AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Sowjetunion - Bundeszentrale für politische ...

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71. Jahrgang, 16/2021, 19. April 2021

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
    Sowjetunion
       Maike Lehmann                               Jochen Hellbeck
 DAS (POST-)SOWJETISCHE                       DIE SOWJETUNION
   ALS POLITISCHE UND                          IM KAMPF GEGEN
  IDENTITÄTSRELEVANTE                        HITLER-DEUTSCHLAND
       RESSOURCE
                                                     Frank Grüner
        Julia Obertreis                          JUDEN UND
  SOWJETUNION GLOBAL                           JÜDISCHES LEBEN
                                            IN DER SOWJETUNION
       Jörg Baberowski
 SOWJETISCHE GESCHICHTE                           Irina Scherbakowa
  ALS GEWALTGESCHICHTE                          SACKGASSE
                                           SOWJETVERGANGENHEIT
     Susanne Schattenberg
      NACH STALIN:
   DAS FUNKTIONIEREN
       DER UDSSR

                   ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                        FÜR POLITISCHE BILDUNG
              Beilage zur Wochenzeitung
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Sowjetunion
                                       APuZ 16/2021
MAIKE LEHMANN                                       JOCHEN HELLBECK
DAS (POST-)SO­WJE­T ISCHE ALS POLITISCHE            DIE SOWJETUNION IM KAMPF GEGEN
UND IDENTITÄTSRELEVANTE RESSOURCE                   HITLER-DEUTSCHLAND
Die Begriffe des „So­wje­tischen“ und des           Die Aufklärung über deutsche Gewaltverbrechen
„Postso­wje­tischen“ scheinen zunächst schlicht     durch sowjetische Beobachter rüttelte auch im
eine Chronologie zu umreißen. Doch gleichzei-       Westen auf. Materiell wie konzeptionell hatte
tig sind sie politisch aufgeladen und analytisch,   die Sowjetunion eine entscheidende Rolle beim
sie stehen in einer spezifischen Tradition und      Sieg gegen das nationalsozialistische Deutsch-
verzeichnen ihre eigenen Konjunkturen.              land inne.
Seite 04–09                                         Seite 32–39

JULIA OBERTREIS                                     FRANK GRÜNER
SO­WJET­U NION GLOBAL                               JUDEN UND JÜDISCHES LEBEN
Bereits die Revolution 1917 verursachte ein         IN DER SO­WJET­U NION
internationales Beben und verbreitete Furcht        Mit dem Sturz des zarischen Regimes im März
wie Hoffnung zugleich. Mit dem Kalten Krieg         1917 begann für die jüdische Bevölkerung
wurde die So­wjet­union zur „Supermacht“ und        eine neue Epoche. Doch antireligiöse Politik,
im Globalen Süden zur Entwicklungshelferin          Antisemitismus und Antizionismus ließen den
mit Hintergedanken.                                 Wunsch nach Emigration vor allem nach 1945
Seite 10–17                                         immer stärker werden.
                                                    Seite 40–47
JÖRG BABEROWSKI
SO­WJE­T ISCHE GESCHICHTE                           IRINA SCHERBAKOWA
ALS GEWALTGESCHICHTE                                SACKGASSE SOWJETVERGANGENHEIT
Der so­wje­tische Staat stand auf einem Fun-        Vor knapp 30 Jahren wurde das Ende der
dament, das mit Gewalt errichtet wurde. Das         So­wjet­union vertraglich besiegelt. An ihrem
Regime setzte seine Gewaltexzesse überall dort      Erbe, insbesondere dem stalinistischen, trägt das
ins Werk, wo es seiner Herrschaft nicht sicher      heutige Russland immer noch schwer. Blicke
zu sein glaubte. Erst Nikita Chru­sch­tschow        zurück und auf die aktuelle Geschichtspolitik
beendete den Terror.                                zeigen, warum dies so ist.
Seite 18–24                                         Seite 48–52

SUSANNE SCHATTENBERG
NACH STALIN:
DAS FUNKTIONIEREN DER UDSSR
Die Forschung zur späten So­wjet­union hat
in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen
Aufschwung erlebt. Dominierte in den 1990er
Jahren die Stalinismusforschung, ist es jetzt
die Forschung zur Zeit nach 1953 unter der
Herrschaft Chru­sch­tschows und Breschnews.
Seite 25–31
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EDITORIAL
Am 4. Oktober 1957 schoss die So­wjet­union ihren Satelliten „Sputnik“ erfolg-
reich ins All. Diese Pioniertat löste im Westen einen Schock aus: nicht die
USA, sondern der kommunistische Gegenspieler im Kalten Krieg hatte beim
space race technologisch die Nase vorn. Im August 2020, nach der ersten Welle
der Corona-Pandemie, legte Moskau erneut im globalen Wettlauf vor. Doch
ein erneuter „Sputnik-Schock“ nach Zulassung des ersten Corona-Vakzins
­„Sputnik V“ durch russische Behörden blieb bisher weitgehend aus.
    Die Bezugnahme auf tatsächliche oder vermeintliche Erfolge der So­wjet­
 union ist Teil der aktuellen (Geschichts-)Politik der Russischen Föderation. Das
 So­wje­tische existiert neben dem Postso­wje­tischen, also den Erfahrungen mit den
 Umwälzungen und Unsicherheiten nach 1991, weiter. Die größte erinnerungs-
 kulturelle Rolle spielt dabei der Sieg der Roten Armee im „Großen Vaterländi-
 schen Krieg“, der mit dem Überfall NS-Deutschlands auf die So­wjet­union vor
 80 Jahren, am 22. Juni 1941, begann und mit der Kapitulation der Wehrmacht
 am 8./9. Mai 1945 endete. Mittlerweile geht die Forschung von etwa 27 Millio-
 nen Opfern auf so­wje­tischer Seite aus.
    Dieses Opfer im Kampf gegen den Faschismus vermochte es allerdings nicht,
 die Gewalt gegen die eigene Bevölkerung zu stoppen, die mit dem „Großen Ter-
 ror“ von 1937 einen Höhepunkt erreicht hatte. Die „Ströme“ in die „Gefängnis­
 kanalisation“, wie Alexander Solschenizyn sie detailliert in seinem „Archipel
 Gulag“ (1974) aufzählt, flossen während und nach dem Krieg weiter. Knapp
 30 Jahre nach dem Ende der So­wjet­union ist die Auseinandersetzung mit dem
 Stalinismus und seinen Folgen noch nicht beendet. Der Schock, den die Stalin-
 Zeit ausgelöst hat, wirkt bis heute gesellschaftlich nach.

                                                       Anne Seibring

                                                                                 03
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APuZ 16/2021

                 VON DER HARTNÄCKIGKEIT
                     EINES ATTRIBUTS
                      Das (Post-)So­wje­tische als politische
                       und identitätsrelevante Ressource
                                         Maike Lehmann

