Meckel/Drath: I-Tüpfelchen Recherche,
            a.a.O. S. 34).
       31   Vgl. Weischenberg: Journalistik 2, a.a.O., S. 116.

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Intellektueller als Reflex auf die gesellschaftspolitische Situation der
Nachkriegszeit. Neuer Journalismus entstand parallel zu den sozialen
Reform- und Protestbewegungen und nahm seinen Ursprung in der so-
zialen Unordnung der beginnenden Beat- und Hippie-Ära.32
   Als Gegenkonzept zum distanzierten Informationsjournalismus und
dessen rationalem Zugang zur Wirklichkeit setzte die neue J oumalisten-
generation auf persönliches "Einschleichen" in die Geschichte und emo-
tionales Eingehen auf die Protagonisten. Man schilderte aus deren In-
nenperspektive (Insiderreportage), verwendete eine authentische, zum
Teil experimentelle Sprache. Das Ergebnis dieses literarischen Story-
teillugs war- laut Programmatik der Neuen Journalisten- der Triumph
der Wahrheit über die Fakten. Man sprach deshalb auch von "New Non-
fiction" oder "New Art J ournalism". Über den innovativen Charakter und
das Neue am New Journalism ist viel gestritten worden, da die meisten
Elemente dieses Musters schon in früheren Journalismusformen geprägt
worden sind oder aber als Synonyme für anspruchsvollen Qualitäts-
journalismus gelten.33 Abseits des individuellen Profils des jeweiligen
Autors dürfte als Essenz dieser Journalismuskultur, die vornehmlich von
den Ostküstenmagazinen "Esquire" und "New York" ausging, ein aus
vielen Stilmitteln und Ideologien zusammengesetztes innovatives Ge-
misch übrigbleiben. Dieses verdichtete neben der erzählerischen Subjek-
tivität auch andere Elemente wie Aktivismus, Leidenschaft, anwalt-
schaftliches Vorgehen und Partizipation zu einer etwas unübersicht-
liehen Melange.34
   In Deutschland landete eine stark abgeschwächte Form dieser Strö-
mung in den 1980er Jahren in den Zeitgeist-Magazinen "Wiener" und
"Tempo" an, ungefähr zu der Zeit, als Wolfes Roman "Fegefeuer der
Eitelkeiten" auch hierzulande zum Bestseller wurde. Allerdings war im
deutschsprachigen Raum der Bruch mit einer langen Tradition nicht so
nötig wie in den USA: Die Trennung von Nachricht und Meinung wurde
als strenge Berufsnorm wie erwähnt erst durch die Amerikaner und Bri-
ten nach dem zweiten Weltkrieg hierher verpflanzt. Der traditionelle

32   Vgl. Hannes Haas/Gian-Luca Wallisch: Literarischer Journalismus oder journalisti-
     sche Literatur? Ein Beitrag zu Konzept, Vertretern und Philosophie des ?New
     Journalism". In: Publizistik, 36. Jg. 1991, H. 3, S. 298-314.
33   So verweisen etwa Haas und Wallisch auf zahlreiche Vorformen, die sich im
     angloamerikanischen Raum und in Frankreich im 19. Jahrhundert bei Autoren wie
     Mark Twain, Charles Dickens, Emil Zola, später auch bei Ernest Hemingway finden.
     (ebd., Seite 300). ~
34   Vgl. Ralf Hohlfeld/Klaus Meier/Christopli Neuberger: Innovativer Journalismus _
     Neuer Journalismus. Zur Einführung. In: dies. (Hg.): Innovationen im Journalismus.
     Forschung für die Praxis. Münster 2002, S. 11-22, hier S. 14.

