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Der kritische Agrarbericht 2019

Agrarkonzerne und Big Data
Auswirkungen der Digitalisierung in der Landwirtschaft auf kleinbäuerliche Erzeugerinnen
und Erzeuger sowie Landarbeiterinnen und Landarbeiter weltweit

von Lena Michelsen und Jan Urhahn

                       Viele Unternehmen der Agrar- und Lebensmittelindustrie preisen die Digitalisierung der Landwirt-
                       schaft als das neue Wundermittel, um nicht nur den Hunger zu beenden, sondern auch den Verlust
                       der Biodiversität sowie den Klimawandel einzudämmen. Eine kritische Betrachtung kommt bislang
                       zu kurz: Wer sind die zentralen Akteure im Digitalisierungsgeschäft? Was bedeutet die Digitalisie-
                       rung explizit für kleinbäuerliche Erzeugerinnen und Erzeuger sowie Arbeitende in Landwirtschaft
                       und Nahrungsmittelindustrie weltweit? Inwieweit und mit welchen politischen Maßnahmen kann
                       die Digitalisierung für den Umbau hin zu einer zukunftsfähigen Landwirtschaft genutzt werden?
                       Der folgende Beitrag gibt Antworten auf diese Fragen und kommt zu dem Schluss, dass die Di-
                       gitalisierung nur dann zu einer selbstbestimmten, sozial gerechten und ökologisch nachhaltigen
                       Landwirtschaft und Ernährung beitragen kann, wenn es zu einem Umdenken in allen beteiligten
                       Politikfeldern kommt.

Die Agrarindustrie argumentiert, dass mithilfe digi-            die Entstehung nationaler Digitalkonzerne fördern.
taler Technik im Ackerbau Pflanzenkrankheiten oder              So heißt es im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU
Schädlinge frühzeitig erkannt und mit geringeren                und SPD: »Dort, wo erforderlich, werden wir das Kar-
Pestizidmengen bekämpft werden könnten. Farm-                   tellrecht modernisieren, um exzellente regulatorische
managementsysteme sollen Verwaltungsabläufe für                 Rahmenbedingungen für die deutsche und europäi-
Landwirte erleichtern und die digital gestützte prä-            sche Digitalwirtschaft zu schaffen. [...] Unser Ziel sind
zisere Ausbringung von Dünger soll dazu beitragen,              starke deutsche und europäische Akteure der Plattfor-
Nährstoffüberschüsse im Boden zu minimieren. Doch               mökonomie, deshalb wollen wir vorhandene Hemm-
hinter den gebetsmühlenartig in Aussicht gestellten Ef-         nisse abbauen.«¹ Diese Stärkung der Plattformökono-
fizienzsteigerungen und Nachhaltigkeitsversprechen              mien wird sich langfristig auch auf den Agrarsektor
geht es im Kern um das massenhafte Sammeln und                  auswirken.
Auswerten von Daten: Sämtliche Details über Höfe
und Anbauverfahren sowie über Verbraucherinnen                  Hardware und Software
und Verbraucher sowie Tätige in der Landwirtschaft
werden gespeichert. Hersteller von landwirtschaft-              Ein zentraler Bereich der Digitalisierung in der Land-
lichen Inputs und Landmaschinen wie Bayer oder                  wirtschaft ist die »Hardware«: Melkroboter, autonom
John Deere, aber neuerdings auch Internetkonzerne               fahrende Traktoren, Sensoren an Landmaschinen, die
wie Amazon und Google sind dabei, sich die Hoheit               relevante Informationen über Pflanzengesundheit,
über die landwirtschaftlichen Daten anzueignen.                 Böden und Wasserqualität sammeln, oder mithilfe
   Durch Unternehmenszusammenschlüsse konso-                    von künstlicher Intelligenz programmierte Drohnen.
lidieren die genannten Akteure ihre Dominanz im                 Letztere können beispielsweise tief über Felder fliegen
jeweiligen Sektor sowie über entscheidende Knoten-              und dabei unerwünschte Unkräuter ausfindig machen
punkte in der Agrarlieferkette. Die Bemühungen der              und direkt besprühen, wodurch Treibstoff eingespart
Konzerne werden durch politische Entscheidungs-                 und die Menge ausgebrachter Agrargifte reduziert
träger unter anderem in Deutschland unterstützt, die            werden soll. So wird in Japan bereits ein Drittel des
vor allem die Vorteile der Digitalisierung betonen und          Reisanbaus mit Drohnen überwacht.