Mittlerweile ist es 30 Jahre her, dass der so­wje­   union stelle die größte geopolitische Katastrophe
tische Staat zu existieren aufhörte. Mit ihm ende-   des 20. Jahrhunderts dar,02 in Russland wie im
ten auch der Kalte Krieg und die bipolare Auftei-    postso­wje­tischen Raum Zustimmung. Immerhin
lung der Welt in einen durch Moskau weitgehend       hatten Finanzreformen und -krisen wiederholt
dominierten sozialistischen Block und westliche      Familienersparnisse vernichtet; Arbeitsverhält-
liberale Staaten, die ihre konkurrierenden Gesell-   nisse bleiben bis heute fragil. Auch widerlegten
schaftsmodelle mithilfe von Entwicklungspro-         die kriminelle Gewalt auf den Straßen postso­
grammen, wirtschaftlichen Kooperationen, Bil-        wje­tischer Städte der 1990er Jahre und die zahl-
dungsaustausch und militärischen Einsätzen in        reichen Bürgerkriege an der ehemaligen so­wje­
damals als „Dritte Welt“ und „blockfreie Staaten“    tischen Peripherie den westlichen Mythos eines
bezeichneten Regionen zu etablieren suchten. Auf     gewaltfreien ­Regimewechsels.
die euphorische Rede vom „Ende der Geschich-             Trotz der Berichte über diese Zustände irri-
te“, die den umfassenden Sieg des Liberalismus       tierte Putins Aussage im Westen. Hier wird der
postulierte,01 folgten im Westen der Entwurf von     Zerfall der multiethnischen So­wjet­union keines-
Transformationstheorien, die die Härten des Zu-      wegs als Tragödie, sondern als Befreiung angese-
sammenbruches lediglich als eine Übergangszeit       hen, und positive Erinnerungen an die Sowjetzeit
entwarfen, die mittels einer Schocktherapie umso     als fehlgeleitete, da vergessliche, verharmlosende
schneller überwindbar wäre.                          „Nostalgie“ gefasst.03 Zugleich werden Rechts-
    Mittlerweile ist eine ganze Generation ohne      beugung, Korruption, die Schwäche der Zivil-
eigene Erfahrung mit dem Staatsozialismus auf-       gesellschaft, Zustimmung für Putins Geopolitik
gewachsen. Doch die So­      wjet­
                                 union bleibt prä-   oder auch die regelmäßige Nennung Stalins als
sent. Denn auch die Nachgeborenen, nicht nur         bedeutendste Figur in der russischen Geschich-
ihre vor 1991 aufgewachsenen Eltern und Groß-        te04 als Ausweis für ein noch nicht überwunde-
eltern, wurden durch die So­wjet­union und ihren     nes so­ wje­
                                                                tisches Erbe gewertet. Diese konträ-
Zusammenbruch geprägt. So halten sich positive       ren Interpretationen sind Grund genug, sich das
Bezugnahmen etwa auf die entscheidende Rolle         (Post-)So­wje­tische als Attribut und seine unter-
der So­wjet­union im Zweiten Weltkrieg, auf die      schiedlichen Bedeutungen näher anzusehen.
Breschnew-Zeit oder gar auf Stalin als erfolg-
reichen Manager der so­wje­tischen Modernisie-              CHRONOLOGIE UND POLITIK
rung. Dies sind Abschnitte in der Geschichte,
die trotz der Millionen Opfer, die Krieg und Ter-    Die Begriffe des „So­      wje­
                                                                                   tischen“ und des
ror forderten, und der Einschränkung von Mei-        „Postso­wje­tischen“ scheinen zunächst schlicht
nungs- und Versammlungsfreiheit in der späten        eine Chronologie zu umreißen – 70 Jahre So­
So­wjet­union nicht nur in Russland mit Erfolgen,    wjet­union einerseits, das „Danach“ andererseits.
Sicherheit und globalem Status in Verbindung         Doch jenseits dieser Zeitfolge signalisieren diese
gebracht werden. Entsprechend fand die De-           Attribute auch etwas anderes: Sie sind so poli-
klaration des ehemaligen KGB-Offiziers Wla-          tisch aufgeladen wie analytisch, sie stehen in ei-
dimir Putin, der Zusammenbruch der So­wjet­          ner spezifischen Tradition und verzeichnen ihre

04
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Sowjetunion - Bundeszentrale für politische ...
Sowjetunion APuZ

eigenen Konjunkturen. So markierte das Attri-                             Das Amalgam aus so­wje­tischen Erwartun-
but des Postso­wje­tischen in der Berichterstat-                      gen, so­wje­tischer Sprache und so­wje­tischen Ver-
tung der 1990er Jahre zunächst einen Übergang,                        haltensweisen einerseits und postso­     wje­
                                                                                                                  tischen
der – eingeläutet durch die Auflösung des politi-                     Adaptionsleistungen und Praktiken anderer-
schen Systems und den Denkmalsturm auf Sta-                           seits fiel vor allem AnthropologInnen bald ins
tuen so­wje­tischer Führer, dann veralltäglicht in                    Auge. So hatte etwa Caroline Humphrey be-
durch den Westen inspirierten Namen neuer, nun                        reits in den 1980er Jahren Feldforschungen auf
in privater Hand befindlicher1234 Geschäfte05 – die                   einer nach Karl Marx benannten Kolchose im
Loslösung vom Sozialismus als Ideologie und                           ostsibirischen Burjatien vorgenommen. Sie stell-
Weltbild verhieß. Auch die Kultur- und Sozial-                        te Mitte der 1990er Jahre fest, dass das So­wje­
wissenschaften wandten sich nach 1991 zunächst                        tische nicht einfach ad acta gelegt war, trotz Kri-
dem vermeintlich Neuen zu, etwa religiösen                            tik an der Politik des so­wje­tischen Staates und
Praktiken und wirtschaftlichen Aktivitäten, die                       der Existenz so­wje­tischer Arbeitslager, die nicht
in einem Kontrast zur antireligiösen Propagan-                        zuletzt die gewaltsame Kollektivierung und
da des untergegangenen Sowjetstaates und sei-                         Zwangsansiedlung von Burjaten im Stalinismus
ner Planwirtschaft standen.06 Jenseits der Adap-                      deutlich machten. Auch die Loyalität zum rus-
tionsleistung an unsichere Zeiten, in denen etwa                      sischen Staat stand keineswegs infrage. Vielmehr
Religiosität einen neuen Halt versprach, übersah                      fand Humphrey heraus, dass die zur Gruppe der
diese Perspektive aber oft, dass es trotz Ressenti-                   mongolischen Völker gehörenden BurjatInnen
ments etwa gegenüber Juden und Muslimen so-                           eine als „rückständig“ verstandene Identifika-
wie der Verfolgung von Sekten und Untergrund-                         tion als MongolInnen ablehnten. Denn sie ge-
kirchen spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg in                      hörten zu den Gruppen, die vor 1991 vor allem
der So­wjet­union durchaus gestattet war, Religi-                     als nicht-sesshafte, traditionelle Strukturen fort-
on auszuüben, sofern sie sich im Rahmen staat-                        schreibende, abergläubische und somit antimo-
lich kontrollierter Kirchenstrukturen bewegte.07                      derne Gemeinschaft imaginiert wurden. Doch
Hinzu kommt, dass Moralvorstellungen von                              laut desselben staatlich beförderten Diskur-
nach 1991 bekehrten Gläubigen gleichermaßen                           ses konnten sie ihre Rückständigkeit überwin-
von Kirchenlehren wie von im Sozialismus pro-                         den, indem sie die emanzipatorisch und aufklä-
pagierten Werten geprägt waren.08                                     rerisch gefassten Modernisierungsvisionen des
                                                                      multiethnischen Sowjetstaates verinnerlichten.
                                                                      Die Langzeiteffekte dieser Vorstellungen spie-
01 Francis Fukuyama, The End of History?, in: The National            gelten sich nach 1991 darin wider, dass BurjatIn-
Interest 16/1989, S. 3–18.                                            nen sich nicht als solche, sondern in Anlehnung
02 Vgl. Heiko Pleines, Nach dem Ende der So­wjet­union,
                                                                      an überethnische, staatsbürgerliche Kategori-
10. 10. 2014, www.bpb.de/192802.
03 Vgl. Walter Sperling Die Ruinen von Grosny. Nostalgie,
                                                                      en identifizierten – waren sie vorher Sowjetbür-
Imperium und Geschichte im postso­wje­tischen Russland, in:           gerInnen, sahen sie sich nun als RussländerIn-
Historische Anthropologie 2/2015, S. 290–315.                         nen.09 Wenige Jahre nach dem Zusammenbruch
04 Das unabhängige Levada-Zentrum erhebt dazu regelmäßig              der So­wjet­union mochte es aber nicht überra-
Daten und hat einen Anstieg von positiven Stellungnahmen zu
                                                                      schen, dass auch Alltagspraktiken und -regeln,
Stalin zwischen 2008 und 2018 festgestellt. Vgl. Levada-Center,
The Perception of Stalin, 17. 4. 2018, www.levada.ru/en/​2018/​
                                                                      Vorstellungen von Erfolg und Scheitern und die
04/​17/the-​perception-​of-​stalin.                                   Logiken sozialer Distinktion von im Stalinismus
05 Vgl. Alexei Yurchak, Privatize Your Name. Symbolic Work            etablierten Regeln geprägt blieben.10
in a Post-Soviet Linguistic Market, in: Journal of Sociolinguistics       Nach 2000 wurde dann verschiedentlich das
3/2000, S. 406–434.
                                                                      Ende der postso­wje­tischen Zeit ausgerufen, meist
06 Vgl. Chris Hann (Hrsg.), Postsocialism. Ideals, Ideologies and
Practices in Eurasia, London 2002.
07 Vgl. Ulrike Huhn, Glaube und Eigensinn. Volksfrömmigkeit           09 Im Sinne einer nicht ethnisch-russischen, sondern staatsbür-
zwischen orthodoxer Kirche und so­wje­tischem Staat, 1941–1960,       gerlich-russländisch definierten Identität. Entsprechend ist „Russ-
Wiesbaden 2014; Eren Tasar, Muslim and Soviet. The Institutio-        ländische Föderation“ der korrekte Name für das multiethnische
nalization of Islam in Central Asia, 1943–1991, New York 2017.        Russland.
08 Vgl. Jarret Zigon, Aleksandra Vladimirovna. Moral Nar-             10 Vgl. Caroline Humphrey, Marx Went Away, But Karl Stayed
ratives of a Russian Orthodox Woman, in: Mark Steinberg/              Behind. Updated Edition of The Karl Marx Collective. Economy,
Catherine Wanner (Hrsg.), Religion, Morality, and Community in        Society, and Religion in a Siberian Collective Farm, Ann Arbor
Post-Soviet Societies, Bloomington 2008, S. 85–114.                   1998, insb. S. VII-XIX.