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HOHLFELD

       Journalismus im deutschsprachigen Raum enthielt vor und in der Zeit der
       Weimarer Republik bereits subjektive Darstellungsforp1en, wie sie in den
       USA erst mühsam eingeführt werden mussten: Ein Egon Erwin Kisch,
       Karl Kraus oder J oseph Roth hatten bereits lange vorher ähnliches prak-
       tiziert, was Tom Wolfe in den Sechzigerjahren "erfand". 35
          Noch heute sehen sich viele subjektiv arbeitende Autoren wie der
       kürzlich verstorbene "SZ"-Reporter Herbert Riehl-Heyse mit seiner
       typischen ironisierenden Herangehensweise eher als Nachfolger deut-
       scher Journalisten denn als Übernehmer amerikanischer Innovatio-
       nen. 36 Zweifelhaft ist dagegen, ob auch der so genannte "Borderline-
       Journalismus", den vor allem der Autor Tom Kummer in den neunziger-
       jahren praktizierte, mit seiner grenzwertigen subjektiven Faktenprä-
       sentation und der Erschaffung von künstlichen Welten in diese Tradition
       gehört, die als weichstes journalistisches Berichterstattungsmuster gilt,
       eben weil es sich vielfach schon um Literatur, also um Fiktion handelt.
       Dessen ungeachtet gab es in Deutschland praktisch zu jeder Zeit einen
       Autoren-Journalismus, der den Informationsjournalismus komplemen-
       tiert.
          Obwohl sich die alternativen Journalismuskonzepte allesamt als
       Rückkehr zur Frage einer besseren Erkenntnis betrachten lassen37, be-
       deutet die hier skizzierte interne Differenzierung des Journalismus in
       zusätzliche Recherche, Darstellungs- und Inszenierungsmuster keine
       grundsätzliche Abwendung vom Informationsjournalismus; sie kann eher
       als Ausbildung komplementärer Berichterstattungsstrukturen interpre-
       tiert werden. 38 Als interne Differenzierung des Journalismus werden die
       dargestellten Muster nur bei bestimmten Ereignistypen und in spezifi-
       schen Themen- und Medienkontexten aktualisiert; sie bleiben immer ei-
       ne medien- und zeitspezifische Ergänzung zum Informationsjournalis-
       mus: Zeitgeisterscheinungen, deren Elemente vom zentralen Berichter-
       stattungsmuster aufgenommen und modifiziert werden. Von eindimen-
       sionalen Berufsauffassungen, die einem einzigen Rollenmuster folgen
       und zusätzliche Rollenverständnisse kategorisch ablehnen, ist nicht aus-
       zugehen. Realistischer ist die Annahme, dass sich dominierende Phasen
       eines Berufsbildes abwechseln39, was durch die differenzierten empiri-

       35   Vgl. u.a. die Textsammlung von Wolfgang R. Langenbucher (Hg.): Sensationen des
            Alltags. Meistetwerke des modernen Journalismus. München 1992.
       36   Vgl. Herbert Riehl-Heyse: Objektivität durch Subjektivität. Ein Gespräch mit Petra
            E. Dorsch. In: Wolfgang R. Langenbucher (Hg.): Journalismus & Journalismus.
            Plädoyers für Recherche und Zivilcourage. München 1980, Seite 97-104
       37   Vgl. Neuberger: Journalismus als Problembearbeitung, a.a.O., S. 135.
       38   Vgl. Saxer: Medienkonkurrenz, a.a.O., S. 18.
       39   Vgl. Hannes Haas: Empirischer Journalismus. Über Wechselbeziehungen journalisti-

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sehen Erkenntnisse einschlägiger Journalismus-Enqueten zu den Be-
rufsrollen gestützt wird.40 "Gesellschaftliche Wirklichkeit ist zu kom-
plex, um auf arbeitsteilige Differenzierung bei der Erkenntnis und Dar-
stellung verzichten zu können. Konkurrierende Erkenntnissysteme sind
eine wesentliche Voraussetzung, sie werden aber nicht durch Substituti-
on, sondern durch qualitätsfördernde komplementäre Beziehungen pro-
duktiv."41
   Festzuhalten bleibt: Die Kritik am unkritischen Objektivitätspostulat
und der Oberflächlichkeit des Informationsjournalismus führte zur Aus-
bildung komplementärer Berichterstattungsmuster. Bei a11 dem gab es
gleichwohl eine mehr oder weniger konsentierte Vorstellung davon, was
Journalismus ist und was nicht. Soweit die heile Welt des Journalismus
(und der Journalismusforschung) bis Mitte der Achtzigerjahre.