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Agrarpolitik und soziale Lage

   Neben der genannten Hardware ist ein wichtiges         von Transaktionen jeglicher Art, gewissermaßen ein
Themenfeld bei der Digitalisierung in der Landwirt-       digitaler Kontoauszug für Transaktionen zwischen
schaft die Entschlüsselung, Rekonstruktion und Ver-       Computern. Diese Transaktionen werden von sog.
änderung der DNA von Pflanzen und Nutztieren – die        »Minern« übertragen, zu einem Datenblock verknüpft
»Software«. Schon heute können hoch qualifizierte         und schließlich zu einer Blockchain hinzugefügt.
Biologen ebenso wie Biohacker ohne fachliche Ex-          Agrar- und Lebensmittelunternehmen sowie wichtige
pertise einen Computer an einen DNA-Synthesizer           Finanzinstitutionen glauben, dass sie ihre Transak-
anschließen. In nur wenigen Schritten können digita-      tionskosten durch die Verwendung von Blockchains
lisierte Genome oder einzelne Gensequenzen aus ei-        um 20 bis 40 Prozent senken können. Denn alle Teil-
ner Datenbank heruntergeladen werden, sodass sich         nehmenden des Netzwerks haben zeitgleich Zugang zu
die reale Gensequenz, Basenpaar um Basenpaar, in          den Informationen und die Vermögenswerte können
dem DNA-Synthesizer rekonstruieren und verändern          dezentral ohne zwischengeschaltete Instanzen über-
lässt. Diese Gensequenzen können im Folgenden in          tragen werden. Gleichzeitig ist der Energieverbrauch
ein Bakterium, einen Schmetterling oder ein Gersten-      der Technologie heutzutage absurd hoch – eine einzi-
korn eingeführt werden. Mit den neuen Gentechnik-         ge Bitcoin-Transaktion schluckt die Energie, die ein
verfahren wie CRISPR/Cas9 können einzelne geneti-         durchschnittlicher US-amerikanischer Haushalt in ei-
sche Merkmale einfach, günstig und präzise heraus-        ner Woche verbraucht. Das Schürfen von Bitcoins ver-
geschnitten, ersetzt und an anderer Stelle eingefügt      braucht jährlich so viel Energie wie ganz Nigeria (ein
werden. (Zu diesen neuen Gentechnikverfahren siehe        Land mit 186 Millionen Menschen) oder Kolumbien.²
auch die Beiträge im Gentechnikkapitel in diesem Kri-        In der Agrarlieferkette kommen Blockchains schon
tischen Agrarbericht.)                                    heute zum Einsatz: Anfang 2018 nutzten das Agrar-
   Ebenfalls auf der Software-Seite der Digitalisierung   handelsunternehmen Louis Dreyfus und der Lebens-
spielt synthetische Biologie (SynBio) eine zunehmend      mittelhersteller Shangdong Bohi Industry gemeinsam
wichtige Rolle in der Herstellung von Lebensmitteln.      mit den Finanzdienstleistern ING, Société Générale
Mit SynBio werden in Kombination mit Big-Data-            und ABN-AMRO eine Blockchain-Plattform für die
Plattformen, Robotertechnologien und künstlicher          Verhandlung und Organisation einer Sojabohnenlie-
Intelligenz entweder bestehende biologische Systeme       ferung aus den USA nach China. Laut Louis Dreyfus