                                                                                                                                      05
APuZ 16/2021

in Zusammenhang mit den Versuchen Russlands,                       der postso­wje­tischen Ära endlich zum Durch-
sich als geopolitischer Hegemon zu reetablieren,                   bruch verholfen werden, hatte die Vorannah-
und einer Abkehr von einer Reformpolitik im                        me gelautet. Solche Vorannahmen schwingen
postsowjetischen Raum, die auf eine Demokra-                       dann auch in der Feststellung mit, dass mit dem
tisierung im westlichen Sinne ausgerichtet war.11                  Ende der 1990er Jahre viele Staaten im postso­
Das Chaos der 1990er Jahre befeuerte nicht nur                     wje­tischen Raum von diesem „richtigen“ Weg
eine Sehnsucht nach sozialer Absicherung und                       immer mehr abwichen. Die kritische Berichter-
politischer Stabilität, die die Bevölkerung in der                 stattung zur zunehmend autoritär und auf eine
späten So­  wjet­
                union als Normalität kennenge-                     Führungsfigur fokussierte Politik in diesen Staa-
lernt hatten. Dieses Chaos diskreditierte auch die                 ten, Menschenrechtsverletzungen, Korruption
Demokratie, die für die Mehrheit der Bevölke-                      und ökonomischer Raubbau an Gesellschaft
rung in der Russländischen Föderation nun nicht                    und Umwelt sowie die Verweise auf Russlands
mehr mit ihren großen Versprechen, sondern mit                     Großmachtambitionen enthielten immer eine
permanenter Instabilität assoziiert war. Orien-                    doppelte Referenz, die nun stärker sichtbar wur-
tierung brachten neue Zeithorizonte in Gestalt                     de: Sie setzte die liberale westliche Demokratie
einer affirmativen Einordnung der so­wje­tischen                   und die von ihr propagierten Werte als universa-
Geschichte in eine längere Kontinuität russischer                  len Referenzrahmen, für den Staaten im postso­
imperialer Größe, die es schon in den 1990er Jah-                  wje­tischen Raum mit ihrer Abweichung von
ren gab, aber durch Putin und russische Intellek-                  dieser Ordnungsvorstellung wieder als Kon-
tuelle nun verstärkt referenziert wurde.12 Doch                    trast, als das „Andere“ dienten. Dieses „Ande-
diese positiven Bezugnahmen auf die Sowjet­zeit                    re“ wurde als Bedrohung gelesen, nicht zuletzt
und das Zarenreich waren mehr als eine Erwei-                      aufgrund der geopolitischen Konsequenzen rus-
terung des Betrachtungszeitraumes. Russland                        sischer Großmachtambitionen. Deren Verunsi-
stellte sich damit in eine längere politische Tradi-               cherungspotenzial wird ausgeglichen durch eine
tion, in der Sicherheit und Stärke großgeschrie-                   umso bestimmtere Beharrung auf dem „eige-
ben wurden, die brutale Modernisierungspolitik                     nen“ Modell, der eigenen Identität. Der Begriff
des Stalinismus und der Sieg im Zweiten Welt-                      des Postso­wje­tischen markiert somit nicht ein-
krieg nicht in Bezug auf ihre Kosten und Opfer                     fach einen Zeitabschnitt, sondern verweist auch
reflektiert, sondern die Heroisierung der Opfer-                   auf die jeweilige politische Position und dahin-
bereitschaft der Bevölkerung politisch instru-                     terstehende Identitätskonstruktionen.
mentalisiert wurden. Eben diese Interpretation
der Rolle Russlands und der So­wjet­union, die                            DIE TRADITION DES „ANDEREN“
sich wie jede Traditionsbildung selektiv der Ver-                              ALS RESONANZRAUM
gangenheit bedient,13 ist im Westen traditionell                            DES (POST-)SO­WJE­T ISCHEN
negativ besetzt.
    Spätestens hier entpuppt sich das Postso­                      Hierfür lieferte eine Tradition Bilder und Zu-
wje­tische als ein politischer und, wie das So­wje­                schreibungen, die nicht erst in der Zeit des Kal-
tische, ein politisierter Begriff. Während er in                   ten Krieges Verbreitung gefunden hatten. Als
Russland mit Chaos assoziiert blieb, implizier-                    Beispiel können Karikaturen dienen, die im Wes-
te er im Westen den Abschied vom Staatssozi-                       ten die russische Politik kommentierten und zu-
alismus als einer „anderen“ Ordnung. In dieser                     gleich positionierten. So wurde Putin im Kontext
Perspektive waren Russland und andere ehema-                       der russischen Invasion in Georgien 2008 als Kra-
lige Sowjetrepubliken nach 1991 auf dem „rich-                     ke dargestellt, der nicht nur den Kaukasus, son-
tigen“ Weg. Demokratie und Recht sollte in                         dern auch das Baltikum, die Ukraine und Bela-
                                                                   rus in den Würgegriff nahm. Einen Oktopus mit
11 Vgl. Kevin M. F. Platt, The Post-Soviet Is Over. On Reading     Putins Kopf zierte auch die Titelseite einer Aus-
the Ruins, in: Republics of Letters 1/2009, https://arcade.stan-   gabe des „Economist“ zur russischen Einfluss-
ford.edu/rofl/post-​soviet-​over-​reading-​ruins.                  nahme auf den US-Präsidentschaftswahlkampf
12 Vgl. Isabelle de Keghel, Die Staatssymbolik des neuen Russ-
                                                                   2016.14 Diese Karikaturen zitierten Darstellungen
land. Traditionen – Integrationsstrategien – Identitätsdiskurse,
Münster 2008.
13 Vgl. Eric Hobsbawn/Terence Ranger, The Invention of Tradi-      14 Siehe The Economist, 22. 2. 2018, www.economist.com/
tion, Cambridge 1992.                                              weeklyedition/​2018-​02-​24.

06
Sowjetunion APuZ

Stalins in den 1930er Jahren, die die Angst vor ei-                diente als aufregender Kontrast für das Selbstbild
nem Sieg des Kommunismus nicht nur im Spa-                         westlicher Autoren und LeserInnen.
nischen Bürgerkrieg versinnbildlichten, oder eine                        Nach 1917 fungierte dann die So­wjet­union
Europakarte von 1877, die Russlands Agieren in                     als Projektionsfläche unterschiedlichster politi-
der Balkankrise ebenfalls mit einer Krakenallego-                  scher Bewegungen und den Zyklen ihrer Iden-
rie kommentierte.15 Weitere Kriege und Krisen                      titätskonstruktionen: Intellektuelle aus Asien
produzierten Varianten dieser entmenschlichten                     und Afrika sahen sich in ihrem Kampf gegen
Darstellung Russlands sowie der So­wjet­union –                    die westliche Kolonialpolitik durch die Unter-
wie Russland als Bär oder Wolf, das auf Euro-                      stützung der in Moskau ansässigen Kommunis-
pakarten den als Menschen dargestellten west-                      tischen Internationale (Komintern) bestärkt.18
und südeuropäischen Ländern die Zähne zeigt,                         Der Einfluss der Komintern auf Kommunisti-
oder Stalin, der als sich gen Westen vorarbeiten-                    sche Parteien weltweit produzierte wiederum
des menschenfressendes Monster auf Landkarten                        Bedrohungsszenarien eines langen Armes Mos-
des Kalten Krieges präsentiert wird. Diese Bilder                    kaus im Westen, obwohl die Sowjetführung sehr
illustrieren so sehr die Kritik an russischer be-                    bald das Projekt der Weltrevolution ans Ende ih-
ziehungsweise so­wje­tischer Politik, wie sie das                    rer politischen Prioritätenliste gesetzt hatte und
Selbstbild des Westens untermauern: die Imagina-                     die Komintern selbst von der Radikalisierung
tion Russlands beziehungsweise der So­wjet­union                     der Arbeiterschaft infolge der Weltwirtschafts-
als unberechenbares, „unvernünftiges“, „barba-                       krise kaum profitieren konnte. Während die Na-
risches“ Tier bestätigt das Bild einer zivilisatori-                 tionalsozialisten ihre Rassen- und Expansions-
schen Überlegenheit des aufgeklärten Westens.                        politik unter anderem mit dem Bild von Slawen
    Identitätskonstruktion mittels Abgrenzung                        als unzivilisierten „Untermenschen“ legitimier-
zum „Anderen“ ist kein Alleinstellungsmerk-                          ten, fuhren westeuropäische Intellektuelle selbst
mal des westlichen Russlanddiskurses. Das antike                     zu Hochzeiten des stalinistischen Terrors nach
Rom wie die italienische Renaissance produzier-                      Moskau auf der Suche nach einer politischen Al-
ten ähnliche Bilder von den „Barbaren“ nördlich                      ternative zum europäischen Faschismus.19 Die
der Alpen. Der Historiker Larry Wolff hat un-                      Studentenbewegungen von 1968 waren wiede-
tersucht, wie sich diese Nord-Süd-Polarisierung                    rum eklektisch in ihrer Auswahl sozialistischer
der (Un-)Zivilisiertheit mit der französischen                     Lehren – neben Lenin wurden Mao und Trotzki
Aufklärung in einen Ost-West-Gegensatz ver-                        studiert, um die Kritik an den Missständen der
lagerte, mit dem die Beschreibung von Dunkel-                      westlichen Industriegesellschaften auf eine theo-
heit und Barbarei im „Osten“ die neue Ära der                      retische Grundlage zu stellen.20 Zugleich fanden
westlichen Vernunft in ein umso helleres Licht                     Berichte über die Verbrechen des Stalinismus im
tauchte.16 Beliebte „Reiseberichte“ des 18. Jahr-                  Westen eine breite Resonanz. So befeuerte etwa
hunderts etwa von Giacomo Casanova oder des                        die Publikation von Alexander S       ­olschenizyns
Lügenbarons Münchhausen exotisierten dieses                        ­„Archipel Gulag“ 1974 nicht nur die Legitimi-
Bild des Russischen Reiches mit Beschreibun-                         tätskrise der Sozialistischen Parteien in Frank-
gen eines vermeintlich ungebändigten Sexualtrie-                     reich und diente rechtsnationalen Kreisen in
bes oder Schilderungen von Banketten, bei denen                      der Bundesrepublik zur Relativierung der nati-
echte Bären die Speisen auftrugen.17 Dieses wenig                    onalsozialistischen Verbrechen.21 Ein Exemplar
an Realitäten vor Ort interessierte Bild Russlands                   des Buches durfte zugleich in keinem Haushalt
                                                                    ­fehlen, der etwas auf sich hielt.

