Ausstellung / Begleitheft München 72 Trainingsplatz einer Demokratie

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Ausstellung / Begleitheft München 72 Trainingsplatz einer Demokratie
Ausstellung
/ Begleitheft

München 72
Trainingsplatz
einer Demokratie
Die Olympischen Spiele in München
und das Bild der jungen Bundesrepublik
Ausstellung / Begleitheft München 72 Trainingsplatz einer Demokratie
Ausstellung mit Rahmenprogramm
vom 15. März bis 26. April 2012
München Hauptbahnhof
Gleis 5 –11 im BayerForum
Ausstellung / Begleitheft München 72 Trainingsplatz einer Demokratie
Inhalt

    Seite    6   Einführung
                  Nemetschek Stiftung und Gesicht Zeigen!

    Seite   8    Die Kooperationspartner

    Seite   11   Ein Bild der Demokratie –
                  buchstäblich in Bildern
                  von Christopher Young

    Seite   20   Ausstellungshintergrund
                  von Petra Schlie

    Seite   20   Rasen betreten erwünscht –
                  Demokratie und Gestaltung
    Seite   30   Schreiten mit leeren Händen –
                  Rollenverteilungen
    Seite   37   Das Erbe der Berliner Spiele 1936
    Seite   42   Spiele im Kalten Krieg
    Seite   46   Politik und Spiele –
                  Jahre des Umbruchs
    Seite   52   The Games must go on
    Seite   59   Die Gegenwart – London 2012

