AMNESTY MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz

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AMNESTY MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
AMNESTY
                                                                                                     Nr. 89
                                                                                                         72
                                                                                             Dezember
                                                                                                 März 2017
                                                                                                      2012

MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE

BITTE LESEN!
AUTORINNEN UND AUTOREN SCHREIBEN
ÜBER MENSCHENRECHTE
                      Mit Beiträgen von
                      Franz Hohler
                      Milena Moser
                      Gabriel Vetter
                      Guy Krneta
                      Dana Grigorcea
                      Michael Guggenheimer

JEMEN                           USA                                 SCHWEIZ
Hunger und andere Waffen        Der Anti-Menschenrechts-Präsident   Hassverbrechen stoppen
AMNESTY MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
© AI

                                                                                                                                                                                                                                                                                     INHALT_MÄRZ 2017
                                                                                                Titelbild
                                                                                                Das Titelbild und die Illustrationen in diesem Dossier
                                                                                                stammen von Anne-Marie Pappas.

                                                                                                        AKTUELL                                                                                                          THEMA
                                                                                                4        Good News                                                                                               24       Jemen
                                                                                                6        Aktuell im Bild                                                                                                  Hunger und andere Waffen
                                                                                                7        Nachrichten
                                                                                                9        Brennpunkt
                                                                                                         Ausgerechnet Libyen

                                                                                                                                                                                                                                                             Im brutalen Konflikt in Jemen
                                                                                                                                                                                                                                                             werden völkerrechtswidrige
                                                                                                        DOSSIER                                                                                                                                              Mittel eingesetzt.
                                                                                                        Bitte lesen!
                                                                                                                                                                                                                 27       Asyl Schweiz
                                                                                                                                                                                                                          Die Kostenfrage
                                                                                                                                                                                                                 30       LGBTI
                                                                                                                                                                                                                          Hassverbrechen stoppen
                                                                                                                                                                                                                 32       USA
                                                                                                                                                                                                                          Der Anti-Menschenrechts-Präsident

                                                                                                                                                                                                                         KULTUR
                                                                                                10      Die Kraft des Wortes:
                                                                                                        Carte Blanche für Schweizer Autorinnen und Autoren                                                       34       Film
                                                                                                                                                                                                                          Zusammenstoss im Kastenwagen

        WILLKOMMEN IN DER SCHWEIZ?
                                                                                                12      Die Stiefel                                                                                              35       Buch
                                                                                                        Von Milena Moser                                                                                                  Eine Scheherazade unserer Tage
                                                                                                14      Hätte                                                                                                    37       Film
                                                                                                        Von Franz Hohler                                                                                                  Unschuldig bestraft

       FÜR EINE WILLKOMMENSKULTUR GEGENÜBER FLÜCHTLINGEN                                        16      Mara B.
                                                                                                        Von Dana Grigorcea

       AUF GRUNDLAGE DER MENSCHENRECHTE                                                         18      Das Herz der Schweiz
                                                                                                        Von Gabriel Vetter
                                                                                                                                                                                                                         AKTION
                                                                                                                                                                                                                 38       Aktion
                                                                                                20      Der neue Nobelpreisträger
                                                                                                                                                                                                                          Briefe gegen das Vergessen
                                                                                                        Von Guy Krneta
       Ein Podium, eine Aktion und Workshops          Amnesty International und andere
                                                      Organisationen setzen sich für eine       22      Bedrohte Freiheit des Wortes
       zu ­diesem Thema finden an der General­                                                          Von Michael Guggenheimer
                                                      Asylpolitik in der Schweiz ein, die mit
       versammlung der Schweizer Sektion von
                                                      internationalem Recht vereinbar ist.
       Amnesty International statt:
                                                      Vor dem aktuellen politischen Hinter­
       Samstag und Sonntag, 22. und 23. April 2017,   grund ist die Arbeit für eine mit den
                                                                                                Impressum: «AMNESTY», Magazin der Menschenrechte, Nr. 89, März 2017. Verantwortliche Redaktion: Manuela Reimann Graf (mre.), Carole Scheidegger (cas., verantwortliche Redaktorin). MitarbeiterInnen
       Universität Basel                              Menschenrechten kompatible Asyl­          dieser Nummer: Ulla Bein, Jürg Bischoff, Alain Bovard, Dana Grigorcea, Michael Guggenheimer, Franz Hohler, Julie Jeannet, Guy Krneta, Tobias Kuhnert, Milena Moser, Reto Rufer, Gabriel Vetter. Korrek-

                                                      politik eine grosse Herausforderung.      torat: Korrektorat Vogt, Bern und Korrektorat Kurt Wilhelm, Oftringen. Übersetzung: Franziska Fausch, Lyss. Gestaltung: www.muellerluetolf.ch. Druck: Stämpfli AG, Bern. Die Mitgliederzeitschrift «AMNESTY»

       Anmeldung auf www.amnesty.ch/gv                Wie kann das erreicht werden? Vor
                                                                                                erscheint viermal jährlich in Deutsch und Französisch. Redaktionsschluss der nächsten Nummer: 14. April 2017. Distribution: «AMNESTY, Magazin der Menschenrechte» erhalten alle, die die Schweizer
                                                                                                Sek­tion von Amnesty International mit mindestens 30 Franken jährlich unterstützen. Über die Veröffentlichung von Fremdbeiträgen entscheidet die Redaktion. Alle Rechte vorbehalten. © Amnesty
                                                                                                Inter­national, Schweizer Sektion. Spendenkonto: Amnesty International, Schweizer Sektion, 3001 Bern (PC 30-3417-8). Redaktions­adresse: Magazin «AMNESTY», Redak­              tion, Postfach, 3001 Bern.
                                                      welchen Fragen steht die Gesellschaft?    Tel.: 031 307 22 22, E-Mail: info@amnesty.ch. Auflage: 86 600 (dt.).

                                                      Wie sehen die Erwartungen und             www.amnesty.ch            facebook.com/amnesty.schweiz             twitter.com/amnesty_schweiz      International: www.amnesty.org

                                                      Hoffnungen von Asylsuchenden aus?
                                                                                                                                                                                                                                                                                                               3
                                                                                                AMNESTY März 2017
AMNESTY MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
A K T U E L L _ EN DA IC THORRI ICAHLT E N                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    AKTUELL_BRENNPUNKT

                                             Literatur bringt uns an Orte, die
                                             wir kaum je besuchen könnten.
                                             Ein Flüchtlingslager in der West-
                                             sahara, ein Slum in Indien, ein
                                             Gefängnis im Südafrika der
                                             Apartheidszeit. Sie lässt uns mit
                                                                                  GOOD NEWS Künstler freigelassen
                                                                                            KUBA − Danilo Maldonado Machado, der als Graffitikünstler «El Sexto»
                                                                                            bekannt ist, wurde am 21. Januar aus dem Hochsicherheitsgefängnis
                                                                                            in Havanna freigelassen. Er war kurz nach der Bekanntgabe des To-
                                                                                            des von Fidel Castro festgenommen worden, weil er ein Graffiti mit
                                                                                            dem Text «Se fue» (Er ist gegangen) an eine Wand in Havanna ge-
                                                                                            sprüht habe. Maldonado Machado blieb fast zwei Monate inhaftiert.
                                                                                                                                                                           legten mehrfach Rechtsmittel
                                                                                                                                                                           ein. Nach einer Neuverhandlung
                                                                                                                                                                           am 30. November 2016 ent-
                                                                                                                                                                           schied das Gericht, dass es Wi-
                                                                                                                                                                           dersprüche im Beweismaterial
                                                                                                                                                                           gebe und dass die Rechtmässig-
                                                                                                                                                                           keit der Geständnisse nicht si-
                                                                                                                                                                           cher sei. Die Gefangenen wurden
                                                                                                                                                                                                                                                                   Mehr Schutz für Roma
                                                                                                                                                                                                                                                                   UNGARN – «Es war die Hölle. Flaschen und Steine fielen auf uns wie in
                                                                                                                                                                                                                                                                   einem Hagelsturm», erinnert sich Alfréd Király. «Die Kinder gerieten in
                                                                                                                                                                                                                                                                   Panik. Wir baten die Polizei uns zu beschützen, aber diese tat nichts.»
                                                                                                                                                                                                                                                                   Es war am 5. August 2012, als über 500 rechtsgerichtete Demonstrie-
                                                                                                                                                                                                                                                                   rende im Dorf Devecser die Häuser von Roma angriffen und drohten,
                                                                                                                                                                                                                                                                   sie anzuzünden. Dazu skandierten sie rassistische Sprüche. Zwei der
                                                                                                                                                                                                                                                                   betroffenen Roma-Familien haben nun vor Gericht einen Sieg erreicht:
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  IN KÜRZE
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  ANGOLA – Vier Jugendaktivisten,
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  die der Revolutionsbewegung von
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Benguela (Movimento Revolu­
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  cionário de Benguela) angehören,
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  sind gegen Kaution aus der Haft
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  entlassen worden. Es war nie An­

                                                                                 © Privat
                                                                                                                                                                           unverzüglich freigelassen.                                                              Am 17. Januar verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschen-                            klage erhoben worden.
                                             Menschen lieben und leiden,                                                                                                                                                                                           rechte den ungarischen Staat zu einer Entschädigungszahlung. Das
               die wir nie kennengelernt haben. Oder sie bringt uns                                                                                                        Haftverkürzung                                                                          Gericht verurteilte die Passivität der Polizei vor Ort und das Verschlep-                      PAKISTAN – Der Menschenrechts­
                                                                                                                                                                           für Chelsea Manning                                                                     pen der Ermittlungen durch die Justiz. Es kritisierte auch, dass die                           verteidiger Wahid Baloch ist vier
               dazu, die Verhältnisse hier vor unserer Haustüre zu
                                                                                                                                                                           USA – Unmittelbar vor dem Ende                                                          Hetzreden nicht verfolgt wurden, obwohl sie zu Gewalt aufriefen.                               Monate nachdem die Staatssi­
               hinterfragen. Literatur zeigt uns, wie die Welt auch                                                                                                        seiner Amtszeit hat US-Präsident                                                                                                                                                       cherheitsbehörden ihn mutmass­