15 Vgl. How Communism Works. Keep This Pamphlet Mo-
ving (1938), in: Frank Jacobs, Cartography’s Favourite Map         18 Vgl. Elisabeth McGuire, Red at Heart. How Chinese Com-
Monster. The Land Octopus, 5. 7. 2011, https://bigthink.com/       munists Fell in Love with the Russian Revolution, Oxford 2017.
strange-​maps/​521-​cartographys-​favourite-​map-​monster-​the-​   19 Vgl. Karl Schlögel, Terror und Traum. Moskau 1937,
land-​octopus; Serio-Comic War Map For the Year 1877, www.         München 2008; Katerina Clarke, Moscow. The Fourth Rome,
landkartenarchiv.de/satire.php?​q=​rose_revised_edition_se-        Cambridge 2011.
rio_comic_war_map_for_the_year_​1877.                              20 Vgl. Gerd Koenen, Das Rote Jahrzehnt. Unsere kleine deut-
16 Vgl. Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of          sche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001.
Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994.      21 Dazu führten etwa rechtsnationale Publikationen wie die
17 Vgl. ebd.; Rudolph Erich Raspe, The Travels and Surprising      „Deutsche National-Zeitung“ in den 1970er Jahren die Schriften
Adventures of Baron Munchhausen, New York 1888 [1785].             Alexander Solschenizyns und Lew Kopelews ins Feld.

                                                                                                                               07
APuZ 16/2021

    Die zyklische Reproduktion solcher iden-                    oft genauso schwer voneinander zu trennen wie
titätsrelevanten Bilder und Bezugnahmen auf                     Tradition von dem, was man als das (post)so­wje­
Russland und die So­wjet­union bilden den Re-                   tische Erbe bezeichnen könnte. „Erbe“ ist das
sonanzraum, in dem wir die Attribute „so­wje­                   spezifische Reservoir an Ereignissen, Erfahrun-
tisch“ und „postso­wje­tisch“ im politischen Sin-               gen und Erinnerungen, die Gesellschaften in ih-
ne weiterhin verwenden. Sie kommen besonders                    ren Wahrnehmungen, Emotionen, Reflexen und
in Krisen zum Zuge, wie etwa während der völ-                   Verhaltensmustern nachhaltig prägen. Es bildet
kerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014.                       die Grundlage für „Tradition“ als selektive Be-
Jenseits des Mobilisierungseffektes innerhalb der               zugnahme auf die Vergangenheit, geht über sie
russischen Gesellschaft schufen sie auch Klar-                  jedoch hinaus und umfasst damit auch das, was
heit und Einheit im „Westen“. Dieser war sich                   man sich nicht aussuchen kann.
zu dem Zeitpunkt unschlüssig über seine Rolle                       Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg
im eskalierenden Bürgerkrieg in Syrien, und die                 im postso­wje­tischen Raum ist ein Beispiel für
EU rieb sich im Streit über den Euro-Rettungs-                  die erfolgreiche Mobilisierung dieses Erbes für
schirm und die Staatsschuldenkrise in Griechen-                 eine fortgesetzte Traditionsbildung. Während
land auf.                                                       im Westen die Bedrohungsszenarien des Kalten
    In diesem Resonanzraum verschwimmt die                      Krieges den entscheidenden Beitrag der So­wjet­
Definitionsschärfe des So­wje­tischen und Postso­               union zum Sieg über das „Dritte Reich“ aus dem
wje­tischen genauso wie in der Identitätspolitik                Bewusstsein verdrängten, bildet der „Sieg über
des Kremls.22 Letzterer vermag Kontinuität und                  den Faschismus“ beziehungsweise der „Große
Bruch mitunter meisterlich zusammenzubringen                    Vaterländische Krieg“ den emotionalen Schlüssel
und in politisches Kapital umzuwandeln, etwa                    für eine positive Identifikation mit der So­wjet­
wenn Putin verkündet: „Wer die So­wjet­union                    union vor wie nach 1991. Bezeichnenderwei-
nicht vermisst, hat kein Herz, wer sie sich zu-                 se wurde der Krieg zu einer Identitätsressource
rückwünscht, hat keinen Verstand.“23 Dieser viel                auch für Gruppen, die vor und nach 1945 unter
zitierte Ausspruch unterstreicht, dass das So­wje­              staatlicher Unterdrückung und gesellschaftlicher
tische zählt, obwohl die So­wjet­union nicht mehr               Exklusion gelitten hatten, noch bevor der Staat
existiert und ihr Ende anerkannt wird. Jenseits                 überhaupt begann, Kriegserinnerung zu instru-
einer bewussten Traditionsbildung wird hier                     mentalisieren.24 Dass sich bis heute nachgebore-
aber auch jenseits des Politischen ein Erbe adres-              ne Generationen mit diesem Sieg identifizieren,
siert, das bis heute fortwirkt. Bezeichnenderwei-               wird zwar staatlich befeuert durch den geschick-
se haben sich dann auch Vorschläge für Nach-                    ten Einsatz unter anderem von so­     wje­tischen
folgeattribute für das (Post-)So­  wje­tische nicht             Kriegsliedern bei Popkonzerten am Tag des Sie-
wirklich etabliert, um den Einfluss der Lebens-                 ges (9. Mai) oder von Gedenkmärschen etwa im
zeit und -erfahrung der heute in der Russländi-                 sibirischen Novosibirsk, dem tatarischen Kasan,
schen Föderation Lebenden auf den Punkt zu                      im kirgisischen Bischkek oder dem Treptower
bringen.                                                        Park in Berlin, bei denen die TeilnehmerInnen
                                                                Plakate mit dem Bild von Familienmitgliedern
            DAS (POST-)SO­WJE­T ISCHE                           tragen, die am Zweiten Weltkrieg teilgenom-
                   ALS ERBE                                     men hatten.25 Letztere waren jedoch ursprüng-
                                                                lich eine Graswurzelinitiative, deren Erfolg und
Somit bedienen wir uns dieser Attribute weiter-                 Übernahme durch den russischen Staat letztlich
hin, zumal sie auch jenseits vermeintlich klarer                auf die übergenerationelle emotionale Bindung
politischer Implikationen auch diffusere soziale                an das Thema Kriegsteilnahme zurückgeht. Und
und kulturelle Konstellationen immer noch am                    während die recht breite Definition von Kriegs-
besten umreißen. Dabei sind Politik und Kultur
                                                                24 Vgl. Amir Weiner, Making Sense of War. The Second World
                                                                War and the Fate of the Bolshevik Revolution, Princeton 2001;
22 Vgl. dazu auch Jutta Scherrer, Russland verstehen? Das       Harriet Murav/Gennadyi Estraikh (Hrsg.), Soviet Jews in World
postso­wje­tische Selbstverständnis im Wandel, 11. 11. 2014,    War II. Fighting, Witnessing, Remembering, Boston 2014.
www.bpb.de/194818.                                              25 Vgl. dazu Beiträge in Mischa Gabowitsch/Cordula Gda-
23 Putin – Kto ne zhaleet ot razpade SSSR, u togo ne serdtsa,   niec/Ekaterina Makhotina (Hrsg.), Kriegsgedenken als Event. Der
in: Argumenty i fakty, 16. 12. 2010.                            9. Mai 2015 im postsozialistischen Europa, Paderborn 2017.