    Seite   64   Team

    Seite   65   Dank / Impressum

    Seite   66   Bildnachweise

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Ausstellung / Begleitheft München 72 Trainingsplatz einer Demokratie
Einführung                                                            schen in München und in ganz Deutschland verankert ist.
                                                                      Weit über den Kreis der damaligen Akteure hinaus sind
Die Parallelen zwischen Sport und Gesellschaft sind oft               uns viele nachdenkliche, stimmungsvolle und interessan­
unübersehbar: Wie der Sport braucht auch eine Demo­                   te Geschichten begegnet. Wir haben versucht, diesen
kratie ein ständiges Training ihrer Bürger, um leben­dig              Geist in der Ausstellung und im Rahmenprogramm sicht­
und zukunftsfähig zu bleiben. Demokratie ist ebenso                   bar zu machen.
wenig selbstverständlich wie kontinuierlicher Erfolg im
Sport. Beides erfordert Engagement, Freude und Einsatz.               Weltoffenheit, Mut zur Freiheit und Vielfalt waren Ideale,
                                                                      die man leben wollte und die durch die Gestaltung der
Menschen für unsere Gesellschaft zu begeistern, um die­               Olympischen Spiele als »heitere Spiele im Grünen« gegen­-
se für die politischen und sozialen Herausforderungen in              über der Weltöffentlichkeit zum Ausdruck kommen soll­
einem freien und weltoffenen Deutschland und Europa                   ten. Die Lebendigkeit der Erinnerungen kann auch als
zu stärken, verbindet die Arbeit der Nemetschek Stiftung              Zeugnis dafür gesehen werden, dass diese Vision einer
mit der von Gesicht Zeigen!. Zivilgesellschaftliches Enga­            toleranten, weltoffenen, demokratischen Gemeinschaft
gement und die demokratischen Rahmenbedingungen                       jenseits der Inszenierung Wirklichkeit werden konn­te. Bis
sind zentrale Faktoren für ein gelingendes Zusammen­                  heute haben diese Motive für das aktiv zu gestaltende
leben. Wir möchten Menschen in Deutschland ermuti­-                   Gemeinsame nicht an Bedeutung verloren.
gen, sich für ein demokratisches Miteinander einzusetzen,
denn eine Gesellschaft in ständiger Veränderung braucht               Die Ausstellung nimmt Sie mit in die heitere und visio­
dauerhaft gesellschaftliches Engagement.                              näre Atmosphäre während der Olympischen Spiele 1972
                                                                      und zeigt Ihnen den Trainingsplatz einer jungen De­mo­
Die Olympischen Spiele in München 1972 sind eine Mo­                  kratie. Beim Verlassen der Ausstellung betreten Sie, lieber
mentaufnahme aus der jüngeren deutschen Geschichte,                   Besucher, Ihren ganz eigenen Trainingsplatz. Ihr Enga­
die wir als Referenzpunkt für unsere Ausstellung gewählt              gement für ein demokratisches Zusammenleben kann
haben. Aus der Vergangenheit heraus stellt »München 72 –              vie­le Gesichter haben, aber eines ist sicher: Jeder Einsatz
Trainingsplatz einer Demokratie« Fragen an die Zukunft.               gewinnt!
Gemeinsam mit Ihnen, den Besuchern, blicken wir zurück
in die 70er Jahre und erkunden, wohin sich Deutschland                Dr. Ralf Nemetschek
damals seit dem Ende der Diktatur auf seinem Weg zu                   Nemetschek Stiftung
einer freien, demokratischen, toleranten Gesellschaft ent­
wickelt hatte.                                                        Rebecca Weis und
                                                                      Sophia Oppermann
Die Spiele von 1972 sind eine spannende und vor allem                 Gesicht Zeigen!
lebendige Etappe der deutschen Zeitgeschichte: Noch im­
mer bezeugen damalige Olympioniken, Aktive aus Orga­
nisation und Politik und die vielen olympischen Bauten
die Strahlkraft dieses Ereignisses. Fasziniert hat uns, wie
tief die Erinnerung an die Spiele 1972, die sich aus Bil­
dern an fröhliche und bunte Tage und der Sprachlosigkeit
über das grausame Attentat zusammensetzt, bei Men­            6   7
Ausstellung / Begleitheft München 72 Trainingsplatz einer Demokratie
Kooperationspartner                                                  Gesicht Zeigen! ruft auf, zeigt an, greift ein –
                                                                     für ein weltoffenes Deutschland!
Demokratie stärken. Werte vermitteln.
