AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Medizin und Ethik in der Pandemie - Bundeszentrale für ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
71. Jahrgang, 24–25/2021, 14. Juni 2021 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Medizin und Ethik in der Pandemie Peter Dabrock Harriet A. Washington „NOT KENNT KEIN GEBOT“? RASSISMUS ETHISCHE PERSPEKTIVEN DER IM GESUNDHEITSSYSTEM PANDEMIE-BEKÄMPFUNG DER VEREINIGTEN STAATEN Philipp Osten Mira Chang ETHIK DES IMPFENS. ETHIK UND IMPFENTSCHEIDUNGEN, RECHTSRAHMEN GLOBALER ETHISCHE KONFLIKTE UND ARZNEIMITTELVERSUCHE HISTORISCHE HINTERGRÜNDE Annette Riedel · Sonja Lehmeyer Daniela Angetter-Pfeiffer ETHISCHE LEBEN ODER STERBEN? HERAUSFORDERUNGEN TRIAGE IM WANDEL DER ZEIT FÜR DIE PFLEGE IN DER COVID-19-PANDEMIE ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Medizin und Ethik in der Pandemie APuZ 24–25/2021 PETER DABROCK HARRIET A. WASHINGTON „NOT KENNT KEIN GEBOT“? ETHISCHE RASSISMUS IM GESUNDHEITSSYSTEM PERSPEKTIVEN DER PANDEMIE-BEKÄMPFUNG DER VEREINIGTEN STAATEN Die Gesellschaft steht in der Corona-Pandemie Immer wieder wird behauptet, Afroamerikane- im Spannungsfeld zwischen individuellen rinnen und -amerikaner weigerten sich aufgrund Freiheitsrechten und kollektivem Gesundheits- der berüchtigten Tuskegee-Studie, an klinischer schutz. Aufgabe der Ethik ist es, den Diskurs zu Forschung teilzunehmen. Dieses Argument begleiten, indem sie Pluralität fördert, Nach- verkennt jedoch die strukturellen Defizite des US- denklichkeit erzeugt und Orientierung bietet. Gesundheitssystems und macht aus Opfern Täter. Seite 04–10 Seite 27–33 PHILIPP OSTEN MIRA CHANG ETHIK DES IMPFENS. IMPFENTSCHEIDUNGEN, ETHIK UND RECHTSRAHMEN GLOBALER ETHISCHE KONFLIKTE UND HISTORISCHE ARZNEIMITTELVERSUCHE HINTERGRÜNDE Im ethisch umstrittenen Feld der Arzneimit- Die Covid-19-Impfung weckt große Hoff- telversuche zeigt sich die Abhängigkeit des nungen. Zugleich ist sie Gegenstand scharfer Globalen Südens besonders deutlich. Ein ver- Debatten. Während für die Verteilung der ersten bindlicher globaler Rechtsrahmen zum Schutz Dosen ein Konsens auf wissenschaftlicher und von Versuchspersonen sollte sich maßgeblich am politischer Basis gefunden wurde, führt die Menschenrechtsparadigma orientieren. Diskussion über eine Impfpflicht in die Irre. Seite 34–39 Seite 12–19 ANNETTE RIEDEL · SONJA LEHMEYER DANIELA ANGETTER-PFEIFFER ETHISCHE HERAUSFORDERUNGEN FÜR LEBEN ODER STERBEN? DIE PFLEGE IN DER COVID-19-PANDEMIE TRIAGE IM WANDEL DER ZEIT In der Pandemie ist das Pflegepersonal nicht Entsteht in einer medizinischen Notlage ein nur psychischen und physischen, sondern auch Missverhältnis zwischen Behandlungsbedarf und erheblichen moralischen Belastungen ausgesetzt. -kapazitäten, müssen Ärzt:innen entscheiden, Professionelle und ethische Reflexion hilft, wem zuerst geholfen wird. Damit es dabei moralischem Stress vorzubeugen. Das käme möglichst gerecht zugeht, wurden unterschiedli- letztlich auch den Patient*innen zugute. che Systeme der Triagierung entwickelt. Seite 40–45 Seite 20–26
EDITORIAL Wer bekommt ein Intensivbett und wird an ein Beatmungsgerät angeschlossen, wenn es nicht genügend Plätze gibt? Ist ein junges Leben mehr wert als ein altes? Wie kann der moralische Stress eines Pflegers gemindert werden, der eine schwerkranke Patientin isolieren muss, sodass sie sich nicht von ihren Ange- hörigen verabschieden kann? Wie lassen sich Impfstoffe entwickeln, ohne die Probanden als Mittel zum Zweck zu behandeln? Wie wird über Impfpriorisie- rungen entschieden? Sollen Individuen, um eine sogenannte Herdenimmunität zu erreichen, dazu verpflichtet werden, sich impfen zu lassen? Ist die zeitweise Aufhebung von Patenten auf Impfstoffe geboten, um Entwicklungsländer bei der Eindämmung der Krankheit zu unterstützen? Die Corona-Pandemie spitzt nicht nur virologische und epidemiologische Fragen zu, sondern auch moralische. Ethik, als die Wissenschaft von der Moral, spielt eine entscheidende Rolle in deren Diskussion. Das zeigt etwa die enorme Aufmerksamkeit, die Gremien wie dem Deutschen Ethikrat in der Pandemie zuteilwird – ebenso wie deren gestiegener Einfluss auf die Gesundheitspolitik der Bundesregierung. Im Kern geht es in der Pandemie darum, Freiheitsrechte und Bevölkerungsschutz abzuwägen, Eigenverantwortung und staatliche Maß- nahmen auszutarieren sowie rationales Denken und individuelle Autonomie zu verbinden. Hinzu kommen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit – sowohl inner- halb Deutschlands als auch im globalen Maßstab. Zwar kann Ethik in der Pandemie keine eindeutigen Antworten geben. Aber sie kann helfen, Missstände in Forschung und Pflege zu identifizieren, Leitlinien zu formulieren – für den Fall einer Triage-Situation oder für die Impfstoffver- teilung – und mit guten Gründen gerechtfertigte medizinische Behandlungs- methoden zu entwickeln. Ob bei künftigen Pandemien ähnliche Diskussionen geführt werden, bleibt abzuwarten. Denn nicht zuletzt können sich moralische Einstellungen und ethische Abwägungen im Laufe der Zeit wandeln. Robin Siebert 03
APuZ 24–25/2021 ESSAY „NOT KENNT KEIN GEBOT“? Ethische Perspektiven der Pandemie-Bekämpfung Peter Dabrock „Not kennt kein Gebot“, sagt ein Sprichwort. ZWISCHEN LEBEN UND FREIHEIT Hielten wir uns in dieser nun bereits über ein Jahr andauernden Pandemie an dieses Wort, wür- Der Stresstest der Pandemie besteht darin, diese den wir in Anarchie versinken. Offensichtlich – ethischen Orientierungsmuster in ein für mög- das zeigen Länge und Ausmaß dieser beispiello- lichst alle angemessenes Verhältnis zu setzen. So sen Krise – zwingen uns bestimmte Lagen, unser stellte der Deutsche Ethikrat bereits zu Beginn Erfahrungswissen ständig zu korrigieren. Das- der Pandemie fest, dass sich nahezu alle ethisch selbe gilt für Verhaltensstandards. Sie mögen in relevanten Spannungen und Konflikte der Coro- akuter Not außer Kraft gesetzt werden; dauert na-Krise unter die schwer zu findende Balance jedoch die Not länger an, dann verlangt sie auf zwischen Lebens- und Gesundheitsschutz, Frei- höherer Ebene Anpassungen. Das bedeutet: Eine heits- und Selbstbestimmungsrechten sowie der Lage wie die Pandemie (von „Situation“ sollte Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Lebens man angesichts ihrer Zeitzerdehnung nicht mehr drehen.03 Dabei sind es allerdings zahlreiche De- sprechen) lässt nicht nur die Tragfähigkeit ge- tailprobleme, die mit der Dauer der Pandemie sellschaftlicher, politischer und moralischer Ein- zunehmen und angesichts sich deshalb auch ver- stellungsmuster wie unter einem Brennglas er- dichtender Komplexität politische Entscheidun- scheinen: Wer unterstützt wen und verzichtet auf gen und Steuerung zunehmend erschweren. eigene Vorteile? Umgekehrt: Wer pocht auf seine Erwähnt seien ohne Anspruch auf Vollstän- etablierten Rechte? digkeit: Welche freiheitseinschränkenden Maß- Die Pandemie setzt auch die ethischen Grund- nahmen