08
Sowjetunion APuZ

teilnahme in diesen staatlich geförderten Mär-                  tischen Elementen, das Humphrey in den 1990er
schen eine neue postso­wje­tische Tradition dar-                Jahren in Burjatien beobachtete, bis heute fort.
stellt, gehört zum Erbe der So­wjet­union, dass                 Referenzen auf offiziell propagierte Ideale und
sich Familien auch daran erinnern, dass in Ge-                  so­wje­tische Filmklassiker tauchen bis heute in
fangenschaft geratene oder unter deutscher Be-                  Alltagskonversationen auf und markieren die
satzung zwangsrekrutierte SowjetbürgerInnen                     Sprechenden als Teil derselben Gemeinschaft.
als vermeintliche VaterlandsverräterInnen im                    Auch wenn Lenin mittlerweile eher selten zi-
Gulag landeten.26 Auch Invaliden konnten kaum                   tiert wird, prägen vor 1991 erlernte Sprech- und
mit staatlicher Hilfe rechnen.27                                Sichtweisen weiterhin die Verhandlung von Zu-
    Ähnlich emotional, aber bislang weniger Teil                gehörigkeit, auch im Konflikt. So erntete etwa
einer ausgesprochenen Tradition, sind die Erin-                 Alexey Navalny 2017 Spott, als er in einem
nerungen an den Systemwechsel und die Erfah-                    Fernsehinterview behauptete, Usbeken würden
rung von Chaos der 1990er Jahre. Das Trauma                     Alexander Puschkin nicht kennen, worauf zahl-
klingt an etwa in den Apellen von Eltern und                    reiche UsbekInnen mit Rezitationen des Dich-
LehrerInnen an Kinder und Jugendliche, sich                     ters in den sozialen Medien reagierten.28 Was wie
nicht an regimekritischen Demonstrationen zu                    ein kleines Detail in einem Konflikt um die Rei-
beteiligen. Die in Ton und Körpersprache ent-                   sefreiheit von postso­wje­tischen Arbeitsmigran-
haltene Angst vor einer Destabilisierung sowie                  tInnen erscheinen mag, hat im postso­wje­tischen
einer Wiederkehr von Gewalt unterlegt die mit                   Raum umso mehr Bedeutung. Denn beide Sei-
Handykameras festgehaltenen Mahnungen ein-                      ten validierten lange nach dem Zerfall der So­
drücklich. Ähnliche Effekte sind in der Ableh-                  wjet­union einen fest verankerten Maßstab für
nung etwa des Euromaidans in Russland und                       die Zugehörigkeit zu einer kultivierten Sowjet-
dem trotz kremlkritischer Proteste bislang mehr-                gemeinschaft, den aber alle unabhängig von ih-
heitlich auf Stabilität zielenden Wahlverhalten zu              rer ethnischen Herkunft erfüllen konnten. Hier
sehen – beide spiegeln die negative Erfahrung                   fällt Politik mit Alltag in einer sehr spezifischen
mit den politischen Umbrüchen der Transfor-                     Art und Weise zusammen, für die wir bei aller
mationszeit in Russland, die sich dann auch die                 Situativität und Ambivalenz um das Attribut des
Berichterstattung der staatlichen Medien zunut-                 (Post-)So­wje­tischen nicht herumkommen.
ze macht.28
    Vor diesem Hintergrund erscheint die so­wje­
tische Vergangenheit umso attraktiver. Die Er-
innerungen an eine im Krieg gewonnene, auf
Völkerfreundschaft und Solidarität gebaute Ge-
meinschaft und Stabilität überdecken die Erfah-
rungen etwa von ethnischer Diskriminierung
und abnehmender sozialer Mobilität in der spä-
ten So­wjet­union. Obwohl widersprüchlich, zäh-
len alle diese Elemente zu den Realitäten einer
(post)so­wje­tischen Gesellschaft, deren Hete-
rogenität die Sozial- und Kulturwissenschaften
weiterhin beschäftigt. Immerhin schreibt sich
das Amalgam aus so­wje­tischen und postso­wje­

26 Vgl. Ekaterina Makhotina, Der Krieg der Toten und der
Krieg der Lebenden. Russlands Familien haben ein tieferes
Wissen über „1945“, als dem Kreml lieb sein kann, 9. 5. 2019,
www.nzz.ch/ld.1479685.                                          MAIKE LEHMANN
27 Vgl. Beate Fieseler, Die Invaliden des „Großen Vaterländi-   ist promovierte Historikerin und forscht zu
schen Krieges“, in: Osteuropa 4–6/2005, S. 207–218.
                                                                Osteuropa, insbesondere zur So­wjet­union. Ihr
28 Vgl. Russian Opposition Leader Aleksei Navalny Is Facing a
Social-Media Backlash After Making a Controversial Comment
                                                                aktueller Schwerpunkt liegt auf der Geschichte des
About Uzbeks, 16. 6. 2017, www.rferl.org/a/navalny-​uzbeks/​    Austausches so­wje­tischer Intellektueller mit dem
28559046.html.                                                  Westen.

                                                                                                                09
APuZ 16/2021

                     SO­WJET­U NION GLOBAL
                 Exportmodell – Drehscheibe – Aggressor
                                           Julia Obertreis

Bereits das Zustandekommen und die frühe Exis-        wirkungen und trugen etwa in den USA 1919 zu
tenz der So­ wjet­union lösten gewaltige globale      einer rassistischen Gewaltentladung bei oder in
Druckwellen aus. Als erster sozialistischer Staat     Deutschland zu einem hohen Maß an Brutalität
der Welt, Revolutionsträger sowie ideologischer       beim Vorgehen von Freikorps gegen An­hän­ger*­
Wegweiser machte der junge Sowjetstaat in den         innen der Münchner Räterepublik.01 Auch in Ar-
1920er und 1930er Jahren von sich reden, als Ex-      gentinien bezogen sich Anfang 1919 gewalttätige
portmodell für Planung, Entwicklung und Kul-          Konflikte zwischen Streikenden und konterrevo-
tur. Vor allem nach 1953, mit dem Sieg im Zwei-       lutionären Freikorps auf die Bolschewiki, und die
ten Weltkrieg im Rücken und nach Stalins Tod,         meist aus Russland eingewanderten Jüdinnen und
war die So­wjet­union nicht nur zunehmend global      Juden wurden Opfer von Attacken, da man sie als
vernetzt, sondern auch in vielen Teilen der Welt      „Russen“ mit „Kommunisten“ gleichsetzte.02 In
engagiert und muss als „Supermacht“ im Kalten         Japan sorgte die Kunde von der Revolution über
Krieg sowie als internationaler Player ersten Ran-    die 1920er Jahre hinweg zu einer zunehmend
ges gelten. Im Folgenden werden einige Schlag-        rücksichtslosen Unterdrückung der gesamten
lichter auf die globalhistorische Dimension der       linken Opposition sowie zu einer Ausdifferen-
Geschichte der So­wjet­union geworfen. Dabei ist      zierung der politischen Strömungen und Zu-
zu berücksichtigen, dass an der Schnittstelle der     kunftsentwürfe im rechten Spektrum, von natio-
beiden Teildisziplinen Osteuropäische Geschich-       nal-liberal über monarchistisch bis ­faschistisch.03
te und Globalgeschichte erst seit etwa zehn Jah-          Die negative Rezeption der Oktoberrevolu-
ren intensiver geforscht wird. Bisher wurden zum      tion wurde vielfach durch den antisemitischen
Teil Forschungsperspektiven auf etablierte The-       Topos der „jüdischen Verschwörung“ bezie-
men wie den Kalten Krieg weiterentwickelt, zum        hungsweise der „Judäo-Kommune“ angereichert.
Teil aber auch neue inhaltliche Akzente gesetzt,      Zurückgehend auf die Beteiligung von Revoluti-
darunter die vielfältigen Verbindungen der Ge-        onären aus jüdischen Familien in Russland, die al-
schichte des östlichen Europas zum global wirk-       lerdings in aller Regel kaum Verbindung zur Re-
samen Prozess der Dekolonisation.                     ligion hatten und gesamtrussisch geprägt waren,
                                                      zeichneten Revolutionsgegner eine hässliche Frat-
        DIE REVOLUTION VON 1917 –                     ze des hakennasigen Juden, der die Revolution an-
          FURCHT UND HOFFNUNG                         geleitet habe und nach der Weltherrschaft strebe.
               IN DER WELT                            In der entsprechenden Bildpropaganda wurden
                                                      jüdische und kommunistische Symbole oft mitei-
Die Oktoberrevolution von 1917 wurde inter-           nander kombiniert. Die „Judäo-Kommune“ wur-
national umgehend und entgegengesetzt inter-          de in Polen zuvorderst durch den polnisch-so­
pretiert: als Schreckgespenst wie als Fanal für die   wje­tischen Krieg von 1920 eine feste Größe im
Weltrevolution. Für die Konservativen und Rech-       politisch-ideologischen Haushalt der Rechten und
ten in vielen Ländern war sie ein Horrorszenario      prägte das polnische Nationsverständnis über das
und eine unmittelbare Bedrohung, ähnlich wie es       20. Jahrhundert hinweg.04 Und in Deutschland
die Französische Revolution in ihrer Zeit gewe-       transportierten die Publikationen des Deutschbal-
sen war. Die Abwehrhaltungen und -kämpfe, die         ten Alfred Rosenberg das Amalgam von Antibol-
sich aus der großen Furcht vor der kommunis-          schewismus und Antisemitismus in das Weltbild
tischen Revolution, der „roten Gefahr“ oder red       Adolf Hitlers und die nationalsozialistische Pro-
scare, speisten, hatten früh sehr handfeste Aus-      paganda – mit weitreichenden ­Folgen.05