Dialog fördern.                                                      Gesicht Zeigen! ermutigt Menschen, aktiv zu werden ge­
                                                                     gen Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit
Die Nemetschek Stiftung ist eine unabhängige, überpar­               und rechte Gewalt. Der Verein greift in die aktuelle politi­
teiliche und gemeinnützige Stiftung, die durch ihre Arbeit           sche Debatte ein und bezieht öffentlich Stellung. Ziel von
einen Beitrag zur demokratischen Kultur in Deutschland               Gesicht Zeigen! ist die Sensibilisierung für jede Art von
leisten will. Wir wollen mit unseren Projekten das Be­               Diskriminierung und die Stärkung des zivilgesellschaftli­
wusstsein für gesellschaftliche Prozesse stärken, Zusam­             chen Engagements.
menhänge sichtbar machen und dazu anregen, sich aktiv
an der Gestaltung unserer Gesellschaft zu beteiligen.                Für dieses Ziel entwickelt Gesicht Zeigen! Projekte und
                                                                     Aktionen, die Vorurteile abbauen und das Miteinander
In drei Formaten werden gesellschaftliche Herausforde­               fördern. Der Verein initiiert öffentliche Kampagnen im
rungen aufgegriffen, Handlungsoptionen entwickelt und                Kino, TV oder auf Plakaten, die für Zivilcourage werben
diskutiert sowie Demokratie erlebbar gemacht:                        und die von zahlreichen Prominenten unterstützt werden.
In Werkstattprojekten erarbeiten wir praktische Lösungs­             Auf Facebook informiert der Verein täglich zum aktuellen
ansätze für gesellschaftliche Herausforderungen und set­             Geschehen. Gesicht Zeigen! macht durch Presseveröffent­
zen diese mit unseren Partnern exemplarisch um. Innova­              lichungen, Aufrufe und Veranstaltungen immer wieder
tive Dialogformate wie die »Freiheitsfelder« beleuchten              auf Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in Deutsch­
Themen aus unterschiedlichen Perspektiven und öffnen                 land aufmerksam. Gesicht Zeigen! arbeitet zudem auch
sie für die Diskussion. Wir bringen unsere Inhalte in Form           praktisch: Der Verein konzipiert und realisiert Projekte
von Aktionen (z. B. beim »Walk of Liberty«) oder Ausstel­            für die Einwanderungsgesellschaft wie beispielsweise
lungen in den öffentlichen Raum und stellen sie zur Dis­             die innovative Ausstellung »7xjung – dein Trainingsplatz
kussion.                                                             für Zusammenhalt und Respekt« oder das bundesweite
                                                                     Schulprojekt »Störungsmelder on tour«. Für das Internet-
Die Stiftung erprobt neue Wege, sucht nach ungewohn­                 Blog »Störungsmelder« erhielt der Verein den Grimme-
ten Blickwinkeln und schafft überraschende Querbezüge,               Online Award 2008. Gesicht Zeigen! ist seit 2006 Träger
um so attraktive Zugänge zu gesellschaftlich relevanten              der Buber-Rosenzweig-Medaille.
Themen anzubieten. Wir wollen zum Nachdenken anre­
gen und zum Mitmachen auffordern. Denn wir sind über­                Gesicht Zeigen! entwickelt eigenes, modernes pädago­
zeugt, dass die Begeisterung jedes Einzelnen für die                 gi­sches Material für die Jugendarbeit, das kostenfrei
Möglichkeiten der Demokratie Grundvoraussetzung für                  er­hältlich ist. Regelmäßig veranstaltet Gesicht Zeigen!
eine vielfältige und lebendige Gesellschaftsordnung ist.             Schulbesuche und Diskussionen, Lesungen, Konzerte und
                                                                     Podiumsdiskussionen. Jährlich organisiert der Verein zum
                                                                     21. März die Aktionswoche gegen Rassismus mit zahlrei­
                                                                     chen Veranstaltungen bundesweit.
                                                                     Gesicht Zeigen! bringt Menschen zusammen – für ein welt­-
                                                                     offenes Deutschland! Zeigen auch Sie Ihr Gesicht – es wird
                                                             8   9   gebraucht!
Ausstellung / Begleitheft München 72 Trainingsplatz einer Demokratie
Ein Bild der Demokratie –
          buchstäblich in Bildern
          von Christopher Young