lassen sich unter Maßgabe des ethi- orientierungen, die solche Einstellungsmuster auf schen und verfassungsrechtlichen Grundsatzes einer höheren Ebene kritisch hinterfragen, selbst der Verhältnismäßigkeit rechtfertigen, um indi- einem Stresstest aus.01 Einstellungsmuster, die viduellen und bevölkerungsbezogenen Gesund- menschliches Handeln und Entscheiden danach heits- und Lebensschutz zu rechtfertigen? Welche bewerten, ob sie jemandem oder einer Grup- Risikoschwellen akzeptieren „wir“ (wer immer pe rechtens oder gut, nicht rechtens oder falsch das Recht hat, dieses Pronomen legitimer- oder erscheinen, kann man Moral nennen. Ethik, die öffentlichkeitswirksamerweise für sich zu bean- nicht mit Moral gleichgesetzt werden sollte, ist spruchen) im Verhältnis zum allgemeinen Le- dagegen die kritische Reflexion über Moral. Zu bensrisiko, ohne deshalb (dauerhaft) Freiheitsein- deren Beurteilung greift sie auf bestimmte for- schränkungen akzeptieren zu müssen? Wie viel male Kriterien zurück, wie etwa Widerspruchs- Freiheit auch zur Selbstgefährdung muss erlaubt freiheit, sachliche Angemessenheit und vor allem sein, ohne deshalb (nie auszuschließende) Fremd- die Fähigkeit der Verallgemeinerung einer mora- gefährdungen überhand nehmen zu lassen? Gibt lischen Maxime.02 Doch auch materielle Kriterien es bei Therapien und Vorsorgemaßnahmen legiti- sind wichtig: primär etwa die Achtung der Men- me Kriterien für Vorzugs- oder Nachrangigkeits- schenwürde und daraus unmittelbar abgeleitet behandlungen, die – beispielsweise bei einer ver- der Respekt vor der Selbstbestimmung, aber auch späteten Impfung – tödliche Konsequenzen nach Gesundheits- und Lebensschutz, Gerechtigkeit, sich ziehen können? War es richtig, die Impfprio- Solidarität, Nutzen und Gemeinwohl – um nur risierung maßgeblich am Risiko der Erkrankung die wichtigsten ethischen Kriterien in der Pande- und deren Bekämpfung, aber viel weniger an ar- miebekämpfung zu nennen. beits- oder ausbildungsbedingter Exposition und 04
Medizin und Ethik in der Pandemie APuZ mangelnden Möglichkeiten, diese zu verhindern, che Gewalt sprunghaft steigen lässt), im Bereich auszurichten? Soll das in der Gesundheitsversor- von Sport, Religion und Kultur (wenn Millionen gung normalerweise leitende Kriterium der medi- von Kulturschaffenden ihre Lebensgrundlage ver- zinischen Notwendigkeit als Dringlichkeit oder lieren oder wenn weiten Teilen der Bevölkerung als Erfolgsaussicht interpretiert werden? Welche die Möglichkeit genommen wird, Sport, Religion Folgen hätte das eine wie das andere im Falle mög- und Kultur als ein Element der eigenen Persön- licher Triage, also der Auswahl von Patient:innen lichkeit mit anderen genießend leben zu dürfen)? bei zu knappen Intensivbetten, für besonders vul- Welche Schäden sind im Bereich zivilgesellschaft- nerable Menschen, aber auch für das Zusammen- lich-politischer Gesellschaftsgestaltung in Kauf zu leben der Gesellschaft? Welche Kollateralschäden nehmen (wenn drängende Fragen etwa zur Kli- der Pandemiebekämpfung werden hingenommen makrise mehr und mehr in den Hintergrund gera- im Bereich menschlicher Beziehungen (wenn bei- ten und so den nachrückenden Generationen Le- spielsweise pflegebedürftige, demente oder gar bensführungsmöglichkeiten genommen werden sterbende Personen in Pflegeeinrichtungen zum oder wenn sich angesichts der „Hartnäckigkeit“ Schutz der anderen Bewohner:innen nicht be- der Pandemie, aber auch angesichts erkennbarer sucht werden dürfen)?123 Welche Schäden sind hin- Governance-Defizite die gesamtgesellschaftliche nehmbar im Bereich der Gesundheit (wenn an Stimmungslage signifikant verschlechtert und dies sich notwendige Therapien verschoben, vernach- das Vertrauen gegenüber den staatlichen Institu- lässigt oder unterlassen werden), bei der Bildung tionen und gegenüber breit akzeptierten „Wahr- (wenn auch nach über einem Jahr keine nachhalti- heitsagenturen“ wie vor allem Wissenschaft und gen Konzepte angesichts des gerade in sogenann- Qualitätsmedien erodiert)? Was und wer erhält ten bildungsfernen Milieus drohenden Bildungs- nicht nur kurzfristig und mit warmen Worten, und Betreuungsnotstands vorliegen), im Bereich sondern in spürbarer sozialer und finanzieller An- der Sozialfürsorge (wenn deren Ausfall häusli- erkennung die Nobilitierung „Systemrelevanz“, und was bringt eine Gesellschaft mit dieser Zu- 01 Angesichts der Flut an ethisch relevanten Veröffentlichun- schreibung zwischen strategischem Selbstinteres- gen zur Corona-Pandemie ist es schwierig, einen Überblick zu se, Absolutionssehnsucht für bisherige Missach- gewinnen. Die folgenden Hinweise sind notwendig selektiv, tung und ernsthaftem Transformationswillen zum sollen aber auf grundlegende und weiterführende Literatur Ausdruck? aufmerksam machen: Nikil Mukerji/Adriano Mannino, Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit, Stuttgart 2020; Bernd Kortmann/Günther G. Schulze (Hrsg.), Jenseits von KONKRETE ETHIK JENSEITS Corona. Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der VON PROTEST UND LEGITIMATION Wissenschaft, Bielefeld 2020; Geert Kein/Romy Jaster (Hrsg.), Nachdenken über Corona. Philosophische Essays über die Pan- „Wir“, das heißt die bundesrepublikanische demie und ihre Folgen, Stuttgart 2021. Viele Zeitschriften haben Sonderhefte veröffentlicht, so u. a. Philosophische Rundschau Gesellschaft, haben uns angesichts einer jahr- 2/2020, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1/2021, Zeitschrift zehntelangen Geschichte von weitgehender für Praktische Philosophie 2/2020, Leviathan 1/2021, Zeitschrift wirtschaftlicher Stabilität ohne derartige bevölke- für medizinische Ethik 2/2021. Unter www.theologie-und-kir- rungsmedizinisch tiefe Einschnitte wie die gegen- che.de/coronavirus-pandemie.html finden sich nicht nur Links wärtigen angewöhnt, auf das mit dem Balanceakt zu theologischen Statements, sondern zu solchen vieler anderer wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Perspektiven. Für den von Gesundheitsschutz und Freiheitsermögli- für konkrete Ethik immer wichtigen Blick auf das Verfassungs- chung daherkommende Herausforderungsbün- recht lohnt ein beständiger Blick auf www.verfassungsblog.de. del mit der Faustformel zu antworten: So viel 02 Ohne hier auf die ethischen Spezialdebatten eingehen zu Freiheit wie möglich, so wenig Zwang wie nötig. können, ob und wie Verallgemeinerung moralischer Positionen Die auftretenden Spannungsverhältnisse nicht gelingt, seien in lockerer Anlehnung an Kants Kategorischen Im- perativ zumindest zwei Kontrollfragen erwähnt: Kann eine mo- nur intuitiv, sondern auf Grundlage umfassen- ralische Position in einer vergleichbaren Situation von möglichst der Reflexion zu bearbeiten und angemessen ins allen möglichen Akteuren als begründet angenommen werden? Verhältnis zu setzen, ist Aufgabe guter Politik. Wird jemand durch eine entsprechende Position oder Entschei- Und diese Aufgabe ist in der sich wechselseitig dung als pures Mittel zum Zweck missbraucht und damit in seiner herausfordernden Spannung zwischen a) auf un- Würde missachtet? Weitere Hinweise und Literatur unter www. spektrum.de/lexikon/philosophie/verallgemeinerung/2127. terschiedlichen Ebenen (von der kommunalen bis 03 Vgl. Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in zur europäischen) Entscheidungen treffender De- der Corona-Krise. Ad-hoc-Empfehlung, Berlin 2020. mokratie, b) rechtsstaatlichen Einhegungen und 05
