Antisemitismus-bericht 2021 - für die deutsch-, die italienisch- und die rätoromanisch-sprachige Schweiz - Schweizerischer Israelitischer ...

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Antisemitismus-bericht 2021 - für die deutsch-, die italienisch- und die rätoromanisch-sprachige Schweiz - Schweizerischer Israelitischer ...
Antisemitismus-
bericht 2021
für die deutsch-, die italienisch-
und die rätoromanisch-
sprachige Schweiz
Antisemitismus-bericht 2021 - für die deutsch-, die italienisch- und die rätoromanisch-sprachige Schweiz - Schweizerischer Israelitischer ...
Inhaltsverzeichnis

Vorwort           3                      9.     Verurteilungen 25
                                                wegen Verstosses
Überblick             5
                                                gegen Art. 261bis StGB
1.      Allgemeine Analyse           6
                                         10.    Interventionen         26
2.      Statistiken       10
                                         11.    Prävention von         27
2.1     Vorfälle des Jahres 2021                Antisemitismus
2.2     Die Online-Vorfälle
                                         12.    Positive Entwicklungen           28
2.3     Trigger
                                                im Jahr 2021
3.      Die gravierendsten          18   13.    Europäischer und            29
        Vorfälle                                internationaler
                                                Kontext
4.      Situation in der 19
        italienisch-                     14.    Algorithmen –
        sprachigen Schweiz                      Programmieren gegen
                                                Hass im Netz
5.      Nationale Synthese
                                         15.    Anhang        31
6.      Sicherheit der         21
        jüdischen                        15.1   Daten
        Gemeinschaft                     15.2   Methodik
                                         15.2.1 Wie kommt der SIG zu den
7.      Empfehlungen und            22
                                                Vorfällen?
        Handlungsfelder
                                         15.2.2 Vorgehen bei der
8.      Ergebnisse aus 23                       Internetrecherche
        der Umfrage                      15.2.3 Geografische Eingrenzung
        «Zusammenleben in                15.2.4 Meldeverhalten
        der Schweiz»
                                         15.2.5 Definitionen: Antisemitismus,
                                                Antizionismus, Kritik am
                                                Staat Israel
                                         15.2.6 Vorfälle und ihre Kategorien
                                         15.3   Zusammenfassung der
                                                Vorfälle und Analyse
      Website

                                                                                      2
Antisemitismus-bericht 2021 - für die deutsch-, die italienisch- und die rätoromanisch-sprachige Schweiz - Schweizerischer Israelitischer ...
Vorwort                                           dem Einfluss des zweiten Lockdowns, weisen
                                                  stark auf diese Tendenzen hin. Auch die Zunah-
                                                  me antisemitischer Zusendungen verdeutlicht
Die Stimmungslage in der Schweiz ist aufgela-     das neue Klima, das aktuell herrscht. SIG und
den. Die anhaltende Pandemie schwächt das         GRA hatten immer wieder davor gewarnt, dass
Miteinander in der Schweiz und bringt neue        auf Worte Taten folgen können.
Konflikte zwischen unterschiedlichsten Grup-
pen hervor. Es ist wenig überraschend, dass in    Hinzu kommt die zunehmende Verbreitung der
diesem Umfeld auch antisemitische Vorstellun-     Nutzung von Vergleichen rund um Corona-
gen und Haltungen gedeihen. Das Verlangen         massnahmen mit der Schoah und dem natio-
nach einer Erklärung und Verarbeitung dieser      nalsozialistischen Regime. Diese Vergleiche
Situation bringt viele Menschen dazu, einen       sind falsch, absurd und verwerflich. Auch wenn
vermeintlichen Sündenbock finden und zur          diese Vergleiche nicht per se antisemitisch sind,
Rechenschaft ziehen zu wollen. Wie bereits        heizen sie die Stimmungslage zusätzlich an
früher, werden dann sehr schnell auch Juden       und schaffen einen Nährboden für antisemiti-
und Jüdinnen als Schuldige identifiziert. Unter   sche Vorurteile, Stereotypen und Haltungen.
diesen Gegebenheiten gedeihen auch antise-
                                                  Aus diesen Gründen fordern wir von der Politik
mitisch konnotierte Verschwörungstheorien.
                                                  eine umfassende Strategie zur Bekämpfung
Bereits vor der Krise konnten wir eine gewisse    der Umstände, die den Nährboden für Anti-
Steigerung von antisemitischen Vorfällen beo-     semitismus bilden. Konkret heisst das: mehr
bachten, die Pandemie hat diese Tendenz           Investitionen in Bildungsmassnahmen gegen
zusätzlich verstärkt. Die Coronakrise fungiert    Verschwörungstheorien, mehr staatliche
also als Trigger für bereits bestehende antise-   Unterstützung für Präventionsprojekte, end-
mitische Haltungen in der Gesellschaft. Wäh-      lich auch ein staatliches Engagement beim
rend andere Trigger, wie etwa eine bewaffnete     Monitoring von Antisemitismus und Rassismus
Auseinandersetzung in Nahost, auf einige Tage     sowie eine Prüfung der rechtlichen Mittel zur
oder Wochen zeitlich begrenzt sind, hält die      Erfassung von Hassrede.
Pandemie als Trigger nun schon fast zwei Jahre
                                                  Doch nicht nur der Bund und die Institutionen
ununterbrochen an. Die grosse Präsenz anti-
                                                  sind gefordert. Wir appellieren an die gesamte
semitischer Verschwörungstheorien war schon
                                                  Zivilbevölkerung, ihre Stimme stärker und be-
zuvor besorgniserregend. Doch seit Ausbruch
                                                  stimmter zu erheben, um der jetzigen Stim-
von Corona ist die Zahl der Anhängerinnen und
                                                  mungslage etwas entgegenzusetzen.
Anhänger von Verschwörungstheorien förm-
lich explodiert. Damit gewannen auch jene mit     Wir müssen als Gesellschaft wieder zu einer
antisemitischem Hintergrund grossen Zulauf.       sachlichen und vernünftigen Diskussionskultur
                                                  zurückkehren und Antisemitismus sowie
Eine solche Krise mit einem geschwächten
                                                  Rassismus konsequent und entschieden
und zerrütteten gesellschaftlichen Zusam-
                                                  entgegentreten.
menhalt hat Folgen: Die Grenze dessen, was
in der Öffentlichkeit gesagt werden kann,         Ralph Lewin, Präsident SIG,
verschiebt sich merklich. Die Hemmschwellen       Pascal Pernet, Präsident GRA
sinken, Ressentiments nehmen zu und mitunter
manifestiert sich gar Hass in Taten. Dies beka-
men auch Jüdinnen und Juden zu spüren. Die
Schändungen von Synagogen Anfang 2020,
während der zweiten Coronawelle und unter

                                                                                                      3
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Antisemitischen
Vorfall melden

Haben Sie einen antisemitischen   Bei der Meldestelle des SIG können antisemi-
                                  tische Vorfälle aus der deutsch-, der italienisch-
Vorfall erlebt oder beobachtet?
                                  und der rätoromanischsprachigen Schweiz
Sind Sie in den sozialen Medien   gemeldet werden, die selbst erlebt oder beob-
auf einen antisemitischen         achtet wurden. Dies können tätliche Angriffe
                                  und Beschimpfungen, Schmierereien, Briefe
Beitrag gestossen?
                                  und Nachrichten oder im Internet und auf
                                  den sozialen Medien entdeckte Beiträge und
Melden Sie sich bei uns via       Kommentare sein. Die Vorfälle werden von
                                  uns analysiert sowie eingeordnet und die
                                  Betroffenen beraten.
+41 43 305 07 77
                                  Auch wenn Sie unsicher sind, ob es sich um
vorfall@swissjews.ch              einen antisemitischen Vorfall handelt oder
                                  nicht, können Sie sich bei uns melden.
swissjews.ch/vorfallmelden
                                  Wir helfen Ihnen gern bei der Einordnung.