          Künstler und Historiker ticken anders. So viel war klar,
          nachdem Petra Schlie, die Kuratorin dieser Ausstellung,
          mich und meine Familie letzten Dezember zu einem klei­
          nen vorweihnachtlichen Umtrunk besucht hatte. Im Ver­
          lauf des Abends spazierte meine Tochter herein, und wir
          fingen an, uns über das Kunstprojekt zu unterhalten, das
          sie Anfang des neuen Jahres für ihre Prüfung in der Schu­
          le fertigstellen musste. Ganz und gar unbeleckt von jeg­
          licher künstlerischen Begabung, hatte ich mich dazu breit­
          schlagen lassen, ihr bei der Vorbereitung behilflich zu
          sein, und während ich mich langsam auf das Thema ein­
          schoss, erläuterte ich die Theorie, die hinter dem Kunst­
          werk stand, das hier bald entstehen würde. Meine Theo­
          rie, um ganz ehrlich zu sein. Petras Entgegnung war
          ebenso höflich wie zutreffend (meiner Tochter aber letzt­
          lich eine Hilfe): »Na ja, das ist ziemlich« – und dann, nach
          einer kurzen aber signifikanten Pause – »intellektuell«.

          Ich hätte es ahnen müssen. Einige Monate zuvor hatten
          Frau Schlie und ich uns durch die kleinen Berge von Erin­
          nerungsstücken an die Olympiade von München 1972 ge­
          wühlt, die ich angesammelt hatte und die sich nun größ­
          tenteils unbeachtet in meinem Arbeitszimmer stapelten.
          Das meiste davon hatte ich zusammengetragen, als ich
          vor zehn Jahren mit der Arbeit an einem Projekt begann,
          aus dem ein Buch entstehen sollte, das ich gemeinsam
          mit meinem Kollegen Kay Schiller geschrieben habe:
          »München 1972: Olympische Spiele im Zeichen des mo­
          dernen Deutschland«. Wir entdeckten alles Mögliche: eine
          Schallplatte mit Kurt Edelhagens flotter Swing­Begleit­
          musik zur Eröffnungsfeier; eine ostdeutsche Foto­Retro­
          spektive, auf minderwertigem Papier gedruckt, die Bilder
          leider schon ganz verblasst, die darin enthaltene scharfe
          Verurteilung des Westens wegen seiner Beteiligung am
10   11   Vietnamkrieg (seltsamerweise im Kontext des terroristi­
Ausstellung / Begleitheft München 72 Trainingsplatz einer Demokratie
schen Attentats angesiedelt) inzwischen vom Lauf der                     Frau Schlie bedurfte als Anregung natürlich nicht meiner
Geschichte überholt; eine Videoaufzeichnung der Olym­                    Sammlung alten Plunders. Ihre künstlerische Phantasie
piahostessen, die gerade einüben, die Welt und ihre                      hatte schon längst angefangen, das Feld der visuellen
Sport­helden mit ihrem weiblichen Charme zu begrüßen,                    Möglichkeiten und Assoziationen der späten sechziger
von ihrer Besitzerin liebevoll verwahrt und für mich auf                 und frühen siebziger Jahre zu durchpflügen. So hatte
Kassette überspielt; sogar noch eine original Plexiglasplat­             Frau Auers Strumpfhose zum Beispiel bereits einen fes­
te von der berühmten Zeltdachkonstruktion des Olympia­                   ten Platz in ihrer Vorstellung. Und gerade diese Strumpf­
stadions, in einer ganz speziellen Geschenkbox, erstan­                  hose – die der Frau eines jungen Architekten gehörte, der
den zu einem ebenfalls ganz speziellen Preis, den ich                    mit am Entwurf des Stadions arbeitete – bringt die Inten­
selbst meiner allzeit nachsichtigen Frau sicherheitshalber               tion und Arbeitsweise der Künstlerin auf den Punkt.
verschwiegen habe.
                                                                         Es braucht schon etwas Mut, um in einer Ausstellung, die
Während wir so herumstöberten, fiel mir wieder ein, mit                  dem Thema der Olympiade 1972 und ihrem Beitrag zur
welcher Begeisterung ich dieses Sammelsurium sein­er­                    deutschen Demokratie gewidmet ist, kein direktes Porträt
zeit zusammengetragen hatte. Nur wenige geschicht­liche                  des Münchner Olympiastadions zu bringen. Das Stadion
Themen werfen solche Mengen an Material ab ­wie die                      hat bis heute nichts von seiner atemberaubenden Aus­
Olympischen Spiele mit ihrer ganz eigenen Mischung aus                   strahlung verloren. Aus denselben Materialien erschaffen,
historischem und wirtschaftlichem Potential. Ursprünglich                die auch bei vielen anderen Nachkriegsbauten verwen­-
hatte ich die seltene Gelegenheit unbedingt nutzen wol­                  det wurden, transportiert es mit seiner Transparenz und
len, all das zu berühren, in mich aufzunehmen und nach­                  Offen­heit auch eine wichtige Botschaft über die Bundes­
zuempfinden, was Millionen gesehen, gehört und gefühlt                   republik Deutschland und die Stabilität ihrer Demokratie.
hatten, und für das sie bereit gewesen waren, tief in die                Ganz automatisch wird der Blick des Historikers von der