APuZ 24–25/2021 c) zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeiten, die für Herausforderungen wie der Corona-Pandemie den demokratischen Rechts- und Sozialstaat den zu begegnen. Vielmehr ist die Anerkennung un- nötigen wie förderlichen Resonanzraum bilden. terschiedlicher Positionen auch (bis zu einem ge- Eine Ethik der Pandemiebekämpfung hat diesen wissen Grade) normativ geboten, wenn sich die Versuch von good governance kritisch, aber auch Partizipation an öffentlichen Debatten und poli- konstruktiv zu begleiten, wenn sie nicht in purer tischen Entscheidungen aus Menschenwürde und Protestkommunikation oder in reiner Legitimati- Menschenrechten ableitet. Damit deutet sich aber onsbeschaffung, neuerdings „ethics washing“ ge- bereits die Grenze der Berücksichtigung unter- nannt, aufgehen will. schiedlicher Positionen an. Die ist nämlich dann Die Ethik der Pandemiebekämpfung kann gegeben, wenn Vorschläge für politische Strate- sich dann nicht – wie in weiten Teilen der ana- gien und öffentliches Handeln die verfassungs- lytischen Philosophie – damit begnügen, allein rechtlichen Grundlagen der hiesigen Rechts- und die innere Konsistenz von Begriffsbildungen Gesellschaftsordnung angreifen. In der teils hef- oder vermeintliche Kohärenz von Argumenta- tigen zivilgesellschaftlichen Pandemiediskussion tionsgängen zu überprüfen. Sie muss, im Sinne sind solche Grenzverletzungen erkennbar, wenn einer konkreten Ethik,04 zum einen zwar solch nach etabliertem Wissensstand gesundheitsschüt- distanzgewinnende Rückfragen stellen, zum an- zende Auflagen missachtet und dadurch ande- deren aber auch unter Einbeziehung anderer wis- re (zum Beispiel Demonstrationen begleiten- senschaftlicher und kultureller Wissensbestände de Polizist:innen) gefährdet werden oder wenn sowie kritischer Selbstreflexion einen Korridor im Zuge von Protestveranstaltungen demokra- verantwortlicher Handlungsperspektiven eröff- tiefeindliche oder andere strafrechtlich relevante nen. Mit dem Motto „Pluralität achten – Nach- Äußerungen getätigt werden. denklichkeit erzeugen – Orientierung anbieten“, Aber diesseits dieser Grenzüberschreitun- das sich der Deutsche Ethikrat 2016 für seine Ar- gen ist die Balance zwischen „Alternativlosig- beit gegeben hatte, lässt sich das Aufgabenport- keit“ und Beliebigkeitspluralismus im Streit um folio konkreter Ethik verantwortlichen Handelns den richtigen Weg der Pandemiebekämpfung oft in der Pandemie sinnvoll strukturieren. schwer zu finden. Das liegt nicht nur an exter- nen Faktoren wie Erfolg oder Misserfolg bei der PLURALITÄT ACHTEN Impfstoff- oder Schnelltestbeschaffung, die sich auf die je akute Stimmung im Land und überdies Angesichts der ethischen Grundspannung, in der auf moralische Achtungszuschreibungen auswir- Pandemie unter Aufrechterhaltung des gesamt- ken. Vielmehr zeigt sich auch in der Pandemie, gesellschaftlichen Systems Lebens- und Gesund- dass bei allem moralischen Pluralismus in unserer heitsschutz einerseits und Freiheitsermöglichung Gesellschaft bestimmte Einstellungen sich der- andererseits auszubalancieren, muss man nicht artig etabliert haben, dass sie im üblichen Wech- nur vor allen Formen moralischer oder politi- selspiel aus Lebensformen und institutionellen scher „Alternativlosigkeit“ warnen, sondern auch Settings durch verfassungsgerichtliche Urteile – deskriptiv wie normativ – proaktiv auf Plura- rechtliche Bindungswirkung entfalten und andere lität setzen. Diese Pluralitätsoption ist nicht nur konkurrierende moralische Maßstäbe ausstechen Realität moderner Demokratien oder ein Klug- können. An einem mit zunehmender Dauer der heitsimperativ in einer komplexen Gesellschaft, Pandemie immer virulenter werdenden Beispiel möglichst viele Kompetenzen und auch Positi- lässt sich dieses Überschreiten der rechtlichen onen zu berücksichtigen, um höchst komplexen Verbindlichkeitsschwelle von moralischen Ein- stellungen gut veranschaulichen: Ob Geimpfte 04 Unter konkreter Ethik verstehe ich eine solche moderni- (nach dem Nachweis, dass sie selbst die Infektion tätssensible Ethik, die versucht, moralische Überzeugungen, nicht mehr übertragen können) die ihnen unter ethische Prinzipien, in Theorien eingebettete Wissensbestände den Bedingungen des Infektionsschutzgesetzes und Welt- und Menschenbilddeutung möglichst kohärent wie als Individuen vorenthaltenen Grundfreiheiten kritisch zusammenzudenken, um daraus einen verantwortba- zurückerhalten, weil die Maßnahmen für sie als ren Entscheidungskorridor zu ermitteln; vgl. Peter Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit. Ein Grundkonzept konkreter Ethik nicht mehr verhältnismäßig gelten, oder ob man in fundamentaltheologischer Perspektive. Unter Mitarbeit von darin eine Privilegierung für Geimpfte sieht, weil Ruth Denkhaus, Gütersloh 2012, S. 17–72. die Nicht-Geimpften zweifach benachteiligt sind, 06
Medizin und Ethik in der Pandemie APuZ indem sie erstens einem erhöhten Gesundheitsri- de und für nicht wenige auch religionskulturel- siko ausgesetzt und ihnen zweitens Kultur- und le Akteur:innen als systemrelevant erkannt. Die Bildungsgüter versagt sind, ist nicht nur eine Fra- höchst kontroversen Debatten um die sogenann- ge des Framings. Hinter dieser Frage verbirgt sich ten Querdenker und um die Schauspieler:innen- der ethische Grundkonflikt, ob entweder Frei- Aktion #allesdichtmachen zeigen, wie die zeitli- heitsentfaltung oder Gleichheit, hier verstanden che Zerdehnung einer Krisensituation, fehlende als für alle gleicher Zugang zum öffentlichen Le- berufliche, finanzielle, aber auch Anerkennungs- ben (jedenfalls solange noch nicht alle ein Impfan- perspektiven gesellschaftliche Diskurse erschwe- gebot erhalten haben), die Maßgabe politischen ren. Ethisch ist daraus im Umkehrschluss zu fol- Entscheidens sein soll. Ethisch ist diese Debatte gern: Nichts – selbst wenn dies kurzfristig Zeit mit ihren Pro- und Contra-Argumenten durch- kostet und die Rechenschaft der Regierenden aus offen. Das gilt allerdings nicht für das (deut- schwerer macht – ist so falsch, wie mit fatalen sche Verfassungs-)Recht. Denn im Verfassungs- Slogans wie „Öffnungsdiskussionsorgien“ zivil- recht hat sich ein klarer Vorrang für individuelle gesellschaftliche Beteiligung zu dämpfen oder gar Freiheitsrechte sedimentiert; in einem Urteil aus unterdrücken zu wollen. Dass es viel zu häufig an dem Jahr 2020 sprach das Bundesverfassungsge- von den Regierenden organisierten, moderierten richt in