AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - China(kompetenz) - Bundeszentrale für ...

 
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71. Jahrgang, 7–8/2021, 15. Februar 2021

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
  China(kompetenz)
           Lin Hierse                    Andrea Frenzel · Nadine Godehardt
 HIER KÖNNTE EIN SATZ ÜBER                 MEHR CHINAKOMPETENZ
  EINEN DRACHEN STEHEN                     FÜR EINE STRATEGISCHE
                                                CHINAPOLITIK
    Christoph Müller-Hofstede
   CHINA(KOMPETENZ) IN                               Ying Huang
 DER POLITISCHEN BILDUNG                  WERTE ODER INTERESSEN?
                                          MAXIMEN DER DEUTSCHEN
         Marina Rudyak
                                            UND EUROPÄISCHEN
  ÜBER CHINAKOMPETENZ
                                               CHINAPOLITIK
     UND SINOLOGIE
                                                      Jens Damm
         Andreas Fulda
                                            DAS „ANDERE CHINA“?
         CHINA UND
                                            WAS WIR ÜBER TAIWAN
     DIE WISSENSCHAFT
                                              WISSEN SOLLTEN
    IN GROẞ BRITANNIEN

                   ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                        FÜR POLITISCHE BILDUNG
               Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - China(kompetenz) - Bundeszentrale für ...
China(kompetenz)
                                  APuZ 7–8/2021
LIN HIERSE                                          ANDREA FRENZEL · NADINE GODEHARDT
HIER KÖNNTE EIN SATZ                                MEHR CHINAKOMPETENZ FÜR
ÜBER EINEN DRACHEN STEHEN                           EINE STRATEGISCHE CHINAPOLITIK
„Chinakompetenz“ ist wegen Chinas Rolle in          Das Verständnis von „China“, seinen Akteuren,
der Welt notwendig. Diese erfordert auch die        ihrem Handeln und ihren Ideen, braucht eine
Fähigkeit, nicht rassistisch zu sein, überholte     breite gesellschaftliche Basis in Deutschland und
und klischeebehaftete Chinabilder zu hinter-        in Europa. Die Bildung von Chinakompetenz
fragen und die Vielfalt der Bilder und Stimmen      – und Chinakompetenz durch Bildung – sollte
über und aus China wahrzunehmen.                    daher Teil der europäischen Chinastrategie sein.
Seite 04–07                                         Seite 26–32

CHRISTOPH MÜLLER-HOFSTEDE                           YING HUANG
CHINA(KOMPETENZ) IN DER                             WERTE ODER INTERESSEN?
POLITISCHEN BILDUNG                                 MAXIMEN DEUTSCHER UND EUROPÄISCHER
Der Aufstieg Chinas und seine geopolitischen        CHINAPOLITIK
Ambitionen berühren essenzielle Fragen              Der Balanceakt zwischen Werte- und Interessen-
politischer Bildung in der Demokratie, nicht        politik ist die wichtigste Leitlinie der deutschen
zuletzt, weil auch das Selbstverständnis des        und europäischen Chinapolitik. Doch wie
Westens herausgefordert wird. Was kann              soll die Balance mit Blick auf die zunehmende
politische Bildung zu China leisten?                wirtschaftliche und strategische Bedeutung
Seite 08–13                                         Chinas auf der Weltbühne erreicht werden?
                                                    Seite 33–39
MARINA RUDYAK
ÜBER CHINAKOMPETENZ UND SINOLOGIE                   JENS DAMM
Ein mangelndes Verständnis von chinesischen         DAS „ANDERE CHINA“? WAS WIR ÜBER
politischen Strategien schafft Risiken, insbeson-   TAIWAN WISSEN SOLLTEN
dere dann, wenn die chinesische Seite uns besser    Für eine umfassende „Chinakompetenz“ ist auch
kennt als umgekehrt. Um die Wissensasymmet-         Wissen über Taiwans Geschichte und Gegenwart
rie abzubauen, braucht es die Sinologinnen und      notwendig. Die Insel steht sowohl geopolitisch
Sinologen als Wissensbroker.                        wegen der „Ein-China-Politik“ im Fokus als
Seite 14–19                                         auch wegen ihrer erfolgreichen Demokratisie-
                                                    rung und Liberalisierung.
                                                    Seite 40–45
ANDREAS FULDA
CHINA UND DIE WISSENSCHAFT
IN GROẞ BRITANNIEN
Chinakompetenz ist kein Allheilmittel, wenn es
um den Umgang mit Chinas Einflussnahme im
Ausland geht. Der Einparteienstaat gefährdet
mit seinem Agieren die Wissenschaftsfreiheit.
Wie Universitäten reagieren können, wird am
Beispiel Großbritannien beschrieben.
Seite 20–25
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EDITORIAL
Im Januar 2021 fügte „Der Spiegel“ mit seinem Titel „Der Siegeszug des Dra-
chen“ der Sammlung von klischeebeladenen China-Symbolbildern ein weiteres
Drachenmotiv hinzu. Rot ist die dominierende Farbe auf Magazin- und Buch­
covern zu China, was bei den meisten westlich Sozialisierten vor allem die Asso-
ziation „Kommunismus!“ hervorruft, tatsächlich aber eine traditionell beliebte
Farbe im Land ist. Ob in Asien Beiträge über europäische Länder mit Messer
und Gabel illustriert werden, wie es umgekehrt mit Essstäbchen der Fall ist?
    „China kennt uns. Aber wir kennen China nicht“, fasst die Sinologin Marina
Rudyak zusammen – eine Diagnose, der sich viele anschließen können. Doch
welche Fähigkeiten und Fertigkeiten, kurz: welche Kompetenz braucht es, um
zu einem realistischen Bild des gegenwärtigen Chinas und Beijings Interessen
zu kommen? In der Debatte, auf welchen Grundlagen eine strategische deutsche
und europäische Chinapolitik aufbauen sollte, ist „Chinakompetenz“ ein ver-
breitetes Schlagwort geworden.
    China macht es einem aber auch nicht leicht. Die Erwartung des Westens, die
Marktöffnung der Volksrepublik würde Liberalisierung und Demokratisierung
in Politik und Gesellschaft nach sich ziehen, hat sich nicht erfüllt. Stattdessen
ist der Staat seit dem Machtantritt Xi Jinpings 2012 innenpolitisch rigider und
außenpolitisch ausgreifender geworden, verortet sich selbst in einer Systemkon-
kurrenz zum Westen und sieht sich auf der seidenen Gewinnerstraße. Auch das
gehört zu einem differenzierten Bild von China dazu.

                                                      Anne Seibring

                                                                               03
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                                                    ESSAY

                   HIER KÖNNTE EIN SATZ
                ÜBER EINEN DRACHEN STEHEN
                                                Lin Hierse