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                               © Kinga Kalocsai
               noch sein könnte.                                                                                                                                           Obama die Haftstrafe von Chel-                                                                                                                                                         lich in Karatschi «verschwinden»
                                                                                                                                                                           sea Manning verkürzt. Manning                                                                                                                                                          liessen, freigelassen worden.
               Wir haben Schweizer Autorinnen und Autoren gebe-                                                                                                            war zu 35 Jahren Gefängnis ver-                                                                                                                                                        Während der ganzen Zeit erhielt
               ten, für diese Ausgabe Texte beizusteuern, die sich                                                                                                         urteilt worden. Sie hatte Informa-                                                                                                                                                     seine Familie keinerlei Informa­
                                                                                                                                                                           tionen über mögliche Menschen-                                                                                                                                                         tionen zu seinem Verbleib.
               mit einem Menschenrechtsthema beschäftigen. An-                                                                                                             rechtsverletzungen und Verstösse
               sonsten gaben wir ihnen eine «Carte Blanche». Wir                                                                                                           gegen das Völkerrecht durch                                                                                                                                                            VENEZUELA – Nach mehr als zwei
                                                                                                                                                                           die US-Streitkräfte öffentlich ge-                                                                                                                                                     Jahren Haft ist der venezolani­
               hoffen, Sie freuen sich über das Ergebnis genauso
                                                                                                                                                                           macht. Es gibt schwerwiegende                                                                                                                                                          sche Menschenrechtsaktivist
               sehr wie wir, und wünschen Ihnen eine gute Lektüre                                                                                                          Bedenken hinsichtlich der Um-                                                                                                                                                          Rosmit Mantilla wieder frei. Der
               der Texte von Dana Grigorcea, Franz Hohler, Guy                                                                                                             stände, unter denen Manning in                                                                                                                                                         Politiker der Oppositionspartei
                                                                                                                                                                           Untersuchungshaft festgehalten                                                                                                                                                         Voluntad Popular hatte sich für
               Krneta, Milena Moser und Gabriel Vetter. Sie laden                                                                                                          wurde. So hatte Amnesty die                                                                                                                                                            die Rechte von Lesben, Schwu­
               uns ein zum Staunen, Schmunzeln, Erschrecken und                             Danilo Maldonado Machado in seinem Studio.                                     Nichteinhaltung rechtsstaatlicher                                                                                                                                                      len, Bi-, Trans- und Intersexuel­
                                                                                                                                                                           Prinzipien kritisiert. Manning soll                                                                                                                                                    len eingesetzt und war im Mai
               Erkennen.
                                                                                            Aslı Erdoğan (vorläufig) frei          nach dem Putschversuch ge-              nun im Mai aus dem Hochsicher-                                                          Die rechten Demonstrierenden in Devecser wurden von der Polizei nicht                          2014 festgenommen worden.
               Die subversive Kraft der Literatur kann für deren                            TÜRKEI − Am 29. Dezember wur-          schlossen. Der Prozess soll im          heitsgefängnis entlassen werden.                                                        aufgehalten.
               SchafferInnen aber auch gefährlich sein. Schriftstel-                        de der Prozess gegen die               März fortgeführt werden. Mehr                                                                                                                                                                                                  INDIEN – Der Menschenrechtsver­
                                                                                            Schriftstellerin Aslı Erdoğan und      zu SchriftstellerInnen in Gefahr                                                                                                Killerroboter im Visier                                                                        teidiger Khurram Parvez wurde

                                                                                                                                                                                                                 © Sharron Ward / Campaign to Stop Killer Robots
               ler und PEN-Schweiz-Präsident Michael Guggenhei-                             acht weitere Angeklagte vor ei-        lesen Sie auf S. 22.                                                                                                            UNO – 2017 könnte das Verbot von Killerrobotern einen entscheiden-                             Ende November aus der Haft
               mer legt dar, was seinen Kolleginnen und Kollegen                            nem Istanbuler Gericht eröffnet.                                                                                                                                       den Schritt vorankommen. Auf der 5. Konferenz zur Überprüfung der                              entlassen. Er war unter dem Vor­
                                                                                            Sogleich ordnete das Gericht an,       Todesurteil aufgehoben                                                                                                          Uno-Waffenkonvention in Genf vom vergangenen Dezember beschlos-                                wurf festgenommen worden, eine
               blühen kann, wenn sie das Missfallen der Obrigkeit                           die schwerkranke Aslı Erdoğan,         CHINA – Über 13 Jahre nachdem                                                                                                   sen VertreterInnen von 89 Staaten, die Verhandlungen über ein Verbot                           unmittelbare Bedrohung des öf­
               erregen. Dass so viele Literaturschaffende weltweit im                       die 70-jährige Linguistin und          Huang Zhiqiang, Fang Chunping,                                                                                                  auszuweiten. Killerroboter sind autonome Waffensysteme, die Ziele                              fentlichen Friedens darzustellen,
                                                                                            Übersetzerin Necmiye Alpay so-         Cheng Fagen und Cheng Lihe                                                                                                      ohne nennenswerte menschliche Kontrolle auswählen und angreifen                                kam jedoch nach wenigen Tagen
               Gefängnis zum Schweigen gebracht werden sollen,
                                                                                            wie den stellvertretenden Chef-        zum Tode verurteilt worden sind,                                                                                                können. Sie würden zwar die Sicherheit von SoldatInnen und PolizistIn-                         wieder frei. Kurz darauf nahm
               beweist auf drastische Weise: Literatur wirkt.                               redaktor von «Özgür Gündem»,           hat das Hohe Volksgericht in der                                                                                                nen im Einsatz erhöhen, jedoch die Hemmschwelle senken, überhaupt                              man ihn abermals fest; nun wur­
                                                                                            Zana Kaya, aus der Untersu-            Provinz Jiangxi ein neues Urteil                                                                                                in bewaffnete Konflikte einzutreten, kritisiert Rasha Abdul Rahim, die                         de er der Anstiftung zu Gewalt
                       Carole Scheidegger, verantwortliche Redaktorin                      chungshaft zu entlassen.               verkündet, das «nicht schuldig»                                                                                                 bei Amnesty in London für Rüstungskontrolle zuständig ist. Die auto-                           gegen Sicherheitskräfte beschul­
                                                                                            Erdoğan verbrachte 132 Tagen           lautet. Die vier waren 2003 we-                                                                                                 matisierten Waffensysteme können nicht zwischen ZivilistInnen und                              digt. Am 25. November erklärte
                                                                                            in Untersuchungshaft. Ihr «Ver-        gen Mord, Vergewaltigung, Raub                                                                                                  SoldatInnen unterscheiden und lassen sich kaum auf die Regeln des                              das Hohe Gericht des Bundes­
               Übrigens: Für unsere Westschweizer Ausgabe haben                             brechen» hatte darin bestanden,        und Erpressung zum Tode verur-                                                                                                  internationalen Kriegsvölkerrechts programmieren, so Abdul Rahim.                              staates Jammu und Kaschmir die
                                                                                            eine Kolumne für die kurdische         teilt worden. Sie bekräftigten aber                                                                                                                                                                                            Inhaftierung von Khurram Parvez
               SchriftstellerInnen aus der Romandie geschrieben.
                                                                                            Tageszeitung «Özgür Gündem»            immer, dass sie unter Folter und                                                                                                Die Kampagne gegen Killerroboter dauert schon einige Jahre an. Nun                             für willkürlich und rechtswidrig.
               Sie finden deren Texte auf www.amnesty.ch/fr.                                zu schreiben. Die Zeitung wurde        Zwang «gestanden» hätten, und                                                                                                   gibt es Aussicht auf Erfolg.

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                                                                                                                                                       AMNESTY März 2017   AMNESTY März 2017
AMNESTY MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
AKTUELL_IM BILD                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            AKTUELL_NACHRICHTEN

                                                                                                                                                                                                                Widerspruch unerwünscht                                                                                  Standortpolitik                        tung gebührend wahrnehmen».

                                                                                                                                                     © Reuters/Mohammad Ponir Hossain
                                                                                                                                                                                                                THAILAND – Die thailändischen Behörden bestrafen abweichende Mei-                                        mit Scheuklappen                       Trotzdem enthält der Aktionsplan
                                                                                                                                                                                                                nungen hart. Sie nehmen politische AktivistInnen ins Visier, die nichts                                  SCHWEIZ – Der Bundesrat empfahl        keine einzige verbindliche neue
                                                                                                                                                                                                                anderes tun, als friedlich ihre Grundrechte wahrzunehmen. Gegen                                          die Konzernverantwortungsinitiati-     Massnahme. Offenbar ist der
                                                                                                                                                                                                                Dutzende von MenschenrechtsverteidigerInnen, Demokratie-Aktivis-                                         ve (Kovi) am 11. Januar 2017 zur       Bundesrat nicht bereit, den Wor-
                                                                                                                                                                                                                tInnen und Studierende wird derzeit mithilfe drakonischer Gesetze                                        Ablehnung. «Damit verpasst er          ten auch Taten folgen zu lassen.
                                                                                                                                                                                                                und Verfügungen vorgegangen. Wie ein Bericht von Amnesty Interna­                                        die Gelegenheit, die grossen Her-      Diese Scheuklappenpolitik habe
                                                                                                                                                                                                                tional zeigt, schränken die Behörden die Meinungsäusserungs- und                                         ausforderungen im Bereich Wirt-        nicht nur für die Opfer von Men-
                                                                                                                                                                                                                Versammlungsfreiheit stark ein.                                                                          schaft und Menschenrechte              schenrechtsverletzungen durch
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         ernsthaft anzugehen», kommen-          Schweizer Konzerne gravierende

                                                                                                                                                                                        © Yingcheep Atchanont
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         tierte die Koalition von Organisati-   Folgen, so die Kovi-Koalition wei-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         onen, die hinter Kovi stehen, die      ter. Auch die zahlreichen Unter-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Stellungnahme der Regierung. Im        nehmen, die heute schon Wert
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Nationalen Aktionsplan für Wirt-       auf eine faire und sozial nachhalti-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         schaft und Menschenrechte von          ge Geschäftstätigkeit legen, wür-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Dezember 2016 unterstreicht der        den darunter leiden. Für sie wä-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Bundesrat seine Erwartung, dass        ren verbindliche Vorgaben des
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         «in der Schweiz ansässige und/         Bundes nötig, damit alle Unter-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         oder tätige Unternehmen […] ihre       nehmen die gleichen Vorausset-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         menschenrechtliche Verantwor-          zungen hätten.