optimiert oder komplett neue entwickelt. Auf die-         hat die Nutzung der Blockchain sowohl die Dauer als
se Weise werden (neue) biochemische Systeme mit           auch die Kosten für den Transport enorm verringert.
Eigenschaften und Fähigkeiten »ausgerüstet«, die so       Theoretisch könnten Blockchains erweitert werden.
in der Natur bisher nicht vorkommen. Mit SynBio-          Große Einzelhandelsunternehmen könnten mit Le-
Verfahren werden z. B. neue Eigenschaften in Algen        bensmittelherstellern kooperieren und ihnen Präfe-
oder Hefen eingeführt. Damit kann etwa der Duft von       renzen der Kundinnen und Kunden weitergeben. Das
Rosen, der Geschmack von Zitrusfrüchten, die Süße         hätte perspektivisch Folgen für die landwirtschaftliche
von Stevia oder die aufputschende Wirkung von Kof-        Erzeugung: So könnte die Art des verwendeten Saat-
fein künstlich hergestellt werden. Nutzpflanzen wie       gutes, die genaue Einstellung etwa von Sämaschinen
Vanille, Safran und Zimt werden meistens auf kleinen      und die Lagerhaltung im Agrarhandel an die Informa-
Parzellen in Ländern angebaut, die besonders von          tionen aus der Blockchain angepasst werden.
den Folgen des Klimawandels betroffen sind. Daher
machen sich viele der verarbeitenden Unternehmen          Zentrale Akteure und weitere Fusionswellen
Sorgen um die verlässliche Versorgung mit den Roh-
stoffen und steigen vermehrt auf die Herstellung im       Eine Reihe von Unternehmen möchte in der Digita-
Labor um. Mithilfe von SynBio und anderen Verfah-         lisierung der Landwirtschaft insbesondere durch den
ren der Gentechnologie werden auch Praktiken ent-         Aufbau von zentralen Plattformen und damit vor
wickelt, um Fleisch, Milchprodukte oder Tierhäute         allem mit dem Sammeln und Auswerten von Daten
künstlich im Labor zu produzieren und so lebende          neue Geschäftsmodelle aufbauen. Zum einen springen
Tiere zu ersetzen.                                        »traditionelle« Agrarkonzerne aus dem Saatgut- und
                                                          Pestizidbereich, der Lebensmittelherstellung, dem
Blockchains in der Agrarindustrie                         Lebensmitteleinzelhandel oder Landmaschinenun-
                                                          ternehmen auf den Zug auf. Konzerne wie Bayer ge-
Neue Formen der Finanztechnologie spielen bei der         ben offen zu, dass sich durch die Digitalisierung bzw.
Digitalisierung eine wichtige Rolle, vor allem Block-     durch die sog. Präzisionslandwirtschaft ihre Verkaufs-
chains und Kryptowährungen. Blockchains sind die          zahlen bei Pestiziden verringern könnten. Aber durch
technologische Grundlage für Kryptowährungen wie          das Angebot von Dienstleistungen in Form von Da-
Bitcoin und bezeichnen elektronische Datenbanken          tenaufbereitung über eine übergreifende digitale Platt-