Ich bin jetzt 30 Jahre alt, und ich kenne keine          alter. Aber sind wir auch gut vorbereitet? Ex­
Welt, in der man sich nicht die Geschichte eines         pert:innen sagen: Nein. Im Februar 2020 hat eine
nahenden chinesischen Zeitalters erzählt. Dabei          Kommission zu Forschung und Innovation Bun-
werden verschiedene, häufig bedrohliche Szena-           deskanzlerin Angela Merkel ein Jahresgutachten
rien entworfen und entsprechend bebildert. Mal           vorgelegt, das Deutschland mangelnde China-
bäumen sich ein chinesischer Drache und ein US-          kompetenz im Bereich der Wissenschaft attestiert.
amerikanischer Adler voreinander auf, oder man           Ein produktiver wissenschaftlicher Austausch mit
sieht die jeweils amtierenden Präsidenten der            China brauche Menschen, die sich mit der chine-
zwei Großmächte, die sich im Profil vor wehen-           sischen Sprache und Kultur auskennen, aber auch
den Nationalflaggen anstarren.                           die Märkte, die institutionellen Rahmenbedingun-
    Als ich noch jünger war, widmete sich die Be-        gen und die politischen Strukturen verstünden,
richterstattung über China oft dem Image der             heißt es darin. Das ist weniger eine Kritik an ein-
„Werkbank der Welt“, und das Label „Made in              zelnen Forschenden und sinologischen Instituten
China“ hält sich bei vielen bis heute als abwertende     in Deutschland als vielmehr die Forderung nach
Metapher für billig produzierte Ware mit schlech-        einer breiteren Strategie. Es brauche eine zentrale
ter Qualität, obwohl diese Realität längst über-         Kompetenzstelle, die Wis­sen­schaft­ler:innen aller
holt ist. Außerdem ging es häufig um Spionage            Fachbereiche zu Kooperationen mit chinesischen
und China als aufstrebende Großmacht im fernen           Part­ner:innen berät und informiert. Außerdem
Osten – mit Megastädten aus neuen, blitzenden            solle Forschung und Lehre gestärkt werden, „wel-
Hochhäusern und einer Masse an Menschen, die             che zum Verständnis von aktuellen politischen,
im Transformationsprozess irgendwo „zwischen             gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwick-
Tradition und Moderne“ festklemmt. Und auch die          lungen in China beiträgt“.01
Frage nach Werten und der Kampf um die globa-                 Bereits zwei Jahre zuvor stellten Wis­sen­schaft­
le Vormacht in Bezug auf Freiheit und Unfreiheit         ler:innen des Mercator Institute for China Studies
wurde in diesen Erzählungen stets mit verhandelt.        in einem Bericht fest, dass es Deutschen an China-
    Es ist nicht so, als seien diese Themen nicht        kompetenz fehlt. Auch dieser Bericht kommt zu
relevant. Sie waren sehr relevant, und sind es noch      dem Schluss, dass „mehr“ gebraucht wird: mehr
immer. Aber sie sind auch sehr beschränkt. Hätte ich     Angebote an Schulen und Hochschulen, mehr Ex-
damals ein Bild malen sollen von China in der Welt,      pertise in Diplomatie und Rechtswissenschaften
dann hätte es Linksaußen mit den USA begonnen            und in der Konsequenz insbesondere mehr Lehr-
und Rechtsaußen mit China aufgehört. Dazwischen          kräfte mit „fundierten China-Kenntnissen“.02
wäre Europa ein kleiner, kaum bedeutender Punkt               Was bedeutet nun fundiert? Bei alledem fängt
gewesen. Afrika, Australien und Südamerika wären         man, wie immer, am besten vorne an: mit der Fra-
auf dieser Achse nicht einmal aufgetaucht. Jetzt denke   ge danach, was „Chinakompetenz“ eigentlich
ich manchmal, dass dieser Umstand ein passendes          ausmacht. Können nur Einzelpersonen sie er-
Sinnbild dafür ist, wie Europa und auch Deutschland      werben, indem sie zum Beispiel die Sprache ler-
in ihren Beziehungen zu China dastehen: etwas            nen und sich mit der chinesischen Geschichte und
verloren, ohne ausreichenden Blick auf und für das       Gegenwart auseinandersetzen, oder ist China­
größere Ganze und trotzdem mittendrin.                   kompetenz etwas, das wir uns auch kollektiv als
    Heute, im Jahr 2021, sind wir tatsächlich mit-       Gesellschaft aneignen können? Und wenn ja –
tendrin im lange beschworenen chinesischen Zeit-         wie machen wir das?

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China(kompetenz) APuZ

               BUSINESS – AS USUAL                                  beispielsweise an der Berichterstattung über das
                                                                    sogenannte Sozialkreditsystem beobachten ließ.03
Das Bundesministerium für Bildung und For-                               Anders als viele andere nicht europäische Ge-
schung schließt in seine Definition von Chi-                        sellschaften ist China wegen seiner wirtschaft-
nakompetenz Sprachkenntnisse, ein „Grund-                           lichen Bedeutung und dem Machtanspruch der
verständnis von Chinas Wirtschaft, Politik,                         Kommunistischen Partei zwar dauerpräsent – in
moderner Geschichte und Gesellschaft“ sowie                         der deutschen Kunst- und Kulturlandschaft und
„interkulturelle Fähigkeiten“ ein. Dass Wirt-                       im Alltag der meisten Deutschen spielt das Land
schaft noch vor Politik, moderner Geschichte                        aber nur am Rande eine Rolle. Dass es zunehmend
und Gesellschaft genannt wird, steht sinnbildlich                   schwer wird, auch abseits der üblichen Themen In-
für den ökonomischen Fokus, der hierzulande                         teresse an China zu wecken, liegt auch daran, dass
auf die Beziehungen zu China gelegt wird. Das                       unsere Berichterstattung und Repräsentation seit
Interesse an China ist oft am rein geschäftlichen                   Jahren ein Chinabild vom bösen Gegenspieler des
Nutzen orientiert. Dass es aufgrund enger wirt-                     Westens stärkt und so Ängste schürt. Zugleich ver-
schaftlicher Beziehungen einen Bedarf an Exper-                     längert dieses Bild in seiner Wirkung viele hartnä-
tise in diesem Bereich gibt, ist nachvollziehbar.                   ckige, teils rassistische Stereotype.
Doch die Wirtschaft mit ihrer jahrzehntelangen                           Doch angenommen, es gäbe bessere und viel-
Erzählung des „Rising Dragon“ und der gefährli-                     fältigere Angebote, China auch ab von Wirtschaft
chen, spionierenden Supermacht hat durchaus ih-                     und Politik kennenzulernen – wäre es dann besser
ren Teil dazu beigetragen, das Interesse an China                   bestellt um die deutsche Chinakompetenz? Eine
auf Geschäftliches und eine opportune „So viel,                     Sprache lässt sich erlernen, ein erstes Grundver-
wie es uns eben nützt“-Haltung zu beschränken.                      ständnis verschiedener Lebensbereiche ebenfalls –
Der Fokus auf den wirtschaftlichen Aspekt im                        auch aus der Entfernung. Der viel schwieriger zu
Verständnis von China hat so eher dazu geführt,                     greifende Schlüssel zur Chinakompetenz liegt in
chinaspezifische Wirtschaftskompetenz zu för-                       der Phrase „interkulturelle Fähigkeiten“. Wie soll
dern statt tatsächlicher Chinakompetenz.                            man interkulturelle Fähigkeiten messen, wo fangen
    Ein weiterer absurder Nebeneffekt dieses busi-                  sie überhaupt an? Es gibt zahlreiche Ratgeber und
ness-zentrierten Interesses ist, dass es relativ we-                Fachliteratur zu diesem Thema. Im Alltag bleibt
nig braucht, um in Deutschland als China­ex­pert:in                 der Begriff jedoch häufig schwammig. Wer mal ein
zu gelten. Absurd, weil Expertise ja eigentlich ein                 Semester in China studiert hat oder vielleicht auf
„viel“ oder zumindest ein „mehr“ voraussetzt. Da                    einer zweiwöchigen Dienstreise irgendwo im Aus-
kann jemand ganz in kolonialer Tradition „China­                    land war, macht möglicherweise schon ein gut ge-
ex­pert:in“ heißen, obwohl er oder sie vielen De-                   meintes Kreuz hinter dieser Anforderung, die im-
batten gar nicht aus erster Hand folgen kann und                    mer häufiger in Jobausschreibungen steht.
sich ausschließlich auf übersetzte und damit vor-                        Was hinter dem hochgehandelten Schlagwort
sortierte Informationen berufen muss. Während                       „Interkulturalität“ steckt, ist jedoch viel mehr als ein
fast jede:r die sprachlichen Fähigkeiten mitbringt,                 karriere­fördernder Spiegelstrich. Zu interkulturellen
Nachrichten aus der englischsprachigen Welt ein-                    Fähigkeiten gehört zu allererst die Bereitschaft, sich
zuordnen und die meisten wesentlichen Entwick-                      nicht nur mit der anderen Seite wie mit einem Studi-
lungen in den USA auch auf Deutsch von ver-                         enobjekt auseinanderzusetzen, sondern auch die eige-
schiedenen Ex­pert:innen diskutiert werden, muss                    nen Perspektiven auf das vermeintlich Andere zu hin-
man bei China auf deutlich begrenztere Quellen                      terfragen und manche von ihnen aktiv zu verlernen.
zurückgreifen. So entstehen im öffentlichen Raum
kaum Debatten, dafür aber umso mehr moderne                                     NICHT RASSISTISCH SEIN
Mythen, Verkürzungen und Gerüchte, wie sich
                                                                    Chinakompetenz – beziehungsweise jegliche
                                                                    Kompetenz in Hinblick auf einen bestimmten
01 Deutschland braucht mehr Chinakompetenz, 19. 2. 2020,            Kulturraum – bedeutet auch die kritische Be-
www.forschung-​und-​lehre.de/politik/deutschland-​braucht-​mehr-​
china-​kompetenz-​2534.
02 Matthias Stepan et al., China kennen, China können.              03 Vgl. Louise Matsakis, How the West Got China’s Social
Ausgangspunkte für den Ausbau von China-Kompetenz in                Credit System Wrong, 29. 7. 2019, www.wired.com/story/china-​
Deutschland, Merics China Monitor 45/2018, S. 8.                    social-​credit-​score-​system.