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         AUSZEICHNUNG

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        © Christian Brun
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Unsere Volontärin Julie Jeannet hat ihre
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Ausbildung zur Journalistin am West-
                                                                                                                                                                                                                In Haft wegen eines kritischen Facebook-Posts: Student Jatupat Boonpattararaksa.                         schweizer Centre de Formation au
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Journalisme et aux Médias erfolgreich
                                                                                                                                                                                                                Siedlungen legalisiert                                                                                   bestanden. Sie war eine der vier
                                                                                                                                                                                                                ISRAEL/ BESETZTE PALÄSTINENSISCHE GEBIETE – Das israelische Parla-                                       FinalistInnen für den «Prix 2017 du
                                                                                                                                                                                                                ment hat mit einem Gesetz rund 4000 Wohneinheiten von SiedlerIn-                                         meilleur jeune journaliste de Suisse
                                                                                                                                                                                                                nen auf palästinensischem Privatland legalisiert. Die BesitzerInnen                                      romande» («Preis für den besten jungen        AMNESTY-Volontärin Julie Jeannet
       MYANMAR – Der friedliche Eindruck täuscht: Dieser Mensch zählt zu den Zehntausenden von Rohingya, die aus Myanmar (dem ehemaligen Bur-                                                                   sollen mit Geld oder anderen Grundstücken entschädigt werden Die                                         Journalisten der Westschweiz»). Sie           (ganz rechts) an der Preisverleihung.
       ma) nach Bangladesch geflohen sind. In ihrer Heimat sind die Rohingya, eine muslimische Minderheit, unfassbarer Gewalt ausgesetzt. Ein Am-                                                               Siedlungen sind völkerrechtlich illegal: Gemäss Genfer Konventionen                                      überzeugte die Jury mit ihrer gründlichen
       nesty-Bericht belegte im Dezember, dass die Sicherheitskräfte Myanmars verantwortlich sind für rechtswidrige Tötungen, Vergewaltigungen und                                                              ist es einer Besatzungsmacht nicht erlaubt, die eigene Bevölkerung in                                    Arbeit und ihrem flüssigen Schreibstil. Gelobt wurde insbesondere
       das Abbrennen von Häusern und ganzen Dörfern. Auch die Uno berichtete im Februar von grauenhaften Vergehen. Demnach seien Prügel und                                                                     besetztem Gebiet anzusiedeln. Gegen das neue Gesetz könnte sich                                          ihre Reportage «Kinder, Küche und Gewalt» (AMNESTY Nr. 87) über
       Tötungen, auch von kleinen Kindern und Babys, an der Tagesordnung. Die Behörden Myanmars scheinen bei den Vergehen des Militärs an den                                                                   das Oberste Gericht Israels stellen. Es hatte auch entschieden, dass                                     die Situation von Frauen in der Türkei. Wir freuen uns sehr und
       Rohingya vorsätzlich wegzuschauen.                                                                                                                                                                       die israelische Siedlung Amona in den besetzten Gebieten geräumt                                         gratulieren unserer Kollegin zu dieser verdienten Auszeichnung.
                                                                                                                                                                                                                                                               werden muss. Bei der

                                                                                                                                                                                                                                                                © AP Photo/Oded Balilty
                                                                                                                                                                                                                                                               Räumung von Amona                                          JETZT ONLINE
                                                                                                                                                                                                                                                               kam es zu Gewalttätig-
                                                                                                                                                                                                                                                               keiten und Verletzten.                                        Zelten aus Solidarität: Anfang Februar veranstaltete Amnesty
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           in Bern eine Aktion der Solidarität mit Flüchtlingen, die in
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           Griechenland blockiert sind. Schauen Sie sich das Video an.

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            Theaterszenen: «Niemandsland» ist eine szenische Reise
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           durch Menschenrechtsthemen. Das Amnesty-Haus dient als
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           Kulisse. Klicken Sie sich durch die Galerie mit den Bildern vom
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           Theater.
                                                                                                                                                                                                                                                                                          Soldaten halten einen
                                                                                                                                                                                                                                                                                          israelischen Siedler bei der
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           Zu finden auf www.amnesty.ch/magazin-maerz17
                                                                                                                                                                                                                                                                                          Räumung von Amona fest.

6                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              7
                                                                                                                                    AMNESTY März 2017                                                           AMNESTY März 2017
AMNESTY MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
AKTUELL_NACHRICHTEN                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    AKTUELL_BRENNPUNKT

                                                                                                                                                                                                                            AUSGERECHNET LIBYEN
                     Amnesty-Report                       hasserfüllte Reden von Politi­                                                                              Autorin

                                                                                                © ZVG
                     WELTWEIT – Machthabende in           kerInnen ein Ausmass ange­                                                                                  hinter Gittern
                     verschiedenen Ländern machen         nommen wie zuletzt in den                                                                               IRAN – Die Schriftstelle-
                     die Welt mit ihrer «Wir gegen die    1930er-Jahren, sagte Amnesty-                                                                           rin und Menschen-
                     anderen»-Rhetorik gefährlicher.      Generalsekretär Salil Shetty bei                                                                        rechtsaktivistin Golrokh                                                                                                             unmenschliche Zustände. Asyl-         aus Nordafrika an Italiens Süd-

                                                                                                                                                                                                      © Daniel Etter/laif
                     Die Folge sind massive Rück-         der Veröffentlichung des Be-                                                                            Ebrahimi Iraee wurde                                                                                                                 suchende sitzen monatelang in         küsten angekommen – 20 Pro-
                     schritte für die Menschenrechte.     richts. Diese Politik verbreite die                                                                     Anfang Januar aus dem                                                                                                                Haftzentren fest, in welchen          zent mehr als im Vorjahr. Die
                     Davor warnt Amnesty Internatio-      gefährliche Idee, dass manche                                                                           Gefängnis entlassen,                                                                                                                 Folter und Zwangsarbeit an der        meisten davon über Libyen. Von
                     nal im Report 2016-17, der die       Menschen weniger wert seien als                                                                         doch keine drei Wochen                                                                                                               Tagesordnung sind. Wer sein           den anderen EU-Staaten wird
                     Menschenrechtslage in 159 Län-       andere. Dies erinnere an die dun-                        Golrokh Ebrahimi Iraee und Arash Sadeghi.      später wieder verhaftet.                                                                                                             Leben in die Hände von Schlep-        Italien im Stich gelassen. Die
                     dern beleuchtet. 2016 hätten         kelsten Zeiten der Menschheit.                                                                        Golrokh Ebrahim Iraee                                                                                                                  perInnen legt, dem droht ein          vereinbarten Relocation-Pro-
                                                                                                                   war wegen einer fiktiven, unveröffentlichten Geschichte, in welcher es                                                                                                              ähnliches Schicksal. Nicht sel-       gramme scheitern am fehlen-
                     Gesetz bringt Frauen in Gefahr                                                                                                                                                                                                                                                    ten werden MigrantInnen von           den Willen der europäischen
                                                                        © Denitza Tchacarova

                                                                                                                   um Steinigung geht, zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden. Ihr
                     RUSSLAND – Präsident Wladimir Putin hat eine                                                  Mann, Menschenrechtsverteidiger Arash Sadeghi, sitzt ebenfalls hinter                                                                                                               diesen gefoltert, um Geld von         Partnerstaaten, Flüchtlinge von
                     Gesetzesreform unterzeichnet, die manche                                                      Gittern. Er muss aufgrund seines Engagements eine 15-jährige Strafe                                                                                                                 den Verwandten zu erpressen.          Italien zu übernehmen.
                     Formen von häuslicher Gewalt weniger hart be-                                                 verbüssen. Arash Sadeghis Gesundheit ist nach einem Hungerstreik in
                     straft. «Häusliche Gewalt soll damit weiter trivia-                                           äusserst kritischem Zustand. Mit dem Hungerstreik hatte er gegen die                                                                                                                Das hält die EU jedoch nicht          Am Gipfeltreffen von Malta An-
                     lisiert werden. Viel zu oft stehen Opfer ohne                                                 Inhaftierung seiner Ehefrau protestiert.                                                                                                                                            davon ab, ausgerechnet Libyen         fang Februar haben die EU-
                     Schutz des Gesetzes da und die Täter kommen                                                                                                                                                            Hunderte von Migranten drängen sich                                        die Verantwortung dafür anzu-         Staaten einen 10-Punkte-Plan
                     ohne Strafe davon. Nur ein verschwindend klei-                                                Tausende Gefangene gehängt                                                                               im Abu Salim-Haftzentrum in Tripolis.                                      vertrauen, dass Flüchtlinge           verabschiedet. Einige der dort

                                                                                                                                                                                                                                                                    D
                     ner Teil der Angreifer muss wirklich ins Gefäng-    Protest gegen                             SYRIEN – Es ist ein Bericht des Grauens: Amnesty International hat ein                                                                                ie Staats- und Regierungs-    nicht mehr von dort aus ihre          geplanten Massnahmen klingen
                     nis», kommentiert Amnesty-Expertin Anna Kirey       Gewalt.                                   Jahr lang recherchiert, was sich hinter den Mauern des Militärgefäng-                                                                                 chefs und -chefinnen der      gefährliche Reise übers Mittel-       durchaus positiv: So soll es eine
                     die Reform. Russland hinkt hinter globalen Entwicklungen her, was                             nisses Saydnaya abspielt. Die Ergebnisse sind erschütternd. Jede Wo-                                                                             EU haben sich das Ziel gesetzt,    meer starten. Mit der Türkei hat      verstärkte Hilfe bei Ausbildung
                     den Schutz von Opfern häuslicher Gewalt angeht. Es fehlen staatliche                          che werden in diesem Gefängnis bis zu 50 Häftlinge unter völliger Ge-                                                                            die Fluchtrouten übers Mittel-     man dasselbe ja auch «erfolg-         und Ausrüstung der libyschen
                     Schutzhäuser, wirksame Schutzmechanismen und zu wenig PolizistIn-                             heimhaltung gehängt. Bis zu 13 000 Gefangene wurden so ermordet,                                                                                 meer weiter abzuschnüren.          reich» geschafft: Das im März         Küstenwache geben, um besser
                     nen sind gezielt im Umgang mit Opfern ausgebildet.                                            dazu kommen Tausende Tote, die durch Hunger, Durst oder Folter                                                                                   Dazu soll nun auch die Zusam-      2016 mit der Türkei geschlos-         gegen Schlepperbanden vor­
                                                                                                                   und Misshandlung umkamen. In Saydnaya sitzen vor allem Personen                                                                                  menarbeit mit Libyen gestärkt      sene Migrationsabkommen hat           gehen zu können. Internationa-
                                                                                                                   ein, die das Regime mit den Demonstrationen von 2011/2012 in Ver-                                                                                werden, einem noch völlig in-      die Zahl der Menschen, die via        len Organisationen will man hel-
                                    IN MEMORIAM                                                                    bindung bringt: Demonstranten, Journalisten, humanitäre Helfer. Am-                                                                              stabilen Staat, der die Einhal-    Türkei-Griechenland in Europa         fen, die Zustände in libyschen
                                    SIR NIGEL RODLEY 1941–2017                                                     nesty International fordert vom Uno-Sicherheitsrat und vor allem von                                                                             tung der Menschenrechte von        ankommen, stark reduziert. An         Flüchtlingslagern zu verbessern.
                                     Am 25. Januar 2017 ist mit Sir Nigel Rodley ein                               Syriens Verbündetem Russland, alles daranzusetzen, um diese Ver-                                                                                 MigrantInnen und Flüchtlingen      diesem Abkommen hält die EU
                                     Pionier der Menschenrechte gestorben. Als Leiter                              brechen gegen die Menschlichkeit zu beenden. Zentral ist, dass unab-                                                                             keineswegs garantieren kann.       deshalb nun auch fest. Trotz          Die eigentliche Intention hinter
                                     des juristischen Dienstes von Amnesty International                           hängige BeobachterInnen endlich Zugang zu Saydnaya erhalten.                                                                                                                        illegaler Ausschaffungen in           dem Plan ist aber von nicht
                                     startete Rodley 1975 die erste welt­weite Kampagne                                                                                                                                                                             Nicht nur hat die libysche         Kriegsgebiete, trotz der prekä-       wenigen RegierungschefInnen
                                                                                                © Cesare Davolio