Tasche zu greifen. Doch dann ist es bei der bloßen Absicht               Symbolik des Bauwerks und der zwischenmensch­lichen
geblieben – hauptsächlich aufgrund meiner Arbeit an                      Dynamik, die es auslöste, angezogen: das schiere Aus­
dem Buch über die Geschichte der Spiele, die mich mehr                   maß technischen Know-hows, das benötigt wurde, um es
in den Bereich des Intellektuellen führte. Wenn es hart auf              zu erschaffen, die hitzigen politischen und kulturellen De­
hart kommt, muss ein Historiker ziemlich tief graben,                    batten, die im Umfeld geführt wurden, und die Kos­ten, die
zahlreiche Bezüge herstellen, sein Thema in einem breite­                das Budget zu sprengen drohten. 8.000 drei mal drei Me­
ren Kontext verorten und einer Darstellung Gestalt ge­                   ter Plexiglasplatten zu verbauen, um fast 75.000 Quadrat­
ben, die wissenschaftlich anspruchsvoll, spannend und                    meter Fläche abzudecken und diese Dachkonstruktion
gut lesbar zugleich ist. Alles dreht sich dabei um Wörter                mit 436 Kilometern Stahlseil an 58 Stahlmas­ten aufzu­
(in all ihren Formen und Varianten) –, es wird eben ziem­                hängen und damit das Haupt­stadion, die Olympiahalle
lich intellektuell – und meine kleine Sammlung verwan­                   und die Schwimmhalle zu über­spannen, war schließ­lich
delte sich allmählich in eine stimmungsvolle Dekoration                  das ambitionierteste Bauvorhaben in der gesamten Ge­
für den Raum, in dem ich schrieb, und begann schließlich                 schichte der Bundesrepublik Deutschland.
Staub anzusetzen. Für die Künstlerin Petra Schlie waren
die Relikte meiner frühen Begeisterung allerdings ein ge­                Das Auge der Künstlerin freilich hat eine ganz andere
fundenes Fressen. Und ich bin entzückt, dass eins »mei­                  Wahrnehmung, und Petra Schlies Blick fiel in diesem Fall
ner« Objekte es mit seiner schlichten Erhabenheit und                    auf eine Begebenheit, die ihr Hauptakteur über die Jahre
Originalität in die Ausstellung geschafft hat.                 12   13   nicht müde wurde, immer wieder zu erzählen. Schon seit
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er als kleiner Junge Zigarettenbilderalben der Berliner                  tragte Otl Aicher machte seine diesbezügliche Position
Olympiade sammelte, hatte Günter Behnischs junger                        bereits in seinem Eröffnungsvortrag vor dem Vorstand
Partner Fritz Auer die Olympischen Spiele gebannt ver­                   des Organisationskomitees mehr als deutlich. Willi Daume,
folgt. Und seiner Begeisterung ist es zu verdanken, dass                 der unverwechselbare Kopf des deutschen Sports, der
das bekannte Stuttgarter Architekturbüro Behnisch &                      die Spiele gemeinsam mit Münchens Oberbürgermeister
Partner, beinahe durch Zufall, ein Angebot für den Bau                   Hans-Jochen Vogel in die Stadt geholt hatte und ihren
des Münchner Stadions abgab. Während sie an dem ent­                     Fortgang sechs mühevolle Jahre lang lenkte, wurde nicht
sprechenden Entwurf arbeiteten, fiel Auer und seinem                     müde, allen immer wieder ins Bewusstsein zu rufen, dass
Kollegen Cord Wehrse ein Zeitungsfoto auf, das Frei Ottos                man das beispiellose Vertrauen, das die Welt Deutsch­land
Deutschen Pavillon auf der Weltausstellung 1967 in Mon­                  entgegengebracht hatte, nun nicht enttäuschen durfte.
treal zeigte. Sofort witterten sie einen möglichen Syner­                Und Aicher wusste genau, wie man das in die Praxis um­
gieeffekt zwischen dem durchsichtigen Kunstoffnetz-Zelt­                 setzte. Angesichts der bevorstehenden Aufgabe und im
dach der Konstruktion und ihrem eigenen im Entstehen                     Rückblick auf den Missbrauch der Spiele von 1936 für
befindlichen Konzept, woraufhin sie bekanntermaßen ein                   propagandistische Zwecke fragte er das Organisations­
Paar Nylonstrümpfe von Auers Ehefrau ausborgten, um                      komitee: »Nimmt es uns die Welt ab, wenn wir darauf
sie über die kleinen Stäbe ihres Modellentwurfs zu span­                 hinweisen, dass das Deutschland von heute ein anderes
nen. Schlie würdigt Frau Auers Strumpfhose nun, indem                    ist als das Deutschland von damals?«, und gab auch
sie diese in der Ausstellung seiden glänzend hinter einer                gleich selbst die Antwort: »Vertrauen gewinnt man nicht
Glascheibe zitiert und mit einer Wand von Herrensocken                   durch Worte, sondern durch sichtbare Bezeugungen und
kombiniert, die die Mitglieder des fast ausschließlich                   gewonnene Sympathie. Es kommt weniger darauf an, zu
männlich besetzten Organisationskomitees repräsentie­                    erklären, dass es ein anderes Deutschland gibt, als es zu