geradezu feierlichem Ton von der „au- und ausgewerteten Beteiligungsmöglichkeiten tonomen Selbstbestimmung“, die es zu schützen gefehlt hat, war und ist nicht nur eine verlorene gelte.05 Damit werden Gleichbehandlungserwar- Chance, einzigartige „Vor-Ort“-Expertise etwa tungen, die auf kollektive Solidarität bei nicht von Krankenhaus- und Pflegepersonal, Lehren- persönlich verursachtem Infektionsrisiko setzen, den oder Vereinsvorständen zu nutzen, sondern rechtlich hintangestellt. Das ist für eine Ethik, die auch ein Mangel an Respekt vor plural verfass- nicht nur eine breite Konvergenz mit verfassungs- ter Öffentlichkeit und dem plural verfassten Sou- rechtlichen Standards sucht,06 sondern morali- verän politischer Entscheidungen. Anders finden sche Einstellungen auf ihre Gründe und ihre Re- gesellschaftlich schwierig auszuhandelnde und zu produzierbarkeit hin befragt, ein zweischneidiges verantwortende Maßnahmen nicht den Rückhalt, Schwert. Denn die Solidaritätsressourcen, derer den sie dringend benötigen. auch der Gebrauch der Freiheit immer wieder be- darf, sind nicht unerschöpflich, sondern müssen NACHDENKLICHKEIT ERZEUGEN gepflegt werden. Dies fällt umso schwerer, zumal die Ungleichbehandlung nicht derart im normati- Die diskursiven Spannungen ergeben sich nicht ven Fokus des (deutschen) Rechts steht. In vielen nur aus der notorischen weltanschaulichen Plu- ostasiatischen Ländern sind kollektive Maßnah- ralität in der Gesellschaft, sondern auch daraus, men vermutlich auch deshalb rechtlich leichter dass die medizinische wie gesellschaftspoliti- umsetzbar, weil sie – bei aller dort nicht zu miss- sche Lage derartig komplex ist, dass selbst ähn- achtenden Pluralität im Einzelnen – moralisch als liche Positionen zu den leitenden moralischen selbstverständlicher gelten. Vermutlich wird man und ethischen Grundorientierungen in der Folge nach der Pandemie ethisch, rechtlich und poli- sehr unterschiedliche Standpunkte nach sich zie- tisch fragen müssen, ob der Ausgleich zwischen hen können. Entsprechende Kontroversen, Wi- Freiheit und Solidarität für ähnliche Gefahrenla- derstreite und Zerwürfnisse lassen sich beispiels- gen nachjustiert werden muss. weise an der festgefahrenen Debatte zwischen Dass unsere Gesellschaft wesentlich davon Vertreter:innen von Öffnungsstrategien vs. Har- lebt, dass Pluralität geachtet werden muss, wird ter-Lockdown-Sofort-Ansätzen identifizieren schließlich an den Debatten um die sogenann- (um tendenziell von Verschwörungserzählungen te Systemrelevanz deutlich. Mit zunehmender geleitete sogenannte Querdenker noch gar nicht Dauer werden beispielsweise Kulturschaffen- zu erwähnen). In diesen Konflikten kann es nicht primäre Aufgabe der Ethik sein, unmittelbar für die eine 05 Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 26. 2. 2020, 2 BVR oder andere Position Partei zu ergreifen. Bevor 2347/15. 06 Das ist, was prima vista nachvollziehbar ist, weil beide auf sie das tut (denn am Ende kann man sich nicht der Dialektik von Menschenwürde und Menschenrechten basie- nicht verhalten), gilt es, auf die auf dem Weg von ren (sollten). moralischen Überzeugungen zu gesellschaftlicher 07
APuZ 24–25/2021 Praxis (in Medizin, Politik, Recht, Wirtschaft und vermeintlich klarer wissenschaftlicher „Fakten- Kultur) liegenden Weggabelungen hinzuwei- lage“ ausgehen und eindeutige politische Fol- sen. In die eine wie in die andere Richtung wei- gerungen ziehen wollen. Hier muss (nicht nur) terschreiten zu können, kann oftmals mit guten, Ethik auf Wissenschaftstheorie und Wissen- auch wissensbasierten Gründen gerechtfertigt schaftspraxis verweisen. Die Theorie, sofern sie werden. Ethik muss deshalb zunächst dazu bei- Naturwissenschaften in den Blick nimmt, muss tragen, im gesellschaftlichen Diskurs Komplexi- Überhöhungen wissenschaftlicher Aussagen zu täts- und Differenzsensibilität zu fördern. Das ewigen Wahrheiten dekonstruieren und sie statt- muss aber noch lange nicht bedeuten, dass einem dessen auf den ihnen angemessenen Status von „anything goes“ das Wort geredet wird. zu einem bestimmten Zeitpunkt bestmöglicher, Zur Verdeutlichung dieser ethischen Aufgabe aber grundsätzlich falsifizierbarer Evidenz redu- sei auf das Beispiel der Beurteilung von und den zieren. Zudem ist zu betonen und öffentlich zu Umgang mit wissenschaftlichem Wissen (im Un- kommunizieren, dass schon aus der je berech- terschied zu bloßen Behauptungen) verwiesen. tigten Perspektive unterschiedlicher Wissen- Neben sogenannten Querdenkern, deren anti- schaften unterschiedliche Konsequenzen gezo- wissenschaftliche Attitüde weit über das Pan- gen werden können. Das gilt nicht nur für den demiegeschehen hinausreicht und ein sichtbares bekannten Gap zwischen Natur- und Sozialwis- Indiz für tieferliegende gesellschaftliche Spaltun- senschaften, sondern auch innerhalb der Medi- gen ist, lässt sich auch im Mainstream der Pan- zin: Ein virologischer Zugang unterscheidet sich demiebekämpfung ein Widerstreit um den Status von einem epidemiologischen oder einem inten- wissenschaftlichen Wissens und seines politi- sivmedizinischen. Im Laufe der Pandemie haben schen Status feststellen. Aus der Sicht komple- sich die Kriterien und Maßeinheiten für infek- xitäts- und differenzsensibler Ethik müssen alle tionspolitische Entscheidungen immer wieder Positionen kritisch betrachtet werden, die von geändert. Erinnert sei an die absolute Zahl der 08
Medizin und Ethik in der Pandemie APuZ Infizierten, den R-Wert, die Positivrate, die Al- ORIENTIERUNG ANBIETEN tersverteilung, den Sieben-Tages-Inzidenzwert, die Verdopplungsrate und so weiter. Auch die Auch wenn Ethik zur Achtung von Pluralität und Einschätzung und der Vergleichswert des zeit- zur (selbst-)kritischen Nachdenklichkeit sensibi- lichen, sozialen und individuellen Risikos sowie lisieren soll, schließt die selbstkritische Haltung der Vergleichsmaßstab (zum Beispiel das „all- ein, dass man nicht standort- und meinungsfrei gemeine Lebensrisiko“) sind mit guten wissen- sein kann: Das bekannte Diktum Paul Watzla- schaftlichen Gründen und nicht nur aus Weltan- wicks „Man kann nicht nicht kommunizieren!“ schauungsmotiven strittig. muss Ethik, bei aller Aufgabe, Distanz zu morali- Wegen dieser Strittigkeiten und Uneindeutig- schen Überzeugungen aufzubauen und Komple- keiten steht es jenen, die sich informieren wollen, xität auszuhalten, dann so wenden, dass sie auf aber auch der Politik gut an, nicht nur monoma- der genannten Grundlage einen Kompass anbie- nisch auf eine Perspektive wissenschaftlicher Be- tet. Dieser ersetzt politische Entscheidungen in ratung zu setzen. Richtig ist der Ansatz, Expert: der Corona-Pandemie nicht, gibt aber Orientie- innenräte interdisziplinär (und am besten zudem rung für gangbare Wege. mit der Expertise etwa von Heim-, Kindertages- Dabei kann man im lockeren Anschluss an stätten- oder Schulleitungen) zu besetzen. For- Niklas Luhmanns Idee, dass der Sinnbegriff nach mulierungen wie „Meine politische Entscheidung der Zeit-, Raum-, Sach- und Sozialdimension dif- folgt allein der Wissenschaft!