                                     gegen Folter. Sie trug wesentlich zur Anti-Folter-                                                                                                                                                                             Einheitsregierung, die seit März   ren Lebensbedingungen von             der EU nur allzu deutlich ge-
                                     Konvention der Uno bei, einem zentralen Text im                                                                                                                                                                                2016 im Amt ist, noch keine        Asylsuchenden in der Türkei.          macht worden: Es geht in aller-
© Jean-Marie Simon

                      Menschenrechtsschutz. Sir Nigel Rodley gehörte auch zu den                                                                                                                                                                                    vollständige Kontrolle über Land   Auch die Schweiz will nun mit         erster Linie darum, Asylsuchen-
                      Ersten, die die Todesstrafe unter allen Umständen ablehnten.                                                                                                                                                                                  und Küsten; verschiedene Mili-     einem geplanten Rücknahme-            de in Libyen zu belassen oder
                      Für Amnesty war er zudem auf zahlreichen Untersuchungen im                                                                                                                                                                                    zen beherrschen Teile des Lan-     abkommen abgewiesene Asyl-            dorthin zurückzu­schicken.
                      Feld. Seine Empathie war für die Opfer von Menschenrechtsver­                                                                                                                                                                                 des. Der Präsident wird vom        suchende der türkischen Re-           Ganz so schnell wird sich die
                      letzungen eine grosse Stütze. Nach seiner Zeit bei Amnesty                                                                                                                                                                                    Parlament nicht anerkannt, es      gierung anvertrauen.                  Lage in Libyen aber nicht ver-
                      International war er Uno-Sonderberichterstatter zu Folter und                                                                                                                                                                                 kämpfen weiterhin zwei Fraktio-                                          bessern, als dass man damit
                      später Mitglied des Uno-Menschenrechtsausschusses.                                                                                                                                                                                            nen um die Macht.                  Nun also Libyen. Die Zusam-           nicht gravierende Menschen-
                      Für Amnesty International ist Sir Rodley stets «Nigel» geblieben.                                                                                                                                                                                                                menarbeit mit der Einheitsregie-      rechtsverletzungen gegenüber
                      Wer seine Bekanntschaft machte, behält einen bescheidenen                                                                                                                                                                                     Vor allem aber sind Flüchtlinge    rung war von Italien initiiert wor-   Schutzbedürftigen in Kauf näh-
                      und warmherzigen Menschen in Erinnerung. Seine Menschlich­                                                                                                                                                                                    und MigrantInnen in Libyen         den, das denn auch die                me. Aber das ist ja dann nicht
                      keit und sein Engagement bleiben eine starke Quelle der                                                                                                                                                                                       massiven Menschenrechtsver-        Hauptlast dieser Migrationsrou-       mehr Europas Problem.
                      Inspiration.                                              Alain Bovard                      Die wenigen Häftlinge, die Saydnaya entkommen sind, berichten von systematischer                                                                 letzungen ausgesetzt: In vielen    te trägt: Im vergangenen Jahr
                                                                                                                   Folter und Erniedrigung, Vergewaltigungen sowie Nahrungs- und Wasserentzug.                                                                      Flüchtlingscamps herrschen         sind rund 180 000 Flüchtlinge         Manuela Reimann Graf

     8                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           9
                                                                                                                                                                                 AMNESTY März 2017                          AMNESTY März 2017
AMNESTY MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
W       as ist schon mächtiger
                                                                               als die Fantasie? Literatur
                                                                       lässt neue Welten entstehen
                                                                       und bringt uns dazu, ungeahnte
                                                                       Zusammenhänge zu verstehen.
                                                                       Deshalb haben wir Schweizer
                                                                       Autorinnen und Autoren gebeten,
                                                                       für dieses AMNESTY-Magazin Texte
                                                                       beizusteuern, die sich mit der
                                                                       Lage der Menschenrechte be-
                                                                       schäftigen. Wir wünschen Ihnen
                                                                       viel Freude beim Entdecken.
                                                                       Ihre Wortgewalt bringt Schrift-
                                                                       stellerInnen aber auch immer
                                                                       wieder in Gefahr. Vielleicht nicht
                                                                       bei uns, doch an vielen Orten der
                                                                       Welt. Drohungen, Zensur, Gefäng-
                                                                       nis: Was Autoren und Autorinnen
                                                                       blühen kann, nur weil sie schrei-
                                                                       ben, lesen Sie ebenfalls in diesem
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Die Illustrationen zu diesem Dossier stammen
von Anne-Marie Pappas. Die gebürtige Lausannerin
hat Grafikdesign studiert und lebt als freischaffende
                                                            Die Kraft des Wortes
Illustratorin in Hamburg. Sie arbeitet für Zeitschriften,
Werbung und Musiklabels.
www.annemariepappas.com
AMNESTY MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
DOSSIER_SCHRIFTSTELLERiNNEN

                                                 Die Stiefel.
                                                  Von Milena Moser                        «Was ist los?», frage ich und setze mich zu ihm.
                                                                                          «Ich weiss nicht», sagt er. «Ich kann nicht arbeiten.»
       Milena Moser (geb. 1963 in
                                                                                          «Fühlst du dich nicht wohl?» Er hat eine Nierentransplan-
       Zürich) ist Autorin zahlreicher
                                                                                      tation, mehrere Herzinfarkte, Schlaganfälle und Hirnblutun-
       Romane und Kolumnen,
                                                                                      gen hinter sich. Unmöglich, sich um diesen Mann keine Sor-
       darunter Bestseller wie «Die
                                                                                      gen zu machen. Auch wenn er immer noch zehn Stunden
       Putzfraueninsel». Im Februar ist
                                                                                      ohne Pause in der Werkstatt arbeiten, mit schwerem Gerät
       ihr neues Buch, «Hinter diesen
                                                                                      hantieren, Materialien herumschleppen kann. In den Jahren
       blauen Bergen», erschienen.
                                                                                      mit ihm bin ich gegen meinen Willen zur Expertin in medi-
       Milena Moser lebt in Santa Fe.
                                                                                      zinischen Notfällen geworden. Ich kenne die verschiedenen
                                                                                      Notaufnahmen in der Stadt und ich weiss, was ich sagen
                                                                                      muss, um nicht lange warten zu müssen. Ich kenne den Jar-
                                                                                      gon.

                   S   ie sind aus hartem, etwas brüchigem schwarzem Leder,
                       kniehoch, mit einem weiten Schaft und einer grossen sil-
                   bernen Schnalle über dem Rist. Es sind weder Reit- noch Mo-
                                                                                          «Mein Herz schlug plötzlich so schnell, dass ich gar nicht
                                                                                      mehr richtig atmen konnte», sagt er. «Ich hatte das Gefühl,
                                                                                      es werde mir gleich schlecht. Da hab ich mir gesagt, vielleicht
                   torradstiefel. Aber sie erinnern an beides. An Pferde und          sollte ich jetzt besser nicht mit der Kreissäge arbeiten. Und
                   grosse Motorräder. Wirklich bequem sind sie nicht. Aber ich        bin nach oben gekommen.» Er trinkt sein Glas leer. «Aber
                   fühle mich unbesiegbar, wenn ich sie trage. Ich werde sie halt     jetzt geht es schon wieder.»
                   einlaufen müssen. So behalte ich sie gleich an und ziehe sie           «Soll ich dir nicht doch ein Aspirin holen?» Bei den ersten
                   auch auf der Treppe nicht aus. Ich stolziere in der Wohnung        Anzeichen eines drohenden Schlaganfalls, eines Herzin-
                   auf und ab, setze mich aufs Sofa, strecke meine Füsse aus          farkts solle er gleich eine Hand voll einwerfen, hat ein Arzt
                   und drehe sie im Licht hin und her, so dass die Schnallen          gesagt. Ich stehe auf, gehe ins Bad am Ende des Flurs. Suche
                   aufblitzen. Ich liebe diese Stiefel. Ich weiss, das klingt idio-   nach der grossen Flasche. Es ist eine Familienpackung.
                   tisch. Aber so ist es nun mal. Ich habe sie im Vorbeigehen in
                   einem Schaufenster gesehen und diesen kleinen Zwick in                Als ich zurückkomme, sitzt V. mit versteinerter Miene am
                   der Brust verspürt. Den Bruchteil eines Augenblicks ver-           Tisch.
                   schlug es mir den Atem. Zehn Tage lang versuchte ich, die-            «Was hast du denn da an den Füssen?», fragt er. Etwas             ten von der Strasse weg gekidnappt, in einem Keller gefangen     sein Land verlassen, fluchtartig und für immer. Seither er-
                   sen Moment zu verdrängen. Die Stiefel zu vergessen. Es ist ja      grob. So kenne ich ihn gar nicht.                                    gehalten, geschlagen, getreten, gefoltert wurde. Wie lange,      trägt er den Geruch von filterlosen Zigaretten und Marihua-
                   nicht so, dass ich barfuss gehen müsste. Dann gebe ich nach.          «Oh, das? Ich hab mir heute ein Paar Stiefel gekauft.» Ich        das weiss er nicht mehr. Zwei Tage oder vier?                    na nicht mehr. Und den schweren Schritt von klobigen Ab-
                   Ich kaufe die Stiefel und bin unsinnig glücklich. Natürlich        fülle sein Glas noch einmal mit Wasser. «Sie waren auch gar             «Ich habe sie zum Lachen gebracht», hat er mir erzählt.       sätzen. Jahrelang wachte er nachts schreiend auf. Bis ihn
                   schäme ich mich für diese Koketterie. Bin ich so oberfläch-        nicht teuer», schwindle ich. Dabei ist er doch der Letzte, der       «Ich habe sie dazu gebracht, dass sie übereinander lachen.       zwei Freunde, mit denen er auf einer Bergwanderung das
                   lich? Die Welt ist erschüttert und ich freue mich über neue        mir eine solche Freude missgönnen würde. Ich stelle das              Ich habe sie dazu gebracht, dass sie den Dicken den Frosch       Zelt teilte, eine ganze Nacht lang festhielten. Amerikanische
                   Stiefel. Aber sollen wir uns denn gar nicht mehr freuen?           Glas vor ihn auf den Tisch, öffne die Aspirinflasche und halte       nannten. Ich spielte sie gegeneinander aus, damit sie mich       Männer, die körperliche Nähe scheuen. Sie hielten ihn fest,
                                                                                      sie ihm hin. Er schiebt meine Hand weg.                              für einen Moment vergassen.»                                     bis er sich beruhigt hatte. Und jedes Mal, wenn er wieder
                       Ich stehe wieder auf und schreite durchs Wohnzimmer.              «Danke. Nicht mehr nötig!»                                           John Lennon hat so etwas Ähnliches gesagt. «Wenn du           aufwachte. «Du bist hier. Du bist sicher», sagten sie. Wieder
                   Die Stiefel machen mir lange Schritte. Ich fühle mich stark in        Ich verstehe nicht.                                               auf Gewalt mit Gewalt reagierst, haben sie dich. Das kennen      und wieder. Seither hat er keine solchen Albträume mehr. Er
                   ihnen. Ich traue mir alles zu. In diesen Stiefeln kann ich eine       «Es sind die Stiefel!», sagt er. Er lacht vor Erleichterung.      sie. Das Einzige, womit sie nicht umgehen können, ist Ge-        denkt nicht mehr oft daran. Es ist so lange her. Es ist vorbei.
                   Revolution anzetteln, rechtfertige ich mich vor mir selber.        Ich verstehe immer noch nicht.                                       waltfreiheit – und Humor.» Aber V. muss ich nicht mit John          Aber sein Körper weiss noch alles.
                   Oder wenigstens gegen die herrschenden Zustände demons-               «Die Stiefel?»                                                    Lennon kommen.                                                      Ich schaue meine Stiefel an. Erst haben sie mir den Atem
                   trieren! Ich muss über mich selber lachen.                            «Du bist da so über meinem Kopf hin und her marschiert.                                                                            verschlagen, dann ihm. Ich werde sie nie mehr tragen kön-
                       Dann kommt V. aus seiner Werkstatt. Mit schwerem               Wie ein Soldat, verstehst du? Da war ich sofort wieder in die-          Nach zwei Tagen oder vier stand dann plötzlich ein Soldat     nen, ohne an diese Soldaten zu denken.
                   Schritt die Treppe hoch. Er schenkt sich ein Glas Wasser ein,      sem Keller.»                                                         in einer anderen Art von Uniform in dem Keller. «Was macht          Am nächsten Tag bringe ich sie zurück. Ich weiss auch
                   setzt sich an den Küchentisch. Sein Gesicht ist bleich und            Kein Herzinfarkt! Kein Schlaganfall! Nur eine böse Erin-          ihr denn mit dem, wer ist das?», fragte er. «Wer hat das ange-   schon, was ich mit dem Geld machen werde. Und dass ich in
                   glänzt vor Schweiss. Ich erschrecke sofort.                        nerung. Mehr als dreissig Jahre ist es her, dass er von Solda-       ordnet?» Dann wurde V. freigelassen. Kurz darauf musste er       der Wohnung nur noch Socken trage.