                                                                                                                               05
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trachtung und Dekonstruktion einer herrschen-                        einen „Brandbeschleuniger für Rassismus“.06 Da-
den, weißen Sicht auf die Welt. Es bedeutet, über                    von sind viele ostasiatisch gelesene Menschen be-
Macht nachzudenken: die Macht von Sprache, von                       troffen, aber auch Hilfs­ar­bei­ter:innen aus Rumä-
Wissen und von Zugang.04 Interkulturell fähig zu                     nien oder Menschen, denen eine türkische oder
sein, heißt auch, nicht rassistisch zu sein. Das wie-                arabische Herkunft zugeschrieben wird. Wegen
derum setzt voraus, Rassismus dort zu benennen                       einzelner Hochzeitsfeiern, die zu Infektions-
und offenzulegen, wo er stattfindet. Er muss das                     sprüngen geführt haben, wurden viele von ihnen
Attribut verlieren, „normal“ oder „einfach nur                       unter Generalverdacht gestellt. Aus Weihnachts-
ein Witz“ zu sein. Das ist nicht nur im absolut be-                  besuchen und Skiurlauben leitet hingegen (noch)
rechtigten Interesse derer, die von Rassismus be-                    kaum jemand ab, dass weiße Deutsche als Gruppe
troffen sind, sondern sollte von jeder Person und                    verdächtige In­fek­tions­trei­ber:innen sind.
Gesellschaft als notwendig und selbstverständlich                        Die vergangenen Monate haben außerdem
erachtet werden, die die Welt verstehen und verän-                   gezeigt, dass Deutschland in vielerlei Hinsicht
dern will. „Collective responsibility“, nannte die                   nicht bereit oder fähig ist, von Gesellschaften
Schwarze Feministin bell hooks das bereits 1989.05                   zu lernen, die größere Erfolge bei der Eindäm-
    Im Fall von Chinakompetenz ließe sich mit                        mung der Pandemie zu verzeichnen hatten. Der
der Herkunft und Genese der vielen überhol-                          Westen hat sich zu lange auf der orientalistischen
ten und klischeebehafteten Chinabilder im All-                       Selbstgewissheit ausgeruht, zivilisatorisch überle-
tag anfangen. Wie tragen Drachen, Glückskekse                        gen zu sein, während zugleich die Erzählung der
und Menschenmassen, aber auch Fotos von asi-                         bedrohlichen Supermacht aus Fernost aufrecht-
atisch gelesenen Menschen im Zusammenhang                            erhalten wurde. Und so stehen wir da, schein-
mit Nachrichten über Covid-19 zu Vorstellungen                       bar ohne Strategie oder Haltung, unterzeichnen
bei, die Deutsche sich von China machen? Wel-                        Handelsabkommen und spulen Floskeln der Kri-
che Bilder entstehen aus dem Kinderlied von den                      tik ab, wenn es um Menschenrechte geht.
drei Chinesen mit dem Kontrabass und der Pra-                            Westliche Gesellschaften haben – geprägt
xis des Yellowfacing in Film und Theater? Ergibt                     durch ihre imperiale und koloniale Vergangen-
eine Gewürzmischung namens „China“ im Regal                          heit und Gegenwart – dem Rest der Welt Viel-
zwischen Chili und Curry eigentlich Sinn?                            schichtigkeit und Menschlichkeit abgesprochen,
    Diese Dinge mögen klein klingen in Relation                      individuell und kollektiv. In Bezug auf China
zu Chinas Gewicht auf der globalen Bühne und                         manifestiert sich diese Haltung in der Idee, die
auf den einen oder die andere nichtig wirken im                      chinesische Bevölkerung sei eine ferngesteuer-
Vergleich zu Praxis-Tipps zu chinesischen Busi-                      te Masse unter autoritärer Hand, ohne die Fä-
ness-Regeln oder Urlaubsreisen. Aber die Ausei-                      higkeit zum freien, individuellen Denken. Doch
nandersetzung mit der eigenen Sicht auf die Welt                     selbstverständlich gibt es auch in einem autoritä-
ist eine wichtige Voraussetzung dafür, diese Welt                    ren Staat Dissens und eine Vielfalt an Stimmen.07
und ihre Akt­eur:innen besser zu verstehen und                       Chinesische Intellektuelle denken seit jeher über
sich selbst in der Welt zu verhalten. Vielleicht so-                 ihr Land und die ganze Welt nach. Sie werden al-
gar die wichtigste.                                                  lerdings seltener übersetzt und finden auch des-
    Sowohl Teile der Medien als auch politische                      halb kaum in Debatten außerhalb Chinas statt.
Amts­  in­
         haber:innen verschiedener Parteien und                      Dass ihre Gedanken folglich international wenig
große Teile der deutschen Zivilgesellschaft ha-                      Gehör finden, obwohl sie Impulse und Analysen
ben in den vergangenen Monaten erneut bewie-                         zu einem der wichtigsten Akt­eur:innen unserer
sen, dass Rassismus in unserer Gesellschaft noch                     Welt beisteuern können, ist besorgniserregend.
immer verbreitet ist. Die Antidiskriminierungs-
stelle des Bundes nannte die Corona-Pandemie                         06 Vgl. Antidiskriminierungsstelle beklagt zunehmenden Ras-
                                                                     sismus in der Corona-Pandemie, 29. 12. 2020, www.spiegel.de/
04 Vgl. Yangyang Cheng, „China-Watching“ Is a Lucrative Busi-        politik/deutschland/corona-​pandemie-​starke-​zunahme-​von-​
ness. But Whose Language Do the Experts Speak?, 13. 1. 2021,         rassismus-​und-​diskriminierung-​a-​f8eea2dd-​a4df-​45ab-​ac6e-​
www.theguardian.com/commentisfree/​2021/jan/​13/under-               d6a4b0c06c4a. Siehe auch Kimiko Suda/Sabrina J. Mayer/
stand-​china-​speak-​chinese-​english-​language.                     Christoph Nguyen, Antiasiatischer Rassismus in Deutschland, in:
05 bell hooks, Overcoming White Supremacy: A Comment                 APuZ 42–44/2020, S. 39–44 (Anm. d. Red.).
in: dies., Talking Back: Thinking Feminist, Thinking Black, Boston   07 Vgl. Ian Johnson, What Is China Thinking?, 2. 12. 2020,
1989, S. 112–119.                                                    https://supchina.com/​2020/​12/​02/what-​is-​china-​thinking.