     scher, sozialwissenschaftlicher und literarischer Verfahren zur Erkenntnis sozialer
     Wirklichkeit. Wien 1999, S. 102.
40   Siehe die Befunde in Beate Schneider /Klaus Schönbach/Dieter Stürzebecher:
     Westdeutsche Journalisten im Vergleich: jung, professionell und mit Spaß an der
     Arbeit. In: Publizistik, 38. Jg. 1993, H. 1, S. 5-30, hier S. 23; siehe ferner Wei-
     schenberg: Journalistik 2, a.a.O., S. 150. Neben den hier ausführlicher behandelten
     Berichterstattungsmustern existieren als journalistische Rollenverständnisse noch
     der anwaltschaftliche, der Meinungs· und der interpretative Journalismus. Letzterer
     ist kein Gegenentwurf zum Informationsjournalismus. Eher lässt sich von einer
     appelativen Ergänzung sprechen, die alte Reportertugenden in den Vordergrund
     stellt (vgl. Weischenberg: Journalistik 2, a.a.O., S. 115). Der interpretative Journa-
     lismus verwahrt sich vor der Naivität rein ausgewogener Informationsdarstellung.
     Einordnung, Interpretation und die Faktorfunktion der Meinungsbildung sollen die
     Tatsachendarstellung ergänzen. Die Vielzahl der Meinungen unkommentiert darzu-
     stellen, bedeute, so die Kritik, keine publizistische Vielfalt. Ohne Analyse nimmt das
     Leistungssystem Journalismus seine öffentliche Aufgabe nur unzureichend war. Die
     Art der Fakteninterpretation lässt sich als?erläuterte Faktizität" bezeichnen (vgl.
     Saxer: Medienkonkurrenz, a.a.O., S. 19. Die Berufsethik ist- ähnlich investigativem
     und neuem Journalismus - eine individualistische. Beispiele für interpretativen
     Journalismus bieten die großen Leitartikel in den Qualitätsblättem, aber auch
     meinungsfreudige Moderationen in politischen Fernsehmagazinen. Problematisch bei
     diesem Muster ist die Wahl des Bezugsrahmens für die Interpretation. Macht sich
     der Journalist selbst zum Maßstab, betreibt er reinen Meinungsjournalismus. Als
     Zuspitzung des interpretativen Paradigmas ist dieser ein Gegenmodell zum Informa-
     tionsjournalismus und zeichnet sich durch Parteigängertum, Verlautbarung und
     persuasiven Kommunikationsmodus aus. Anwaltschaftlicher Journalismus nimmt
     zwar ebenfalls Partei, ist allerdings geprägt von sozialer Berufsethik und dem Drang
     zur Solidaritätserweckung (vgl. ebd.). Vgl. Ulrich Saxer: Medienkonkurrenz, a.a.O.,
     S. 19.
41   Haas: Empirischer Journalismus, a.a.O., S. 112.

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HOHLFELD

       Definitionsproblem Journalismus

       In den späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahren werden die klassi-
       schen Formen und Muster der Berichterstattung weiter aufgeweicht. Die
       Mediatisierung der Gesellschaft lässt die Formen- und Funktionsvielfalt
       öffentlicher Kommunikation stetig wachsen42, der Journalismus der Ge-
       genwart ist immer schwerer zu identifizieren. In den elektronischen Me-
       dien gesellen sich zum klassischen Journalismus seichte Unterhaltung,
       Trash, Erotik und Selbstreferenz - Sparten und Phänomene, die in
       journalismusähnlicher Erscheinung gesendet werden. Die Domäne des
       Boulevardjournalismus weitet sich stückweise aus; Klatsch und Tratsch,
       Privatisierung und Personalisierung, Inszenierung und Skandalisierung
       werden selbstverständlich nicht jetzt erst entdeckt, entwickelt und er-
       funden, aber sie haben in einem deregulierten und ökonomisierten Me-
       diensystem einen satten Nährboden gefunden, der diesen Themen und
       Berichterstattungsstrategien Wachsturn und Publikumsakzeptanz si-
       chert. Neben einem gesellschaftlichen Wertewandel, der zum Hedonis-
       mus, zur Individualisierung und Segmentierung von Publikumsinteres-
       sen führt, sind weit reichende kommunikationspolitische Grundsatzent-
       scheidungen dafür verantwortlich, dass Massenkommunikation in Form
       und Inhalt heterogener wird. Als Stichworte seien nur beispielhaft ge-
       nannt: die Zulassung privat-kommerzieller Sender im Zuge der Etablie-
       rung eines duales Rundfunksystems und die Vervielfältigung technischer
       Distributionswege durch Digitalisierung und Datenkompressionsverfah-
       ren.
          Formal kommt es in dieser Umbruchphase zu Hybridformen wie dem
       viel zitierten Infotainment, funktional tritt der Nutzwert von Kommunika-
       tionsangeboten in den Vordergrund. Das Nachrichtenmagazin "Focus"
       perfektioniert das Prinzip "News to use" und läutet eine Epoche des
       Häppchen-Journalismus ein. Mit anderen Worten: Die Ausdifferenzie-
       rung der gesamten Massenkommunikation führt zur Entgrenzung des-
       sen, was gemeinhin unter Journalismus verstanden wurde.43 Der Journa-
       lismus franst an seinen Rändern aus44: Er öffnet sich u.a. in puncto:

       42   Vgl. Irene Neverla: Joumalismen. In: Cover Medienmagazin, Jg 2002, Nr. 2, S.
            48-50.
       43   Vgl. ebda.
       44   Vgl. Siegtried Weischenberg: Journalismus am Scheideweg. In: Sage & Schreibe, Jg.
            1998, Nr. 10 S. 10-11, hier S. 11; Wiebke Loosen/Armin Scholl: Entgrenzungs-
            phänomene im Journalismus. Entwurf einer theoretischen Konzeption und empiri-
            scher Fallstudien. In: Achim Baum/Siegtried J. Schmidt (Hg.): Fakten und Fik-
            tionen. Über den Umgang mit Medienwirklichkeiten. Konstanz 2002, S. 139-151,
            hier S. 139f.