  Vorfall melden

                                                                                       4
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Überblick

53                 806
Vorfälle           Vorfälle
(reale Welt)       (online)
davon              davon

0                  51 %
Tätlichkeiten      Verschwörungstheorien

1                  37 %
Sachbeschädigung   Antisemitismus
                   allgemein
7
Schmierereien      8%
                   Antisemitismus
                   israelbezogen
16
Beschimpfungen
                   4%
                   Schoahleugnung/
26                 -banalisierung
Aussagen

3
Auftritte

                                           5
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1. Allgemeine                                     Antisemitismus online

Analyse                                           Antisemitismus nimmt in der digitalen Welt
                                                  weiterhin stark zu. Im Berichtsjahr wurde eine
                                                  deutliche höhere Zahl (806) – eine Steigerung
                                                  von 66 Prozent – an Online-Vorfällen erfasst
Antisemitismus in der
                                                  als im Jahr 2020 (485). Der grösste Teil der be-
realen Welt                                       obachteten und gemeldeten Vorfälle stammte
                                                  vom Messengerdienst Telegram (61 Prozent)
Im Vergleich zum Vorjahr kam es zu einer
                                                  und dem Kurznachrichtendienst Twitter (28,2
Steigerung der registrierten antisemitischen
                                                  Prozent). Ein weitaus geringerer Teil wurde bei
Vorfälle in der realen Welt (2021: 53, 2020:
                                                  Facebook und in den Kommentarspalten von
47). Hierzu trug vor allem eine Steigerung
                                                  Onlinemedien gesichtet.
der antisemitischen Zusendungen (2021: 23,
                                                  Die geringe Anzahl an Vorfällen auf Facebook
                                                  hat mehrere Gründe: Einerseits verzichte-
                                                  ten viele Zeitungen darauf, Artikel über das
                                                  Judentum oder den Nahostkonflikt auf ihren
                                                  Facebook-Profilen zu posten, da dies in den
                                                  Jahren zuvor jeweils zu einer grossen Menge
                                                  an unmoderierten und offen antisemitischen
                                                  Kommentaren geführt hatte. Andererseits fing
                                                  der Facebook-Konzern als Reaktion auf die
                                                  massive Kritik an, schneller und umfänglicher
                                                  antisemitische Posts und Gruppen zu lö-
                                                  schen, was Medienberichten zufolge auch die
Eingangstür der Synagoge Biel, in die mit einem   Schweiz betraf. Dies führte in der Folge dazu,
scharfen Gegenstand antisemitische Parolen und    dass viele User, die antisemitische Inhalte ver-
ein Hakenkreuz eingeritzt wurden.                 breiten wollten, auf andere Plattformen (zum
                                                  Beispiel Telegram) umstiegen. Teils wurde dies
                                                  von den Usern selbst auf Telegram so darge-
2020: 15) bei. Bei den Beschimpfungen (16)        legt. Erfreulich ist, dass die Anzahl der anti-
und öffentlich getätigten Aussagen (7) war        semitischen Vorfälle in den Kommentarspalten
die Steigerung im Vergleich zu 2020 geringer.     der Onlineportale von Medien weiter zurück-
Bei den Schmierereien (7) ist ein Rückgang zu     ging. Dies zeigt, dass die meisten Redaktionen
verzeichnen. Auch 2021 wurden glücklicher-        ihre Verantwortung wahrnehmen und be-
weise keine Tätlichkeiten gemeldet. Weiterhin     sonders bei heiklen Themen eine umfassende
muss aber mit einer Dunkelziffer, besonders       Moderation durchführen oder die Kommentar-
bei Beschimpfungen und Aussagen, gerechnet        spalte gar nicht erst freischalten. Ausnahmen
werden, da viele Vorfälle weder dem SIG noch      bildeten im Berichtsjahr drei Artikel auf «Inside
der Polizei gemeldet werden. Dies ist bei jeder   Paradeplatz», die zusammen zu 15 antisemiti-
Erfassung, die auf freiwilligen Meldungen be-     schen Kommentaren führten.
ruht, unvermeidlich. Wenn das Meldeverhalten
aber in etwa gleich bleibt, sind Vergleiche im    Eine politische und gesellschaftliche Zu-
Lauf der Zeit dennoch möglich.                    ordnung der Verfasserinnen und Verfasser
                                                  antisemitischer Kommentare ist oftmals nicht
                                                  einfach. Dort, wo eine Zuordnung möglich ist,

                                                                                                      6
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kann festgehalten werden, dass unterschied-        was deutlich mehr ist als im Vorjahr (143) – dies
lichste Milieus vorhanden sind: Rechtsextreme,     auch unter der Berücksichtigung, dass im Jahr
Linksextreme, radikale Tierschützerinnen und       2020 diese Chats nur während acht Monaten
Tierschützer, Muslimas und Muslime, aber           durch das SIG-Monitoring beobachtet wur-
auch die sogenannte «Mitte der Gesellschaft».      den. Posts in dieser Art machen mehr als die
                                                   Hälfte aller online registrierten Vorfälle dieses
                                                   Berichts aus und dürfen darum keineswegs
Antisemitismus bei den                             vernachlässigt oder als unproblematisch an-
sogenannten «Corona-                               gesehen werden. Bei teilweise mehreren Tau-
Rebellen»                                          send Mitgliedern in den Gruppen, die zwischen
                                                   hundert und fast tausend Nachrichten pro Tag
Seit Beginn der Coronapandemie im Frühjahr         absetzen, handelt es sich im Verhältnis aber
2020 entstanden in der Schweiz Gruppierun-         um eine geringe Anzahl. Dennoch: Der noch
gen, die sich gegen die Massnahmen zur Ein-        höhere Anteil der coronabezogenen online re-
dämmung der Pandemie wehren. Sie werden            gistrierten Vorfälle dieses Jahr zeigt, dass die
hier unter der von grossen Teilen der Gruppen      Coronapandemie ein entscheidender Trigger
selbst gewählten Bezeichnung «Corona-Re-           ist und die «Corona-Rebellen» auch Personen
bellen» zusammengefasst. Die Mitglieder            mit antisemitischem und extremistischem Ge-
organisieren sich – soweit dem SIG bekannt –       dankengut anziehen.
mehrheitlich über Gruppenchats auf Telegram
und sind auch immer wieder mit kleineren und
grösseren Demonstrationen in der gesamten          Vergleiche mit der Schoah
Schweiz präsent. Gerade Telegram gewann
                                                   Weiterhin ein grosses und ernst zu nehmendes
in den vergangenen zwei Jahren als Kanal für
                                                   Problem sind die in der Szene der «Corona-Re-
Menschen, die extreme Meinungen und Ver-
                                                   bellen» häufig beobachteten, unangebrachten
schwörungstheorien vertreten, an Bedeutung.
                                                   Vergleiche zum nationalsozialistischen Regime
Unter den «Corona-Rebellen» gibt es ebenfalls
                                                   sowie zur Verfolgung und Ermordung der jüdi-
viele Anhänger und Anhängerinnen solcher
                                                   schen Bevölkerung während der Schoah. Dies
Theorien. Ab Mai 2020 wurden daher mehrere
                                                   konnte sowohl in den Gruppenchats wie auch
dieser Chats durch das SIG-Monitoring
                                                   bei Demonstrationen beobachtet werden. Bei-
beobachtet.
                                                   spielsweise sieht man «Judensterne» mit der
Wie schon im letztjährigen Bericht, konnte         Aufschrift «ungeimpft» oder «Covid-Zertifikat»
festgestellt werden, dass antisemitische Inhal-    gleichermassen bei Telegram wie auf den De-
te in diesen Gruppenchats weiterhin verbreitet     monstrationen. Die Vergleiche nahmen beson-
werden. Auch wenn es 2021 zu einer Zunahme         ders im Zusammenhang mit dem Covid-Zertifi-
von antisemitischen Inhalten kam, handelt          kat noch zu und wurden sogar von bekannten
es sich dabei aber nach wie vor nicht um ein       Meinungsmachern und Meinungsmacherinnen
mehrheitsfähiges Gedankengut. Ein Grossteil        getätigt. Der SIG und die GRA starteten des-
der antisemitischen Posts stammt von ein paar      wegen mehrere Aufrufe, solche Vergleiche zu
wenigen Usern. Viele der Posts sind nicht für      unterlassen. Diese wurden in der Politik und der
alle User als antisemitisch direkt erkennbar, da   Gesellschaft gehört und diskutiert.
sie codiert und verklausuliert sind. So passiert
                                                   Vergleiche der Coronamassnahmen mit
Gegenrede dann auch nur bei offenem Antise-
                                                   der Schoah und der nationalsozialistischen
mitismus. Im Berichtsjahr wurden 451 Vorfälle
                                                   Diktatur entbehren jeglicher Realität und sind
im Umfeld der «Corona-Rebellen» registriert,
                                                   zweifellos unangebracht. Die Vergleiche