                                                                                                                   87
Der kritische Agrarbericht 2019

form lassen sich in Zukunft große Gewinne einstrei-         torisch betrachtet hatte das Agribusiness aufgrund der
chen. Auf der anderen Seite treten neue Akteure auf         hohen Transaktionskosten bislang noch ein geringes
das Spielfeld: Digitalkonzerne wie Google, Amazon           Interesse an Kleinbäuerinnen und -bauern und deren
oder der chinesische Konzern Alibaba kooperieren            Ackerflächen. Das könnte sich nun ändern: Während
zunehmend mit Agrarkonzernen und großen Ver-                der Fokus großer Agrarkonzerne bisher auf Großbe-
mögensverwaltungsgesellschaften wie Blackrock und           trieben mit Massenproduktion lag, erlauben ihnen digi-
finanzieren so die kostspieligen Unternehmenszusam-         tale Technologien, ihre Algorithmen auf jede Betriebs-
menschlüsse oder andere Investitionen.                      größe anzupassen. Neuartige Techniken wie Drohnen
   Mit der Digitalisierung wird voraussichtlich eine        können nun auch kleinteilige Parzellen bearbeiten.
nie dagewesene vertikale Integration und Kooperation        Mit riesigen Maschinen war das bislang nicht möglich.
entlang der gesamten Agrarlieferkette vonstattenge-            Wird die bäuerliche Erzeugung (gezwungenerma-
hen. Im digitalen Zeitalter haben die größte Macht jene     ßen) Teil von den – voraussichtlich nur wenigen – di-
Konzerne bzw. Sektoren, die über die meisten Infor-         gitalen Plattformen, dann bestimmen diese faktisch,
mationen verfügen. Ganz vorne dabei sind die Land-          was angebaut wird, welches Saatgut, welche Dünge-
maschinenunternehmen: So investiert John Deere seit         mittel und welche Pestizide verwendet werden und
2001 in Big-Data-Plattformtechnologien und schloss          welche Maschinen am besten zum Einsatz kommen.
in den vergangenen Jahren mit den wichtigsten Saat-         Mit der Kontrolle der digitalen Plattformen durch
gut- und Pestizidunternehmen Geschäfte ab: mit Syn-         wenige Großkonzerne sowie deren Bevorzugung von
genta, Dow und DuPont (heute Corteva Agriscience),          industriellem Saatgut würden sich nicht nur die Wahl-
Bayer und Monsanto (heute Bayer) und BASF.                  möglichkeiten für Bauern und Bäuerinnen verringern,
   AGCO, die Nummer vier der Landmaschinenin-               auch Abhängigkeiten würden wachsen. Außerdem
dustrie, kam John Deere sogar zuvor, als es schon 1994      sind auch Informationen über die kleinen Parzellen
Massey-Ferguson übernahm,³ eine Landmaschinen-              bäuerlicher Erzeuger von Bedeutung, weshalb die
firma, die bereits 1982 begann, Felddaten zu digitalisie-   Verwalter der Megaplattformen sich zunehmend auch
ren. 2014 schloss AGCO sein erstes Datenabkommen            für kleinbäuerliche Produktionssysteme interessieren.
mit DuPont, gefolgt von getrennten Abkommen mit             Mit dem Einsatz neuer Technologien können so auch
Bayer, Monsanto und BASF im darauffolgenden Jahr.           das bäuerliche Wissen und die Praxis faktisch ent-