ren. Und erlaubt damit, die vor dem Höhepunkt der Frau­                  zeigen.« Die einheitliche ruhige Farbgebung und das har­
enbewegung in den siebziger Jahren festgefahrenen                        monische Gestaltungskonzept der Olympiade 1972 wa­
Meinungen über Männer, Frauen und die Politik der Ge­                    ren perfekt auf das von Behnisch entworfene Stadion ab­
schlechter in Frage zu stellen. Gespräche, die ich mit Zeit­             gestimmt und bildeten zusammen mit der angrenzenden
zeugen und Beteiligten geführt habe, belegen, in welch                   sanft hügeligen Parklandschaft ein Ensemble, das der
eindrucksvoller Weise die Olympischen Spiele 1972 gera­                  Welt eben tatsächlich zeigte und nicht sagte, dass dies ein
de durch bemerkenswerte junge Frauen wie die zahlrei­                    anderes, ein neues Deutschland war. Und als Willy Brandt
chen Olympia-Hostessen, deren Einfluss in den darauf­                    die Deutschen in der Folge des links-liberalen Demokra­
folgenden Jahrzehnten noch wachsen sollte, getragen                      tiediskurses der sechziger Jahre 1969 offiziell dazu auffor­
wurde. Schlies Strumpfinstallation ist eine feinsinnige                  derte, »mehr Demokratie« zu wagen, waren die Spiele
Darstellung von subtilem Humor, welche die Geschichte                    von München schon längst mitten in der Planung.
vorsichtig in Frage stellt, ohne damit respektlos umzuge­
hen, und uns im visuellen Medium ganz unmittelbar und                    Aber es hätte auch anders kommen können, zumindest in
plastisch gegenübertritt.                                                Form und Stil. Denn obwohl der deutsche Pavillon bei der
                                                                         Expo ‘67 in Monteal verbreitet internationale Bewunde­
Wie die Organisatoren der Spiele von 1972 weiß auch Pe­                  rung aus­löste, hatte sich seine Innengestaltung als zu
tra Schlie um die Möglichkeiten und den effektiven Ein­                  schwerfäl­lig erwiesen. Eine nordamerikanische PR-Agen­
satz der visuellen Medien zur Vermittlung politischer und                tur, die in ­einem frühen Stadium der Ausstellungskon­
kultureller Botschaften. Der damalige Gestaltungsbeauf­        14   15   zeption (die sich auf Musik, Theater, Museen und Literatur
Ausstellung / Begleitheft München 72 Trainingsplatz einer Demokratie
konzentrierte) zur Beratung herangezogen wurde, fällte                piapark schlendern und es darin vor lauter Touristen und
ein vernichtendes Urteil über den bildungsbürgerlichen                Einheimischen nur so wimmeln sehen könnten. Men­
Hang der Deutschen, die Hochkultur über alles zu stellen.             schen, die spazieren gehen, joggen, auf Bänken sitzen,
»Der Gesamteindruck ist der einer unvermittelten Schwe­               sich unterhalten und in Frieden mit sich und ihrer Umge­
re. Der durchschnittliche Nordamerikaner wird nach dem                bung entspannen – genau so, wie sie es sich gewünscht
Verlassen des Pavillons das Gefühl haben, einer enorm                 hatten.
intellektualisierten Geschichtsstunde in einem geistlosen
Museum ausgesetzt worden zu sein. […] Der Lehrer, d. h.               Es war eine besondere Ehre – und das sage ich mit Si­
Deutschland, genießt zwar Respekt, doch er wird nicht                 cherheit auch im Namen meines Co-Autors Kay Schiller –,
beliebt sein, weil er zu viel verlangt […] Es gibt nichts             die Anstrengungen und Leistungen der Organisatoren
Warmes oder Persönliches, nichts im Pavillon strahlt                  kritisch zu untersuchen und entsprechend würdigen zu
Charme oder Freundlichkeit aus. […] Es fehlt ein Gefühl               dürfen.
der Gastfreundschaft und des Miteinanders von Gästen
und Gastgebern […] Die Geschichte, die hier erzählt wird              All dies geschah natürlich in Worten. Indem sie Visualität,
ist langweilig, weil ihr die Leichtigkeit fehlt.«                     Demokratie und Leichtigkeit (sogar die suggestive Leich­
                                                                      tigkeit von Frau Auers Strumpfhose) in den Mittelpunkt
1972 dagegen verschmolzen Form und Inhalt, und nur ei­                gestellt haben, ist es der Nemetschek-Stiftung und ihrer
nige wenige Überreste des deutschen Drangs zu »beleh­                 Kuratorin Petra Schlie in gleicher Weise gelungen – da
ren« störten den Gesamteindruck. So wird man sich wohl                würden die ursprünglichen Organisatoren mir gewiss zu­
nur eine sehr kleine Handvoll von Athleten vorstellen                 stimmen –, eine Ausstellung ganz in deren Sinne zu ge­
können, die sich in die zweifelsohne wertvollen histori­              stalten.
schen, philosophischen und literarischen Schätze des
Buchbandes »Deutsches Mosaik« vertieft haben, einem                   Christopher Young
dicken, in mehrere Sprachen übersetzten Wälzer, der als               University of Cambridge