                                                                                                       7
Antisemitismus-bericht 2021 - für die deutsch-, die italienisch- und die rätoromanisch-sprachige Schweiz - Schweizerischer Israelitischer ...
können nach der IHRA-Antisemitismusdefini-
tion aber nicht als antisemitisch klassiert
und damit auch nicht der Kategorie «Schoah-
banalisierung» zugeteilt werden. Solange
diese Vergleiche den Holocaust nicht gezielt
und offensichtlich abwerten, werden sie im
vorliegenden Bericht nicht als antisemitische
Vorfälle erfasst. Durch die Beobachtung wurde
klar, dass im Umfeld der «Corona-Rebellen»
solche Vergleiche mehrheitlich nicht explizit
als Banalisierung der Leiden und Schrecken
                                                 Profilbild eines Telegram-Users.
der Opfer der Ausgrenzungs-, Vertreibungs-
und Vernichtungspolitik der Nationalsozialis-
ten angesehen werden, sondern vielmehr als       Schoahleugnung/-
starke Überhöhung der eigenen Opferrolle.
                                                 banalisierung
Obwohl die Vergleiche in diesem Kontext nicht
                                                 In dieser Inhaltskategorie wurden im Berichts-
per se antisemitisch sind, führen sie in ihrer
                                                 jahr 38 Vorfälle gezählt. Sie ist damit weiterhin
Menge, ihrer Häufigkeit und ihrer Verbreitung
                                                 die kleinste der vier Inhaltskategorien, den-
zu einer Abschwächung der Wahrnehmung der
                                                 noch nahm die Anzahl der Vorfälle zu (2020:
damaligen Ereignisse und somit doch zu einer
                                                 25). Es kam zu eindeutigen Aussagen, die di-
gewissen Verharmlosung.
                                                 rekt die Schoah leugneten: So wurde beispiels-
                                                 weise bestritten, dass sechs Millionen Juden
                                                 ermordet wurden oder dass Vernichtungslager
                                                 mit Gaskammern existierten. Es gab aber
                                                 auch Fälle, bei denen Begriffe wie «angeblich»
                                                 oder «sogenannt» verwendet wurden, um die
                                                 Leugnung zu verklausulieren. Unter Schoahba-
                                                 nalisierung fallen einerseits Kommentare und
                                                 Posts mit geschmacklosen Witzen oder Aussa-
                                                 gen, wonach die Konzentrationslager «schon
                                                 nicht so schlimm» gewesen seien; anderer-
                                                 seits kommen immer wieder Sätze wie «Hitler
                                                 hat leider seine Arbeit nicht fertig machen
                                                 können» vor. Von den 38 Vorfällen in dieser In-
                                                 haltskategorie waren 28 schoahleugnend und
                                                 10 schoahbanalisierend.

                                                 Entsprechende Äusserungen werden in den
                                                 verschiedensten Milieus getätigt. In der rechts-
                                                 extremen Szene gibt es sowohl Personen, die
                                                 den Völkermord an den Juden leugnen, als
Post mit Schoah-Vergleich.                       auch solche, die ihn feiern. Viele der Verfas-
                                                 serinnen und Verfasser schoahleugnender
                                                 oder -banalisierender Kommentare und Posts
                                                 können aber keiner spezifischen Gruppe
                                                 zugeordnet werden.

                                                                                                     8
Antisemitismus-bericht 2021 - für die deutsch-, die italienisch- und die rätoromanisch-sprachige Schweiz - Schweizerischer Israelitischer ...
Israelbezogener                                     die fast ausschliesslich im Internet zirkulieren,
                                                    machen somit die grösste der vier Inhaltskate-
Antisemitismus                                      gorien aus. Es fällt auf, dass eine grosse Anzahl
Antisemitismus in Zusammenhang mit dem              von Anhängerinnen und Anhängern solcher
Staat Israel kam mit 74 Vorfällen (online und       Verschwörungstheorien oftmals die schon et-
reale Welt) etwas öfter vor als im Jahr zuvor       was älteren Verschwörungstheorien nun auch
(62). Auch konzentriert sich ein Grossteil dieser   noch mit der Coronapandemie vermischen.
Vorfälle auf die Monate April, Mai und Juni         So soll zum Beispiel der von den Juden orches-
während der erneuten Eskalation im Nahost-          trierte «Genozid an den Weissen» nicht mehr
konflikt. Während der restlichen Zeit führte der    nur durch Einwanderung von schwarzen und
Medienfokus auf die Coronapandemie dazu,            muslimischen Menschen stattfinden, sondern
dass die Schweizer Medien, wie schon im letz-       zusätzlich durch die Impfung, welche die Men-
ten Jahr, deutlich weniger über den Nahost-         schen sterilisiert oder tötet.
konflikt berichteten und dadurch auch weniger
                                                    Die Veröffentlichung der «Protokolle der Wei-
Trigger entstanden, die zu Vorfällen hätten
                                                    sen von Zion» im Parteimagazin «Harus» der
führen können. Ein interessanter Vergleich
                                                    Partei National Orientierter Schweizer PNOS
bietet ein Blick ins Jahr 2014, als der Konflikt
                                                    zeigt, dass auch die älteste und bekannteste
zwischen Israel und der Hamas im Gaza-Strei-
                                                    antisemitische Verschwörungstheorie noch
fen einen dermassen starken Trigger darstellte,
                                                    nicht ausgedient hat. Bei diesem nachweislich
dass die Online-Vorfälle entsprechend stark
                                                    gefälschten Text soll es sich um die Protokolle
zunahmen. Im Jahr 2021 dominierte die Coro-
                                                    eines Treffens von «jüdischen Weltverschwörern»
napandemie den öffentlichen Diskurs dem-
                                                    handeln, die darin ihre Pläne zur Errichtung
gegenüber so sehr, dass der entsprechende
                                                    der Weltherrschaft darlegen. Die «Protokolle»
israelbezogene Trigger sich viel weniger stark
                                                    wurden um 1900 in Russland von Antisemiten
auf die Online-Vorfälle auswirken konnte.
                                                    geschrieben und von dort aus in der ganzen
Die Darstellungsformen des israelbezogenen          Welt verbreitet. Mit diesem antisemitischen
Antisemitismus sind sehr unterschiedlich und        Pamphlet wird bewusst der Mythos der jüdi-
facettenreich. Die Urheberinnen und Urheber         schen Weltverschwörung verbreitet. Der SIG
dieser Kommentare und Posts stammen aus             reichte deswegen bei der Staatsanwaltschaft
verschiedensten Milieus, wobei das muslimi-         Berner Oberland Anzeige wegen Verstosses
sche und das linksextreme Milieu überwiegen.        gegen die Rassismusstrafnorm Art. 261bis StGB
Einige Verfasserinnen und Verfasser scheinen        ein. Die Leitung der PNOS wurde in der Folge
aber auch aus der sogenannten «Mitte der Ge-        von der Staatsanwaltschaft des Kantons Bern
sellschaft» zu kommen.                              per Strafbefehl der Rassendiskriminierung für
                                                    schuldig befunden und zu einer bedingten
                                                    Geldstrafe sowie einer Busse verurteilt.
Verschwörungstheorien
Verschwörungstheorien, die oft absurde
Schlüsse ziehen und meist eine jüdische Welt-
verschwörung als Kern haben, machen im Be-
richtsjahr einen grösseren Anteil an allen Vor-
fällen aus als in den letzten Jahren. 51 Prozent
aller Online-Vorfälle haben inzwischen zeitge-
nössische antisemitische Verschwörungstheo-
rien zum Inhalt. Diese Verschwörungstheorien,

                                                                                                        9
Antisemitismus-bericht 2021 - für die deutsch-, die italienisch- und die rätoromanisch-sprachige Schweiz - Schweizerischer Israelitischer ...
2. Statistiken
2.1 Vorfälle des Jahres 2021 in der deutsch-, der italienisch-
und der rätoromanischsprachigen Schweiz

Zeitliche Entwicklung der antisemitischen Vorfälle

    Entwicklung antisemitischer Vorfälle 2018-2021 (alle Vorfälle)

    Entwicklung antisemitischer Vorfälle 2018-2021 (online)

                                                                     10
Entwicklung antisemitischer Vorfälle 2018-2021 (reale Welt)

Verteilung der Vorfälle

                11%           Verteilung nach gemeldeten
                              und beobachteten Vorfällen
                              (alle Vorfälle)

                                   Vorfälle durch Meldestelle 11%
    89%
                                   Vorfälle durch Monitoring 89%

Verteilung nach Vorfällen in der                                    6%
realen Welt und online

  Vorfälle reale Welt 6%
  Vorfälle online 94%
                                                        94%

                                                                         11
Verteilung der Vorfälle nach Inhalt

                                       Verteilung nach Inhalt
                                       (alle Vorfälle)
                 38,5%

                                             Antisemitismus allgemein 38,5%
 48,4%
                                             Schoahleugnung/-banalisierung 4,5%
                  4,5%                       Antisemitismus israelbezogen 8,6%