10
Sowjetunion APuZ

    Auf der anderen Seite löste die Oktober-                         satz der „gelebte Internationalismus“, den die
revolution riesige Hoffnungen auf Befreiung,                         Agent*­innen in der Komintern erfuhren.08 Die
mehr Selbstbestimmung und einen „Revoluti-                           politischen Erfolge der Organisation, die nach
onenbrand“ aus, nicht nur in Europa. In vielen                       der anfänglichen Hoffnung auf die Weltrevoluti-
Ländern sahen Linke sich in der Hoffnung auf                         on während der 1920er und 1930er Jahre immer
Revolution im eigenen Land und auf die „Weltre-                      mehr zu einem Machtinstrument Moskaus im
volution“ bestärkt. In Deutschland hielt sich diese                  Kontext des Stalinismus wurde, sind differenziert
Hoffnung über die gescheiterte Novemberrevolu-                       zu beurteilen und insgesamt eher gering. In Japan
tion von 1918 hinaus. Hier kam es noch 1923 zu                       etwa war die Kommunistische Partei zunächst
dem erfolglosen Versuch, eine „deutsche Okto-                        unabhängiger von der Komintern als oft darge-
berrevolution“ zu vollbringen. Eine Kommission                       stellt und erst seit 1928 wegen japanisch-chinesi-
mit dem Journalisten und Politiker Karl Radek,                       scher Zusammenstöße und der wachsenden Ag-
der vor dem Ersten Weltkrieg auch in Deutsch-                        gressivität des japanischen Imperialismus nach
land aktiv gewesen war, wurde vom Moskauer                           außen auf Moskauer Linie.09
Zentralkomitee nach Deutschland entsandt, um                             Nicht nur die sozialistisch-kommunistische
in der KPD auf die Revolution hinzuwirken, die                       Revolution, sondern auch die zentrale Planwirt-
dann an der mangelnden Militanz der deutschen                        schaft erwies sich als attraktives Exportmodell:
Ar­beit­er*­innen12345 scheiterte.06                                 Nach der Phase der so­wje­tischen „Neuen Öko-
    Das Ziel der proletarischen Weltrevolution                       nomischen Politik“ in den 1920er Jahren, mit de-
verfolgte auch die Kommunistische Internationa-                      nen die Bolschewiki in der Selbstwahrnehmung
le (Komintern), die von Lenin als Dritte Interna-                    vieler, vor allem junger Parteimitglieder die re-
tionale gegründet wurde und zwischen 1919 und                        volutionäre Linie verlassen mussten, führte Sta-
1943 bestand. Als „Reisende der Weltrevolution“                      lin 1928/29 den Ersten Fünfjahresplan ein. Die
waren Kom­mun­ist*­innen verschiedenster Natio-                      Fünfjahrespläne (und ein Siebenjahresplan) eta-
nalität und Herkunft unter großem persönlichen                       blierten sich fortan durchgängig als periodisie-
Risiko im Einsatz, um weltweite Fäden zu spin-                       rende Planungspraxis, und Planung wurde in der
nen.07 Neben der politischen Überzeugung war,                        So­wjet­union ein „rationality ritual“,10 das der
so Brigitte Studer, die Motivation für den Ein-                      Herrschaftslegitimierung diente. Auch interna-
                                                                     tional wurden so­wje­tische ökonomische Model-
01 Zu den USA vgl. Helke Rausch, Red Scare. Bodenwellen der
                                                                     le und das zentralistische Planen in den 1920er
russischen Oktoberrevolution in den USA 1918/19, in: Jahrbuch für    und 1930er Jahren einflussreich. Der Vorsitzen-
Historische Kommunismusforschung 2017, S. 131–148. Zur Münch-        de des Indischen Nationalkongresses und spätere
ner Räterepublik vgl. Jörg Ganzenmüller, Zwischen weltrevolutio-     erste Ministerpräsident Indiens Jawaharlal Nehru
nären Hoffnungen und antibolschewistischen Abwehrreaktionen.
                                                                     schrieb 1933: „Everybody talks of ‚planning‘
Europäische und globale Resonanzen auf die Oktoberrevolution,
in: ders. (Hrsg.), Verheißung und Bedrohung. Die Oktoberrevoluti-
                                                                     now, and of Five-Year and Ten-Year and Three-
on als globales Ereignis, Köln 2019, S. 9–24, hier S. 16.            Year plans. The Soviets have put magic into the
02 Vgl. María Inés Tato, Global Moments, Local Impacts. Ar-          word.“11 Auch in den USA hatten unter so­wje­
gentina at the Critical Juncture of 1917, in: Stefan Rinke/Michael   tischem Einfluss und angesichts der Großen De-
Wildt (Hrsg.), Revolutions and Counter-Revolutions. 1917 and Its
                                                                     pression Planungen mit starkem Staat Hochkon-
Aftermath from a Global Perspective, Frank­furt/M.–New York
2017, S. 219–234.
                                                                     junktur. Die raschen ökonomischen Fortschritte
03 Vgl. Tatiana Linkhoeva, Revolution Goes East. Imperial            Russlands wurden anerkannt, und der Planungs-
Japan and Soviet Communism, Ithaca 2020, S. 100–123.                 kult ließ Technokraten mit Neid Richtung So­
04 Vgl. Agnieszka Pufelska, Die „Judäo-Kommune“ – ein Feind-         wjet­union blicken. In den 1930er Jahren „wur-
bild in Polen. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des
Antisemitismus 1939–1948, Paderborn 2007.
05 Vgl. Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe,         08 Ebd., S. 537.
München 2005, S. 55–75. Siehe auch Karsten Brüggemann,               09 Vgl. Linkhoeva (Anm. 3), S. 160, S. 184.
Migranten aus dem Baltikum als Katalysatoren des Antibolsche-        10 Vgl. Michael Ellman, The Rise and Fall of Socialist Planning,
wismus? Max Erwin von Scheubner-Richter und die Idee der             in: Saul Estrin/Grzegorz W. Kolodko/Milica Uvalic (Hrsg.), Tran-
„Weißen Internationale“, in: Ganzenmüller (Anm. 1), S. 101–126.      sition and Beyond. Essays in Honor of Mario Nuti, London 2007,
06 Vgl. Otto Wenzel/Manfred Wilke, 1923. Die gescheiterte            S. 17–34, hier S. 23.
Deutsche Oktoberrevolution, Münster 2003.                            11 Zit. nach Valeska Huber, Introduction. Global Histories of
07 Vgl. Brigitte Studer, Reisende der Weltrevolution. Eine Glo-      Social Planning, in: Journal of Contemporary History 1/2017,
balgeschichte der Kommunistischen Internationale, Berlin 2020.       S. 3–15, hier S. 3.