Willkommensgruß und als Andenken an Deutschland auf
ihren Nachttischen wartete. Doch insgesamt kam die Bot­
schaft von Demokratie, Menschlichkeit, Offenheit und
Mitbestimmung genau so an, wie es von Aicher und an­
deren intendiert war, nämlich ohne »große Worte«.

Erst kürzlich erinnerte sich Hans-Jochen Vogel: »Diese
Spiele waren nicht nur für München, sondern darüber hi­
naus auch für Bayern und das damals noch geteilte
Deutschland sowie für die olympische Bewegung allge­
                                                                      Kay Schiller und
mein und damit letztendlich weltweit ein Ereignis beson­
                                                                      Christopher Young:
derer Bedeutung.« Die Organisatoren haben Deutschland                 »München 1972.
ganz gewiss einen wunderbaren Dienst erwiesen, und                    Olympische
                                                                      Spiele im Zeichen
man malt sich unwillkürlich aus, wie ungeheuer zufrie­
                                                                      des modernen
den sie wohl wären, wenn sie alle heute, vierzig Jahre                Deutschland«
später, an einem sonnigen Nachmittag durch den Olym­        16   17   Wallstein Verlag 2012
Ausstellung / Begleitheft München 72 Trainingsplatz einer Demokratie
Schreiten für     Super-8-Film von
          Olympia:          Dr. Gertrude
          Siegerehrungs­-   Krombholz,
          hostessen         Gruppen-Chef-Hostess
18   19   bei der Probe     1972
Ausstellungshintergrund                                                                                                 tern entworfen, die durch die Erfahrungen der Nazi-Zeit
von Petra Schlie
                                                                                                                        und den Aufbruch in eine neue Gesellschaft geprägt waren.