           8,6%                              Antisemitische Verschwörungstheorien 48,4%

Verteilung nach Inhalt (Online)
                                                                                 37%
  Antisemitismus allgemein 37%
  Schoahleugnung/-banalisierung 4%                          51%
  Antisemitismus israelbezogen 8%
  Antisemitische Verschwörungstheorien 51%                                       4%
                                                                            8%

        10%                            Verteilung nach Inhalt
  11%                                  (reale Welt)

                                             Antisemitismus allgemein 66%
 13%
                                             Schoahleugnung/-banalisierung 13%
                  66%                        Antisemitismus israelbezogen 11%
                                             Antisemitische Verschwörungstheorien 10%

                                                                                          12
Verteilung der Vorfälle nach Form

                                Verteilung nach Form
                                (alle Vorfälle)

                                  Beschimpfungen 2%
                                  Aussagen 95,5%
                                  Sachbeschädigungen 0,1%
                                  Schmierereien 0,8%
                                  Karikaturen 1,2%
                                  Auftritte 0,3%

Verteilung nach Form (online)

  Beschimpfungen 0,1%
  Aussagen 98,6%
  Karikaturen 1,3%

          6%                    Verteilung nach Form (reale Welt)
   13%
                     30%
 2%                               Beschimpfungen 30%
                                  Aussagen 49%
                                  Sachbeschädigungen 2%
                                  Schmierereien 13%
       49%                        Auftritte 6%

                                                                    13
Vergleich aller Vorfälle pro Monat in den
Jahren 2020 und 2021

Zeitliche Entwicklung der Vorfälle seit 2018

Zeitliche Entwicklung nach Inhalt (alle Vorfälle)

  Antisemitismus allgemein       Schoahleugnung/-banalisierung
  Antisemitismus israelbezogen   Antisemitische Verschwörungstheorien

                                                                        14
Zeitliche Entwicklung nach Form (reale Welt)

          Tätlichkeiten                 Beschimpfungen                   Aussagen
          Sachbeschädigungen            Schmierereien                    Auftritte

2.2 Die Online-Vorfälle                                 Verteilung der Online-Vorfälle
                                                        Die folgende Tabelle zeigt, wo die Online-Vor-
Erfassung von Online-Vorfällen                          fälle registriert wurden. Dabei ist zu beachten,
                                                        dass bei den Medien (Nau, Tages-Anzeiger,
Das Monitoring von Antisemitismus im Online-            Basler Zeitung usw.) nur diejenigen Vorfäl-
Bereich bringt einige Schwierigkeiten mit sich.         le gezählt werden, die auf der Website des
Aufgrund der hohen Zahl an Online-Posts ist es          jeweiligen Mediums in den Kommentarspalten
auch mit grossen Ressourcen nicht möglich,              beobachtet wurden. Kommentare zu den auf
alle Social-Media-Plattformen und alle On-              der Facebook-Seite der Medien geposteten
linemedien-Erzeugnisse abzudecken. Daher                Artikeln zählen zur Kategorie «Facebook».
dienen die erfassten Fälle nicht der Bestimmung
des absoluten Niveaus antisemitischer Äusse-            Es entzieht sich naturgemäss unserer Kenntnis,
rungen im Netz. Dem SIG ist es anhand seines            wie viele Online-Kommentare bei Medien oder
Online-Monitorings jedoch möglich, gewisse              Social-Media-Plattformen gelöscht werden,
Trends und Stimmungslagen zu erfassen und im            bevor sie publiziert und somit von uns entdeckt
Antisemitismusbericht abzubilden. Die so erho-          worden wären. Es wurde dem SIG jedoch von
benen Zahlen helfen zudem, eine möglichst aus-          verschiedenen Medien gemeldet, dass sie bei
sagekräftige qualitative Analyse zu erstellen.          bestimmten Artikeln eine grosse Anzahl an
                                                        Kommentaren nicht publizieren, da diese unter
                                                        anderem antisemitische Inhalte verbreiten.

                                                        Im Vergleich zum Jahr 2020 wurden erneut
                                                        weniger antisemitische Inhalte auf Facebook
                                                        beobachtet. Mit lediglich 33 Vorfällen stam-
                                                        men nur noch 4,5 Prozent von dieser Plattform.

                                                                                                           15
Einerseits wurden durch die Coronapandemie             Die Anzahl Vorfälle bei Twitter blieb mit 221
weniger Artikel zu Themen veröffentlicht, die          in etwa gleich und macht 28,2 Prozent der
Trigger für antisemitische Kommentare hätten           Online-Vorfälle aus. Die Gruppenchats auf
darstellen können (Nahostkonflikt, jüdisches           Telegram zum Thema Corona, die seit Mai
Leben); andererseits verzichteten viele Medien         2020 beobachtet werden, generierten jedoch
auch darauf, solche Artikel auf ihrem Face-            weiterhin viele antisemitische Online-Vorfälle
book-Profil zu veröffentlichen. Dadurch sank           und sind im Jahr 2021 für 61 Prozent der
die Zahl antisemitischer Aussagen bei den auf          Online-Vorfälle verantwortlich.
Facebook publizierten Artikeln und auch in
den Kommentarspalten der Medien.

                                           Verteilung Online-Vorfälle
                                           nach Plattform

                                                 Telegram 61%                  Instagram 1%
                                                 Twitter 28,2%                 SRF Online 0,4%
                                                 Facebook 4,5%                 Blick 0,2%
                                                 Inside Paradeplatz 1,9%       Andere 1,9%
                                                 Nau 1%

                                                                                                        16
2.3 Trigger                                         Folgende Spitzen können einem bestimmten
                                                    Trigger zugeordnet werden:
Als Trigger werden Anlässe oder Ereignisse
                                                    →   Kalenderwoche 7: Ein Artikel in «Inside
bezeichnet, die für einen begrenzten Zeitraum
                                                        Paradeplatz», der zahlreiche Vorurteile
eine massiv höhere Anzahl an antisemitischen
                                                        gegenüber jüdischen Menschen enthält,
Vorfällen und grenzwertigen Fällen zur Folge
                                                        sowie die Replik des SIG-Präsidenten
haben. Dies kann auf internationale (etwa im
                                                        Ralph Lewin darauf führen in den
Zusammenhang mit dem Nahen Osten) oder
                                                        Kommentarspalten des Online-Mediums
auf nationale Ereignisse (lokale Abstimmungen,
                                                        zu zahlreichen antisemitischen und
Gerichtsprozesse usw.) respektive auf Medien-
                                                        grenzwertigen Kommentaren.
berichte dazu zurückzuführen sein.
                                                    →   Kalenderwoche 10: Die Diskussion um ein
Im folgenden Diagramm werden alle Vorfälle              Schweizer Memorial für die Opfer des Na-
und grenzwertigen Fälle auf die jeweilige Ka-           tionalsozialismus führt zu einigen antisemi-
lenderwoche verteilt dargestellt. So wird ersich-       tischen und grenzwertigen Kommentaren.
tlich, dass es im Berichtsjahr immer wieder zu
                                                    →   Kalenderwochen 18–20: Die Eskalation
Spitzen gekommen ist. Auch in diesem Berichts-
                                                        des Israel-Palästina-Konflikts im Mai 2021
jahr war es bei einem Grossteil der Spitzen nicht
                                                        dient als Trigger für zahlreiche antisemiti-
möglich, diese einem spezifischen Trigger zuzu-
                                                        sche und grenzwertige Kommentare und
ordnen, da der Trigger «Coronapandemie»
                                                        Posts, vor allem in den sozialen Medien.
über das ganze Jahr verteilt vorkam.
                                                    →   Kalenderwoche 40: Die Berichterstattung
                                                        über den Fall des deutschen Sängers Gil
                                                        Ofarim führt zu mehreren antisemitischen
                                                        und grenzwertigen Kommentaren.