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                                                                                                                                       AMNESTY März 2017   AMNESTY März 2017
AMNESTY MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
DOSSIER_SCHRIFTSTELLERiNNEN                                                                                                                   DOSSIER_SCHRIFTSTELLERiNNEN

                                                                                             Hätte              Hätte ich etwas sagen sollen?
                                                                                                                Hätte ich etwas tun sollen?
                                                                                                                Hätte ich nicht zu viel riskiert dabei?
                                                                                             Von Franz Hohler
                                                                  Franz Hohler ist aktiver
                                                                                                                Hätte ich mich nicht lächerlich gemacht?
                                                                  Schriftsteller sowie                          Hätte ich mich da nicht in etwas hineingeritten?
                                                                  pensionierter Kabaret-
                                                                  tist und Liedermacher.                        Hätte ich da nicht den Chef brüskiert?
                                                                  Er hat für seine                              Hätte ich je wieder dorthin gehen können?
                                                                  Publikationen zahl­
                                                                  reiche Preise gewonnen.                       Hätte ich irgendwie reagieren sollen?
                                                                  Franz Hohler wurde
                                                                                                                Hätte ich überhaupt eine Chance gehabt?
                                                                  1943 in Biel geboren. Er
                                                                  wuchs in Olten auf und                        Hätte ich das ohne Hilfe geschafft?
                                                                  lebt heute in Zürich. ​
                                                                                                                Hätte man das nicht viel früher anpacken müssen?
                                                                                                                Hätte es überhaupt eine Wirkung gehabt?
                                                                                                                Hätte ich da vielleicht meine Stelle riskiert?
                                                                                                                Hätte das nicht ein anderer tun müssen?
                                                                                                                Hätte es da nicht eine Uniform gebraucht?
                                                                                                                Hätte ich mich bemerkbar machen sollen?
                                                                                                                Hätte ich da nicht mehr Zeit gebraucht?
                                                                                                                Hätte ich einfach eingreifen müssen?
                                                                                                                Hätte ich die Polizei benachrichtigen müssen?
                                                                                                                Hätte ich den zur Rede stellen müssen?
                                                                                                                Hätte ich rufen müssen?
                                                                                                                Hätte ich Hilfe holen müssen?
                                                                                                                Hätte ich mich zuvorderst hinstellen müssen?
                                                                                                                Hätte ich mich da nicht vorgedrängt?
                                                                                                                Hätte ich mich da nicht –
                                                                                                                Hätte ich da nicht –
                                                                                                                Hätte ich nicht –
                                                                                                                Hätte ich nur –
                                                                                                                Hätte ich doch –
                                                                                                                Hätte ich –
                                                                                                                                    Aus: «Alt?», Gedichte, Luchterhand Verlag, 2017
       Illustration: Anne-Marie Pappas

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                                         AMNESTY März 2017   AMNESTY März 2017
AMNESTY MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
DOSSIER_SCHRIFTSTELLERiNNEN

                                                                                                                                                                                                                                                  Mara war in Hochstimmung, die
                                                                                                                                                                                                                                                  un­­heim­liche Frau vor dem Haus
                                                                                                                                                                                                                                                  war abgezogen worden.

                                                  Mara B.
                                                                                                                                                              In meiner Erinnerung ist es stets Sommernacht, bei weit geöff-
                                                                                                                                                                                                                                                  Das Wort, am Anfang aller Dinge!
                                                                                                                                                           neten Fenstern, und wir haben alle Lichter an, dass es blendet.
                                                                                                                                                           Wenn es kühl wird, legen sich die Frauen Pelzmäntel über die            von überzeugt, dass er früher bei einem Verhör bestrahlt worden
                                                                                                                                                           Schultern – Tomescu schickte sie aus Deutschland, weil einen da         war und dass man sie ebenfalls bestrahlt haben musste. Sie trug
                                                  Von Dana Grigorcea                                                                                       die Tierschützer mit Farbe bewerfen, wenn man sie trägt. Man er-        Trauer, lebte zurückgezogen im alten Appartement und schrieb
                                                                                                                                                           zählte sich viel, und ich schlief ein im Wohnzimmer bei Freunden,       ihre Kolumnen zu Hause.
       Dana Grigorcea (geb. 1979) ist
                                                                                                                                                           mit dem grossen Glücksgefühl jener Zeit, alles verstanden zu ha-            Sie hatte sich in Marco Bella verliebt, den stattlichen Schauspie-
       eine schweizerisch-rumänische
                                                                                                                                                           ben. Als hätte man in der Zukunft gelebt, die im 1. Korintherbrief      ler, der früher immer den Prinz gegeben hatte in den Märchenver-
       Schriftstellerin und Philologin.
                                                                                                                                                           13 vorausgesagt wurde: «Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in ein      filmungen und der ein paar für die damalige Zeit aufregende Frei-