06
China(kompetenz) APuZ

    Die Welt ist einfacher zu verstehen, wenn wir                 it has everything to teach others and nothing to
sie in einfache Kategorien einteilen. So funktio-                 learn from them is not just.“08
nieren Märchenerzählungen, in denen Gut gegen                         Wegen dieser Altlasten wird es nicht ausrei-
Böse kämpfen muss. So verkaufen sich Zeitun-                      chen, Chinakompetenz nur an Sprachkenntnis-
gen angeblich besser, so finden wir etwas, woran                  sen, Studienwissen und Auslandserfahrung fest-
wir uns im komplexen Getöse der Globalisierung                    zumachen. Es wird nicht genug sein, neben den
festhalten können. Das Dilemma dabei bleibt                       großen Themen Wirtschaft und Politik lediglich
aber: Eine vereinfachte Version der Welt ist leich-               kleine kulturelle oder philosophische Häppchen
ter zu verstehen, aber eine vereinfachte Version                  zu reichen und ein paar Souvenirs zu importieren,
der Welt ist nie wirklich die Welt. Was also tun?                 wie Massageroller aus Jade oder Kalenderzitate
                                                                  von Konfuzius. Wir müssen nachdrücklicher die
               ZUHÖREN, HINSEHEN,                                 Frage stellen, wie wir Chinakompetenz nicht als
                  WAHRNEHMEN                                      Expertise ein paar weniger Fachleute oder als Vor-
                                                                  zeigeskill im Lebenslauf junger Karrieremenschen
Die Antwort ist naheliegend: Wir müssen uns um                    vermitteln, sondern als Notwendigkeit, um die
Differenziertheit bemühen. Ihre Abwesenheit ist                   Welt, wie sie ist und sein wird, zu begreifen. Auch,
oft ein Problem, auch in Bezug auf China und auf                  um China auf der globalen Bühne langfristig be-
sogenannte Chinakompetenz. Es ist zugegebe-                       gegnen und etwas entgegensetzen zu ­können.
nermaßen nicht leicht, über China zu berichten                        Das mag nach einer Mammutaufgabe klin-
und sich verlässlich zu informieren. Und es wird                  gen. Aber wir machen Ähnliches längst mit dem
schwieriger. Politische Spannungen wirken sich                    englischsprachigen Kulturraum oder den Nach­
direkt auf Möglichkeiten des Austauschs und des                   bar:innen in Frankreich. Wir lernen Sprachen, wir
Lernens aus. Jour­nalist:innen, die aus China be-                 lesen Literatur und Gedichte im Original oder
richten, haben es zunehmend schwer. Zuletzt wur-                  gut übersetzt. Wir studieren die Gedanken ihrer
den im März 2020 13 Kor­res­pon­dent:innen US-                    Intellektuellen, hören ihre Musik und produzie-
amerikanischer Medien ausgewiesen. Das wirkt                      ren gemeinsam Filme. Dieser Austausch macht
sich auch auf die Informationslage in Deutschland                 immer wieder neugierig aufeinander. Das ist mehr
aus, wo Interessierte oft auf Veröffentlichungen                  als Unterhaltung. Es ist die Grundlage für Fort-
aus den USA zurückgreifen, weil dort eine grö-                    schritt und Wachstum, im zivilisatorischen Sinn.
ßere chinesische Diaspora in Alltag und media-                        Mit China tun wir all das noch relativ selten,
ler Öffentlichkeit vertreten ist. Dort finden sich                dabei wäre es besonders unter den angespannten
zum Beispiel Analysen dazu, warum viele chine-                    weltpolitischen Verhältnissen wichtig. Wirklich lo-
sische Dissidenten Donald Trump unterstützen,                     gisch ist dieses Versäumnis nicht zu begründen –
aber auch Essays über verschiedene chinesische                    schon gar nicht in einer Welt, in der räumliche Ent-
Küchen – wichtige Nuancen und Themen, die in                      fernung nicht mehr als Maßstab für Distanz genügt.
Deutschland keine wesentliche Beachtung finden.                   Es mag Interesse geben an China, großes, wenn es
    In vielen Wissenschaftsfeldern wird mit de-                   ums Geld geht, und wichtiges im Bereich der inter-
kolonialen Ansätzen längst daran gearbeitet, die                  nationalen Zusammenarbeit. Es gibt kompetente
Position der Forschenden, oft weißen Subjekte,                    Wis­sen­schaft­ler:innen und Ex­pert:innen in anderen
in der Erzählung der Welt kritisch einzubeziehen,                 Bereichen, die China nicht nur aus Lehrbüchern
auch rückwirkend. Als Gesellschaft verstehen                      kennen. Aber wir brauchen tatsächlich mehr, wir
wir allerdings zu langsam, dass Geschichtsschrei-                 brauchen eine Vielfalt der Bilder und der Stimmen.
bung von kolonialen, weißen Blicken beherrscht                    Davon gibt es auch in China reichlich. Wir müssen
und deshalb wichtige Perspektiven auf Wahrheit                    deutlich kompetenter darin werden, sie als gleich-
und Wirklichkeit ignoriert wurden. Schon 1967,                    wertig und wertvoll wahrzunehmen.
einen Tag vor seiner Ermordung, brachte Martin
Luther King diese Haltung in einer Rede auf den                   LIN HIERSE
Punkt: „The Western arrogance of feeling that                     hat Asien- und Afrikawissenschaften sowie Human-
                                                                  geografie studiert und ist Redakteurin bei der „Taz.
08 Martin Luther King Jr., A Time to Break Silence, 4. 4. 1967,
                                                                  Die Tageszeitung“. Dort schreibt sie unter anderem
www.blackpast.org/african-​american-​history/​1967-​martin-​lu-   die Kolumne „Poetical Correctness“.
ther-​king-​jr-​beyond-​vietnam-​time-​break-​silence.            Twitter: @linhierse

                                                                                                                    07
APuZ 7–8/2021

          ZWISCHEN SYSTEMKONKURRENZ
            UND DIALOGBEREITSCHAFT
                China(kompetenz) in der politischen Bildung
                                   Christoph Müller-Hofstede

Anfang 2021 lässt sich festhalten, dass die Co-            Nach dem Tode Maos 1976 zerfiel die mao-
rona-Pandemie zu einer weiteren Verschärfung          istische Linke und verfolgte Karrieren in Publi-
der Kontroversen und Konflikte zwischen Chi-          zistik, Wissenschaft und Politik, vielfach bei den
na und dem Westen01 beigetragen hat. Während          Grünen, aber auch bei konservativen Parteien,
sowohl Europa als auch die USA im Umgang              wie das Beispiel José Manuel Barroso zeigt. Die
mit der Krise keine gute Figur machten, konn-         später einsetzende Euphorie westlicher Politiker
te China (wie auch andere asiatische Staaten) das     und Wirtschaftslenker über die Marktöffnung
Virus nach anfänglichen Schwierigkeiten erfolg-       Chinas in den 1980er und 1990er Jahren in Pu-
reich eindämmen und die Pandemie nutzen, um           blizistik und Wissenschaft knüpfte dann auf eine
seine Macht nach innen und nach außen wei-            merkwürdige Weise an die Phase der kulturrevo-
ter auszubauen. In den Worten eines führenden         lutionären Projektionen im Westen an – ebenfalls
Funktionärs der Kommunistischen Partei Chinas         einhergehend mit einer „chronischen Gering-
(KPCh): „Der Westen steigt ab, der Osten steigt       schätzung der Menschenrechte“.05
auf.“02 Der Machtzuwachs Chinas zeigt sich auf             Unübersehbar wächst zurzeit in der öffentlichen
vielen Feldern und weist auf eine tektonische         Debatte sowohl international als auch in Deutsch-
Verschiebung im Verhältnis des Westens zu Chi-        land das Misstrauen und die Kritik an Chinas innen-
na hin. Während über die Tatsache des Aufstiegs       politischem und außenpolitischem Verhalten – ganz
Chinas weitgehend Einigkeit besteht, ist fraglich,    gleich, ob es um die repressiven Maßnahmen in
welche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind.      Xinjiang, um die Unterdrückung der Opposition in
Der Streit darüber hat gerade erst ­begonnen.03       Hongkong und in China selbst oder um die bis nach
    Angesichts der aktuellen Versuche, die Vor-       Europa reichenden Pläne einer „Neuen Seidenstra-
gänge in China neu zu verstehen, ist es wichtig,      ße“06 geht. Diese Entwicklungen berühren essenzi-
sich die zentrale Rolle Chinas als Projektionsflä-    elle Fragen politischer Bildung in der Demokratie,
che für europäische Wünsche, Angst und Faszi-         nicht zuletzt, weil sie auch das Selbstverständnis des
nation zu vergegenwärtigen. Diese reicht zurück       Westens als „normatives Projekt“ (Heinrich August
bis in die Zeit der Renaissance und Aufklärung:       Winkler) – untrennbar verbunden mit den Werten
„Seitdem der Westen begonnen hat, sich auf Chi-       der europäischen Aufklärung, Demokratie, Ge-
na einzulassen – mit dem Beginn der missionari-       waltenteilung, Menschenrechte – infrage zu stellen
schen Ouvertüren im 16. Jahrhundert – wurde das       scheint. Auch das westlich geprägte Bild des Men-
himmlische Reich von Kirchenmännern, Kauf-            schen als selbstbestimmtes Individuum steht auf
leuten und philosophischen Intellektuellen als ein    dem Prüfstand.07 Wie diese neuen Fragen und Kon-
potentes Traumland mit fast paradiesischen Mög-       texte in der politischen Bildung sinnvoll behandelt
lichkeiten betrachtet: für die christliche Bekeh-     werden können, steht im Zentrum dieses Beitrages.
rung, für wirtschaftlichen Profit, für Lektionen in
Regierungsführung. Die Umarmung des Maois-                        DIE VERLORENE WETTE
mus durch westliche Radikale ist daher die jüngste                    DES WESTENS
Wiederholung einer jahrhundertealten Neigung,
das erfreulich abgelegene, exotische China als eine   Noch im Jahr 2001 wurden mit dem Beitritt Chi-
Fundgrube für politische, soziale, kulturelle und     nas zur Welthandelsorganisation (WTO) große
wirtschaftliche Tugenden zu ­identifizieren“.04       Hoffnungen auf eine langfristige Einbindung des