2017 kaufte AGCO eine der wichtigsten auf Daten             wertet werden und verloren gehen.
spezialisierten Tochtergesellschaften von Monsanto,            Nicht nur die Kleinbauern und -bäuerinnen, son-
während der Konzern sein Geschäftsfeld gleichzeitig         dern auch die Landarbeiterinnen und Landarbeiter
auf landwirtschaftliche Drohnen und Joint Ventures          werden immer stärker überwacht. So setzt Cargill etwa
mit einer Vielzahl von landwirtschaftlichen Daten-          Drohnen zur Überwachung von Palmölplantagen in
Start-ups ausdehnte.                                        Malaysia ein. Cargill gibt vor, dies in erster Linie zu
   Durch diese eingekaufte Expertise können die             tun, um sicherzustellen, dass keine illegale Abholzung
Landmaschinenhersteller nun mit Hilfe von Sensoren          geschieht. Tatsächlich wird aber auch die Arbeit der
an den verkauften Traktoren jeden Quadratzentime-           Landarbeiter kontrolliert.⁵
ter des Ackers überwachen. Sie wissen genau, welches           Ein weiterer Punkt betrifft den Verlust von Arbeits-
Saatgut verwendet wird, welche Düngemittel und Pes-         plätzen durch digitale Technik: Die Landwirtschaft
tizide ausgebracht werden und wie die Qualität des          zählt zu den Bereichen, in denen menschliche Arbeits-
Bodens ist. Und am Ende der Anbausaison ernten die          kräfte besonders davon bedroht sind, durch Roboter
Maschinen die Ackerfrüchte und kennen das Ergebnis          und andere technische Instrumente ersetzt zu werden.
der eingesetzten Inputs somit ebenfalls genau. Die auf      Ein Beispiel hierfür ist der Einsatz von synthetischer
dem Betrieb gesammelten Daten können wiederum               Biologie beispielsweise bei Geschmacks- und Duftstof-
mit Markt- und Wetterdaten kombiniert werden. Die           fen: Nach Schätzungen der ETC Group beliefern etwa
aktuelle Dynamik deutet darauf hin, dass in wenigen         20 Millionen kleinbäuerliche Familien sowie Arbeite-
Jahren Fusionen zwischen den »Bayers« dieser Welt           rinnen und Arbeiter in Ländern des globalen Südens
auf der einen Seite und AGCO, John Deere oder ande-         95 Prozent des Marktes für Aromastoffe und Gewürze
ren Landmaschinenherstellern auf der anderen Seite          wie Safran, Zimt und andere.⁶ Wenn die Herstellung
die vertikale Konzentration im Agrarbereich auf eine        in Zukunft zunehmend vom Feld ins Labor verlegt
neue Stufe heben könnten.⁴                                  wird, wäre die Existenzgrundlage all dieser Erzeuger
                                                            noch stärker bedroht als bisher.
Folgen für die Kleinbauern und Landarbeiter                    Insgesamt ist anzunehmen, dass die Digitalisierung
                                                            in der Landwirtschaft den negativen Strukturwandel
Die Folgen für bäuerliche Kleinerzeugerinnen und            in ländlichen Regionen beschleunigen wird. Die Klein-
-erzeuger weltweit können vielfacher Natur sein. His-       bäuerinnen und -bauern werden weiter an den Rand