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-  Technik (Multimedia-Journalismus, Para-Journalismus im Internet)
-  Unterhaltung (Infotainment; Hybrid-Journalismus)
-  Public Relations (Verlautbarungsjournalismus)
-  Werbung (Marketing-Journalismus)45
   Da diese Prozesse nur analytisch zu trennen sind, empirisch aber
vielfältig ineinander greifen, lässt sich diese Entgrenzung zugleich auch
als ein Weg zum "Populären Journalismus" interpretieren. Neissl und
Renger benutzen den Begriff "Journalismus light" für diese in allen Me-
diensparten beobachtbare Konvergenz: "Die bisherige journalistische
,Zweiklassengesellschaft' von qualitativem Informations- und minder-
wertigem Boulevardjournalismus wird zunehmend aufgebrochen und
durch ein populärjournalistisches Mittelfeld [... ] ergänzt. "46 Einstmals
seriöser Journalismus weicht zunehmend auf. Aber nicht nur das: Medi-
enangebote, die mit genuinem Journalismus nichts zu tun haben, werden
in journalismusähnliche Berichterstattungsmuster gezwängt, die als
Pseudo-Journalismus bezeichnet werden.47 Eine Vermengung der Medi-
enformate führt dazu, dass Rezipienten Information nicht mehr ohne
weiteres von Unterhaltung, PR und Werbung unterscheiden können, weil
heute das Gattungswissen, mit dem das Publikum zuvor Kommunikati-
onsangebote einordnen konnte, nicht mehr zur Orientierung der Erwar-
tungshaltungen ausreicht. 48
   Die Kommunikationswissenschaft steht diesen Prozessen der Ent-
grenzung, Ausfransung und Aufweichung, aber auch ihren Produkten
wie etwa Bindestrich-Journalismen und Hybridmedien noch sehr hilflos
gegenüber - obschon die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für
Publizistik- und Kommunikationswissenschaft 2001 sich schwerpunkt-
mäßig mit diesem Thema auseinandergesetzt hat. Gibt es neben dem
Kerngebiet des Informationsjournalismus mit Themen aus Politik, Wirt-
schaft, Kultur und Sport weitere journalistische Funktionsfelder, die

45   Vgl. Loosen/Scholl: Entgrenzungsphänomene, a.a.O., S. 139.
46   Julia Neissl/Rudi Renger: Auf dem Weg zu einem "Journalismus light"? Zur
     Popularisierung des Journalismus in Österreich. In: Achim Baum/Siegfried J.
     Schmidt (Hg.): Fakten und Fiktionen. Über der Umgang mit Medienwirklichkeiten.
     Konstanz 2002, S. 254-270, hier S. 256.
47   Vgl. Ralf Hohlfeld: Distinktionsversuche im Fernsehjournalismus. Das Verschwinden
     von Journalismus durch Inszenierung. In: Achim Baum/Siegfried J. Schmidt (Hg.):
     Fakten und Fiktionen. Über der Umgang mit Medienwirklichkeiten. Konstanz 2002,
     s. 101-113.
48   Vgl Matthias Kohii.ng: Fakten ins Töpfchen, Fiktionen ins Kröpfchen? Warum
     Vertrauen in Journalismus mehr ist als Glaubwürdigkeit. In: Achim Baum/Siegfried
     J. Schmidt (Hg.): Fakten und Fiktionen. Über der Umgang mit Medienwirklichkeiten.
     Konstanz 2002, S. 90-100, hier S. 91.