                                                                                                                                   11
APuZ 16/2021

den die Vereinigten Staaten mit einem Tumult der                  im Kosmos, das historiografisch bereits recht gut
wirtschaftlichen Planvorschläge konfrontiert“.12                  untersucht ist. Die großen so­wje­tischen Erfolge
Staatliche Planung hatte in unterschiedlichsten                   waren der Launch des ersten Sputnik 1957 und
politischen Systemen den Auftrag, ökonomische                     mit Juri Gagarin der erste bemannte Weltraum-
Entwicklung zu kanalisieren und weiteren Krisen                   flug im April 1961. Sie stellten eine riesige He-
vorzubeugen.                                                      rausforderung für die USA dar, und nachdem
                                                                  oft wohl etwas einseitig vom „Sputnik-Schock“
                 DER KALTE KRIEG –                                gesprochen worden ist, scheint es heute ange-
                  SPACE RACE UND                                  raten, eher die Mobilisierung zu betonen, die in
                 KONFETTIPARADEN                                  den USA als Reaktion auf die so­wje­tischen Er-
                                                                  folge einsetzte. Diese technologische Mobilma-
Nach dem unter unvorstellbaren Verlusten er-                      chung führte zur Mondlandung der Amerika-
kämpften Sieg im Zweiten Weltkrieg avancierte                     ner 1969. In den frühen 1960er Jahren aber war
die So­wjet­union zur Supermacht und zur großen                   die So­wjet­union klar im Vorteil, und ihre tech-
Gegenspielerin der USA. Der Ost-West-Gegen-                       nologischen, symbolträchtigen Großtaten führ-
satz ist lange und mit viel Berechtigung vor allem                ten in einen rasch entstehenden und umfassen-
als Geschichte von ideologisch-politischer und                    den Kosmoskult nicht nur in der So­wjet­union,
militärischer Gegner- und Feindschaft zwischen                    sondern im gesamten Ostblock und darüber hi-
den USA und der So­wjet­union erzählt worden.                     naus.15 Juri Gagarin und die erste Kosmonautin
Im Unterschied dazu haben neuere Forschungen                      Walentina Tereschkowa wurden als Held*­innen
die vielfältigen Kontakte zwischen Ost und West,                  mit Vorzeigebiografien inszeniert in einer Zeit, in
die gegenseitige Beobachtung und das Aufeinan-                    der die so­wje­tischen Revolutions- und Kriegshel-
der-Reagieren in den Vordergrund gestellt. Der                    den bereits etwas in die Jahre gekommen waren.
Kalte Krieg brachte nicht nur das Wettrüsten und                  Besonders Gagarin fungierte in der so­wje­tischen
die durchaus heißen „Stellvertreterkriege“ mit                    Propaganda als Verbindung zwischen verschiede-
sich, sondern auch Begegnungen, Kooperationen                     nen Bevölkerungsgruppen (darunter die Jugend
und gegenseitige Beeinflussung verschiedens-                      und das Militär) und wirksame Identifikations-
ter Akteursgruppen, darunter In­gen­ieur*­innen,                  folie. Die Beherrschung der Technologie durch
Küns­tler*­innen oder Wis­sen­schaft­ler*­innen.13                den so­wje­tischen Menschen und der Eintritt in
Von einer „geteilten Geschichte“ zu sprechen,                     die himmlischen Sphären ergaben zusammen ein
ist sehr passend, denn die Doppelbedeutung des                    attraktives Modell, das Elemente der vor- und
Begriffes im Deutschen verweist auf die wichti-                   frühso­wje­tischen Fliegerkulte integrierte.16
ge Trennlinie des Eisernen Vorhangs, aber auch                        Die so­wje­tischen Kosmonauten- und die US-
auf die gemeinsam erlebte und durchlebte Zeit­                    amerikanischen Astronautenkulte waren unmit-
geschichte.14                                                     telbar aufeinander bezogen. So ahmte etwa die
    Besonders deutlich wird die Verflochtenheit                   so­wje­tische Seite mit der Zusammenstellung ei-
der Geschichten von Ost und West am Beispiel                      ner Gruppe von Kosmonauten, die medial prä-
des space race, des Wettlaufs um die Vorherrschaft                sentiert wurde, die Inszenierung der amerikani-
                                                                  schen space boys nach. Hier wie dort entschied
12 Vgl. Steven G. Marks, „Im russischen Spiegelreich“: Wie
                                                                  man sich bei der Auswahl für Piloten, auch wenn
amerikanische Vorstellungen des Kapitalismus vom so­wje­tischen
Kommunismus geprägt wurden, in: Martin Aust (Hrsg.), Globa-       15 Vgl. James T. Andrews/Asif A. Siddiqi (Hrsg.), Into the
lisierung imperial und sozialistisch. Russland und die So­wjet­   Cosmos. Space Exploration and Soviet Culture, Pittsburgh 2011;
union in der Globalgeschichte 1851–1991, Frank­furt/M. 2013,      Eva Maurer (Hrsg.), Soviet Space Culture. Cosmic Enthusiasm in
S. 333–352, hier S. 338.                                          Socialist Societies, New York 2011.
13 Neben zahlreichen weiteren Titeln Sari Autio-Sarasmo/          16 Vgl. Julia Richers, Himmelssturm, Raumfahrt und „kosmische“
Katalin Miklóssy (Hrsg.), Winter Kept Us Warm. Cold War           Symbolik in der visuellen Kultur der So­wjet­union, in: Igor J. Po-
Interactions Reconsidered, Helsinki 2010; Simo Mikkonen/Jari      lianski (Hrsg.), Die Spur des Sputnik. Kulturhistorische Expedi-
Parkkinen/Giles Scott-Smith (Hrsg.), Entangled East and West.     tionen ins kosmische Zeitalter, Frank­furt/M. 2009, S. 181–209;
Cultural Diplomacy and Artistic Interaction During the Cold       Matthias Schwartz, Bote des Weltalls, Ikone des Fortschritts.
War, Berlin–Boston 2019.                                          Heroische und postheroische Figurationen des ersten Kosmonau-
14 Vgl. Shalini Randeira, Geteilte Geschichte und verwobene       ten Jurij Gagarin, in: Zaal Andronikashvili (Hrsg.), Kulturhe-
Moderne, in: Jörn Rüsen (Hrsg.), Zukunftsentwürfe. Ideen für      ros. Genealogien – Konstellationen – Praktiken, Berlin 2017,
eine Kultur der Veränderung, Frank­furt/M. 2000, S. 87–96.        S. 334–365.

12
Sowjetunion APuZ

die so­ wje­
           tischen unerfahrener und jünger wa-                     chelte unaufhörlich. Erste historiografische Pro-
ren.17 Nach ihrer Rückkehr aus dem All wurden                      bebohrungen in diese Reisen lassen vermuten,
sowohl für Gagarin als auch für John Glenn, der                    dass der Umgang mit neuen Medien und Medien-
als erster US-Amerikaner einen Weltraumflug ab-                    formaten (darunter das Fernsehen, private Foto-
solvierte, große Rückkehrfeiern in Moskau bezie-                   grafie) eine große Rolle in der Berichterstattung
hungsweise New York veranstaltet. Für beide gab                    und für ihre Wirkungsmacht spielte.20 Zu un-
es eine Konfettiparade.                                            tersuchen wäre bezüglich der Reisen auch, wel-
    Die in New York entstandene Feierform war                      che politischen Auswirkungen sie in den besuch-
bereits in den 1930er Jahren in die So­wjet­union                  ten Ländern hatten, etwa auf den Zulauf zu den
importiert worden, als die Rückkehrer der be-                      Kommunistischen ­Parteien.
rühmten Tscheljuskin-Expedition in die Bering-
straße damit geehrt wurden. 1961 in Moskau ver-                              OST-SÜD-VERBINDUNGEN –
wendete man nicht nur, wie bereits in den 1930er                                ANTIIMPERIALISMUS
Jahren, anstelle des in New York üblichen zerris-                               UND AFGHANISTAN
senen Zeitungspapiers Flugblätter mit Willkom-
mensgrüßen, man ließ auch Tauben aufsteigen,                       Neben der erweiterten Perspektive auf die Ost-
sodass sich der Feierraum in den Himmel hinein                     West-Beziehungen spürt man neuerdings ver-
erweiterte. Das Geschehen wurde live im Fernse-                    mehrt den vielfältigen, oft asymmetrischen Be-
hen übertragen, womit eine erfolgreiche Praxis des                 ziehungen zwischen dem östlichen Europa und
US-Fernsehens nachgeahmt wurde. Die so­       wje­                 dem Globalen Süden nach. Zu Recht ist der Ap-
tischen Medienmacher*innen toppten dabei aber                      pell laut geworden, die Geschichte des Ostblocks
die üblichen amerikanischen Kamerabilder aus                       und der sich dekolonisierenden Staaten nicht, wie
Hochhäusern durch Aufnahmen aus Hubschrau-                         bisher meist, als eine von parallelen Strängen zu
bern. Zudem war das Besondere des Medienereig-                     erzählen, sondern als eine mit verschlungenen
nisses die transnationale und systemübergreifen-                   Knotenpunkten.21
de Vernetzung, die den US-Ame­r­i­ka­ner*­innen in                     Nach Stalins Tod kam es zu einer Öffnung
dieser Zeit noch nicht gelang, da Eurovision und                   und einer deutlich aktiveren so­wje­tischen Aus-
Intervision erstmals bei einer Liveübertragung                     landstätigkeit in vielen Bereichen und in vie-
kooperierten. Es ging also bei den „wechselseitig                  le Richtungen einschließlich der „Länder Asiens
konkurrierenden Imitationen“, die an diesem Bei-                   und Afrikas“, wie sie in so­wje­tischer Rhetorik oft
spiel sehr deutlich werden, nicht nur um die Vor-                  hießen. Chru­  sch­
                                                                                     tschow gab die eurozentrische
herrschaft im Kosmos, sondern auch um die „Vor-                    Haltung Stalins auf und betrieb eine rege Reise-
herrschaft im Kommunikationsbereich durch                          diplomatie. Angesichts der Dekolonisation und
Funk, Satelliten und Kupferdraht“.18                               des antiimperialen Kampfes etwa in Südostasien
    Gagarin wurde von Moskau als Friedensbot-                      waren die so­wje­tischen Kommunisten sehr zu-
schafter entsandt und entfaltete eine enorme Rei-                  versichtlich, dass es zu einem weltweiten revolu-
setätigkeit. Er besuchte über 30 Länder, darun-                    tionären Prozess kommen und dass die aus der
ter auch eine Reihe von nicht-sozialistischen wie                  Kolonialherrschaft befreiten Länder sich auf so-
Großbritannien (hier kam es zu einem Treffen mit                   zialistische Entwicklungswege begeben würden.
der Queen), Japan und Indien.19 Er verkörperte                     Im gesamten Ostblock glaubte man an die Mög-
eine friedliche, sympathische und weltoffene Sei-                  lichkeit, in diesem großen Umwälzungsprozess
te der So­wjet­union und gab den Hoffnungen der
Menschen auf eine technologisch gestaltbare, bes-
                                                                   20 Unveröffentlichte Vorträge von Fabian Schäfer und Julia
sere Zukunft ein Gesicht – und dieses Gesicht lä-
                                                                   Obertreis im Rahmen der Ringvorlesung „Mondlandungen.
                                                                   Imaginations- und Rezeptionswelten“, organisiert von Sven
17 Vgl. Klaus Gestwa, „Kolumbus des Kosmos“. Der Kult um           Grampp, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg,
Jurij Gagarin, in: Osteuropa 10/2009, S. 121–151, hier S. 130 f.   Sommersemester 2019, www.fau.de/​​2019/​​04/news/veran-
18 Sven Grampp, Konfettiparaden in offener Limousine.              staltungen/ringvorlesung-​m ondlandungen-​imaginations-​u nd-​
Gagarin und Glenn kehren zurück aus dem Erdorbit. Zur Struk-       rezeptionswelten-​2 .
turierungsleistung wechselseitig konkurrierender Imitationen,      21 Vgl. James Mark/Quinn Slobodian, Eastern Europe in the
in: Sandra Rühr/Eva Wattolik (Hrsg.), Medien im Fest – Feste im    Global History of Decolonization, in: Martin Thomas/Andrew
Medium, Köln 2017, S. 19–47, hier S. 35.                           Thompson (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Ends of Empire,
19 Vgl. Andrea Rose (Hrsg.), Gagarin in Britain, London 2011.      Oxford 2018, S. 351–372, hier S. 352.