                                              S
       Sie wuchs in Bukarest auf und
                                                    ie war schon immer unse-        Im Sommer 1985 entstand Maras Sonnet zu den Kletterrosen,              dunkles Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erken-        schärler-Rollen gespielt hatte, mit schwarzem Schnurrbart und
       lebt seit 2007 in Zürich. Für
                                                    re Nachbarin, aber ich       das sie im inneren Dialog mit Carl Spitteler und seinem «Olympi-          ne ich’s stückchenweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie        langen, schwarzen Haaren. Mara blühte auf, interviewte Marco
       einen Auszug aus dem Roman
                                               wurde ihrer erst an einem         schen Frühling» geschrieben hatte. Im Herbst desselben Jahres             ich erkannt bin.»                                                       Bella fürs Fernsehen, und ihr Gespräch, in dem sie den Sarkasmus
       «Das primäre Gefühl der
                                               kalten Winternachmittag ge-       machte ihr Mutter Rosenmarmelade ein, und dadurch entstand                   Wie verheerend die Ernüchterung, als man merkte, dass die            des kommunistischen Regimes anprangerten, das Filme über Frei-
       Schuldlosigkeit» wurde sie am
                                               wahr, nachdem ich, sechsjäh-      Maras berühmtes Hohngedicht auf das Regime, «Marmelade aus                «Revolution» von 1989 nur ein Putsch der Nomenklatura selbst            schärler aus dem Mittelalter in Auftrag gab, während es seinerseits
       Klagenfurter Ingeborg-Bach-
                                               rig, mit der Schultasche auf      Rosen und Dornen».                                                        gewesen war! Ion Iliescu, der sie protegierte; die Antikommunis-        antikommunistische Freischärler in den Karpaten jagte, brachte
       mann-Wettbewerb 2015 mit
                                               dem Rücken, eine gefühlte            Obwohl ich damals in der Schule frisch zur Pionierin gemacht           mus-Demos am Universitätsplatz; die Demo-Lieder, manche wie-            eine Wende in die rumänische Geschichtsaufarbeitung: Man be-
       dem 3sat-Preis ausgezeichnet.
                                               Ewigkeit in der Schlange für      worden war, mit blütenweissem Hemd und roter Krawatte, und da-            der zu Maras Gedichten – jeden Tag erreichten uns andere Nach-          gann, sich mit den antikommunistischen Widerstandskämpfern
                                               Orangen angestanden hatte.        rauf auch noch sehr stolz war, wurde ich zur Bettnässerin, und un-        richten und Gerüchte. Mara war auf der Höhe der Zeit, schien alles      aus den Bergen zu beschäftigen.
                                               Kurz nachdem auch Mutter          sere ganze Wohnung roch nach Urin, weil Mutter sich weigerte,             zu erfassen, trug nun Trachtenblusen mit gestickten Blumen und
       gekommen war, fuhr der Lastwagen mit der teuren Ladung heran,             die Bettdecken über den Fenstersims zu werfen. Vor dem Haus               hielt Ansprachen vom Balkon der Universität. Ihr Bild mit der ge-           Mara und Marco eröffneten auf den Ruinen eines ehemaligen
       und ich erinnere mich an die grosse Angst, die ich davor hatte, dass      stand nämlich die Frau – immer dieselbe, von morgens um fünf              reckten Faust hing lange über meinem Bett; später gab es auch ei-       Gefängnisses eine Gedenkstätte mit Museum, das bald zu einem
       Mutter noch nicht da gewesen und ich von den drängelnden Men-             bis nachmittags um halb fünf; anschliessend musste wohl eine an-          nen Holzdruck davon.                                                    Ausflugsziel für Schulklassen wurde. Sie bezogen ein Haus unweit
       schen herumgeschoben worden wäre. Coupons wurden in der Luft              dere Frau übernommen haben, von wo auch immer sie uns zusah.                 Ihre Gedichtbände wurden neu aufgelegt, im Humanitas Verlag,         des Museums und gaben die meisten Führungen selber, erzählten
       gewedelt; das Geschrei von Frauen, «mein Coupon ist heruntergefal-                                                                                  in der Autorenreihe, und ich lernte sie alle auswendig. Beim Rezitie-   beseelt vom Märtyrertum der Widerstandskämpfer.
       len, bitte nicht drauftreten», «zur Seite, ich kriege keine Luft.» Män-      Im Sommer 1987 freuten sich meine Eltern im Stillen, aber              ren hatte ich das Gefühl, sie seien schon lange vor meiner Zeit ge-         Neulich sah ich einen Videoclip mit einer Rede von Mara an der
       ner traten aus der Reihe nach vorn, kamen besorgt zurück, «warum          umso heftiger, dass dem jungen Tomescu, einem Verehrer von                schrieben worden, in einer sagenumwobenen Vergangenheit.                Universität Bukarest. Vom Rednerpult aus erzählte sie mit zarter
       geben die denn nicht weniger aus, damit es für alle reicht?»              Mara, die Flucht in den Westen gelungen war. Er war über die Do-             Als Iliescu die als Bergarbeiter getarnten Schläger nach Buka-       Stimme von der Zensur, die sie als Dichterin erfahren hatte im
          Wir standen also da – und kurz bevor wir drankamen, gingen             nau nach Serbien geschwommen. Ob ich mich an ihn erinnere,                rest kommen liess, um die Demonstranten niederzuknüppeln und            Kommunismus. Manchmal sei ein Vers gestrichen worden oder
       die Orangen aus. «Aus, die Orangen sind aus», riefen die Verkäu-          kann ich nicht sagen, sein Bild überlappt sich mit dem Bild, das ich      die sogenannte Ordnung wiederherzustellen, zog sich Mara mit            ein ganzes Gedicht, ihre grosse Angst aber war, dass man die Titel
       fer von dem Lastwagen herab, «geht jetzt nach Hause.» Die Leute           aus Maras Gedichtband «Sandburgen» habe. Sie muss ihn sehr ge-            Petreanu auf das Land zurück. Sie bewohnten eine alte Lehmhütte         nationalistisch veränderte. Diese äussere Zensur hätten viele
       verharrten ungläubig in der Schlange. Nur Mutter zog mich weg,            liebt haben. Tomescu brachte Maras Manuskripte einem deutschen            mit Schilfdach und bauten einen Obstgarten an. Eigenhändig              Künstler mit der Zeit verinnerlicht, man habe gewusst, was gestri-
       «aus jetzt, aus!» Sie fürchtete Schlägereien. Ich wollte nicht weg        Verlag, worauf sie in über zwanzig Sprachen übersetzt wurden.             pflanzten sie Apfelbäume und Kirschbäume nach kabbalistischen           chen werden würde, und war geneigt, es gar nicht mehr so zu
       und begann zu weinen.                                                        Mara war in Hochstimmung, die unheimliche Frau vor dem                 Zahlen. Dort schrieb Mara weiterhin ihre Kolumnen für die Presse.       schreiben, wie man eigentlich wollte.
          Da kam die alte Frau Doktor Irimescu zu uns, sie war meine             Haus war abgezogen worden. Das Wort, am Anfang aller Dinge!               Auch als Iliescu abgewählt worden war, wollte sie Bukarest fern-            Von hier spannt Mara im Videoclip den Bogen zur Zensur im
       Kinderärztin bei der Polyklinik und sie verfluchte mich und lachte        Maras Gedichte wurden immer biblischer, die Liebesgedichte,               bleiben. Mutter kochte weiterhin Rosenmarmelade für sie, lagerte        heutigen Europa. Man könne gar nichts mehr sagen gegen die
       mich aus, wie sie einen immer auslachte, zur Ermutigung, und              auch wenn gewagter jetzt, mit explizitem Eros, wurden zu Hohelie-         die Gläser nach dem Jahrgang, 1996, 1997, 1998 ...                      Flüchtlinge aus Nahost, die doch ihren Krieg selbst, mit ihrer Reli-
       dann gab sie mir eine Orange ab. Meine allererste Orange!                 dern auf den einzigen Bräutigam, auf Gott. Tomescu rief sie mehr-            Maras Lehmhütte wurde zur Pilgerstätte für die Studenten und         gion, entfacht haben; sie sollten bei sich bleiben, weil sie nicht hier-
       «Wünsch dir was!» Es war Winter, und winzige Schneeflocken                fach an und bat, dass sie bei der Tragik bliebe, bei Klaustrophobie       die Nonnen des nahen Klosters Hl. Paraschiva. Aus der Zeit stam-        her passen, zu uns, in unser friedliches Europa mit seiner zweitau-
       kreisten durch die Luft. Ich hielt meine Orange wie ein kleines Le-       und Verfall. Religiöse Dichtung sei in Deutschland und Frankreich         men ihre Gedichtbände «Frau Lot», «Die drei Fremden» und                sendjährigen christlichen Tradition.
       bewesen und streichelte sie, ich nahm mir vor, ihr Puppenkleider          schwer zu vermitteln.                                                     «Aufstieg».                                                                 Aber sie, Mara, wolle es unerschrocken herausschreien: Die
       anzuziehen.                                                                  Nun war der leutselige Petreanu der einzige Mann an Maras                                                                                      Grenzen sollten gesichert werden und neue Mauern gebaut, damit
          Auf dem Weg nach Hause holte uns Mara B. ein mit ihrer bunt            Seite, und er war Priestersohn, sein Vater hatte gemeinsam mit               2009 oder 2010, während eines Urlaubsbesuchs in Bukarest –           jeder wieder frei ist und hier bei sich.
       gehäkelten Tasche, die leer war, «habt ihr Glück gehabt?» Mutter          Pater Anania das kleine Buch über das Herzgebet geschrieben, das          ich hatte unterdessen im Ausland studiert und war dort geblie­­­-           Ich wollte Mara etwas schreiben, wusste aber nicht, was. Ich hat-
       nahm mir die Orange aus der Hand und gab sie ihr, weil sie Dich-          nun in allen Kirchenkiosks aufliegt.                                      ben –, traf ich Mara wieder, im Treppenhaus. Sie war gealtert und       te ihr nie etwas geschrieben. Ich hatte ihr auch nie etwas von mir
       terin war und Vitamine brauchte, für die Kunst.                              Petreanu stieg die Treppe immer schwungvoll hinauf, über-              stark geschminkt. Sie umarmte mich fest und innig, «mein Kind»,         mitgeteilt. Und dann erinnerte ich mich doch an einen Brief, den
          Viel später besuchte ich Mara zum ersten Mal und erblickte die         sprang stets eine Stufe, seine Freude freute uns alle, und wenn er        nannte sie mich, ich sei immer ihr Kind gewesen und ihr doch sehr       ich ihr als Kind zwar geschrieben, aber nicht in den Briefkasten
       Orangenschale, sie lag braun und gekringelt auf dem Heizkörper.           mal verhört worden war, rief er schon im Treppenhaus: «schon              ähnlich.                                                                gesteckt hatte, damals, als sie mir die Orange weggenommen hatte.
       Ich wollte sie berühren, aber Mara sprang auf und rief «bitte nichts      wieder die Treppe hinuntergerutscht», worauf er lachte, anste-               Man erzählte mir, dass Petreanu an Krebs gestorben war, nach         Ich schüttelte mich vor Lachen. Was ich über Mara geschrieben
       anfassen», und Mutter schickte mich weg.                                  ckend.                                                                    schwerem Leiden und teuren Arztbehandlungen. Mara war fest da-          hatte, traf immer noch zu. 

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AMNESTY MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty International Schweiz
DOSSIER_SCHRIFTSTELLERiNNEN                                                                                                                                                                                                         DOSSIER_SCHRIFTSTELLERiNNEN

                                           Das Herz der Schweiz
                                           Von Gabriel Vetter

       Der 1983 in Schaffhausen
       geborene Gabriel Vetter ist
       Slam-Poet, Autor, Kabarettist,
       Satiriker. 2006 wurde er als