                                                                                                       17
3. Die gravierends-                              →   Ein jüdisches Ehepaar aus der Region
                                                     Basel wird im Juni während eines Wortge-

ten Vorfälle                                         fechts um einen laufenden Automotor von
                                                     einer Nachbarin als «Scheiss Judenpack»
                                                     beschimpft.
Sachbeschädigung                                 →   Ein Auto fährt im Oktober in Zürich an
                                                     mehreren jüdischen Menschen vorbei und
→   In die Eingangstür der Synagoge in Biel          hupt. Aus dem Fenster wird der Hitlergruss
    werden im Februar mit einem scharfen             gezeigt. Es wird auch «Scheiss Juden» und
    Gegenstand antisemitische Parolen und            «Heil Hitler» gerufen.
    ein Hakenkreuz eingeritzt.
                                                 →   Eine jüdische Schülerin aus dem Kanton
                                                     Zürich wird im November von einer Mitschü-
Online                                               lerin mehrmals antisemitisch beschimpft.
                                                     Die Äusserungen «Hitler hätte dich umbrin-
→   Ein Zoom-Event der Jüdischen Liberalen
                                                     gen sollen» und «Hitler hätte deine ganze
    Gemeinde JLG in Zürich zum Museum in
                                                     Familie umbringen sollen» werden ihr
    der Brunngasse wird im Januar von zahl-
                                                     mehrmals in Anwesenheit fast aller Mit-
    reichen Personen mit Hitlerbildern und
                                                     schülerinnen und Mitschüler zugerufen.
    obszönen Schmierereien gestört.
→   Ebenfalls im Januar wird eine universitäre
    Zoom-Veranstaltung der Universität Basel     Zusendungen
    im Bereich Judaistik mit Videos aus          →   Der SIG-Präsident erhält im Februar ein
    Nazideutschland und der Bildunterschrift         Schreiben, in dem die Schweizer Juden für
    «The Holocaust was a lie» gestört.               den Nahostkonflikt und den Antisemitis-
→   Eine stark antisemitische Mail wird im Ap-       mus verantwortlich gemacht werden. Wei-
    ril an das Bundesamt für Gesundheit BAG          ter stösst der Verfasser Drohungen gegen
    und im Cc an Dutzende andere Empfän-             jüdische Menschen aus und schreibt,
    gerinnen und Empfänger verschickt.               man solle dem SIG-Präsidenten die Zunge
                                                     herausschneiden.

Beschimpfungen/Aussagen                          →   Der SIG erhält im Juli eine E-Mail mit
                                                     einem Bild von Adolf Hitler mit der Be-
→   Ein Auto fährt im April in Zürich knapp          schriftung «The truth will never vanish».
    hinter einem streng religiösen Juden auf
    dem Fussgängerstreifen durch. Dann ruft
    der Fahrer aus dem Fenster: «Euch Juden      Schmierereien
    habe ich auf dem Radar. Man sollte euch      →   Rund um einen Bahnhof im Kanton Aargau
    alle umfahren.»                                  werden im August mehrmals antisemitische
→   Ein Vermieter aus dem Kanton Bern zieht          Schmierereien und Hakenkreuze entdeckt.
    im April immer wieder über jüdische und      →   Während einer Pause wird im Juni an
    muslimische Menschen her und sagt, man           einer Kantonsschule eine Karikatur eines
    solle sie alle köpfen und der Holocaust          Juden an die Wandtafel gezeichnet. In der
    sei eine Lüge.                                   Klasse hat es auch jüdische Schülerinnen
→   An einem Schabbat-Abend im Mai                   und Schüler.
    werden orthodoxe Juden in Zürich von
    einer Gruppe unter anderem mit «Scheiss
    Juden» angeschrien.

                                                                                                  18
4. Situation                                       5. Nationale
in der italienisch-                                Synthese
sprachigen Schweiz                                 In der Schweiz gibt es zwei Antisemitismusbe-
                                                   richte: einen für die deutsch-, die Italienisch-
Die SIG-Meldestelle nimmt auch antisemiti-         und die rätoromanischsprachige Schweiz und
sche Vorfälle aus der italienischsprachigen        einen für die französischsprachige Schweiz.
Schweiz entgegen und registriert diese. Es wer-    Dies widerspiegelt den föderalistischen und
den jedoch nur vereinzelt Vorfälle gemeldet.       multikulturellen Charakter der Schweiz und
                                                   der jüdischen Organisationen. Diese gemein-
Die Goren Monti Ferrari Foundation wird ab
                                                   same Synthese fasst die wichtigsten Trends
Frühling 2022 mit Unterstützung der Università
                                                   zusammen. Dieses Jahr werden die Zahlen
della Svizzera Italiana eine spezifische Melde-
                                                   für die Schweiz erstmals gesamthaft darge-
stelle für die italienischsprachige Schweiz ein-
                                                   stellt und publiziert.
richten, die antisemitische Vorfälle aufnimmt
und registriert. Diese Vorfälle werden an den
SIG weitergeleitet und fliessen in den Antisemi-
tismusbericht für das Berichtsjahr 2022 ein.

                                                                                                      19
Bei der Analyse der Ähnlichkeiten und Unter-       wie auch in der französischsprachigen Schweiz
schiede zwischen den verschiedenen Sprach-         eine relativ grosse Anzahl an israelbezogenen
räumen des Landes ist auch zu berücksichti-        Vorfällen beobachtet. Dies aufgrund der dorti-
gen, dass die französische Schweiz kulturell       gen Eskalation des Israel-Palästina-Konflikts.
von Frankreich beeinflusst wird, während in der
                                                   Unterschiede bei den Sprachregionen sind
Deutschschweiz ein Einfluss, wenn auch in ge-
                                                   bei den Plattformen auszumachen: Während
ringerem Mass, von Deutschland erkennbar ist.
                                                   in der Deutschschweiz Telegram eine überaus
Ein Beispiel: Dieudonné, seine antisemitischen     wichtige Rolle spielt, ist dieser Messenger in der
Lieder und seine «Quenelle» sind bei Antisemi-     französischen Schweiz noch weniger bekannt
ten in der Westschweiz sehr beliebt, während       und deshalb noch nicht so prominent vorhan-
letztere in der Deutschschweiz praktisch           den. Dafür wurden in der französischen Schweiz
unbekannt ist.                                     mehr Vorfälle auf Facebook, Twitter und Insta-
                                                   gram entdeckt.
Auf der anderen Seite haben in der deut-
schen Schweiz bekannte Deutsche wie Attila
Hildmann oder Xavier Naidoo Anhänger, die          Antisemitische
wiederum in der französischen Schweiz wenig        Verschwörungstheorien
Bekanntheit geniessen.
                                                   Durch die Coronapandemie haben allgemein
                                                   Verschwörungstheorien grossen Zulauf und dies
Gewalt, Beschimpfungen                             wirkt sich dann natürlich auch auf die anti-
und Vandalismus                                    semitischen Verschwörungstheorien aus. Der
                                                   Anteil von Verschwörungstheorien hat deshalb
Sowohl in der deutsch- und italienischspra-        bei den Online-Vorfällen in der Deutschschweiz
chigen Schweiz, wie auch in der Westschweiz        noch einmal zugenommen. In der französischen
kam es im Jahr 2021 zu einer Steigerung der        Schweiz hat die Anzahl der antisemitischen Ver-
antisemitischen Vorfälle in der realen Welt. In    schwörungstheorien in der Statistik abgenom-
der deutschen wie auch in der französischen        men. Das liegt an der Tatsache, dass dort meist
Schweiz kam es zu Schändungen von Synago-          Verschwörungstheorien mit dem Holocaust
gen, Beschimpfungen und öffentlichen Aus-          verknüpft wurden und diese Vorfälle darum sta-
sagen. In der französischen Schweiz fanden         tistisch gesehen in die Kategorie «Holocaust-
auch zwei tätliche Angriffe auf jüdische Men-      leugnung/-banalisierung» des Berichtes für die
schen statt. Im Rest des Landes wurden keine       französische Schweiz eingeteilt werden. Diese
solchen registriert. Schmierereien gingen da-      Kategorie wiederum hat massiv zugenommen.
gegen im ganzen Land leicht zurück.                Für die ganze Schweiz lässt sich der Schluss
                                                   ziehen, wonach antisemitische Verschwörungs-
Antisemitismus im Internet                         theorien weiter an Zugkraft gewinnen.