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HOHLFELD

       ebenfalls dem Ziel gesellschaftlicher Selbstverständigung über aktuelle
       Fragen dienen? Zählen Prominenten-Berichterstattupg, Magazine über
       Medienstars, Talk-Shows, Service- und Ratgeberjournalismus gleicher-
       maßen zu einem System Journalismus? Und: Lohnt überhaupt eine Re-
       Identifizierung von Journalismus? Die Verquickung von Fakten und Fik-
       tionen - und damit auch das Ausfransen des Journalismus an seinen
       Rändern - wird unterschiedlich beschrieben und durch zwei wissen-
       schaftliche Schulen auf verschiedene Weise bewertet. Der jeweilige wis-
       senschaftliche Beobachterstandpunkt beantwortet die Frage: "Journalis-
       mus pur oder mehrere Journalismen nebeneinander?"49
          Vertreter der ersten Schule kann man als "Puristen" bezeichnen. Sie
       halten an der Reinkultur des aktuellen Informationsjournalismus fest:
       Journalismus ist qua definitionem immer aktueller Nachrichten- und In-
       formationsjournalismus.so Die Vertreter dieser Position sind der Ansicht,
       "Journalismus müsse sich auf der Basis fest vereinbarter Regeln bewe-
       gen und faktenorientiert auf aktuelle Ereignisse von sozialer Relevanz
       beziehen".Sl Auf der Grundlage eines systemtheoretisch-konstruktivisti-
       schen Ansatzes werden mittels binärer Codes Grenzziehungen vorge-
       nommen: öffentlich versus privat, aktuell versus nicht aktuell und sozial
       relevant versus nicht relevant. AktuellerJournalismus grenzt sich durch
       Faktizität gegenüber der Potenzialität fiktionaler Unterhaltung ab.S2 Fik-
       tionales, das den Inszenierungsstrategien der neuen Hybridformen inne-
       wohnt, wird im Journalismus mit seiner Orientierung an Sozialverbind-
       lichkeit nicht akzeptiert. Diese Position erlaubt es allerdings bislang
       nicht, die geschilderten Übergangsphänomene zu erklären. Die Puristen
       deuten die zunehmende Neigung, Informationen mittels erzählerischer
       Techniken darzubieten, als Grenzverstoß, sehen Fakten durch Fiktionen
       infiltriert. 53 Da an den Grenzziehungen festgehalten wird, folgt die Klage,
       Journalismus schrumpfe, ja marginalisiere sich. 54
          Die zweite Position kritisiert die Gleichsetzung von Journalismus mit

       49   Neverla: Joumalismen, a.a.O., S. 48.
       50   Vgl. Bemd Blöbaum: Organisation, Programme und Rollen. Die Struktur des
            Journalismus. In: Martin Löffelholz, (Hg.): Theorien des Journalismus. Ein diskursi-
            ves Handbuch. Wiesbaden 2000, S. 169-183, hier S. 170.
       51   Neverla: Journalismen, a.a.O., S. 48.
       52   Vgl. Armirr Scholl/Siegfried Weischenberg: Journalismus in der Gesellschaft.
            Theorie, Methodologie und Empirie. Opladen/Wiesbaden 1998, hier S. 75.
       53   Vgl. Elisabeth Klaus/Margret Lünenborg: Journalismus: Fakten, die unterhalten _
            Fiktionen, die Wirklichkeit schaffen. In: Achim Baum/Siegfried J. Schmidt (Hg.):
            Fakten und Fiktionen. Über den Umgang mit Medienwirklichkeiten. Konstanz 2002,
            S. 152-164, hier S. 152.
       54   Vgl. Blöbaum: Organisation, Programme, Rollen, a.a.O., S. 181.

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Information und Fakten. Sie erscheint auf den ersten Blick weniger dog-
matisch: Ihre Anhänger können als (kulturorientierte) "Eklektiker" be-
schrieben werden. Vertreterinnen dieser Position wie Elisabeth Klaus
und Margret Lünenborg gehen davon aus, dass Journalismus Fakten
selektiert und präsentiert, die unterhalten, und dass er zugleich Fiktio-
nen liefert, die Wirklichkeit schaffen. 55 Diese Sichtweise ist dem Ansatz
der Cultural Studies verpflichtet und setzt nicht bei der funktionalen
Analyse des Journalismussystems, sondern beim Publikum an. Dessen
Wahrnehmung verläuft gemäß dieser Auffassung nicht entlang der wis-
senschaftlichen Kategorien für Journalismus und Nicht-Journalismus. So
kann Politikberichterstattung vollkommen a-politisch wahrgenommen
werden; Nachrichten dienen etwa nicht nur der Information, sondern in
ihrer Funktion als Ritual auch gleichzeitig dazu, den Tag zu strukturie-
ren. Andersherum können vom einzelnen Rezipient selbst aus Klatsch-
Dramen und Soap-Operas politische Einsichten gewonnen werden. 56 So-
zialverbindlichkeit von Kommunikation ist demnach keine Frage des
Genres oder Berichterstattungsmusters. In der Frage, ob es sich bei
Medienangeboten um Journalismus handelt, kommt der Eigeninterpreta-
tion des Publikum die entscheidende Rolle zu. Information und Unterhal-
tung sind Rezeptionskategorien, und deshalb gilt das Mantra der Cutural
Studies: "Texts are made by their readers". Das Kriterium der Non-
Fiktionalität alleine, so die Eklektiker, sei kein brauchbares Abgren-
zungskriterium zur Identifizierung von J ournalismus.57 Über den New
Journalism hinaus sind Fiktionalisierungen schon immer ein professio-
nelles Muster im Journalismus gewesen, wie Gunter Reus anband der
Verwendung von Metaphern und Vergleichen gezeigt hat.58 Abgesehen
von der Forderung, Randbereiche wie den Boulevardjournalismus nicht
(weiter) aus dem Gegenstandsbereich der Journalistik auszugrenzen59,
vermag aber auch die zweite Position letztlich keinen konstruktiven Ge-
genvorschlag für die Re-Identifizierung von Journalismus zu unterbrei-
ten.