                                                                                                                              13
APuZ 16/2021

die Führung übernehmen zu können.22 Nüchter-                        von Technologien und Know-how, die Entsen-
ner betrachtet war die Dekolonisationswelle mit                     dung von Spezialisten, der Aufbau von Schulen
ihrem Schlüsseljahr 1960 eine große Herausfor-                      und Krankenhäusern sowie finanzielle Unter-
derung für die So­wjet­union und den Ostblock, da                   stützung sind zu nennen. Zu den Projekten in
nun deutlich wurde, dass es Modelle postimpe-                       Afrika, bei denen die So­wjet­union involviert war,
rialer beziehungsweise postkolonialer Ordnung                       gehörten die Rekonstruktion des Assuan-Stau-
gab, die nicht (explizit) sozialistisch waren.                      damms in Ägypten, ein Wasserkraftwerk in An-
    Die So­wjet­union war mit dem Globalen Sü-                      gola, die Unterstützung für die staatlich dirigierte
den vielfältig über Handelsbeziehungen und                          Landwirtschaft in Ghana oder eine Zementfabrik
Entwicklungshilfe verbunden. Oscar Sanchez-­                        in Mali. Der Bau von Kraftwerken und besonders
Sibony betont, dass die So­     wjet­union als neu-                 Wasserkraftwerken war ein Bereich der Zusam-
er Akteur auf diesem Feld vielfach auf bereits                      menarbeit, der sich dynamisch entwickelte und
existierende, durch die ehemaligen europäischen                     in dem die So­wjet­union sich international profi-
Kolonialmächte und westliche Staaten gepräg-                        lierte. Die aus Sicht der so­wje­tischen Wirtschaft
te Wirtschafts- und Abhängigkeitsstrukturen                         massiven Investitionen im Globalen Süden recht-
traf, die ihren Einfluss beschnitten. Die holz-                     fertigten sich weniger ökonomisch als vielmehr
schnittartigen und teils vorurteilsbeladenen An-                    durch die Aussicht auf anhaltenden oder steigen-
nahmen früherer Literatur über die Haltung der                      den politischen Einfluss; der oben angesproche-
Staaten beziehungsweise Eliten im Globalen Sü-                      ne Optimismus diesbezüglich schwand allerdings
den, etwa hinsichtlich eines bloßen Kopieren-                       auf so­wje­tischer Seite im Laufe der Zeit.27
Wollens westlicher oder so­    wje­ tischer Modelle,                    Während der Begriff „Dekolonisation“ im
sind durch neuere Forschung mit postkolonialem                      Ostblock gemeinhin als westlicher Begriff aufge-
Hintergrund infrage gestellt worden; das Bild,                      fasst und diskreditiert wurde und man hier eher
das wir erhalten, wird zusehends komplexer.23                       vom gemeinsamen antiimperialistischen Kampf
Angesichts der relativen Schwäche der sozialisti-                   mit den Ländern des Globalen Südens sprach,28
schen Wirtschaften im Vergleich zu den kapitalis-                   nahm die So­wjet­union an den intensiven inter-
tischen nahm im Ostblock allgemein der Export                       nationalen Debatten um Dekolonisation bezie-
von Waffen, Militär- und Geheimdiensttraining                       hungsweise die damit einhergehenden Heraus-
sowie Energieprodukten eine wichtige Stellung                       forderungen der Transformation von Wirtschaft,
ein.24 Dabei wirkten sich die Beziehungen der eu-                   Politik und Gesellschaft in den betroffenen Län-
ropäischen sozialistischen Staaten zum Globalen                     dern teil. Die Sowjetrepubliken Zentralasiens und
Süden vielfältig auf die Machtverhältnisse inner-                   des Kaukasus hatten ihre eigene koloniale Vergan-
halb des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe                    genheit, die zwar nominell mit der so­wje­tischen
(RGW) aus.25                                                        Herrschaft überwunden worden war, die aber
    Die So­wjet­union lockte mit günstigen Öllie-                   strukturell teils noch mit den gleichen Problemen
ferangeboten und betrieb mit zahlreichen Staaten                    zu kämpfen hatten wie die ehemaligen Koloni-
den direkten Austausch von Rohstoffen, etwa mit                     en westlicher Mächte. Gleichzeitig wurden genau
Kuba gegen Zucker.26 Die so­wje­tischen Exporte                     diese Regionen, vor allem Zentralasien, im so­wje­
aber auf Öl und Gas sowie Waffen reduzieren zu                      tischen Kontext seit Jahrzehnten als Vorzeigeregi-
wollen, wäre zu kurz gegriffen. Auch der Transfer                   onen gesehen und als solche nach außen präsen-
                                                                    tiert. Sie hätten, so die offizielle Sichtweise und
22 Ebd., S. 355 f.                                                  Rhetorik, das koloniale Erbe überwunden, den
23 Vgl. Oscar Sanchez-Sibony, Red Globalization. The Political      Sprung in die Moderne vollzogen und zeigten die
Economy of the Soviet Cold War from Stalin to Khrushchev,
                                                                    Transformationskraft des Sozialismus deutlich.
Cambridge 2014, S. 127–131.
24 Vgl. Mark/Slobodian (Anm. 21), S. 358.
25 Vgl. Anna Calori et al., Alternative Globalization? Spaces       27 Neben einer wachsenden Zahl von Einzelstudien siehe als
of Economic Interaction Between the „Socialist Camp“ and the        grundlegenden Beitrag Odd Arne Westad, The Global Cold
„Global South“, in: dies. et al. (Hrsg.), Between East and South.   War. Third World Interventions and the Making of Our Times,
Spaces of Interaction in the Globalizing Economy of the Cold        Cambridge u. a. 2010; als Beitrag von Kolleg*­innen aus Russland
War, München–Wien 2019, S. 1–31, hier S. 5.                         Elena Kochetkova et al., Soviet Technological Projects and Tech-
26 Vgl. Douglas Rogers, Petrobarter, Oil, Inequality, and the       nological Aid in Africa and Cuba, 1960s–1980s, St. Petersburg
Political Imagination in and after the Cold War, in: Current        2017, hier insb. S. 7 ff., S. 16.
Anthropology 2/2014, S. 131–143.                                    28 Vgl. Mark/Slobodian (Anm. 21), S. 352.

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