“ überführen sich ferenziert werden muss, ethische Herausforde- dann ihrer unzulässigen Komplexitätsreduktion. rungen des gesellschaftlichen Corona-Diskur- Denn die Wissenschaft gibt es nicht. Politik hat ses und verantwortlicher Pandemiebekämpfung auf Wissenschaft, die ihren Standards genügt und identifizieren: diese auch kommuniziert, zu hören. Sie darf ihr In zeitlicher Hinsicht ist zu berücksichti- aber nicht hörig sein. gen, dass ethische Reflexion zwar „in Echtzeit“08 Deshalb muss – auch das ist ein Imperativ der stattfinden muss; zugleich sollte diese aber – das Wissenschaftsethik – Wissenschaft in ihrer orga- zeigen die diversen Politikvorschläge – immer im nisatorischen Verfasstheit die Grenzen ihrer ei- Wechsel von „auf Sicht fahren“ und längerfristi- genen Kommunikation nach innen und außen gen Perspektiven verortet sein. Kurzfristigen Co- selbstkritisch reflektieren. Während beispiels- rona-Maßnahmen ohne langfristige Perspektiven weise der Ethikrat in seinen Stellungnahmen nur fehlen Kompass, Rahmen und Nachhaltigkeit. für sich selbst spricht, hat die Deutsche National- Nur langfristig angelegte Fahrpläne ohne kurz- akademie Leopoldina mehrfach den Eindruck er- fristige Maßnahmenvorschläge scheitern dagegen weckt, sie spräche mit ihren Empfehlungen für an der Gegenwart. Ethik hat die nicht selten stö- die Wissenschaft. Jedenfalls hat man diesen Ein- rende Aufgabe, bei einseitigen Akzentsetzungen druck, den die Bundeskanzlerin so kommuni- auf die je andere Seite zu verweisen. zierte,07 nicht zurückgewiesen. Stellungnahmen Insofern Raum nicht nur eine geografische, von Wissenschaftsorganisationen sind aber, dies sondern auch eine kulturelle Basiskategorie ist, gilt es zu bedenken, politische, keine primär wis- stellt sich in ethischer Perspektive immer wie- senschaftlichen Statements. Sie folgen nicht (oder der die provozierende Frage, wie sich die Fo- nur selten) den üblichen Begutachtungsverfah- kussierung der Pandemiebekämpfung auf den ren der wissenschaftsinternen Kritik. Wis sen Raum des Nationalstaates (beziehungsweise schaftler:innen und Wissenschaftsorganisationen der EU) angesichts einer weltweiten Gesund- müssen hier zur Vermeidung unnötiger Instru- heitskrise rechtfertigen lässt. Dies ist zunächst mentalisierungen und Enttäuschungen darüber, eine Frage internationaler Gerechtigkeit in der was Wissenschaft kann und soll (und was nicht), Bekämpfung schweren Leids in besonders be- deutlich selbstkritischer mit dem ihnen gegebe- troffenen Weltregionen. Sie bekommt zudem nen Vertrauenspotenzial umgehen. Vertrauen ist eine ganz eigennützige Drehung mit Blick auf eben eine begrenzte Ressource. die Pandemiepolitik in den reicheren Ländern, als die unsolidarische Nicht-Unterstützung der 07 Zu diesen wechselseitigen Erwartungen und Erwartungser- sich entwickelnden Länder dazu führen wird, wartungen vgl. Jörg Phil Friedrich, Das Ad-hoc-Desaster, in: Die Welt, 12. 12. 2020, S. 22. 08 Vgl. Mukerji/Mannino (Anm. 1). 09
APuZ 24–25/2021 dass dortige Herausforderungen (wie Mutati- Zunächst hat die Pandemie vielen Menschen, onen des Virus) früher oder später importiert die sich, im Weltmaßstab betrachtet, eines ho- werden. hen Wohlstandsniveaus erfreuen dürfen, die ba- Neben dem ethisch zu reflektierenden Zeit- sale Verletzlichkeit menschlichen Lebens in nie und Raumindex verantwortlichen Entscheidens gekannter Weise nahegebracht, oft: unter die muss in sachlicher Perspektive von allen Betei- Haut gehen lassen. Diese Erfahrung hat nicht ligten aus den Bereichen Medizin bis Politik die nur (jedenfalls zeitweilig) ein Gespür dafür auf- Multiperspektivität der Pandemiebekämpfung kommen lassen, was und wer unverzichtbar ist, ausgehalten und auch öffentlich kommuniziert sondern auch verdeutlicht: Freiheit und Selbstbe- werden. Die sachlich und kommunikativ extrem stimmung, die wir in unserer Gesellschaft zuneh- schwierige Aufgabe war und ist (beziehungswei- mend als den vornehmsten Ausdruck von Men- se wäre gewesen) das mutige Eingeständnis in schenwürde charakterisieren, können nicht ohne die Gesellschaft hinein, dass bei hinreichender Solidarität, Gemeinsinn sowie die Verhinderung Grundlage auch Entscheidungen und Entschei- von zu großen Differenzen und Spaltungen auf dungsprozesse geändert werden können müssen. individueller, aber auch kollektiver Ebene reali- Die Gesellschaft für das Ideal der Wissenschaft zu siert werden. Erkennbar muss in der Aufarbei- sensibilisieren, das heißt, stetig darauf hinzuwei- tung des Pandemiegeschehens das, was man pa- sen, dass Erkenntnisfortschritt nur via geordne- thetisch den Gesellschaftsvertrag nennt, diskursiv tem und voranschreitendem Fehlermanagement neu verhandelt und auch institutionell neu fest- zu erreichen ist, erscheint in der Pandemie und gelegt werden.09 Dazu zählt sicher auch, dass ei- darüber hinaus als eine dringliche und zu ver- nes der großen Defizite der Pandemie-Politik, tiefende Aufgabe. Nur damit wird dauerhaft ein nämlich proaktiv die Quellen der zahlreich vor- starker Wall gegen den erkennbaren Trend ge- handenen Vor-Ort-Expertise nicht anzuzapfen, baut, Wissenschaft als pure Meinung zu diskre- eklatant zutage getreten ist. Unter Digitalisie- ditieren. Ohne Vertrauen in die Komplexität von rungs-, insbesondere Social-Media-Bedingungen Wissenschaft werden komplexe Probleme in ei- zivilgesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten ner komplexen Welt nicht verantwortungsvoll an politischen Entscheidungen effektiv, transpa- gelöst werden können. rent und kontrolliert zu organisieren, erscheint nach diesem Beteiligungsversagen während der ETHIK ALS BEGLEITERIN Pandemie als ein höchstes Gebot, will man die GESELLSCHAFTLICHER rechtsstaatliche Demokratie für zukünftige He- DELIBERATION rausforderungen rüsten. Richtig ist zwar: In be- teiligungsstarken Deliberationen gehen weder Angesichts der bereits910 identifizierten zentralen Politik noch Ethik auf. Dies gilt sowohl jetzt Spannung zwischen Gesundheitsschutz und Frei- während der Krise als auch in der dann anstehen- heitsrechten auf der Grundlage, das gesamtgesell- den Aufarbeitung des Guten, des Schlechten, des schaftliche Leben nicht zusammenbrechen zu las- zu Verzeihenden und des nicht Verzeihbaren.10 sen, verdichten sich die Herausforderungen in der Orientierung muss deshalb formal und inhaltlich sozialen Dimension verantwortlicher Pandemie- kriteriengebildet angeboten, aber auch immer bekämpfung. Die im Folgenden genannten Beob- zeit-, sach- und sozialbedingt überarbeitet wer- achtungen markieren solche Punkte, die nicht nur den. Aber ohne eine Deliberation, die wechsel- in der Corona-Pandemie besonders gravierendes seitige Verletzlichkeit anerkennt, werden sowohl Konfliktpotenzial für moralisch verantwortliches Politik als auch Ethik in der Corona-Pandemie Handeln, politisches Entscheiden und gesell- und danach versagen. Diese Deliberation zu be- schaftlichen Zusammenhalt offenbart haben, son- gleiten, das ist Aufgabe der Ethik. dern weit darüber hinaus gesellschaftlicher Neu- justierung bedürfen. PETER DABROCK ist Professor für Systematische Theologie (Ethik) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen- 09 Vgl. Peter Dabrock, Wir werden uns manches nicht ver- zeihen können, 5. 5. 2021, www.spiegel.de/a-ad1a3426-f354- Nürnberg. Er war von 2016 bis 2020 Vorsitzender 4d6c-9730-0d9648f9d141. des Deutschen Ethikrates. 10 Vgl. ebd. peter.dabrock@fau.de 10