2021 wurde in der ganzen Schweiz eine star-
ke Zunahme an antisemitischen Vorfällen im         Holocaustleugnung
Internet und in den sozialen Medien registriert,
                                                   Die Leugnung bzw. Banalisierung des Holo-
in der Deutschschweiz ausgeprägter, als in der
                                                   causts hat in der ganzen Schweiz zugenom-
französischen Schweiz Der Hauptgrund dafür
                                                   men, wenn auch in der Deutschschweiz im
war die Coronapandemie, welche als Trigger für
                                                   geringeren Ausmass, als in der französischen
Antisemitismus das ganze Jahr hindurch wirkte.
                                                   Schweiz. Mitverantwortlich für die starke Zu-
Im Mai wurde zusätzlich sowohl in der deutsch-
                                                   nahme im französischsprechenden Landes-

                                                                                                        20
teil ist eine Website die stetig neue Artikel zu   semitisch motivierte Angriffe auf die jüdische
diesem Thema veröffentlichte und wie schon         Gemeinschaft.
erwähnt die Verknüpfung von Verschwörungs-
                                                   Die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz ist
theorien mit Holocaustleugnung.
                                                   schon seit Jahrzehnten mit höheren Anforde-
                                                   rungen an die Sicherheit konfrontiert. Auf die
                                                   nochmals erhöhte Bedrohung in den letzten
6. Sicherheit der                                  Jahren wurde zeitnah reagiert. Die Sicherheits-
                                                   konzepte wurden angepasst und verstärkt.
jüdischen Gemein-                                  Dazu gehören Gebäudesicherung, Sicherheits-
                                                   personal und Ausbildung. Die daraus resultie-
schaft in der Schweiz                              renden Kosten müssen die jüdischen Gemein-
                                                   den immer noch mehrheitlich allein stemmen
Antisemitismus in seiner extremsten Form äus-      – schweizweit wird aktuell von vier bis fünf
sert sich in physischen Angriffen auf jüdische     Millionen Franken pro Jahr ausgegangen. Eine
Menschen und Einrichtungen. Die jüdische           akkurate Sicherung jüdischer Einrichtungen
Gemeinschaft und ihre Institutionen in der         ist nicht verhandelbar, und darum können die
Schweiz sind einer erhöhten Bedrohung aus-         Sicherheitsmassnahmen trotz der sehr grossen
gesetzt. Versammlungsorte, Synagogen oder          finanziellen Belastung nicht reduziert werden.
Schulen könnten Ziele terroristischer Angriffe     Die jüdischen Gemeinden haben die Belas-
werden. Insbesondere geht diese Gefahr von         tungsgrenze schon längst erreicht und müssen
rechtsextremen oder islamistischen Kreisen         folglich bei Ausgaben für andere Budgetposten
aus. Diese Lagebeurteilung fusst auf den Er-       wie Ausbildung, Veranstaltungen oder Erziehung
fahrungen mehrerer terroristischer Angriffe        sparen. Das trifft direkt den Kern einer Religi-
weltweit und im europäischen Umfeld. Der           onsgemeinschaft: die Ausübung ihrer Religion.
Nachrichtendienst des Bundes NDB bekräftigt
                                                   Nach jahrelangen Debatten um Verantwor-
diese Einschätzung in seinem jährlichen Lage-
                                                   tung und Zuständigkeiten im Sicherheitsbe-
bericht und stuft insbesondere die jüdische
                                                   reich wurde die unbefriedigende Lage vom
und die muslimische Gemeinschaft als erhöht
                                                   Bund 2017 anerkannt. Im November 2019 setzte
gefährdet ein.
                                                   der Bundesrat schliesslich die «Verordnung
Europa sieht sich seit über zehn Jahren mit        über Massnahmen zur Gewährleistung der
einer steigenden Bedrohung extremistischer         Sicherheit von Minderheiten mit besonde-
Gewalt konfrontiert. Die zahlreichen Atten-        ren Schutzbedürfnissen» VSMS in Kraft. Die
tate zeigen, dass es sich dabei nicht um ein       Verordnung entspricht dem Beschluss des
vorübergehendes Phänomen handelt, son-             Bundesrates vom Juli 2018, die Sicherheit
dern um ein permanentes und reales Sicher-         gefährdeter Minderheiten zu stärken und sie
heitsrisiko. Betroffen waren über ein Dutzend      bei der Finanzierung im Bereich Sicherheit zu
europäische Länder, was auch zeigt, dass           entlasten. Die in der Verordnung definierten
derartige terroristische Aktionen vor Grenzen      Massnahmen basieren auf dem Schutzkon-
keinen Halt machen. Wiederholt richteten sich      zept, das eine Arbeitsgruppe mit Vertreterin-
Angriffe spezifisch auf jüdische Einrichtungen.    nen und Vertretern des Bundes, der Kantone
Die Anschläge auf das jüdische Museum in           und Städte sowie der betroffenen Minderhei-
Brüssel, eine Synagoge in Kopenhagen, eine         ten, darunter des SIG, vorgeschlagen hatte.
jüdische Schule in Toulouse, einen Supermarkt      Die Verordnung sieht vor, dass sicherheitsrele-
für koschere Waren in Paris und eine Synagoge      vante Projekte der betroffenen Minderheiten
in Halle sind Beispiele für gezielte und anti-     in den Bereichen bauliche und technische

                                                                                                      21
Massnahmen, Ausbildung, Sensibilisierung und      beobachteten Vorfällen und deren Analyse
Information unterstützt werden – zu maximal       werden Formen, Ausmass und Ursprünge
50 Prozent der Gesamtaufwendungen des             sichtbar. Im Mehrjahresvergleich können
jeweiligen Projekts. Der Bund setzt dafür einen   damit auch Potenziale, Entwicklungen und
jährlichen Beitrag von bis zu 500’000 Franken     Dynamiken abgelesen werden. Für den SIG
an. Das fedpol sprach im Juli 2020, im Januar     und die GRA selbst, aber eben auch für die
2021 und im Januar 2022 die ersten Finanz-        Politik, für Bildungsinstitutionen, Medien und
hilfen für Projekte jüdischer Gemeinden und       schliesslich für die Bevölkerung ergibt sich
Einrichtungen. Die von jüdischen Gemeinden        so ein Bild der Gesamtlage. Auf dieser Basis
und Einrichtungen eingegebenen Projekte           können entsprechende Massnahmen in der
zielen vor allem auf bauliche Massnahmen ab,      Prävention, der Aufklärung und der strafrecht-
welche die Sicherheit von Synagogen, Schulen      lichen Verfolgung entwickelt werden. Diese
und Gemeindeeinrichtungen erhöhen.                Liste von Empfehlungen zielt auf einen sol-
                                                  chen Massnahmenkatalog und richtet sich an
Explizit bezeichnete der Bund die Verordnung      verschiedene Akteure in der Gesellschaft. Die
als einen ersten Schritt und kündigte an, wei-    Liste ist aufgrund der Dynamik des Phänomens
tergehende Massnahmen, auch bezüglich der         Antisemitismus, aber auch aufgrund gesell-
laufenden Kosten, zu skizzieren und ein ent-      schaftlicher Diskurse und Entwicklungen nicht
sprechendes Bundesgesetz zu prüfen. Zudem         vollständig oder abschliessend.
wurden die Kantone dazu aufgerufen, sich in
diesem Bereich stärker zu engagieren. Mittler-
weile entschlossen sich einige Kantone und        Analyse
Städte dazu, sich an den Sicherheitskosten
                                                  Um Antisemitismus zu verstehen und dagegen
zu beteiligen. Insbesondere der Kanton und
                                                  Massnahmen zu ergreifen, braucht es ein um-
die Stadt Zürich sowie der Kanton Basel-Stadt
                                                  fangreiches Bild des Phänomens.
setzten umfangreichere Finanzierungshilfen
und Lösungen um. Weitere Unterstützungs-
                                                  →   Der Bund sollte vermehrt die verschie-
leistungen sprachen die Kantone Aargau,
                                                      denen bestehenden Beobachtungs- und
Bern, Luzern und Waadt sowie die Städte Biel,
                                                      Analyseinstrumente aus der Zivilgesell-
Lausanne und Winterthur.
                                                      schaft unterstützen.
Im Hinblick auf eine Ausweitung der Unterstüt-    →   Der Bund sollte die eigenen Beobach-
zung ist der SIG seit einiger Zeit im Gespräch        tungs- und Analyseinstrumente stärken
mit dem Bund, und er ist zuversichtlich,              und weiterentwickeln.
dass in nächster Zeit Lösungen gefunden
werden können.
                                                  Soziale Medien
                                                  Antisemitische Hassrede und Verschwörungs-

7. Empfehlungen und                               theorien finden in den sozialen Medien grosse
                                                  Verbreitung. Dementsprechend muss diesem

Handlungsfelder                                   Phänomen mit adäquaten Mitteln entgegen-
                                                  gewirkt werden.

Der jährlich erscheinende Antisemitismusbe-       →   Die Justizbehörden sollten zusätzliche
richt des SIG und der GRA gibt einen fundier-         juristische Mittel zur Beobachtung und
ten Einblick in das Problemfeld Antisemitis-          Verfolgung entsprechender Posts sowie
mus in der Schweiz. Mit den gemeldeten und            ihrer Verfasserinnen und Verfasser prüfen.