08
China(kompetenz) APuZ

Landes in die regelbasierte Weltordnung des Wes-                     1980er Jahre. Fast drei Jahrzehnte begleitete die
tens und eine innenpolitische Demokratisierung                       Grundidee einer Liberalisierung Chinas – paral-
verbunden. Auch unter vielen chinesischen Intel-                     lel zum Wohlzustandszuwachs und gesellschaftli-
lektuellen und sogar in Teilen der Parteielite gab                   cher Pluralisierung und Individualisierung – trotz
es Anhänger dieses Weges, der sich auf Trends in                     aller Rückschläge und widersprüchlicher Signale
der chinesischen Gesellschaft wie den wachsen-                       den Aufstieg des Landes.
den Wohlstand einer gebildeten Mittelschicht so-                          Erst die „leninistische Gegenreformation“10
wie Pluralisierungs- und Individualisierungspro-                     nach dem Amtsantritt Xi Jinpings als Generalse-
zesse stützte.08 Die aus dem Kalten Krieg mit dem                    kretär der KPCh 2012 beendete den soeben noch
„Ostblock“ stammende Formel „Wandel durch                            für unumkehrbar gehaltenen Trend hin zu mehr
Handel“ sollte auch für China gelten.                                Liberalismus, Demokratie und Rechtsstaat. Die
    Die Idee, China „in die Welt zu integrieren“,                    politisch-ideologische Kontrolle der Gesellschaft
ging schon lange vor der Öffnung Chinas in die                       wurde massiv verstärkt, dissidente Stimmen un-
geostrategischen Überlegungen der USA ein. 1967                      terdrückt und das Land mit der Formel vom
äußerte Richard Nixon, mitten im eskalierendem                       „Wiederaufblühen der Nation“ auf eine deutlich
Vietnamkrieg, in einem prophetischen Beitrag:                        aggressivere Außenpolitik eingestimmt.11 Spä-
„Wir können es uns einfach nicht leisten, China                      testens mit der Abschaffung der noch in der Re­
für immer außerhalb der Völkergemeinschaft zu                        form­ära eingeführten Begrenz­ung der Amtszeit
lassen, damit es dort (draußen) seine Phantasien                     des Präsidenten auf dem Nationalen Volkskon-
nährt, seine Hassgefühle pflegt und seine Nachbarn                   gress 2018 war die „25-jährige Wette des Westens
bedroht. Auf diesem kleinen Planeten ist es nicht                    auf China“12 gescheitert.
möglich, eine Milliarde seiner potentiell fähigsten                       Diese Entwicklungen läuteten eine neue Pha-
Menschen in zorniger Isolation leben zu lassen“.09                   se in den chinesisch-westlichen Beziehungen ein,
    Nur wenige Jahre später trug Nixon mit sei-                      in der China deutlicher als je zuvor als „systemi-
nem Besuch in China 1972 entscheidend dazu                           sche Bedrohung“ westlicher Werte und geopoliti-
bei, China aus dieser Isolation zu holen. Nach                       scher Positionen angesehen wurde. Der damalige
dem Tode Mao Zedongs wurden die wirtschaft-                          US-Außenminister Mike Pompeo fasste den neu-
liche Liberalisierung und die weitere Öffnung                        en Blick auf China in einer viel beachteten Rede
zum Westen eine wesentliche Voraussetzung für                        im Oktober 2019 so zusammen: „Wir haben den
die dynamische Entwicklung Chinas ab Mitte der                       Aufstieg Chinas jahrzehntelang geduldet und ge-
                                                                     fördert, auch wenn dieser Aufstieg auf Kosten der

01 Der Begriff „Westen“ wird abkürzend für die Vielfalt der
europäischen, amerikanischen und ab dem 20.Jahrhundert auch          05 Vgl. Mark Siemons, Der Traum ist tot, der Schrecken bleibt.
japanischen und russischen/so­wje­tischen Einflüsse in China ver-    Über die chinesische Kulturrevolution und die Angst des Westens
wendet. Ebenso steht der Begriff „China“ für eine hochkomplexe,      vor Erstarrung, in: FAZ, 4. 4. 1992 , Bilder und Zeiten S. 1 f. Siehe
plurale und widersprüchliche „Entität“ im Wandel, die weder          beispielhaft die Äußerungen von Helmut Schmidt, „Mao hat die
kulturell noch historisch dem gängigen Fremd- und Selbstbild ei-     Toten nicht gewollt“. Der Altkanzler verteidigt chinesisches Mas-
nes „ewigen China“ entspricht. Siehe ausführlich Kai Vogelsang,      saker von 1989, 14. 9. 2012, www.morgenpost.de/109207265.
Geschichte Chinas, Stuttgart 2012.                                   06 Ausführlich zu diesem Projekt: Sebastian Heilmann, Die
02 Zit. nach Friederike Böge, Chinas Hybris, in: Frankfurter All-    Seidenstrassen-Illusion. Mythen und Realitäten eines eurasischen
gemeine Zeitung (FAZ), 15. 12. 2020, S. 1. Siehe auch Mercator       Superkontinents unter chinesischer Vorherrschaft, Zürich 2020.
Institute for China Studies (Merics), China in 2021, 10. 12. 2021,   07 Vgl. ders., Herde statt Werte, in: Internationale Politik, Ja-
https://merics.org/en/briefing/china-​2021-​agenda-​setting-​an-     nuar/Februar 2020, S. 103–107; Mark Siemons, Die Zweiteilung
niversaries-​and-​potential-​conflict; ausführlich Zhang Junhua,     der Welt, 24. 5. 2020, www.faz.net/-16782728.
Chinas „Wolfskrieger“- Diplomatie ist ein Irrweg, 25. 8. 2020,       08 Vgl. ders., Die chinesische Verunsicherung, München 2017,
www.nzz.ch/meinung/eine-​sackgasse-​chinas-​aggressive-​wolfs-       S. 13.
krieger-​diplomatie-​ld.​1571872.                                    09 Richard M. Nixon, Asia After Viet Nam, in: Foreign Affairs
03 Siehe beispielhaft das Streitgespräch zwischen Matthias           1/1967, S. 111–125.
Döpfner und Kishore Mahbubani, „Wie gefährlich ist China?“, in:      10 Vgl. Siemons (Anm. 8), S. 14.
Die Zeit, 18. 6. 2020, S. 10 f.                                      11 Ausführlich Nadine Godehardt, Wie China Weltpolitik
04 Julia Lovell, Maoism – A Global History, London 2019,             formt. Die Logik von Pekings Außenpolitik unter Xi Jinping, Stif-
S. 190. Alle Übersetzungen in diesem Beitrag durch den Autor.        tung Wissenschaft und Politik, SWP Studie 19/2020. Zum alten
Vgl. auch Christoph Müller-Hofstede, Reich und rastlos: Chinas       und neuen chinesischen Nationalismus Müller-Hofstede (Anm. 4).
Aufstieg in der internationalen Ordnung, in: Doris Fischer/ders.     12 How the West Got China Wrong, 1. 3. 2018, www.econo-
(Hrsg.), Länderbericht China, Bonn 2014, S. 807–838.                 mist.com/leaders/​2018/​03/​01/how-​the-​west-​got-​china-​wrong.