55   Vgl. Klaus/ Lünenborg: Journalismus, a.a.O., S. 152-164.
56   Vgl. ebd. S. 162.
57   Vgl. ebd.
58   Vgl. Gunter Reus: "Zum Tanze freigegeben". Fiktion im seriösen Journalismus - ein
     illegitimes Verfahren? In: Achim Baum/Siegfried J. Schmidt (Hg.): Fakten und
     Fiktionen. Über den Umgang mit Medienwirklichkeiten. Konstanz 2002, S. 77-89,
     hier S. 87.
59   Vgl. Elisabeth Klaus/Margret Lünenborg: Der Wandel des Medienangebots als
     Herausforderung an die Journalismusforschung. Plädoyer für eine kulturorientierte
     Annäherung. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, 48. Jg. 2000, H. 2, S.
     188·211.

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HOHLFELD

          Im Ergebnis ist für beide Lager unstrittig, dass Faktenorientierung für
       die Erfüllung aller Aufgaben und Leistungen, di~ konstitutiv oder
       äquivalenz-funktionalistisch an den Journalismus gestellt werden. Ob
       allerdings eine durch formale Inszenierung hervorgebrachte Pointierung
       eines Berichts dem Journalismus den Garaus macht oder ein notwendi-
       ger komplementärer Bestandteil der Wirklichkeitsauseinandersetzung
       ist, darüber wird ausgiebig gestritten.

       Pseudojournalismus

       "Man könnte glauben, die Ereignisse geschähen und glitten dann auto-
       matisch in die Zeitungen hinüber, von der Wirklichkeit in die Presse, von
       der Realität in die Wiedergabe. Das ist nicht richtig. Weil die Reprodukti-
       on der Wirklichkeit unendlich wichtiger ist als das Geschehnis selbst, so
       ist die Wirklichkeit seit langem bemüht, sich der Presse so vorzuführen
       wie sie gerne möchte, daß sie aussähe. "60 Mit dieser Feststellung hat
       Kurt Tucholsky vor mehr als 80 Jahren die Objektivitäts-Inszenierungs-
       Problematik umrissen, die uns heute in Form unklarer Systemgrenzen
       des Journalismus entgegentritt.
          Eine der wenigen Möglichkeiten der Kommunikationswissenschaft,
       abgesicherte Unterscheidungen vorzunehmen, betrifft die Klassifikation
       von Ereignissen, die zur nachrichtlichen oder sonstigen Berichterstat-
       tung ausgewählt werden und die damit die Muster beeinflussen, die sich
       dann im Zuge der Selektion und Präsentation als Journalismus oder
       Nicht-Journalismus ausweisen. Hans Mathias Kepplinger unterscheidet
       im Rahmen der Forschung zur Nachrichtenauswahl drei Typen von Er-
       eignissen.61 Genuine Ereignisse wie Unfälle und Naturkatastrophen ge-
       schehen unabhängig von der Berichterstattung der Massenmedien. Me-
       diatisierte Ereignisse, zum Beispiel Parteitage, Sport- und Kulturauffüh-
       rungen, würden zwar auch ohne die zu erwartende Berichterstattung
       geschehen, aber sie werden gerade durch letztere mediengerecht geformt
       und arrangiert. Inszenierte Ereignisse (wie Pressekonferenzen) dagegen
       finden einzig und allein aus dem Grund statt, weil Massenmedien über sie
       berichten. Man spricht deshalb auch von Pseudoereignissen. Da die er-
       sten beiden Ereignistypen einwandfrei umweltbezogen sind, kann die

       60   Kurt Tucholsky alias Ignaz Wrobel: Presse und Realität. In: Die Weltbühne, 17. Jg.
            1921, Nr. 41. S. 373-376, hier S. 376.
       61   Vgl. Hans Mathias Kepplinger: Theorien der Nachrichtenauswahl als Theorien der
            Realität. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das
            Parlament", B 15 vom 7. Apri11989, S. 3-16.