                                                         D
       jüngster Preisträger überhaupt
                                                              ie Demokratie ist die höchste Form der Staatssysteme.                                                                                       Und dann heisst es, die Schweiz habe kein
       mit dem Kabarett-Preis
                                                              Gut. Das heisst: Wenn man den Schweizer Souverän                                                                                                Herz. Natürlich hat die Schweiz ein Herz!
       «Salzburger Stier» ausgezeich-
                                                         fragen würde: «Auf einer Skala von 1 bis 10, was ergibt 5                                                                                                Grade für Minderheiten haben wir
       net. Vetter lebt derzeit in Oslo.
                                                         plus 9?», und der Souverän dann sagen würde: «Ja, das gibt                                                                                                  doch ein Herz. Da redeten immer
                                                         31, ganz klar!», dann würde dieses Resultat in der Verfas-                                                                                                   alle von Occupy und wir sind die
                                                         sung verankert, und basta. So funktioniert eine gesunde                                                                                                      99 Prozent. Ja, eben. Und was ist
                                                         Demokratie, da kann der Mathematiker noch so blöd mit sei-                                                                                                   mit dem letzten Prozent, diesem
                                                         nem Taschenrechner rumfuchteln. Wenn der Schweizer                                                                                                           letzten Einhorn der Vermögenden?
                                                         Souverän das demokratisch so entscheidet, dann ist das so.                                                                                                  Was ist mit dem vom Aussterben be-
                                                                                                                                                                                                                    drohten einen Prozent der Superrei-
                                                            Weil, und da kommen wir zum Menschen: In der Schweiz                                                                                                    chen? Wo können die noch unbehel-
                                                         zählt eben noch der Mensch, nicht der Taschenrechner. Hand-                                                                                                ligt sein? Nur noch auf den Bahamas
                                                         arbeit wird da gross geschrieben! In der Schweiz schlagen wir                                                                                             oder bei uns. Aber auch bei uns müs-
                                                         unsere Kinder auch nach wie vor von Hand, wie früher. Da                                                                                                sen sie eingepfercht wohnen in Indianer-
                                                         braucht es doch keine Apparate aus dem Ausland; keine Robo-                                                                                          reservaten rund um den Zugersee! Zug, das
                                                         ter. Gute alte Schweizer Handarbeit.                                                                                                           ist kein Kanton, das ist ein Naturschutzgebiet!
                                                                                                                                                                                             Und dann heisst es, all diese Millionen auf den Schweizer
                                                            Ja, und dann, wenn man solche Sachen schreibt, dann kommt                                                                Konten, all diese Millionen aus Italien und diese Millionen aus den
                                                         Europa mit den Menschenrechten. Menschenrechte! Ha! Zuerst                                                            USA auf unseren Konten. Ja, es ist doch gut, dass diese Millionen bei uns
                                                         einmal: Ein Mensch, was ist das, ein Mensch? Der Mensch, das ist                                                 sein dürfen, wo sie behütet aufwachsen und gross und stark werden können,
                                                         doch vor allem eine Frage der Definition. Solange der Souverän                                                all diese Millionen! Jean Ziegler sagt es doch immer wieder: Jedes Jahr verhun-
                                                         darüber noch nicht abgestimmt hat, was ein Mensch genau ist, und                                                    gern Millionen. Es ist unsere Pflicht als Schweizer, zu diesen Millionen zu
                                                         vor allem wer ein Mensch ist, solange das nicht klipp und klar ist,                                                     schauen. Die Schweiz hatte schon immer eine humonetäre Tradition.
                                                         solange ist das noch gar nichts, ein Mensch! Wer jetzt ein etwaiger
                                                         Mensch ist und wer eben nicht ein etwaiger Mensch ist, das ist bei                                                               Und dann heisst es, die Schweiz hätte kein Herz. Sehen Sie,
                                                         uns in der Schweiz sowieso von Kanton zu Kanton verschieden! Ich                                                                die Schweiz hat ein Herz! Ein riesiges Herz! Ich habe neulich
                                                         meine, wo der Mensch aufhört und wo der Österreicher beginnt,                                                                    ein Werbeplakat gesehen für den Gotthard. Also für den Berg,
                                                         das ist doch ein fliessender Übergang, Entschuldigung, da muss                                                                    den Gotthard. Darauf stand: «Der Gotthard: Das Herz der
                                                         man doch sorgfältig sein! Ich meine, ein DJ Ötzi, oder ein La Palo-                                                               Schweiz.» Sehen Sie, die Schweiz hat durchaus ein Herz.
                                                         ma oder auch ein Schni-Schna-Schnappi, das kleine Krokodil, so-                                                                   Den Gotthard. Das Herz der Schweiz ist ein riesiger Brocken
                                                         was war wochenlang in allen Radio-Hitparaden auf Nummer eins!                                                                     aus Stein. Und dieser Stein ist mit Löchern durchbohrt, und
                                                         Wochenlang, und da hat die Uno auch nicht interveniert von we-                                                                   in diesen Löchern sitzen die Deutschen im Stau und singen
                                                         gen Menschenrechten.                                                                                                            «La Paloma». So sieht das Herz der Schweiz aus.

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                                                                                                                               AMNESTY März 2017   AMNESTY März 2017
DOSSIER_SCHRIFTSTELLERiNNEN                                                                                                                                                                                                                              DOSSIER_SCHRIFTSTELLERiNNEN

                                       Der neue Nobelpreisträger
                                                                                                                                                      Würden wir uns freuen zu erfahren, dass es auch kritische Stim-       Würden wir uns freuen zu erfahren, dass der neue Roman des
                                                                                                                                                   men gibt, die das Werk des Ausgezeichneten für überschätzt und        neuen Literaturnobelpreisträgers die fiktive Geschichte eines abge-
                                                                                                                                                   die Wahl des Komitees mehr für ein politisches Zeichen denn ein       wiesenen Asylbewerbers und einer aus psychischen Gründen ar-
                                                                                                                                                   profundes literarisches Urteil halten?                                beitslos gewordenen Schweizerin erzählt, denen von Behördensei-
                                        Von Guy Krneta                                                                                                                                                                   te die Heirat verweigert wird?
                                                                                                                                                       Gefällt mir nicht.
       Guy Krneta (geb. 1964 in
                                                                                                                                                                                                                            Gefällt mir nicht.
       Bern) ist Bühnenautor
                                                                                                                                                      Würden wir uns freuen zu erfahren, dass der neue Literaturno-
       und Schriftsteller. Er steht
                                                                                                                                                   belpreisträger in seiner Heimat gefoltert wurde und darüber einen        Würden wir uns freuen zu erfahren, dass die fiktive Geschichte
       regelmässig als Spoken-
                                                                                                                                                   ausgezeichneten Roman verfasst haben soll, der nächstes Jahr auch     im neuen Roman des neuen Literaturnobelpreisträgers aus auto-
       Word-Autor auf der
                                                                                                                                                   auf Deutsch erscheint?                                                biografischen Elementen besteht?
       Bühne, etwa mit der
       Autorengruppe «Bern ist
                                                                                                                                                       Gefällt mir nicht.                                                   Gefällt mir.
       überall», und ist kultur­
       politisch engagiert. 2015
                                                                                                                                                      Würden wir uns freuen zu erfahren, dass der neue Literatur­           Würden wir uns freuen zu erfahren, dass Schweden dem neuen
       erhielt er den Schweizer
                                                                                                                                                   nobelpreisträger längere Zeit nicht ausfindig gemacht werden          Literaturnobelpreisträger Asyl angeboten und Deutschland nachge-
       Literaturpreis. Guy Krneta
                                                                                                                                                   konnte, da sein Asylantrag in der Schweiz nach drei Jahren Warte-     zogen hat, sollte er mit seiner Schweizer Partnerin die Schweiz ver-
       lebt in Basel.
                                                                                                                                                   zeit abgelehnt und der Autor aber nicht ausgeschafft wurde, weil      lassen wollen?
                                                                                                                                                   mit dem Herkunftsland kein Übernahmeabkommen besteht?
                                                                                                                                                                                                                            Gefällt mir.
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                                                                                                                                                      Würden wir uns freuen zu erfahren, dass die für Migration zu-      belpreisträger in seiner Dankesrede in Stockholm die Schweiz mit
                                                                                                                                                   ständige Bundesrätin in einem Tweet versprochen hat, auf eine         keinem Wort erwähnt hat?
                                                                                                                                                   Ausschaffung mindestens bis zur Preisverleihung in Stockholm zu

       W     ürden wir uns freuen zu erfah-
             ren, dass der neue Literatur­
       nobelpreisträger, dessen Name wir am
                                                                                                                                                   verzichten?

                                                                                                                                                       Gefällt mir.
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                                                                                                                                                                                                                            Würden wir uns freuen zu erfahren, dass dem neuen Literatur-
       Radio eben zum ersten Mal gehört und                                                                                                                                                                              nobelpreisträger in Online-Foren und Kommentarspalten Arro-
       uns nicht haben merken können, in der                                                                                                          Würden wir uns freuen zu erfahren, dass in Online-Foren und        ganz und Undankbarkeit vorgeworfen und bereits laut darüber
       Schweiz lebt?                                                                Würden wir uns freuen zu erfahren, dass etliche Schrift-       Kommentarspalten bereits eine Kontroverse entbrannt ist, ob es in     nachgedacht wird, ob in Zeiten des Internets und des sich wandeln-
                                                                               stellerinnen und Schriftsteller sich via Facebook den Glück-        der Schweiz zweierlei Recht gebe, eines für Prominente und eines      den Buchmarkts ein Literaturnobelpreis noch zeitgemäss sei?
          Gefällt mir.                                                     wünschen des obersten Kulturchefs angeschlossen haben, ob-              für Nichtprominente?
                                                                         wohl auch sie den Namen des Ausgezeichneten bis vor Kurzem                                                                                         Gefällt mir nicht.
          Würden wir uns freuen zu erfahren, dass der neue Literatur­    nicht gekannt haben?                                                          Gefällt mir nicht.
       nobelpreisträger, dessen Name zu den grossen der Literatur aus                                                                                                                                                       Würden wir uns freuen zu erfahren, dass Schweizer Behörden
       Afrika gehören soll und dessen Werke in mehrere Sprachen über-       Gefällt mir.                                                              Würden wir uns freuen zu erfahren, dass der neue Roman des         angekündigt haben, dem neuen Literaturnobelpreisträger den drei-
       setzt wurden, vor vier Jahren in die Schweiz gekommen ist und                                                                               neuen Literaturnobelpreisträgers, der die Entscheidung in Stock-      jährigen Aufenthalt in der Schweiz und die damit verbundenen
       hier einen Asylantrag gestellt hat?                                  Würden wir uns freuen daran erinnert zu werden, dass der letz-         holm massgeblich beeinflusst haben soll, in der Schweiz spielt?       Unkosten von mehreren tausend Franken in Rechnung zu stellen,
                                                                         te und bisher einzige Literaturnobelpreis an einen in der Schweiz                                                                               was angesichts der hohen Nobelpreissumme von gegen einer Mil-
          Gefällt mir.                                                   Geborenen vor hundert Jahren verliehen wurde?                                 Gefällt mir.                                                      lion Franken mehr als nur angebracht sei?

          Würden wir uns freuen zu erfahren, dass aufgrund dieser Tat­      Gefällt mir nicht.                                                        Würden wir uns freuen zu erfahren, dass der neue Roman des            Gefällt mir nicht.
       sache der für Kultur zuständige Bundesrat dem neuen Literatur­                                                                              neuen Literaturnobelpreisträgers die Schweiz als fremdenfeindli-
       nobelpreisträger in einem Tweet gratulierte, während eine ent­       Würden wir uns freuen daran erinnert zu werden, dass erst vier         ches Land zeichnet, welches die Grenzen schliesst für Kriegsflücht-      Würden wir uns freuen zu erfahren, dass Personen und Hand-
       sprechende Reaktion aus dem eigentlichen Herkunftsland des        Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Afrika den seit 1901 all-      linge und aber gleichzeitig internationalen Firmen Schutz bietet      lung in dieser Geschichte frei erfunden und Ähnlichkeiten mit le-
       Ausgezeichneten ausblieb?                                         jährlich verliehenen Preis erhalten haben?                                für Steuerbetrug?                                                     benden oder toten Personen rein zufällig sind?

          Gefällt mir.                                                      Gefällt mir nicht.                                                         Gefällt mir nicht.