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Agrarpolitik und soziale Lage

gedrängt, wenn sie sich die digitalen Technologien         schaft arbeiten, diskutiert werden muss, ist: wie und
nicht leisten und mit den industriellen Großbetrieben      vor allem von wem werden die gesammelten Daten
in punkto billige Produktion und Vermarktung nicht         verwaltet. Hier ist zu klären, ob es überhaupt sinn-
mithalten können. Kurz: Die bereits Marginalisierten       voll ist, wenige übergreifende digitale Plattformen mit
werden weiter marginalisiert.                              sämtlichen landwirtschaftlichen Daten bereitzustellen
                                                           oder ob Bauern und Bäuerinnen nur proaktiv ausge-
Chancen der Digitalisierung                                wählte Daten von ihren Höfen teilen sollten. Wenn es
                                                           nur wenige digitale Plattformen im landwirtschaftli-
Technologien sind per se weder schlecht noch gut.          chen Bereich geben soll, muss sichergestellt werden,
Es kommt in erster Linie darauf an, wessen Interes-        dass die Daten nicht von einer Handvoll Großkonzer-
sen durch deren Einführung bedient werden, wie und         ne, sondern demokratisch kontrolliert werden. Dies
von wem die Technologien entwickelt und genutzt            könnte etwa über einen Treuhandvertrag geregelt
werden und wer die Kontrolle über die Daten hat. Di-       werden. Darüber hinaus muss auch die Kontrolle über
gitale Technologien sollten so eingesetzt werden, dass     die Plattformen demokratisch geregelt werden.
sie Kleinerzeugerinnen und -erzeugern, Arbeitenden            Bei der Entwicklung von neuen Technologien soll-
in der Landwirtschaft und den Verbraucherinnen und         ten nicht nur die Interessen industrieller Betriebe,
Verbrauchern zugute kommen. Dafür gibt es vielfäl-         sondern besonders die Bedürfnisse kleinbäuerlicher
tige Möglichkeiten: Kleinbauern und -bäuerinnen            Erzeugerinnen und Erzeuger sowie deren finanzielle
könnten sich den erleichterten Informationsaustausch       Möglichkeiten beachtet werden. Dies sollte politisch
zunutze machen und sich vermehrt untereinander             etwa durch die Einrichtung beratender zivilgesell-
über Apps zu agrarökologischen Anbaumethoden               schaftlicher Gremien sichergestellt werden. Diese soll-
oder den Umgang mit bestimmten Pflanzenkrankhei-           ten dann neue Technologien vor deren Einführung be-
ten beraten, indem sie Fotos hochladen und Erfahrun-       werten und Maßnahmen zur Regulierung erarbeiten,
gen teilen. Dieser Austausch – auch über Kontinente        damit ein Missbrauch ausgeschlossen werden kann.
hinweg – ist vor dem Hintergrund gemeinsamer He-           Hierbei ist es ebenso wichtig abzuschätzen, welche
rausforderungen im Zuge der Anpassung an die Fol-          Effekte auf gesamte Gesellschaften zu erwarten sind.
gen des Klimawandels, wie beispielsweise vermehrte         Das Vorsorgeprinzip sollte hier Anwendung finden.
Dürren, sehr sinnvoll.
   An anderen Orten können lokale Gemeinschaften
Drohnen und Satellitenbilder nutzen, um Fälle von            Folgerungen     & Forderungen
Landraub oder Abholzung zuverlässiger zu dokumen-
tieren, als dies bisher möglich war, und so leichter         ■   Bisher werden in der öffentlichen Debatte mögliche
rechtliche Schritte einleiten zu können. So setzen Frau-         negative Auswirkungen der Digitalisierung in der
en der indigenen Guajajara-Community etwa Droh-                  Landwirtschaft auf Kleinbauern und -bäuerinnen
nen ein, um ihr Land zu überwachen.⁷ Ebenso können               sowie Landarbeiterinnen und Landarbeiter vor allem
Kleinbauern und -bäuerinnen (lokale) Blockchains                 im globalen Süden zu wenig diskutiert.
verwenden, um z. B. Zwischenhändler zu umgehen –             ■   Die Digitalisierung in der Landwirtschaft verändert
so bleibt der Gewinn in ihren Händen und gleichzeitig            die gesamte Agrarlieferkette: Neue Akteure kommen
wird Zeit gespart.⁸ Mithilfe von lokalen Blockchains             ins Spiel und eine vertikale Integration wird voran-
könnte auch die Sicherstellung von traditionellen und            getrieben. Im Kern steht die Kontrolle über Agrar-,
informellen Landnutzungsrechten von Individuen                   Markt- und Verbraucherdaten.
und Kollektiven einfacher und transparenter verwal-          ■   Vonseiten der Politik muss eine demokratische
tet werden. Doch damit Kleinerzeuger tatsächlich von             Kontrolle von digitalen Plattformen und der Daten
den neuen Technologien profitieren können, müssen                sichergestellt werden.
strikte Rahmenbedingungen geschaffen werden, die             ■   Bei der Entwicklung und Einführung neuer Techno-
ihnen und ihren Organisationen den Zugang zu not-                logien müssen zum einen die Bedürfnisse der Erzeu-
wendigen Informationen und die Kontrolle über Da-                gerinnen und Erzeuger berücksichtigt werden und
ten gewährleisten und gleichzeitig die Macht großer              zum anderen mögliche Effekte auf Gesellschaften
Agrar- und Big-Data-Konzerne einschränken.                       geprüft werden. Hier gilt es, dem Vorsorgeprinzip
                                                                 Rechnung zu tragen.
                                                             ■   Um die Macht großer (Agrar-)Konzerne einzuschrän-
Politik und Zivilgesellschaft müssen
                                                                 ken, muss die Fusionskontrolle verschärft werden
aktiv gestalten
                                                                 und die Entflechtung zu großer Konzerne muss
Eine wichtige Frage, die gemeinsam mit der Zivilge-              rechtlich möglich gemacht werden.
sellschaft und mit den Menschen, die in der Landwirt-