Zum Weiterlesen. 2021 Bestell-Nr. 10714 2021 Bestell-Nr. 10626 bpb.de/ shop 2021 Bestell-Nr. 10717
APuZ 24–25/2021 ETHIK DES IMPFENS Impfentscheidungen, ethische Konflikte und historische Hintergründe Philipp Osten Im Februar 2020 wurde die Erkenntnis unaus- Die Debatte über Impfungen berührt natur- weichlich: Das Coronavirus hatte eine weltwei- wissenschaftliche und gesellschaftliche Aspekte. te Pandemie ausgelöst. Fachleute hatten ein sol- Beide können sich wandeln. Neue Sichtweisen ches Szenario lange erwartet. One Health heißt und Argumente können neue Überzeugungen das Forschungsfeld, das sich mit neu entstehen- hervorbringen, und auch wissenschaftliche Be- den Viren und mit ihrem Ursprung im Tierreich funde können durch neue Erkenntnisse ins Wan- befasst. Laufend aktualisierte Pandemiepläne la- ken geraten. Das Wissen über Covid-19 und seine gen schon lange bereit, um etwaige kommende Varianten wächst ständig. Zu Beginn der Pande- Pandemien einzudämmen; die Pläne des Robert mie musste man sich mit dem behelfen, was wir Koch-Instituts waren zuletzt 2017 aktualisiert aus vorangegangenen Seuchen wussten. Primär worden.01 Auch wenn ab und an Maßnahmen bestimmten die Erfahrungen mit der Grippe, ganz etwa gegen die Vogelgrippe öffentlich diskutiert konkret mit der Influenza-Pandemie der Jah- wurden, erschien der allgemeinen Öffentlich- re 1918 bis 1920, unseren Blick auf die Corona- keit die Vorstellung, von einer Seuche bedroht Pandemie. Diese Grippe ging vorbei, ohne dass zu sein, wie aus der Zeit gefallen. Den Anachro- es eine Impfung gab. Staaten, die im vergange- nismus bald durch medizinischen Fortschritt nen Jahr auf eine Durchseuchung ihrer Bevölke- überwunden zu haben, war bereits in den ers- rung bei gleichzeitiger Isolation alter und beson- ten Wochen der Covid-19-Pandemie ein fester ders gefährdeter Menschen setzten, orientierten Topos. Die Frage „Wann haben wir eine Imp- sich an diesem Modell. Belege dafür, dass SARS- fung?“ stand von Anfang an im Mittelpunkt des CoV-2 sich so verhalten würde wie der Grippeer- öffentlichen Diskurses. Der Soziologe Armin reger vor 100 Jahren, gab es freilich keine. Nassehi bemerkte die Überhöhung dieser Er- Auch die derzeitige Impfdebatte ist von dem wartung, er schrieb: „Die Impfung ist die Hoff- Wunsch geprägt, sich auf Erfahrungen zu bezie- nung. Die Impfung ist nachgerade eschatologisch hen. In der Bundesrepublik stand das Beispiel aufgeladen.“02 der Masern im Mittelpunkt der Diskussion und Lange bevor genügend Impfstoff vorhan- bildete die Kulisse, vor deren Hintergrund über den war, begann die Debatte über eine Impf- Zwang und Freiwilligkeit diskutiert wurde. pflicht. Sie betraf zuerst die Mitarbeiter:innen von Kliniken und Altersheimen, inzwischen hat STAND DER DEBATTE sie sich auf alle gesellschaftlichen Gruppen aus- ZU PANDEMIEBEGINN gedehnt. Kinder und Jugendliche rückten in den Fokus, noch ehe überhaupt ein einziger Impf- Dass genau zu Beginn der Covid-19-Pandemie in stoff für sie in Europa zugelassen war.03 Bemer- Deutschland zum ersten Mal seit der Wiederver- kenswert ist, dass die Diskussion über eine Impf- einigung eine Impfpflicht in Kraft trat, war Zu- pflicht selten von medizinischer Seite angestoßen fall. In der DDR war es bis zu ihrem Ende vor- wurde, sondern vor allem von Politik und Medi- geschrieben gewesen, seine Kinder impfen zu en. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es nur we- lassen.04 In Westdeutschland endete die Impf- nige Befürworter:innen einer Pflicht zur Covid- pflicht 1975 mit der Pockenimpfung. Impfung. Bei anderen Vakzinen gibt es sie aber Seit März 2020 jedoch gilt das Masernschutz- durchaus. gesetz. Aus heutiger Sicht scheint die öffentliche 12
Medizin und Ethik in der Pandemie APuZ Debatte darüber aus einer fernen Vergangenheit fenkundig gehört es zum guten Ton, den Körper zu stammen – so unvorstellbar erscheint es heu- betreffende Anordnungen des Staates eher unauf- te, dass sich staatliche Maßnahmen zur Seuchen- fällig zu gestalten. Die Kampagne „Deutschland bekämpfung leise und fast unbemerkt vollziehen. sucht den Impfpass“ der Kölner Werbeagentur Zwar gab es durchaus Diskussionen über die Ma- Kaiserkom sollte die Masern-Impfung propa- sern-Impfung in den Fluren von Kindertagesstät- gieren und vermied alle Belehrung. Die Krank- ten und auf Elternabenden, Zeitungen berich- heit erwähnt sie nur am Rande, die mitgeimpften teten, die „Bild“ sprach 2017 von einer großen Mumps und Röteln gar nicht. Inszeniert wur- Aufregung um den Plan von Gesundheitsminis- de stattdessen die Abwesenheit einer staatlichen ter Hermann Gröhe, impfunwilligen Eltern eine Impfkontrolle. Schon lange werden die Kampa- Strafe von 2500 Euro anzudrohen. Der Artikel gnen der Bundeszentrale für gesundheitliche Auf- war allerdings nur wenige1234 Zeilen lang.05 In der klärung (BZgA) von Werbeagenturen konzipiert. breiten Öffentlichkeit war die Pflicht, Kinder ge- Bei der im Dresdner Hygienemuseum kon- gen Masern zu impfen, kaum ein Thema. Das ver- zertierten Gesundheitserziehung der DDR sah abschiedete Gesetz selbst sieht keine Strafen für es ähnlich aus. Gesundheitsaufklärung war pri- impfunwillige Eltern vor, anders als in der DDR. mär Werbung für die Leistungsfähigkeit und die Das Wort „Impfpflicht“ kommt ebenfalls nicht Vielseitigkeit öffentlicher Angebote. Doch im- darin vor. Es verbietet Personen ohne Impfnach- mer wieder gab es Ausnahmen von der Weich- weis allerdings den Besuch von Betreuungsein- zeichnung. Während in der DDR Ende der richtungen und die Arbeit dort. 1980er Jahre gegen den Rat vieler Expert:innen Da spätestens mit der Einschulung die Ma- das Thema Sexualität in Aufklärungskampagnen sern-Impfung unausweichlich würde, sieht das bewusst tabuisiert wurde (Dramaturg:innen und Gesetz eine Ausnahmeregelung für Schüler:innen Journalist:innnen wichen mit ihren Anliegen auf vor; ein Kindergartenbesuch aber ist für über Ein- Spielfilme und Reportagen aus),08 verschaffte sich jährige ohne Impfnachweis nicht möglich. Hinzu die Kölner BZgA mit ihrer Kampagne „Gib AIDS kommt, dass die Masern-Vakzine ausschließlich keine Chance“ Respekt. An diese Erfolge knüpft in Kombination mit Mumps- und Röteln-Impf- die aktuelle Kampagne zur Bekämpfung von Ge- stoff erhältlich sind. Im Vorfeld der Entschei- schlechtskrankheiten, „Juckt’s im Schritt?