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                238
VOM INFORMATIONS- ZUM PSEUDOJOURNAL/SMUS

Berichterstattung über sie ebenso eindeutig als Journalismus bezeichnet
werden. Dies setzt allerdings einen systemtheoretischen Zugang voraus,
der im Funktionssystem Journalismus die Besonderheit erkennt, dass es
Umweltereignisse kommuniziert, die über den Umweltbereich hinaus, in
dem sie passiert sind, potenziell von Bedeutung sind.62 Inszenierte Ereig-
nisse lösen dagegen selbstreferentielle Kommunikation aus; Umwelt und
beobachtendes System fallen bei der Berichterstattung in eins. Ohne die
System/Umwelt-Differenz kann es sich aber kaum um Journalismus han-
deln, denn der trägt - durch die Unterscheidung umweltrelevant vs. nicht
umweltrelevant bzw. Mehrsystemzugehörigkeit vs. keine Mehrsystemzu-
gehörigkeit - zur Selbstbeobachtung der Gesellschaft bei, während Pseu-
doereignisse nur die Selbstbeobachtung des Mediensystems anregen
bzw. auslösen. In diesem Fall kann man von Pseudojournalismus spre-
chen.
   Ein Medienbereich, in dem sich derartige pseudojournalistische Publi-
kationsformen zunehmend herausbilden, ist das Fernsehen. 63 Dabei han-
delt es sich um Formate, die sich eben vom klassischen Journalismus
dadurch unterscheiden, dass sie gerade nicht über Ereignisse aus der
Umwelt des Journalismus berichten. Vielmehr berichten sie von im Fern-
sehen inszenierten Pseudoereignissen und betreiben damit eine spezifi-
sehe Art der Selbstthematisierung, was folgende Beispiele belegen sol-
len:
   Unter dem Etikett "Exklusivreportage" werden seit einigen Jahren
Blicke hinter die Kulissen von Quizshows oder so genannten "Real· Peop-
le-Soaps" wie "Big Brother" geworfen. Auf den ersten Blick sieht es so
aus, als würden in diesen Sendungen die Hintergründe der Shows mit den
klassischen Mitteln des Journalismus ausgeleuchtet. Die Produktionsbe-
dingungen werden recherchiert, die Idee des Formates erläutert, die Aus-
wahl der Kandidaten nachgezeichnet, Produzenten, Redakteure und an-
dere Beteiligte interviewt. Auf den zweiten Blick handelt es sich aber um
unkritische Werbefilme, der von derselben Redaktion produziert wurden,
die auch die Unterhaltungsshow verantwortet. In diesen medialen Able-
gern wird in formaler Anlehnung an investigative Sendungen der Ein-
druck erweckt, es handele sich um gesellschaftlich bedeutsame Themen.
Für die Vertonung werden bekannte Sprecher verpflichtet, die man aus
politischen Magazinen kennt und welche die Intonation und den Sprach-
duktus des aktuellen politischen Fernsehjournalismus kopieren. Im Un-
terschied zu investigativem Fernsehjournalismus, der seine Umwelt beob·

62   Vgl. Detlef Matthias Hug: Konflikte und Öffentlichkeit. Zur Rolle des J oumalismus in
     sozialen Konflikten. Opladen 1997, S. 318.
63   Vgl. zum Folgenden Hohlfeld: Distinktionsversuche, a.a.O., S. 106-112.

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HOHLFELD

       achtet und die darin vorkommenden Ereignisse nach Aktualitäts- und
       Relevanzkriterien selektiert, ist der Pseudojournq.lismus Teil einer
       primär medialen Inszenierung. Diese ist ihrem Wesen nach kalkuliert und
       arrangiert. Die pseudo-journalistische Berichterstattung als mediales
       Echo ist indes mehr als ein "begrüßter Nebeneffekt"64, sie ist heute meist
       Teil eines integrativen Konzeptes der Vermarktung. Ziel ist es, mit Pseu-
       dojournalismus nicht nur die eigene Nachrichtenlage zu kontrollieren,
       sondern Anschlusskommunikation in anderen Medien anzustoßen.65
          Mit anderen Worten: Pseudojournalismus gründet exklusiv auf media-
       len Pseudo-Ereignissen - er hilft der Inszenierung eines Unterhaltungs-
       events in das Gewand der Nachrichtenagenda. Als Folge kann Pseudo-
       journalismus also weder als massenmediale Ereigniskreation gelten (wie
       das Pseudoereignis) noch als journalistische Berichterstattungskommu-
       nikation, die im Vergleich zum Ereignis eindeutig sekundären Charakter
       aufweist und einen durch die Umwelt distanzierten Beobachter erfordert.
       Die funktionale Spezifik von Pseudojournalismus ist vielmehr eine arran-
       gierte Beobachtung von Selbstinszenierung. Pseudojournalismus kommu-
       niziert das Pseudoereignis und kann deshalb als Ereigniskommunikation
       gelten.