                                                                                                                                       09
APuZ 7–8/2021

amerikanischen Werte, der westlichen Demokra-                        na zu verstehen, ist es notwendig, die China-
tie, der Sicherheit und des gesunden Menschen-                       Expertise hierzulande in Behörden, Parteien,
verstands ging.“13                                                   Schulen und Universitäten sowie in anderen Or-
     Auch die Chinastrategie der EU wurde im                         ganisationen stärker a­ uszubauen.“17
März 2019 revidiert und präsentierte einen neuen                         Der Auf- und Ausbau von Chinaexpertise
Blick auf China als gegnerische Macht: „China ist                    oder -kompetenz steht hier im Mittelpunkt einer
gleichzeitig in verschiedenen Politikbereichen ein                   neuen politischen Agenda. Diese kann als direkte
Kooperationspartner, mit dem die EU eng abge-                        Folge der geplatzten „Wette des Westens“ gese-
stimmte Ziele verfolgt, ein Verhandlungspartner,                     hen werden. Wenn es stimmt, dass die westliche
mit dem die EU einen Interessenausgleich finden                      Chinakompetenz noch unterentwickelt ist, dann
muss, ein wirtschaftlicher Konkurrent im Streben                     erscheint es in der Tat wichtiger denn je, sowohl
nach technologischer Führerschaft und ein syste-                     die Zugänge zu China weiter offen zu halten als
mischer Rivale, der alternative Modelle der Re-                      auch mittelfristig das „Debattenklima der alterna-
gierungsführung fördert.“14                                          tivlosen politischen Bekenntnisse gegenüber Chi-
     In Deutschland forderte der Bundesverband                       na zu verändern und ein eigenständiges starkes
der Deutschen Industrie (BDI) in einem Posi-                         europäisches Narrativ zu entwickeln“.18 Welche
tionspapier die deutsche und europäische Po-                         Rolle kann die politische Bildung hier spielen?
litik auf, Maßnahmen gegenüber unangemes-                            Welche Kompetenzen sind vorhanden, welche
senen wirtschaftlichen Aktivitäten Chinas zu                         offenen Fragen stellen sich angesichts einer geo-
ergreifen, da alle Erwartungen, China werde sich                     politischen Transition, die einige Beobachter mit
allmählich zu einer liberalen Volkswirtschaft                        dem Beginn eines „neuen Kalten Krieges“ verbin-
entwickeln, enttäuscht worden seien. Die Kon-                        den,19 einer Aufteilung der Welt in zwei antago-
vergenz-These sei nicht mehr haltbar.15 Ein An-                      nistische Blöcke?
trag der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag
vom Oktober 2020 verlangt eine „Neujustie-                                      CHINA IN DER POLITISCHEN
rung“ der deutschen und europäischen Chinapo-                                    BILDUNG: KOMPETENZEN
litik. „Chinas rasante Entwicklung basiert dabei                                   UND OFFENE FRAGEN
nicht auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und
freier Marktwirtschaft. Vielmehr entwirft China                      „Menschen und Demokratien müssen im
mit seinem staatskapitalistischen und autoritären                    21. Jahrhundert immer enger zusammenarbei-
Einparteiensystem ein Gegenmodell zur westli-                        ten, um grenzüberschreitende Herausforderun-
chen Demokratie. Daraus ergeben sich immen-                          gen zu bewältigen, voneinander zu lernen, sich
se Herausforderungen“,16 lautet die Diagnose.                        gegenseitig zu unterstützen und um sich um ei-
Insbesondere wird daher der Ausbau der „Chi-                         nen gemeinsamen Planeten zu kümmern. In viel-
naexpertise“ gefordert: „Um die Geschichte und                       fältigen Gesellschaften sind die Fähigkeiten, die
Gegenwart der Beziehungen Chinas zur übrigen                        für die Teilnahme an der Demokratie innerhalb
Welt, insbesondere zu Europa, und die verschie-                      eines jeden Landes erforderlich sind, auch dieje-
denen Denkströmungen in Partei, Gesellschaft,                       nigen, die für das Verständnis und die Teilnahme
Wirtschaft und in intellektuellen Kreisen in Chi-                    an regionalen und globalen Gesellschaften erfor-
                                                                     derlich sind.“20 Die globale Herausforderung des
13 Siehe das Transkript dieser Rede unter www.state.gov/the-​        chinesischen Aufstiegs zwingt uns somit, über die
china-​challenge.                                                    Rolle der Bildung im Allgemeinen und der po-
14 Europäische Kommission, EU-China – A Strategic Outlook,           litischen Bildung im Besonderen nachzudenken.
12. 3. 2019, https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/communica-
tion-eu-china-a-strategic-outlook.pdf. Herv. d. Autors.
15 Vgl. BDI, China – Partner und systemischer Wettbewerber.          17 Ebd.
Wie gehen wir mit Chinas staatlich gelenkter Volkswirtschaft         18 Godehardt (Anm. 11), S. 6.
um?, Grundsatzpapier, Januar 2019, https://bdi.eu/media/publi-       19 Gideon Rachman, A New Cold War: Trump, Xi and the Es-
kationen/#/publikation/news/china-​partner-​und-​systemischer-​      calating US-China Confrontation, 5. 10. 2020, https://on.ft.com/​
wettbewerber.                                                        2SHy1Hj.
16 Herausforderungen begegnen, Chancen nutzen – Die                  20 Zit. nach Networking European Citizenship Education
Chinapolitik Deutschlands und der EU neu justieren, Bundestags-      (NECE), Declaration 2020, www.nece.eu/wp-content/uploads/​
Drucksache 19/23123, 6. 10. 2020, https://dip21.bundestag.de/        2020/11/leitwerk_6151_nece_konferenz_declaration_K1_​
dip21/btd/​19/​231/​1923123.pdf.                                     201102.pdf.

10
China(kompetenz) APuZ

     In der 2018 veröffentlichten Studie „China                   tegischer Wettbewerber vor allem der USA, aber
kennen, China können“ des Mercator Institute                      auch der Europäischen Union sieht.24
for China Studies werden der Bundeszentrale                           Der Politikwissenschaftler und Sinologe Se-
und den Landeszentralen für politische Bildung                    bastian Heilmann warnt beispielsweise eindring-
eine „wichtige Funktion“ zuerkannt: „Sie kön-                     lich vor einem Wettbewerbsvorteil Chinas in der
nen schneller als Schulverlage auf neue Entwick-                  Durchsetzung eines Menschenbilds, das dem Ide-
lungen reagieren und Lehrern wie Schülern aktu-                   al des autonomen, eigenverantwortlichen Individu-
elle Informationen zugänglich machen.“21 Nach                     ums der europäischen Aufklärung radikal entgegen-
dem Boom des Themas in den 1990er Jahren und                      gesetzt sei.25 Der „digitale Leninismus“ Chinas mit
um die Olympischen Spiele von 2008 herum sind,                    seinen neuen Kontroll- und Steuerungsmöglichkei-
nach eigenen Angaben der Bundeszentrale für                       ten könne mittelfristig auch eine neue Anziehungs-
politische Bildung (bpb), „China-Themen ange-                     kraft in Entwicklungs- und Schwellenländern mit
sichts der weiterhin wachsenden Bedeutung und                     instabilen und konfliktgeprägten Gesellschaften
der rasanten Entwicklungen innerhalb des Lan-                     entwickeln. „Chinas Modell für die digitale Zivili-
des deutlich unterrepräsentiert“.22 Gleichwohl                    sation ist eine agile hierarchische Ordnung, die ge-
messe „die bpb der Auseinandersetzung hohe Be-                    zielt und lückenlos digitale Steuerungstechnologien
deutung bei. Sie will China nicht allein als Einzel-              entwickelt, um eine konfliktanfällige Massengesell-
fall begreifbar machen, sondern veranschaulicht                   schaft in politisch definierte Bahnen zu lenken.“26
zugleich die sich ändernden globalen Zusammen-                    Das Menschenbild der chinesischen Regierung
hänge und regt Schüler und Studierende an, sich                   werde mit dem Vordringen des Herdenverhaltens
darüber Gedanken zu machen.“ 23 Eine gute po-                     in vielen Gesellschaften an Boden gewinnen. Mit
litische Bildung muss die öffentlichen und poli-                  dem absehbaren weiteren wirtschaftlich-technolo-
tischen Debatten über China begleiten und sich                    gischen Aufstieg könne China weltweit in die Lage
mit der Breite der wissenschaftlichen Expertise                   versetzt werden, eine auf digitale Konditionierung
und zivilgesellschaftlicher Initiativen verbinden.                und Kontrolle gerichtete Ordnungsalternative zu
Doch welche Schwerpunkte sollte sie setzen?                       etablieren. Diese Ordnung – so Heilmann – stehe
                                                                  im radikalen Gegensatz zum Menschenbild libera-
             China als systemischer Rivale                        ler Demokratien und Marktwirtschaften.
Traditionell hat sich politische Bildung (in                          Man mag dieses düstere Szenario für realistisch
Deutschland) im Rahmen des Konzepts einer                         halten oder nicht, doch muss sich politische Bildung
„streitbaren Demokratie“ als „geistiger Verfas-                   den hierin aufgeworfenen geopolitischen Machtfra-
sungsschutz“ verstanden. Daher ist es zunächst                    gen auch auf der Ebene der Politik und Ideologi-
verführerisch, hier einen neuen Schwerpunkt                       en stellen. Diese sind jedoch auch immer, wie Heil-
in der Auseinandersetzung mit China zu sehen.                     mann betont, Fragen an uns selbst, insbesondere an
Nicht erst seit dem Amtsantritt Xi Jinpings ist of-               die Gesellschaften und politischen Institutionen Eu-
fenbar, dass sich China als systemischer und stra-                ropas, die die Kraft aufbringen müssen, eigene kon-
                                                                  kurrenzfähige digitale Angebote und Plattformen zu
                                                                  entwickeln. Kurz: Ein nüchterner Blick auf eigene
21 Matthias Stepan et al., China kennen, China können.
                                                                  und fremde Machtressourcen und geostrategische
Ausgangspunkte für den Ausbau von China-Kompetenz in
Deutschland, Merics China Monitor 45/2018, S. 34. Auch der
                                                                  Realitäten sollte in die politische Bildung mit und
Autor dieses Beitrags wurde für die Studie interviewt, zitierte   über China eingehen. Die europäische Dimension
Passagen lassen sich aber nicht mehr eindeutig zuordnen.          politischer Bildung wird gestärkt werden müssen,
22 Ebd.                                                           denn der Kampf um „digitale Souveränität“ kann
23 Ebd. Neben diversen Printpublikationen, etwa der 2018
                                                                  nur auf europäischer Ebene gewonnen werden.
erschienenen Ausgabe der „Informationen zur politischen
Bildung“ zum Thema China (www.bpb.de/​275522), wird zurzeit
das Online-Dossier sukzessive aktualisiert. Hier stehen unter     24 Zur Neujustierung des deutsch-chinesischen Verhältnisses
anderem neue Beiträge über das Staatsverständnis Chinas und       siehe Thorsten Bennett, Die romantischen Jahre sind vorbei,
den außenpolitischen Umgang mit China zum Abruf bereit (www.      18. 12. 2018, https://libmod.de/thorsten-​benner-​ueber-​das-​
bpb.de/china). Tagungsdokumentationen zum Thema „Datenge-         deutsch-​chinesische-​verhaeltnis, sowie die Analyse von Mark
triebene Sozialtechnologien in China und westlichen Demokra-      Siemons, Die neue Aufteilung der Welt, 4. 10. 2008, www.faz.net/​
tien als neue Bildungsherausforderung“ (www.bpb.de/​303742)       aktuell/​-1715713.
und über den 30. Jahrestag des Massakers in Beijing am 4. Juni    25 Heilmann (Anm. 7), S. 102–107.
1989 (www.bpb.de/​292472) ergänzen das aktuelle Angebot.          26 Ebd., S. 103.