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                                                                                                                               AMNESTY März 2017   AMNESTY März 2017
DOSSIER_SCHRIFTSTELLERiNNEN                                                                                                                                                                                                                                     DOSSIER_SCHRIFTSTELLERiNNEN

       Bedrohte Freiheit des Wortes
                                                                                                                                                        zählt die erwähnte Case List. Dabei gilt: Gefangene oder von
                                                                                                                                                                                                                          PEN fördert die Literatur und verteidigt die freie Meinungsäusserung. Er
                                                                                                                                                        der Justiz Verfolgte, die wegen Propagierung von Gewalt
                                                                                                                                                                                                                          zählt zu den bekanntesten internationalen AutorInnen-Verbänden und
                                                                                                                                                        oder gar ihrer Anwendung verurteilt wurden, und solche, die
                                                                                                                                                                                                                          besteht aus einem Netzwerk von 144 Zentren in 102 Ländern. Das Deutsch-
                                                                                                                                                        zum Rassenhass aufgerufen haben, figurieren nicht in dieser
                                                                                                                                                                                                                          Schweizer PEN Zentrum (DSPZ) ist als Verein organisiert. In Luzern verfügt
       In vielen Ländern ist Schreiben gefährlich:                                     Oder die türkische Sprachwissenschaftlerin und Buchau-           Liste.
                                                                                                                                                                                                                          das DSPZ über eine Wohnung, in der jeweils ein bedrohter Autor/eine be-
                                                                                    torin Necmiye Alpay. Die kurdische Sprache, die in den Schu-
       Schriftstellerinnen, Dichter oder Kolumnisten                                len weiterhin verboten ist, war ihr Thema. Wegen einer sym-            Der Stimme beraubt Medienschaffende, Schrift-                  drohte Autorin während 12 bis 24 Monaten fern der Heimat ungestört
                                                                                                                                                                                                                          arbeiten kann.
       werden verfolgt, inhaftiert oder gar getötet.                                bolischen Unterstützung für die Zeitung «Özgür Gündem»              stellerInnen, neuerdings auch Blogger, schreiben über ihr
                                                                                    wurde sie letzten August verhaftet. Ihr wird Mitgliedschaft         Land, schreiben Romane, Geschichten, Artikel, in denen der
       Von Michael Guggenheimer, PEN Schweiz                                        bei einer illegalen Organisation vorgeworfen. Necmiye Alpay         Alltag in ihrer Heimat geschildert wird, sie machen nicht sel-   um den Bedrängten und Bedrohten Solidarität zu zeigen, sie
                                                                                    sass zusammen mit der Schriftstellerin Aslı Erdogan im              ten schreibend auf Ungerechtigkeiten, auf Missstände auf-        zu unterstützen. Wir dürfen die Unterdrückten nicht alleine
                                                                                    Frauengefängnis Bakirköy in Istanbul. Vor Kurzem wurden             merksam. Mit den Verfahren gegen sie werden sie ihrer            lassen. Gerade wir, die wir das Privileg haben, in einem Land
                                                                                    beide aus der Haft entlassen, sie dürfen die Türkei aber nicht      Stimme beraubt. Verhöre, Gerichtstermine, der Zwang, sich        zu leben, in dem die Freiheit der Meinungsäusserung ge-

                   A    lle sechs Monate legt die Zentrale der weltweit tätigen
                        Organisation PEN International ihre sogenannte «Case
                   List» auf: Diese führt sämtliche PEN bekannt gewordenen
                                                                                    verlassen. Noch ist nicht bekannt, wann Necmiye Alpay ei-
                                                                                    nem Richter vorgeführt wird.
                                                                                       Oder der saudi-arabische Herausgeber und Blogger Raif
                                                                                                                                                        allwöchentlich auf einem Polizeiposten zu melden, der Ent-
                                                                                                                                                        zug des Reisepasses, das Verbot das Land zu verlassen, Reise-
                                                                                                                                                        beschränkungen im eigenen Land… Die Behördenschikanen
                                                                                                                                                                                                                         währleistet ist.
                                                                                                                                                                                                                            Weltweit waren im vergangenen Jahr gemäss Angaben von
                                                                                                                                                                                                                         «Reporter ohne Grenzen» (ROG) 348 Medienleute im Gefäng-
                   Fälle von Schriftstellerinnen, Übersetzern, Verlegerinnen        Badawi. Er wurde wegen der «Gründung einer liberalen                hindern die Autorinnen und Autoren weiterzuschreiben, an-        nis. Das sind sechs Prozent mehr als ein Jahr zuvor. «Die Re-
                   und Bloggern auf, die keinerlei kriminelle Aktivität ausgeübt    Webseite» von einem Strafgericht zu einer zehnjährigen              gesichts der permanenten Drohung im Gefängnis zu landen.         pression gegen Journalisten nimmt weltweit mit rasender Ge-
                   haben und dennoch im Gefängnis sind oder strafrechtlich          Haftstrafe, 1000 Peitschenhieben, einer hohen Geldstrafe,              Gegen die Einschränkung der Freiheit der Meinungsäus-         schwindigkeit zu», sagte Christophe Deloire, Generalsekretär
                   verfolgt werden – weil ein Text oder bloss ein Satz, den sie     einem zehnjährigen Reiseverbot und einem zehnjährigen               serung gilt es, die Stimme zu erheben. Nicht nur dort, wo        von ROG zur Veröffentlichung des ersten Teils ihrer Jahresbi-
                   verfasst oder verbreitet haben, den Behörden nicht passt. Die    Medienverbot verurteilt.                                            diese unterbunden wird, sondern auch von der Schweiz aus,        lanz. An der Spitze dieser traurigen Hitparade steht die Türkei,
                   aktuelle Ausgabe der Case List zählt über 300 eng beschrie-         Oder Daniel R. Mekonnen, Rechtsanwalt, Men-                                                                                                             wo eine «veritable Hexenjagd» Dutzende
                   bene Blätter im A4-Format!                                       schenrechtsaktivist und Lyriker aus Eritrea. Er kann                                                                                                       von Journalisten ins Gefängnis gebracht
                                                                                    nicht in seine Heimat zurück, er würde sofort verhaftet                                                                                                    und die Türkei zum «grössten Gefängnis
                       Über 700 Blättert man in den Case Lists der letzten          werden. Mekonnen war Mitbegründer der «Eritrean                                                                                                            des Journalismus weltweit» gemacht hat.
                   Jahre, dann findet man zum Beispiel den Namen Abderrah-          Movement for Democracy and Human Rights»                                                                                                                   Den zweiten Platz nimmt China ein –
                   mane Bouguermouh. Ein algerischer Autor und Filmer. Er           (EMDHR). Die Bewegung ist in Eritrea nicht geduldet.                                                                                                       mit dem Nobelpreisträger Liu Xiaobo,
                   hat einen Film in der Sprache der Berber, einer Minderheit in    Sieben Jahre hat Mekonnen in Südafrika im Exil ver-                                                                                                        seit 2008 wegen bloss sieben Sätzen ein-
                   seiner Heimat, realisiert. Die Sprache der Berber wird in sei-   bracht. Wegen seines Engagements für die Menschen-                                                                                                         gekerkert, sowie 39 weiteren eingesperr-
                   nem Heimatland nicht anerkannt. Wegen dieses Films wur-          rechte und für die Meinungsäusserungsfreiheit wurde                                                                                                        ten Schriftstellern. Es folgen Eritrea und
                   de er zum Tode verurteilt, entging nur knapp einem Attentat      er mehrfach bedroht. In Twitter-Texten wurde aufgeru-                                                                                                      Vietnam. Aber solche Zahlen sagen nicht
                   und musste aus Algerien nach Europa fliehen.                     fen, ihn zu jagen und nach Eritrea zu verschleppen.                                                                                                        alles. Nordkorea ist so totalitär, dass es
                       Oder Pinar Selek, Autorin und Gründerin eines feministi-     Seit 2003 hat er aus Angst vor einer Verhaftung seine                                                                                                      dort nicht einmal «Autoren hinter Git-
                   schen Netzwerks in der Türkei, die sich mit der Ausgrenzung      Heimat nicht mehr betreten. Heute lebt Mekonnen als                                                                                                        tern» gibt. Es existieren dort schlichtweg
                   von Minderheiten in der Türkei beschäftigt. Ihre soziologi-      Nomade in Europa und hält Gastvorträge über die Ver-                                                                                                       keine Zeitung und kein Verlag, die ein
                   sche Studie zur Kurdenfrage war manchen Kreisen in ihrer         letzung der Menschenrechte in Eritrea und über die                                                                                                         Manifest gegen Kim Jong Un publizieren
                   Heimat ein Dorn im Auge. Um ihrem möglichen Einfluss             Freiheit des Wortes in Afrika.                                                                                                                             würden.
                   Grenzen zu setzen, wurde sie 1998 zu Unrecht beschuldigt,           Was diese Beispiele zeigen wollen: Die Freiheit der                                                                                                         Die Literaturnobelpreisträgerin Her-
                   einen Bombenanschlag verübt zu haben. Sie kam für zwei-          Meinungsäusserung, die Freiheit des Wortes in litera-                                                                                                      ta Müller formulierte einmal: «Für ge-
                   einhalb Jahre ins Gefängnis und wurde schwer gefoltert. Aus      rischen Werken und in den Medien und damit auch                                                                                                            rettete Verfolgte ist Heimat der Ort, wo
                   der Untersuchungshaft entlassen, verbrachte sie den gröss-       die Ablehnung von Zensur sind in vielen Ländern be-                                                                                                        man geboren ist, lange gelebt hat und
                   ten Teil des über zwölf Jahre dauernden Verfahrens auf           droht. Früher weit entfernte Destinationen sind näher                                                                                                      nicht mehr hin darf. Diese Heimat
                   freiem Fuss. Dennoch forderte die Staatsanwaltschaft die         gerückt; Länder, in denen die Meinungsäusserungs-                                                                                                          bleibt der intimste Feind, den man hat.
                   Höchststrafe: «Lebenslänglich unter verschärften Bedingun-       freiheit bedrängt wird, sind heutzutage nicht mehr                                                                                                         Man hat alle, die man liebt, zurückgelas-
                   gen». Pinar Selek konnte ihre Heimat verlassen und lebt heu-     weit weg. Es sind Länder, in die uns unsere Wochen-                                                                                                        sen. Und die sind weiter so ausgeliefert,
                   te in Strassburg.                                                end-Städtereisen führen, in denen wir unsere Ferien                                                                                                        wie man selber war. Über diesen
                                                                                    verbringen. Ungarn, die Türkei, Ägypten, China, Mexi-                                                                                                      Schmerz können wir kaum hinweghel-
                                                                                    ko gehören zu ihnen ebenso wie der Iran, Russland,                                                                                                         fen, aber wir können denen zuhören
       Michael Guggenheimer ist Präsident des DeutschSchweizer PEN-Zentrums.        Indonesien, Äthiopien oder Eritrea. Über 700 Fälle                                                                                                         und helfen, die darüber berichten.» 

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