                                                                                                   22
→   Social-Media-Plattformen sollten ihre           Antisemitismus und Rassismus überprüfen
    eigenen Anstrengungen zur Eindämmung            sowie weiterentwickeln.
    solcher Beiträge stark erhöhen und ihre     →   Bund und Kantone sind dazu angehal-
    entsprechenden Richtlinien verschärfen,         ten, Projekte der Wissensvermittlung mit
    soweit sie das noch nicht getan haben.          präventivem Charakter zu fördern und zu
→   Der Bund sollte prüfen, wie diese Platt-        unterstützen.
    formen stärker in die Pflicht genommen
    werden können.
                                                Gegenrede

Medien                                          Jeder und jede kann sich gegen Antisemitis-
                                                mus und Rassismus einsetzen.
Den Medien kommt ebenfalls eine wichtige
Rolle bei der Bekämpfung von Vorurteilen und    →   Staatliche Behörden sowie Vertreterinnen
Hassrede zu.                                        und Vertreter der Politik sind dazu auf-
                                                    gefordert, Antisemitismus mit gezielten,
→   Medien sollten ihre Kommentarspalten            starken Statements entschieden und hör-
    auf ihren Websites und vor allem ihren          bar entgegenzutreten.
    Social-Media-Kanälen umfassender moni-      →   Unternehmen und Organisationen sind
    toren sowie klare Community-Richtlinien         dazu aufgefordert, klar Position zu bezie-
    erstellen und anwenden.                         hen und antisemitische sowie rassistische
→   Medien sollten ihre eigenen Mitarbeiten-        Vorfälle zu verurteilen.
    den aktiver in den Bereichen interkultu-    →   Die Bevölkerung als Ganzes ist dazu auf-
    relles Wissen, Verwendung stereotyper           gerufen, in ihrem eigenen Umfeld und in
    Begriffe und Verstärkung von Vorurteilen        ihrem Alltag antisemitischen und rassisti-
    weiterbilden.                                   schen Haltungen entgegenzutreten.

Prävention und Bildung
Um Antisemitismus den Nährboden zu entzie-      8. Ergebnisse
hen, müssen antisemitische Vorurteile bereits
früh bekämpft werden.                           aus der Umfrage
→   Der Bund sollte vermehrt und gezielter      «Zusammenleben in
    Präventionsprojekte aus der Zivilgesell-
    schaft unterstützen.                        der Schweiz» (2020)
→   Die Bildungsbehörden sollten in den
                                                In regelmässigem Abstand von zwei Jahren
    Lehrplänen sowie in schulischen Program-
                                                führt das Bundesamt für Statistik BFS die Um-
    men vermehrt und umfassender sowohl
                                                frage «Zusammenleben in der Schweiz» durch.
    Aufklärung als auch Wissen zu Minder-
                                                Ziel der Erhebung ist es, ein verlässliches Bild
    heiten, zur Entstehung und zu den Konse-
                                                über das Zusammenleben verschiedener
    quenzen von Vorurteilen und Stereotypen
                                                Bevölkerungsgruppen zu erhalten und gesell-
    berücksichtigen.
                                                schaftliche Entwicklungen in Bezug auf Rassis-
→   Unternehmen und Organisationen sollten      mus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung
    ihre Leitlinien und Werte in Bezug auf      zu verfolgen.
    den Umgang mit Religion, Minderheiten,

                                                                                                   23
Auch das Thema Antisemitismus, der Blick der       jüdischen Menschen gegenüber eine feind-
Mehrheitsgesellschaft auf die jüdische Minder-     selige Einstellung haben, wobei ein leichter
heit und die Akzeptanz gängiger jüdischer          Trend nach unten zu beobachten ist.
Stereotypen spielen in der Umfrage eine Rolle.

So stimmen 22 Prozent der Schweizer Bevölke-
rung den gängigen Stereotypen über jüdische
Menschen vollständig zu. Gleichzeitig lehnen
nur 16 Prozent diese Stereotypen vollständig ab.

Es ist sehr erschreckend, dass also fast zwei
Millionen Menschen in der Schweiz Stereoty-
pen – wie: Juden sind geldgierig, machthung-
rig, intelligent und geschäftstüchtig – zustim-
men. Gleichzeitig zeigt der Vergleich dieser
Einstellung mit den tatsächlich geschehenen
Vorfällen auch, dass sich bei einem grossen
Teil der Menschen die Zustimmung zu den
Vorurteilen nicht in antisemitischen Handlun-
gen widerspiegelt. Dies ist einerseits erfreu-     Weiterführende Informationen zur Erhebung
lich, andererseits besteht die Gefahr, dass in     finden sich beim Bundesamts für Statistik BFS:
Zeiten grosser Krise solche Einstellungen sich
vermehrt auch in offenem Antisemitismus            https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/sta-
niederschlagen, so wie wir dies seit Beginn der    tistiken/bevoelkerung/erhebungen/zids.html
Coronapandemie schon beobachten konnten.

Antisemitismus wurde in der Schweiz schon
vor der Studie untersucht, sodass es Zahlen
für die letzten zehn Jahre gibt. Bei der Analyse
der Daten wird ersichtlich, dass zwischen acht
und zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung

                                                                                                    24
9. Verurteilungen                                    Staatsanwaltschaft Basel-Stadt per
                                                     Strafbefehl zu einer bedingten Geldstrafe

2021 wegen                                           und einer Busse verurteilt.
                                                 →   Im März hatte eine Lokalpolitikerin aus
Verstosses gegen                                     Capriasca im Tessin in einem Fernseh-
                                                     interview schoahleugnende Aussagen
Art. 261bis StGB                                     gemacht. Der SIG reichte daraufhin Straf-
                                                     anzeige ein. Im November 2021 wurde
Durch Strafanzeigen des SIG oder der GRA kam         die Frau dann durch die Tessiner Staats-
es im Berichtsjahr zu sechs Verurteilungen von       anwaltschaft per Strafbefehl zu einer
rechtsextremen und antisemitischen Personen:         bedingten Geldstrafe verurteilt.
                                                 →   Der Präsident und der Vizepräsident der
→   Die Zürcher Staatsanwaltschaft verurteil-
                                                     rechtsextremen PNOS wurden von der
    te nach einigen Jahren Ermittlungen den
                                                     Staatsanwaltschaft des Kantons Bern
    Sänger der Neonazi-Band Mordkomman-
                                                     wegen Rassendiskriminierung für schuldig
    do zu einer Gefängnisstrafe. Die rechts-
                                                     erklärt und zu einer bedingten Geldstra-
    extreme Schweizer Band hatte in ihren
                                                     fe sowie einer Busse verurteilt. In ihrem
    Songtexten jüdischen Menschen mit dem
                                                     Parteimagazin «Harus» hatte die PNOS
    Tod gedroht und die Lieder auf YouTube
                                                     vor knapp einem Jahr die hetzerischen
    hochgeladen. In den Texten wurden expli-
                                                     «Protokolle der Weisen von Zion» abge-
    zit Personen aus dem öffentlichen Leben
                                                     druckt. Dieses Urteil ist jedoch noch nicht
    genannt, so auch Herbert Winter, damali-
                                                     rechtskräftig.
    ger Präsident des SIG.
                                                 →   Das Regionalgericht Berner Oberland
→   Ein Aargauer Twitter-User hatte in einem
                                                     verurteilte im Dezember einen Mann zu
    Tweet geschrieben, dass zum Holocaust
                                                     einer bedingten Geldstrafe und einer
    vieles erfunden sei, wie Beschreibungen,
                                                     Busse. Dieser hatte auf seiner Website ein
    Erinnerungen, Familienerzählungen und
                                                     Gutachten aus den 1930er-Jahren veröf-
    Zahlen. Ausserdem wisse niemand genau,
                                                     fentlicht, das zu beweisen versucht, dass
    wie der Holocaust stattgefunden habe.
                                                     die «Protokolle der Weisen von Zion» echt
    Das meiste sei «jüdische Geschichts-
                                                     seien, und dabei zusätzlich offen gegen
    verdrehung». Darüber hinaus hatte er in
                                                     Juden hetzt. Der Verurteilte akzeptierte
    Dutzenden von Tweets verschiedenste
                                                     das Urteil, es ist somit rechtskräftig.
    Versionen einer «jüdische Weltverschwö-
    rung» verbreitet. Er wurde dafür vom
    Bezirksgericht Zofingen zu einer beding-
    ten Geldstrafe und zur Übernahme der
    Verfahrenskosten verurteilt.
→   Der bekannte Rechtsextreme Tobias
    Steiger hatte einerseits in den sozialen
    Medien immer wieder antisemitische und
    schoahleugnende Posts abgesetzt und
    andererseits an einer Demonstration der
    Partei National Orientierter Schweizer
    PNOS in Basel eine offen antisemitische
    Rede gehalten. Dafür wurde er von der