                                                                                                                               11
APuZ 7–8/2021

    Zugleich wäre es in dieser Phase fahrlässig,                     fiziösen Begriffs der chinesischen Kultur zu be-
dem Phänomen des chinesischen Aufstiegs allein                       gegnen, sei es erforderlich, die ursprünglichen
mit einem defensiven Narrativ zu begegnen, das                       Begriffe und Vorstellungen zu kennen, die die chi-
die europäische Selbstbehauptung eindimensional                      nesische Regierung instrumentalisiert. Erst dies
als Teil eines Systemwettbewerbs sieht und eine                      ermögliche es, mit der chinesischen und globalen
euro­zentristische Perspektive nicht v­ erlässt.27                   Öffentlichkeit in ein neues Gespräch zu kommen,
                                                                     um die Vielfalt und Bedeutung chinesischer Tradi-
                 China und die Chinesen                              tionen im Verhältnis zu den eigenen Traditionen
                   (neu) kennenlernen                                und den universellen Prinzipien der europäischen
Jede Diskussion über „mehr Chinakompetenz“                           Aufklärung einschätzen zu können.
muss sich zunächst über das fundamentale Un-                              Die weitgehend unbekannte Vielfalt des intel-
gleichgewicht zwischen den Chinakenntnissen in                       lektuellen Diskurses in China sichtbar zu machen,
Deutschland und dem Wissen über Deutschland                          wäre eine Aufgabe politischer Bildung. Auch Stim-
und andere westliche Länder in China klar wer-                       men und Positionen, die sich nicht in ein westliches
den. „China kennt uns. Aber wir kennen China                         Koordinatensystem einfügen lassen, sind wich-
nicht“, fasst die Sinologin Marina Rudyak zu-                        tig. Das in Kanada betriebene Portal „Reading the
sammen.28 Nur noch 500 Studenten fangen je-                          China Dream“ beispielsweise bietet eine exzellente
des Jahr ein Sinologiestudium an, Japanologie ist                    Auswahl an Übersetzungen von Artikeln konser-
fast dreimal so beliebt. Gleichwohl scheint dies                     vativer, liberaler und progressiver Intellektueller in
ein internationaler Trend zu sein, der auch mit                      China. Diese Stimmen sollten auch in deutscher
dem schlechten Image Chinas und den sich ver-                        Übersetzung zugänglich gemacht werden.31
schlechternden Forschungsmöglichkeiten und                                Notwendig ist zudem ein Ausbau des Dialogs
Repressionen im Land zu tun hat.29                                   mit China, auch wenn dieser angesichts der Res-
    Der Journalist Mark Siemons plädiert da-                         triktionen, Repressionen und Zensurmaßnahmen
für, die Auseinandersetzung mit China nicht aus-                     in China immens erschwert wird. Aufklärung
schließlich in abstrakten Gegensätzen (Autorita-                     und Wissen über diese dunklen Seiten des gegen-
rismus versus Demokratie) zu rahmen, sondern                         wärtigen Chinas bleiben ein unentbehrlicher Be-
sich vor Augen zu führen, dass hier Gesellschaften                   standteil aufklärerischer politischer Bildung: Von
aufeinanderstoßen, deren „kollektives Bewusst-                       Zensur und Repression bedrohte Intellektuelle
sein“ noch aus vielen anderen Elementen zusam-                       wie Xu Zhangrun, He Weifang und Zhang Qian-
mengesetzt sei.30 Zu empfehlen sei eine Orientie-                    fan und andere sollten regelmäßig zu Gastvorträ-
rung an der „neuen Sinologie“ des aus­tra­li­schen                   gen und Aufenthalten nach Deutschland eingela-
Sinologen Geremie Barmé, der sich – in höchst                        den werden – in Kooperationen mit Institutionen
kritischer Distanz zum Regime in Beijing – seit                      der politischen Bildung.
Jahrzehnten mit den intellektuellen Debatten in                           Ebenso bedeutsam (und unentdeckt in der po-
China beschäftigt. China und die chinesische Kul-                    litischen Bildung) sind die Ergebnisse jahrelanger
tur umfassten räumlich wie historisch weit mehr,                     Feldforschungen – etwa über das erstaunliche (und
als es die Deutung der gegenwärtigen Regierung                       bedrohte) Wiederaufblühen religiösen Lebens im
vorgibt. Um der Instrumentalisierung eines of-                       postmaoistischen China und über die vielen hier-
                                                                     zulande unbekannten Menschen, die die Geschich-
27 Wichtige Impulse und Ideen für die Behandlung Chinas in der       te Chinas aus einer Samisdat-Perspektive neu zu
politischen Bildung lieferte zuletzt ein Online-Panel im Rahmen      schreiben versuchen.32 Auch der Austausch mit der
der NECE-Konferenz im November 2020 zum Thema: „China’s              chinesischen „Peripherie“, insbesondere Hongkong
Moment? Or: A New Cold War in the Making? Why Geopolitics
                                                                     und Taiwan33 als funktionierender (und bedrohter)
Matter for Citizenship Education“. Die folgenden Empfehlungen
und Eckpunkte gehen unter anderem auf dieses Panel zurück.
Siehe www.facebook.com/watch/?​v=​3372886532765953.                  31 David Ownby, Betreiber des Blogs, hat ein Mapping der
28 Zit. nach Xifan Yang, Ob in China …, in: Die Zeit, 11. 4. 2019,   intellektuellen Szene in China erstellt, siehe www.readingthe-
S. 3.                                                                chinadream.com/maps.html.
29 Vgl. As China’s Power Waxes, the West’s Study of it is            32 Vgl. Ian Johnson, The Souls of China, New York 2017; die
Waning, 28. 11. 2020, www.economist.com/china/​2020/​11/​26/         „unofficial history“ ist Teil eines aktuellen Buchprojekts des Jour-
as-​chinas-​power-​waxes-​the-​wests-​study-​of-​it-​is-​waning.     nalisten Ian Johnson.
30 Hier und im Folgenden Mark Siemons, Langsam, aber                 33 Siehe hierzu auch den Beitrag von Jens Damm in dieser
gewaltig, in: FAZ, 30. 6. 2018, S. 9.                                Ausgabe.