       Distinktion Journalismus - Pseudojournalismus

                               Journalismus                   Masseurnedien              Pseudojournalismus
       -:--:-----
        Normati•e              Information, Bildung,          Unterhaltung, Zerstreuung,
           Funktionen          Orientierung, Integration      Ablenkung
           Systemfunktionen    Selbstbeobachtung der                                     Marketing, Eigen-PR
                               Gesellschaft                                              Promotion, Rccyclin~,
           Code                aktuell/nicht aktuell          vermarktbar/nicht          imitativ/nicht imitativ
                                                              vermarktbar
           Sekundärer          Öffentlichkeit                 Wirtschaft                 Wirtschaft
           Systembezu11
           Ziel der            Themenselektivität             -                           Themenkontinuität
           Temporalstruktur
           Komplexitäts-       Komplexitätsreduktion          Komplexitätsbildung         Komplexitätsbildung
           wirkung
           Handlung            Beobachtung von             Inszenierung                   Beobachtung von
                               Umwelterei.gnissen                                         Inszenierung
           Ergebnis            Berichterstattungskommunika Ereigniskreation               Ereigniskommunikation
                               tion
           Gradder             mittel                      hoch                           sehr hoch
           Selbstreferenz
           Zielgruppenbezug.   beliebig                       hoch spezifisch             spezifisch
           lnbaltsbezu11       hoch spezifisch                beliebig                    beliebig
           Orientierung/       Fakten                         Fiktionen                   Faktisierung von
           Referenz                                                                       Fiktionen/Inszenierungen

          Schwierig zu beantworten ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob
       es sich beim Pseudojournalismus um ein eigenständiges Journalismus-
       konzept handelt, das auf derselben Ebene zu verorten ist wie die klassi-

       64    Carsten Brosda: "Viel Lärm um nichts". Anmerkungen zur Selbstreferentialität me-
             dialer Pseudo-Ereignisse. In: Frank Weber (Red.): Big Brother: Inszenierte Banalität
             zur Prime Time. Münster 2000, S. 95-107, hier S. 99.

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VOM INFORMATIONS- ZUM PSEUDOJOURNALISMUS

sehen Berichterstattungsmuster. Dagegen sprechen würde die Annahme,
dass es sich bei dem hier diskutierten Medienwandel nicht um einen
Strukturwandel des Journalismus (der die Gefahr der Auflösung von
Journalismus birgt), sondern um einen Strukturwandel der Medien han-
delt (der schlicht eine Funktionsverlagerung vom Journalismus hin zu
anderen Medienbereichen bedeutet). In diesem Fall wäre Pseudojourna-
lismus kein journalistisches Berichterstattungsmuster, denn diese
würden in einem konstanten und kohärenten Journalismus nur Konzepte
der Beobachtung von Umweltereignissen enthalten. Dann handelt es sich
folglich bei den als Pseudojournalismus etikettierten Phänomenen allen-
falls um Pseudoberichterstattungsmuster, die von anderen Medienpro-
duktanbietern verantwortet werden - und diese fallen aus einer streng
journalismuswissenschaftlichen Betrachtungsweise, wie sie von den Pu-
risten gepflegt wird, heraus.
   Für das Vorhandensein eines eigenständigen Journalismuskonzept
Pseudojournalismus sprechen jedoch die fünf Faktoren revolutionärer
Entwicklung, die Anthony Smith zufolge den Wandel des Gesamtkonzep-
tes Journalismus industriell ausmachen:
- neue Publika mit veränderten Ansprüchen
- neue Angebote und Distributionsformen des Rohmaterials
- neue professionelle Techniken
- neue Produktionstechniken
- neue Organisationsformen der Medienproduktion (Management).66
   Berücksichtigt man das gestiegene Unterhaltungsbedürfnis der Fern-
sehpublika, den Trend zur Bildung von Wertschöpfungsketten, die Ten-
denzen zum mehrmedialen Publizieren und zum Cross-Media-Marketing,
dann sind wesentliche Bedingungen für die Veränderung eines J ournalis-
musmusters erfüllt. Vermutlich wäre der Pseudojournalismus als aktuel-
les Berichterstattungsmuster nicht weiter bemerkenswert, würde er sich
auf ein eigenständiges, abgegrenztes Programmformat wie "The Making
of ... "beschränken und nicht weiter in die tägliche Nachrichtenberichter-
stattung hineinsickern. Medienereignisse wie "Big Brother", "Wer wird
Millionär?", "Deutschland sucht den Superstar" und "European Song
Contest" hatten jedoch allesamt nachhaltigen Einfluss auf die Themena-
genda der Nachrichtensendungen. Nicht nur in den so genannten "RTL
2-News" fand sich über Monate eine kontinuierliche "Big Brother"- und

65   Christian Schicha: ,.Leb, so wie Du Dich fühlst?" Zur Funktion von Authentizität
     beim Sendeformat Big Brother. In: Frank Weber (Red.): Big Brother: Inszenierte
     Banalität zur Prime Time. Münster 2000, S. 77-94, hier S. 81.
66   Vgl. Anthony Smith: Goodbye Gutenberg. The Newspaper Revolution of the 1980s.
     NewYork/Oxford 1980, S. 177ff.

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