“, an. dung hatte der Deutsche Ethikrat zwar an eine Masern-Impfkampagnen betonen beharrlich „allgemeine moralische Pflicht“ zur Impfung ap- den Schutz der Geimpften, anstatt zu vermitteln, pelliert, eine gesetzliche Masern-Impfpflicht (au- dass die Vakzinierung Gesunder im Sinne einer ßer für ausgewählte Berufsgruppen) jedoch aus- Herdenimmunität maßgeblich dem Schutz beson- drücklich nicht empfohlen.06 ders anfälliger Personen dient. Mumps und Röteln, Die Masern-Impfpflicht scheint recht effektiv die beiden Krankheiten, gegen die stets in Kombina- zu sein.07 Doch kam sie auf Umwegen daher. Of- tion mit Masern geimpft wird, werden in den Kam- pagnen erst gar nicht erwähnt. Denn Mumps ist für Mädchen und Frauen weitgehend (wenn auch nicht 01 Vgl. Robert Koch-Institut (RKI), Pandemie-Plan 2016/2017, vollkommen) ungefährlich, während er bei Jungen 19. 3. 2020, www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Co- und besonders bei erwachsenen Männern Hoden- ronavirus/Pandemieplan.html. 02 Armin Nassehi, Editorial, in: Kursbuch 206/2021, S. 3. entzündungen mit Folgen bis zur Unfruchtbarkeit 03 Vgl. Ärztekammer Hamburg gegen vorschnelle Coronaimp- verursachen kann. Röteln schaden Ungeborenen fungen bei Kindern, 14. 5. 2021, www.aerzteblatt.de/nachrich- im Mutterleib, wenn sich Schwangere anstecken. ten/123854. Die Botschaft, dass die Masern-Mumps-Röteln- 04 Und zwar gegen Tuberkulose, Diphterie, Keuchhusten, Impfung zu einigen Teilen aus Altruismus erfolgt, Masern, Kinderlähmung und Wundstarrkrampf. 05 Vgl. Kitas müssen Impfmuffel künftig beim Gesundheits- wird in den Kampagnen nicht vermittelt. amt melden, 26. 5. 2017, www.bild.de/news/aktuelles/news/- Ein weiteres Beispiel für eine sanfte Infor- 51917250.bild.html. mationspolitik im Zusammenhang mit Seuchen 06 Vgl. Deutscher Ethikrat, Jahresbericht 2019, S. 10 ff. 07 Vgl. Michael Neugebauer/Matthias Ebert/Roger Vo- gelmann, Beurteilung des neuen Masernschutzgesetzes in 08 Vgl. Philipp Osten, Politik und Gesundheitsaufklärung in Deutschland: Ergebnisse einer deutschlandweiten Befragung, in: Ausstellungen, Plakaten und Filmen, 1880–1980, in: Heinz-Peter Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheits- Schmiedebach (Hrsg.), Medizin und öffentliche Gesundheit: wesen 158/2020, S. 74–80. Konzepte, Akteure, Perspektiven, Berlin 2018, S. 201–230. 13
APuZ 24–25/2021 Ein Impfzentrum im American Museum of Natural History in New York City, wo im Mai 2021 vor allem Jugendliche ab 12 Jahren geimpft wurden. Quelle: picture alliance/Globe-ZUMA, Sonia Moskowitz Gordon ist die nach einer Überarbeitung erfolgte Um- benwirkungen kam die Frage hinzu, wem wel- benennung des Bundesseuchengesetzes 2001. Es cher Impfstoff zur Verfügung stehen sollte. Die heißt seitdem Infektionsschutzgesetz („Gesetz jüngste Diskussion dreht sich um mögliche Pri- zur Verhütung und Bekämpfung von Infekti- vilegien Geimpfter: Ihnen könnte die Teilhabe an onskrankheiten beim Menschen“). Dass es wei- Aktivitäten gestattet werden, die Ungeimpften terhin effektive seuchenpolizeiliche Maßnahmen aufgrund von Eindämmungsverordnungen un- legitimiert, drang erst im Frühjahr 2020 mit Ve- tersagt sind. Von einzelnen Medien aufgebracht hemenz – und umso überraschender – in das öf- und oft auf Pressekonferenzen angesprochen, fentliche Bewusstsein. Das Thema Impfen, zu- steht eine Impfpflicht gegen Covid-19 gegenwär- vor fast ausschließlich unter Fachleuten und tig gleichwohl nicht ernsthaft zur Debatte. Impfgegnergruppen diskutiert, füllt seit dem Im Folgenden werden zunächst die ethischen Sommer 2020 die Titelseiten der Zeitungen – Entscheidungen im Zusammenhang mit der Co- und es sind die in der Herausarbeitung pola- rona-Impfung diskutiert. Dabei werden Beispie- rer Meinungen geübten Politikressorts, nicht die le aus der Geschichte des Impfens herangezogen Wissenschaftsjournalist:innen, die sich des The- – nicht zuletzt, um zu zeigen, wie sehr die jeweils mas primär annehmen. herrschende Meinung über das Impfen von wis- In den ersten Monaten der Covid-Pandemie senschaftlichen Theorien und von politischen, beschäftigten zunächst die Sicherheit der neu- historischen und sozialen Umständen abhängt. en mRNA-Impfstoffe und ihre Testverfahren die Öffentlichkeit. Sobald die ersten Impfstoffe zu- WER BESTIMMT, gelassen worden waren, ging es um ihre Vertei- WAS ETHISCH IST? lung – sowohl auf internationaler Ebene als auch zwischen den verschiedenen Alters- und Bevöl- Hinter dem Begriff der Ethik, der nach gutem, kerungsgruppen. Mit den Berichten über Ne- richtigem Handeln klingt, verbirgt sich bisweilen 14
Medizin und Ethik in der Pandemie APuZ eine hässliche Realität. Ethik ist auch der Versuch, Ähnliche Konflikte gibt es in Zusammenhang übergriffige Moralvorstellungen und rücksichts- mit der Verteilung von Spenderorganen. Diese lose Menschenökonomie ebenso einzuordnen wie erfolgt bis heute durch die Service-Organisati- philosophisch begründete Überzeugungen und on Eurotransplant, obwohl die Leopoldina – die Forderungen nach Solidarität und Gerechtigkeit. nach der Wiedervereinigung als unabhängiges Be- Als Wissenschaft betrachtet ist Ethik also die The- ratungsgremium für Politik und Gesellschaft zur orie der Moral. Von Ethiker:innen wird erwartet, Nationalen Akademie der Wissenschaften erho- dass sie möglichst objektiv die unterschiedlichen ben wurde – 2015 empfohlen hatte, Entschei- Positionen zu einem Thema darlegen. dungen dieser Tragweite „einer (halb-)staatlichen Im allgemeinen Sprachgebrauch wird unter Stelle auf Bundesebene“ zu überantworten. Ethik aber etwas ganz anderes verstanden: die Entscheidungen, die den Schutz des Lebens Entwicklung von moralisch fundierten Empfeh- berühren, sollten in einer Demokratie nur von lungen, Leitlinien und Handlungsanweisungen. der Bevölkerung selbst getroffen werden, vertre- In der Medizin können diese bisweilen sehr ef- ten durch Parlamente und Regierungen. In Zu- fektiv durchgesetzt werden. Über die Pflege- und sammenhang mit der Priorisierung der Covid- Ärztekammern werden etwa ethische Leitlinien Impfstoffe hat man aus diesen Monita gelernt. der Berufsorganisationen für all deren Mitglie- der verpflichtend. Die normative Ethik stößt je- IMPFPRIORISIERUNG doch dort an ihre Grenzen, wo sie potenziellen Patient:innen Vorschriften macht. Denn diese Der von Bundesregierung und Bundestag ge- sind nicht qua Beruf oder Anstellung einer Orga- meinsam berufene Deutsche Ethikrat nimmt in nisation beigetreten. der Covid-Pandemie eine Sonderstellung ein. In der medizinethischen Diskussion haben Denn üblicherweise haben seine Entscheidungen sich zwei Fraktionen herausgebildet. Eine räumt kein rechtliches Gewicht. Bei der Festlegung der der Autonomie des Einzelnen in Behandlungsent- Impfreihenfolge wurden zwar Richtlinien entwi- scheidungen oberste Priorität ein, die andere hat ckelt, die einer verbindlichen Norm gleichkom- eher die Verteilungsgerechtigkeit im Blick. Die bri- men. Allerdings geschah dies in