12
China(kompetenz) APuZ

Demokratie auf chinesischem Boden, kann für die                                         SCHLUSS
politische Bildung fruchtbar gemacht werden.
    Gleichzeitig sollte eine Zusammenarbeit mit                      China gehört zu den „Zumutungen der Moder-
den kontrovers diskutierten Konfuzius-Institu-                       ne“, sein Aufstieg in den vergangenen 30 Jahren
ten an den Universitäten nicht von vornherein                        hat die Welt noch unübersichtlicher und komple-
ausgeschlossen werden, auch dort gibt es uner-                       xer gemacht. Die Auseinandersetzung mit Chi-
schlossene „Spielräume des Machbaren“.34                             na in der politischen Bildung und in anderen Be-
    Insgesamt sind Offenheit und Neugier als                         reichen unserer dezentrierten und pluralistischen
„Haltung“ wichtig, ebenso die Bereitschaft, Di-                      Gesellschaft lässt sich nicht auf eine Formel brin-
aloge mit klaren Standards und pluralen Positi-                      gen, schon gar nicht in ein starres Freund-Feind-
onen (darunter auch die der eigenen Werte) zu                        Schema einordnen. Wie und ob sich die tief inei-
entwickeln. „Die Bereitschaft zu erforschen, zu                      nander verzahnte westliche und chinesische Welt
hinterfragen und ihr Denken mit dem eigenen                          gemeinsam auf die globalen Herausforderungen
Denken zu kontrastieren, ist vielleicht die heraus-                  einlassen werden, ist eine offene Frage. Sicher ist
forderndste, aber auch wichtigste Art, mit Chine-                    aber, dass es neuer Dialoge und Denkrichtun-
sen in Kontakt zu treten.“35                                         gen bedarf – auf chinesischer wie auf westlicher
                                                                     Seite. Auf die politische Bildung warten neue
34 Vgl. Yang (Anm. 28) sowie die Dokumentationen zweier             ­Aufgaben.
Filmfestivals des Konfuzius-Instituts Erlangen–Nürnberg, die 2014
und 2016 zusammen mit der bpb veranstaltet wurden: „Chinas
                                                                    CHRISTOPH MÜLLER-HOFSTEDE
Ränder“, www.konfuzius-​institut.de/fileadmin/user_upload/pdf/
filmfestival/Programmheft_low.pdf; „Hälfte des Himmels? Frauen      ist freier Autor und war bis 2020 Referent im
in China“, www.konfuziusinstitut.de/fileadmin/user_upload/pdf/      Fachbereich Veranstaltungen der Bundeszentrale
filmfestival/kfi_programmheft.pdf.                                  für politische Bildung. Er ist Mitherausgeber des
35 Vgl. Kristin Shi Kupfer, How to Fight Chinas Sharp Power. A      „Länderberichts China“ (2014).
ChinaFile Conversation, www.chinafile.com/conversation/how-​
                                                                    cmueho@gmail.com
fight-​chinas-​sharp-​power.

Zum Weiterlesen.
                                                                                                         bpb.de/
                                                                                                          shop

                                  2014
                                  Bestell-Nr. 1501
                                                                                                                        13
APuZ 7–8/2021

                               KEINE ORCHIDEE
                     Über Chinakompetenz und Sinologie
                                           Marina Rudyak

Die Sinologie steht für das bewusste Bemühen, das      na nicht länger als ein Entwicklungsland, sondern
Studium Chinas stets auf den Gebrauch des ge-          als einen globalen Akteur und führende Technolo-
schriebenen und gesprochenen Chinesisch zu be-         giemacht betrachtet. China sei nunmehr gleicher-
ziehen und es ernst zu nehmen als eine Sprache, in     maßen ein Kooperationspartner bei gemeinsamen
der Menschen die Welt ständig neu begreifen.01 In      (globalen) Zielen, ein Wettbewerber im Kampf um
nicht sinologischen Chinadiskursen wurde die Re-       technologische Führerschaft und mit seinem politi-
levanz der chinesischen Sprache für die Auseinan-      schen System ein systemischer Rivale.09
dersetzung mit China lange infrage gestellt. Wäh-
rend sich chinesische Wissenschaftlerinnen und                BEDARF AN CHINAKOMPETENZ
Wissenschaftler regelmäßig auf europäische oder
amerikanische Literatur beziehen, finden sie sich      Die früher lang gehegte Chinaignoranz kann sich
selbst eher selten in euro-amerikanischen Publika-     Europa nicht mehr leisten. Darüber, wie man mit
tionen wieder. Im sinologischen Diskurs werden         einem global agierenden China umgehen soll, das
die möglichen Gründe für die Asymmetrie im In-         einerseits mit seinem techno-autoritären Regie-
formationsfluss zum einen mit Edward Saids The-        rungsmodell freiheitlich-demokratische Normen
orie des Orientalismus02 und mit dem Diskurs des       infrage stellt, andererseits Deutschlands größ-
„Andersseins“ erklärt,03 andererseits mit der lan-     ter Handelspartner und (notwendiger) Koopera-
ge gehegten neo-orientalistischen Erwartung, dass      tionspartner bei der Lösung drängender globaler
China seine „Andersartigkeit“ (des despotischen        Herausforderungen wie die Bekämpfung der ab-
und rückständigen Anderen) überwindet und dem          soluten Armut oder die Anpassung an den Kli-
Westen – der für sich positionelle Überlegenheit in    mawandel ist, herrscht jedoch an vielen Stellen
Anspruch nimmt – „gleich“ wird.04                      Unsicherheit.10 In den meisten Organisationen
     Nur wurde China zur Desillusionierung vie-        mangelt es an Chinakompetenz, und selbst den-
ler im Westen eben nicht „gleich“.05 Man könnte es     jenigen, die in ihrer täglichen Arbeit unmittelbar
auch wie die „New York Times“ 2018 beschreiben:        mit China befasst sind, fehlt es oft an Chinesisch-
China ist „mit dem Scheitern gescheitert“ ( failed     Sprachkenntnissen.11 Demgegenüber steht, dass
to fail).06 Im Gegenteil, nach seinem Machtantritt     Chinakompetenz inzwischen auch an Stellen ge-
Ende 2012 beendete Chinas Staatsoberhaupt Xi           fordert ist, die traditionell nie mit China zu tun
Jinping die seit Deng Xiaoping geltende Strategie      hatten. Da China nun vermehrt in Deutschland
des taoguang yanghui (             ) – „verbirg dei-   investiert, müssen sich Kommunen mit der neu-
ne Macht und spiele auf Zeit“ und leitete mit der      en chinesischen Präsenz, Unternehmen mit neuen
Maxime fenfa youwei (            ) – „nach Erfolgen    Unternehmenskulturen auseinandersetzen. Mitar-
streben“ – eine neue Ära der aktiven und selbstbe-     beiterinnen und Mitarbeiter in Bundes- und EU-
wussten „Großmachtdiplomatie“ ein.07 Auch wirt-        Behörden, die deutsche und europäische Entwick-
schaftlich will China zu den stärksten Mächten der     lungspolitik koordinieren, müssen chinesisches
Welt zählen. Das 2015 ins Leben gerufene milliar-      Engagement in Afrika bewerten und Reaktions-
denstarke Investitionsprogramm „Made in China          strategien entwickeln. Zivilgesellschaftliche Or-
2025“ soll den Wandel von der verlängerten Werk-       ganisationen müssen sich mit den Umwelt- und
bank internationaler Konzerne zu einer Techno-         Sozialimplikationen der globalen Entwicklungs-
logieführerschaft in wichtigen Schlüsselbranchen       finanzierung im Rahmen der „Neuen Seidenstra-
sichern.08 Im März 2019 erklärte die EU-Kommis-        ße“ befassen und nach Wegen suchen, chinesische
sion in ihrem „Strategic Outlook“, dass es Chi-        NGOs, die die Folgen des chinesischen Wirt-

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