                                                                                                   25
10. Interventionen                                  Im März hatte eine Lokalpolitikerin aus Ca-
                                                    priasca im Tessin in einem Fernsehinterview
                                                    schoahleugnende Aussagen gemacht. Der
SIG und GRA äusserten sich im Berichtsjahr          SIG reichte daraufhin Strafanzeige ein. SIG
mehrmals zu Antisemitismusvorfällen und             und GRA hatten sich besorgt darüber geäus-
Schoahvergleichen:                                  sert, dass sich die Politikerin weiterhin für die
                                                    Exekutive und die Legislative in Capriasca zur
                                                    Wahl stellte. Erfreulicherweise wurde sie nicht
Im Januar wurde eine Online-Kulturveran-
                                                    gewählt. Im November 2021 wurde sie schliess-
staltung der Jüdischen Liberalen Gemeinde
                                                    lich per Strafbefehl zu einer bedingten Geld-
JLG in Zürich von Vermummten sabotiert.
                                                    strafe verurteilt.
Die Gruppe störte das Programm mit obszö-
nen und verletzenden Abbildungen, darunter
Hakenkreuze und Hitlerbilder. Den Verantwort-       Mehrmals mussten SIG und GRA dazu auf-
lichen war es nicht möglich, die Aktionen zu        rufen, keine Vergleiche zwischen den Mass-
stoppen und deren Urheberinnen und Urheber          nahmen gegen die Coronapandemie und der
zu sperren. Sie mussten darum die Veranstal-        Schoah zu machen, nachdem dies gehäuft
tung umgehend abbrechen. SIG und GRA ver-           sowohl in der Gesellschaft als auch in der
urteilten den Vorfall öffentlich. Der SIG unter-    Politik geschehen war. Solche Vergleiche sind
stützte die JLG beim Einreichen einer Klage.        nicht nur unsinnig und falsch, sondern ver-
                                                    harmlosen auch das unermessliche Leid und
                                                    die Schmerzen der Opfer des nationalsozialis-
Ebenfalls im Januar reichte der SIG erneut
                                                    tischen Regimes.
Strafanzeige gegen die rechtsextreme Partei
National Orientierter Schweizer PNOS ein.
Diese hatte in ihrem Parteimagazin «Harus»          Zwei Urteile des Presserates im Juli und
die hetzerischen «Protokolle der Weisen von         August lösten grosse Irritationen bei SIG und
Zion» abgedruckt. Mit diesem antisemitischen        GRA aus. Einerseits entschied der Presserat,
Pamphlet wird bewusst der Mythos der jüdi-          dass das Medium «Prime News» die Wahr-
schen Weltverschwörung verbreitet. Gerade in        heitspflicht verletzt habe, weil es die BDS-Be-
Zeiten von Corona gewinnen Verschwörungs-           wegung (Boykott, Desinvestition, Sanktionen)
theorien, auch mit antisemitischem Hinter-          als «antisemitisch gefärbt» bezeichnet hatte.
grund, erneut an Zulauf. Die Veröffentlichung       In seiner Herleitung hatte er sich dabei auf
der «Protokolle» gibt solchen Mythen zusätzli-      die Argumentation von BDS gestützt. Der SIG
chen Auftrieb und fördert den Antisemitismus.       kritisierte diesen Entscheid öffentlich. Anderer-
Während des ganzen Jahres machten SIG und           seits wurde auf «Inside Paradeplatz» ein Artikel
GRA auf das Thema der antisemitischen Ver-          publiziert, in dem zahlreiche Vorurteile und
schwörungstheorien aufmerksam.                      Klischees über jüdische Menschen zusammen-
                                                    getragen und verbreitet wurden. Dieser wurde
                                                    vom Presserat unter dem Stichwort «Meinungs-
Im Februar wurden an der Eingangstür der
                                                    freiheit» nicht beanstandet. Nachdem der SIG
Synagoge in Biel eingeritzte antisemitische
                                                    öffentlich auf verschiedene Widersprüche und
Symbole und Parolen vorgefunden. Diese Tat
                                                    Fehler in der Argumentation der beiden Urteile
stellt eine Schändung der Synagoge dar. Die
                                                    aufmerksam gemacht hatte und sowohl SIG
Jüdische Gemeinde Biel, der SIG und die GRA
                                                    als auch GRA beim Presserat intervenierten,
verurteilten die Tat aufs Schärfste. Die Schuldi-
                                                    entschied sich dieser, die beiden Fälle noch
gen konnten bis Ende Jahr noch nicht ausfin-
                                                    einmal zu überprüfen.
dig gemacht werden.

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11. Prävention von                                 In der diesjährigen Ausgabe wurde zusätzlich
                                                   ein mobiler Ansatz eingeführt. Mit Kurzbesu-

Antisemitismus                                     chen wurden auch neue Destinationen erkun-
                                                   det und abgedeckt. Dazu zählten der Blausee,
                                                   Crans Montana, Engelberg, Grindelwald,
                                                   Riederalp und Sedrun. An diesen neuen Orten
Die Armee will neue Wege im Umgang mit
                                                   wurde beim Besuch geklärt, ob Potenzial und
Minderheiten gehen. In Kooperation mit dem
                                                   Nachfrage für den Likrateinsatz bestehen.
Dialog- und Aufklärungsprojekt Likrat Pub-
lic des SIG entstand dabei das Pilotprojekt
«Sensibilisierung zu Diversität und Inklusion      Die GRA organisierte in Kooperation mit dem
in der Armee» SEDIA. Spezialisten von Likrat       FC Hakoah und dem FC Kosova ein Freund-
Public führten Anfang Juli 2021 einen Sensibili-   schaftsspiel im Namen von Toleranz und
sierungslehrgang für angehende Kader durch.        Vielfalt, um ein Zeichen gegen Rassismus
Das Kommando Ausbildung der Armee hatte            und Antisemitismus im Sport zu setzen sowie
die Armeeseelsorge damit beauftragt, zusam-        bestehende Vorurteile abzubauen. Dass das
men mit dem SIG ein solches Pilotprojekt zu        Spiel auf grosses Interesse stiess, zeigt, wie
entwickeln und durchzuführen.                      wichtig solche Begegnungen im Alltag sind
                                                   und welch wichtige Rolle der Sport in der
                                                   Präventions- und Sensibilisierungsarbeit ein-
2021 konnten durch Likrat über hundert
                                                   nehmen kann.
Schulbegegnungen durchgeführt werden.
Sogenannte Likratinos und Likratinas besuch-
ten interessierte Schulklassen, wo sie sowohl      Um der Verbreitung antisemitischer Ver-
zum Judentum als Religion als auch zu ihrer        schwörungstheorien entgegenzuwirken und
persönlichen religiösen und kulturellen Lebens-    die Sensibilisierung in der breiten Öffentlich-
erfahrung Auskunft gaben. Aufgrund der Co-         keit zu stärken, gab die GRA einen Informa-
ronapandemie wurden diese teils online durch-      tionsflyer für Lehrpersonen zum Umgang mit
geführt. Neu fanden auch Begegnungen an            Verschwörungstheorien im Klassenzimmer
Primarschulen statt. Dafür wurde das Konzept       heraus. Sie entwickelte auch ein Glossar, das
speziell angepasst. Besonders erwähnenswert        antisemitisch konnotierte Wörter aus dem
ist, dass viele Lehrpersonen von den Likrat-Be-    Verschwörungsjargon kontextualisiert. Das
gegnungen so angetan sind, dass sie diese          Glossar wurde unter anderem im «Tangram»,
jedes Jahr erneut buchen. Für das Jahr 2022 ist    der Zeitschrift der Eidgenössischen Kommis-
nun wieder ein neuer Ausbildungslehrgang für       sion gegen Rassismus EKR, publiziert und dient
Likratinos und Likratinas geplant. Zum ersten      Journalistinnen und Journalisten zur Einord-
Mal wird es eine gemeinsame Ausbildung für         nung bestimmter Aussagen.
Deutsch- und Französischsprachige geben.

                                                   Dem Bundesrat wurde im Mai 2021 ein Kon-
Zum dritten Mal wurde das Sommerprojekt            zept überreicht, das die Errichtung eines Me-
von Likrat Public rund um jüdische Gäste in        morials für die Opfer des Nationalsozialismus
Schweizer Ferienregionen durchgeführt. Ziel        verlangt. Demnach soll in Bern ein innovativer
war weiterhin, mehr gegenseitiges Verständ-        Erinnerungs-, Vermittlungs- und Vernetzungs-
nis zwischen Gastgebenden und jüdischen            ort entstehen. Der SIG arbeitet intensiv am
Gästen zu fördern. Fix stationiert waren die       Projekt mit. Die dazugehörigen Vorstösse im
Vermittler und Vermittlerinnen in Davos mit        Parlament wurden jeweils im Erstrat einstim-
den Ablegern Arosa, St. Moritz und Saastal.        mig angenommen.

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