einer gemeinsa- santeste Konfrontation erfuhr dieser Widerspruch men Kommission mit der Leopoldina und der während der Corona-Pandemie im Zusammen- Ständigen Impfkommission, einem vom Robert hang mit dem Thema der Triage.09 Medizinische Koch-Institut koordinierten Expert:innengre Fachgesellschaften, aber auch Ethik-Arbeitskrei- mium, das durch das Infektionsschutzgesetz seit se einzelner Kliniken, entwickelten Kriterien zur 2001 dazu legitimiert ist, Impfrichtlinien zu er- Verteilung lebenswichtiger Ressourcen. Der Ge- arbeiten. Das Kriterium eines (halb-)staatlichen setzgeber hingegen blieb in dieser Frage untätig. Entscheidungsgremiums ist damit erfüllt. Der Menschenrechtsanwalt Oliver Tolmein Knapp fünfzig Tage vor Verabreichung der zweifelte an der Entscheidungskompetenz selbst- ersten Dosis Comirnaty (dem Vakzin von Pfi- ernannter Ad-hoc-Gremien, weil er in den ver- zer/Biontech) wurde eine Priorisierungsliste be- öffentlichten Kriterienkatalogen eine besondere kannt gegeben. Auf den ersten Blick schien sie Gefährdung von Menschen mit Behinderungen er- nicht den klassischen Regeln einer Impf kam kannte. Er wandte sich als Vertreter von neun Men- pagne zu entsprechen, wie sie Ende der 1950er schen mit Behinderungen mit einer Beschwerde an und Anfang der 1960er Jahre in Westdeutsch- das Bundesverfassungsgericht. Das Gericht stellte land bei Pockenausbrüchen rasch und dennoch daraufhin im Juli 2020 fest, dass es „einer eingehen- wohlgeplant auf die Beine gestellt worden wa- deren Prüfung“ bedürfe, „wie weit der Einschät- ren. Das damalige Ziel war gewesen, Perso- zungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des nen mit vielen Kontakten möglichst zuerst zu Gesetzgebers für die Regelung konkreter medizi- impfen. Die ersten Covid-Impfungen hingegen nischer Priorisierungsentscheidungen reicht“.10 wurden zum Jahreswechsel 2020/2021, exakt den Vorschriften des Expert:innenpapiers fol- gend, in Altenheimen durchgeführt. 09 Zur Triage siehe auch den Text von Daniela Angetter-Pfeif- fer in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Bei den ersten Covid-Impfstoffen war zu- 10 Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 16. 7. 2020, 1 BvR nächst nicht klar, ob und inwieweit sie eine so- 1541/20, Rn. 1–12. genannte sterilisierende Immunität erzeugen, 15
APuZ 24–25/2021 sie also nicht nur vor schweren Krankheitsver- dafür, dass um 1800 in vielen Gegenden gerade läufen schützen, sondern auch verhindern, dass einmal die Hälfte der Kinder ihren fünften Ge- sich der Erreger in den Geimpften vermehrt und burtstag erlebte.11 Die erste Pockenimpfpflicht von ihnen übertragen werden kann. Daran muss- überhaupt führten 1807 Bayern und Hessen ein. te zunächst gezweifelt werden, da man wusste, Die überwiegend des Lesens nicht mächtige Be- dass herkömmliche Coronaviren im Menschen völkerung wurde in den Kirchen über die Imp- regelmäßig keine zuverlässige Immunität erzeu- fungen informiert. Impfärzte blieben für viele gen. Die für viele andere Impfungen gültige Er- die einzigen Mediziner, die sie in ihrem Leben kenntnis, dass man sich nicht nur für sich selbst, zu Gesicht bekamen. Die Prozedur war brachi- sondern auch zum Schutz ungeimpfter Drit- al: Da Kuhpocken selten waren, wurden die Po- ter impfen lässt, trat damit in den Hintergrund. ckenblasen aufgeritzt, die sich sieben Tage nach Oberstes Ziel der Priorisierung war es, die be- einer Impfung bei den Kindern bildeten. Dann sonders gefährdeten Gruppen zu schützen und wurde das herausquellende Sekret gleichaltri- die öffentliche Infrastruktur aufrechtzuerhal- gen Impflingen mit einem kleinen Messer unter ten. Die Impfung von Klinikmitarbeiter:innen die Haut geschoben. Der Akt ging mit staatli- mit Kontakt zu Infizierten erfolgte daher mit cher Kontrolle einher. Beamte der Innenbehör- ähnlicher Dringlichkeit. den übertrugen Kirchenbücher in Impflisten, Die in den analogen und digitalen Medi- aus ihnen wurden die ersten Melderegister Eu- en klar erläuterte Priorisierung war gut vermit- ropas. Eine Impfgegnerschaft formierte sich telbar. Zwar sahen Hamburger:innen mit Neid erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nach Berlin, da in Hamburg zehntausende Do- als die akademische Medizin nicht mehr auf der sen Comirnaty entsorgt wurden – in Berlin auf- Grundlage von Philosophie, sondern auf der Ba- grund verschiedener Regulierungen aber nicht. sis naturwissenschaftlicher Erkenntnisse argu- Doch alles in allem erwies es sich als ausgespro- mentierte. Die Diskussion über die Impfpflicht chen günstig, dass die Priorisierung bundesein- wurde zum Brennglas der Auseinandersetzung heitlich erfolgte. Erst mit der Freigabe der noch über den Alleinvertretungsanspruch der exak- immer knappen Impfstoffe im Mai 2021 (bundes- ten Naturwissenschaften. Die Autonomie freier weit ab dem 7. Juni) begannen die Probleme. Nun Entscheidungen, eine der zentralen Forderungen sollen Hausärzte die Reihenfolge der Impflinge der Aufklärung, geriet in Konflikt mit einer an- unter ihren Patient:innen selbst bestimmen – eine deren wichtigen Maxime, der Hinwendung zum höchst undankbare Rolle, hatte doch schon längst rationalen Denken. Einen Ausweg aus der zu- eine Debatte darüber eingesetzt, welche „Privile- nehmend spaltenden Debatte um die Impfpflicht gien“ Geimpfte genießen dürfen. Anders als bei fand das Britische Unterhaus im Jahr 1907. Der der sensiblen Festlegung der Reihenfolge ist der- Vaccination Act befreite einzelne Kinder von der zeit keine bundeseinheitliche Regelung dieser Impfung, wenn ihre Eltern ihre Beweggründe Frage absehbar. Personen, die den Erreger nicht und Argumente dagegen ausführlich und schrift- verbreiten können, würden in der Wahrnehmung lich dargelegt hatten. Danach herrschte Rechts- ihrer Grundrechte unzulässig beschränkt, wenn frieden. Die Zahl der aus Überzeugung Unge- Eindämmungsverordnungen auch für sie gelten. impften blieb gering. Ab 1930 waren die Pocken Für Einzelne wäre das zu Beginn einer Impfkam- in Großbritannien nicht mehr endemisch. Bei al- pagne unter Umständen noch vertretbar. Mit ei- ledem gilt aber: Ausrotten lassen sich nur Krank- ner wachsenden Zahl Geimpfter verschärft sich heiten, die ausschließlich oder ganz überwiegend das Problem jedoch. den Menschen befallen. Die Pocken, die Kin- derlähmung und die Masern gehören dazu, die IMPFZWANG? Grippe und Covid-19 nicht. Welch hohes Konfliktpotenzial die Debat- Die Ausrottung der Pocken durch die Kuhpo- te über eine Impfpflicht heute beinhaltet, zeig- ckenimpfung gehört zu den größten medizini- te sich im Mai 2021 an einem Beschluss des 124. schen Erfolgen der Menschheitsgeschichte. Die Deutschen Ärztetages. Die Delegierten sprachen Pocken waren so ansteckend, dass jede:r sie be- kam. Und 17 bis 20 Prozent der Infizierten star- 11 Vgl. Joseph von Schirt, Medizinische Topographie des ben daran. Sie waren ein wesentlicher Grund Fürstentums Ochsenhausen, Konstanz 2006. 16
Sie können auch lesen