                                                                                                                        89
Der kritische Agrarbericht 2019

   Schließlich braucht es dringend eine Verschärfung                system und gibt die zentralen Ergebnisse wieder. Die Studie kann
der Fusionskontrolle in Deutschland sowie der Eu-                   bei INKOTA kostenlos (in der deutschen oder der englischen Fas-
                                                                    sung) bestellt werden und steht zum Download zur Verfügung:
ropäischen Union (und langfristig auch im globalen
                                                                    https://webshop.inkota.de/node/1551.
Maßstab), damit ohnehin große Digital- und Agrar-
konzerne nicht ungehindert weiterwachsen und ihre
Macht ausweiten und damit Instrumente geschaffen                    Das Thema im Kritischen Agrarbericht
werden, um zu große Konzerne wirksam entflechten                    X Stig Tanzmann und Bernd Voß: Digitalisierung der Landwirt-
                                                                      schaft – Entwicklungspolitische und bäuerliche Perspektiven
zu können. Hier gibt es aktuell große Baustellen: So
                                                                      auf die Zukunft der Landwirtschaft im globalen Süden und Nor-
untersagen sowohl Bundeskartellamt als auch die                       den. In: Der kritische Agrarbericht 2018, S. 112–118.
Wettbewerbskommission der Europäischen Union
kaum eine Fusion und beachten die Effekte vertikaler
Integration – also Fusionen von Unternehmen in vor-                 Anmerkungen
oder nachgelagerten Produktionsstufen, beispielswei-                  Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 19. Legislatur-
                                                                       periode. S. 44 (www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/
se Landmaschinenhersteller und Saatgutunterneh-
                                                                       koalitionsvertrag_2018.pdf?file=1).
men – viel zu wenig. Völlig unter den Tisch fallen bei                C. Malmo: One bitcoin transaction now uses as much energy
der Fusionskontrolle außerdem soziale, ökologische                     as your house in a week. VICE Motherboard, November 2017
und menschenrechtliche Auswirkungen von Firmen-                        (https://motherboard.vice.com/en_us/article/ywbbpm/bit-
zusammenschlüssen. Diese sog. außerökonomischen                        coin-mining-electricity-consumption-ethereum-energyclima-
                                                                       te-change).
Ziele werden laut der Wettbewerbsbehörden sowie                       AGCO: Who We Are. History (www.agcocorp.com/about/agco-
der meisten Wirtschaftspolitiker durch andere staat-                   history.html).
liche Institutionen ausreichend geprüft. Eine Berück-                 Siehe hierzu auch den Teilbeitrag von Stig Tanzmann im Kriti-
sichtigung von Folgen jenseits von Marktanteilen und                   schen Agrarbericht 2018, S. 112–116.
                                                                      »Cargill: Cargill issues new palm oil sustainability report.« Cargill
Konsumentenwohlfahrt wird als starker politischer
                                                                       News, 6. April 2015 (www.cargill.com/story/cargill-issues-new-
Eingriff wahrgenommen. Um im Sinne der Ernäh-                          palm-oil-sustainability-report).
rungssouveränität sowie auch der Agenda 2030 eine                     »IFEAT: News from around the globe.« IFEATWORLD, Mai 2014
selbstbestimmte, sozial gerechte und ökologisch nach-                  (https://ifeat.org/wp-content/uploads/2017/03/2014_may_
haltige Landwirtschaft und Ernährung sicherzustellen,                  ifeat_world.pdf).
                                                                      T. Lazzeri: Guerreiras da floresta enfrentam madeireiros em
sind auf diesem Gebiet noch dicke Bretter zu bohren.                   defesa de terra indígena. Repórter Brasil, März 2018 (https://
(Siehe hierzu auch den Beitrag von Maria Heubuch in                    reporterbrasil.org.br/2018/03/desmatamento-indigena-
diesem Kritischen Agrarbericht, S. 56–60.)                             guerreiras-da-floresta-enfrentam-madeireiros-maranhao/).
   Die Ursachen von Hunger und Armut sowie von                        C. Cornish: Ag tech fundraising doubles as farmers seek disrupti-
                                                                       ve solutions. In: Financial Times, 8. Januar 2018 (www.ft.com/
ökologischen Krisen sind überaus komplex. Oft haben
                                                                       content/02950380-d6f2-11e7-a303-9060cb1e5f44).
sie mit der Diskriminierung von marginalisierten Be-
völkerungsgruppen, der Kriminalisierung von Akti-
visten oder dem ungerechten Zugang zu und Kontrol-
le über (natürliche) Ressourcen zu tun. Vieles davon
hängt mit unfairen Machtverhältnissen in Gesellschaf-
ten zusammen. Die Digitalisierung der Landwirtschaft                                     Lena Michelsen
bietet nun eine technische Lösung für ein viel komple-                                   Referentin für globale Landwirtschaft und
                                                                                         Welternährung beim INKOTA-netzwerk e.V.
xeres Problem. Ähnlich wie das Narrativ rund um die
Grüne Revolution krachend gescheitert ist, wird auch                                     Chrysanthemenstraße 1–3, 10407 Berlin
das neue Meganarrativ der Digitalisierung scheitern,                                     michelsen@inkota.de
wenn gegenwärtige Entwicklungen fortgeschrieben
werden. Zeit für ein Umdenken!

                                                                                         Jan Urhahn
Hinweis                                                                                  Referent für globale Landwirtschaft und
Dieser Beitrag basiert auf der 2018 von Pat Mooney verfassten und                        Welternährung beim INKOTA-netzwerk e.V.
vom INKOTA-netzwerk, der ETC Group, GLOCON und der Rosa-
Luxemburg-Stiftung herausgegebenen Studie Blocking the chain –                           Chrysanthemenstraße 1–3, 10407 Berlin
Konzernmacht und Big-Data-Plattformen im globalen Ernährungs-                            urhahn@inkota.de

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