                                                                                                 Aus den »Richtlinien   »So sollen die Spiele sein:
                                                                                                 und Normen für die
Rasen betreten erwünscht! –                                                                      visuelle Gestaltung«
                                                                                                                        heiter
                                                                                                 von Otl Aicher         leicht
Demokratie und Gestaltung                                                                        für das Organisa­
                                                                                                                        dynamisch
                                                                                                 tionskomitee der

»München leuchtete. Über den festlichen Plät­                  Beginn der Novelle
                                                                                                 Olympischen Spiele     unpolitisch
                                                                                                 München 1972
zen und weißen Säulentempeln, den antik­i­                     »Gladius Dei«                                            unpathetisch
                                                               von Thomas Mann,
sierenden Monumenten und Barockkirchen,                        der von 1894 an in                                       frei von Ideologie
den springenden Brunnen, Palästen und Gar­
                                                               München lebte, bis                                       eine spielerische Durchdringung von
                                                               er 1933 ins Exil ging
tenanlagen der Residenz spannte sich strah­                                                                             Sport und Kultur«
lend ein Himmel von blauer Seide, und ihre
breiten und lichten, umgrünten und wohlbe­
rechneten Perspektiven lagen in dem Sonnen­
dunst eines ersten, schönen Junitages.«

Die Olympischen Spiele in München 1972 sollten als die
»Heiteren Spiele«, als »Olympia im Grünen« in die Ge­
schichte eingehen. Willi Daume, der Präsident des Nati­
onalen Olympischen Komitees, und der Münchner Ober­
bürgermeister Dr. Hans-Jochen Vogel sahen die Spiele
als Gelegenheit, das Bild der jungen Bundesrepublik in
deutlicher Distanzierung zu den Spielen von 1936 sichtbar
zu machen.

»Ich hoffe, dass Sie als Gäste kommen                          Der Münchener
                                                               Oberbürgermeister
und uns als Freunde wieder verlassen, daß                      Dr. Hans-Jochen Vogel
Sie bei den Olympischen Spielen 1972 jenes                     im Offiziellen
                                                               Olympiaführer
München erleben, von dem Thomas Mann                           der Spiele der
                                                                                                 Otl Aicher (rechts
einmal gesagt hat, es sei eine Stadt des                       XX. Olympiade
                                                                                                 im Bild) testet mit
offenen Herzens, der künstlerischen Freiheit                                                     Mit­arbeitern auf
                                                                                                 der Autobahn die
und der Menschlichkeit.«                                                                         Motorräder und
                                                                                                 silbernen Overalls,
                                                                                                 die entsprechend
Die Visualisierung der demokratischen Gesellschaft als                                           dem Erscheinungs­-
Aus­­­richterin der Spiele wurde von einer Reihe von Gestal­                           20   21   bild gestaltet sind.
Das visuelle Erscheinungsbild 1972 lag in den Händen Otl                                                       Das Erscheinungsbild der Olympischen Spiele in Mün­
Aichers, des Mitgründers der Hochschule für Gestaltung                                                         chen erstreckte sich auf alle denkbaren Bereiche: von
Ulm, der bereits das Corporate Design bedeutender deut­                                                        Postern und Programmheften bis zu Leitsystem und Pikto-
scher Firmen wie der Lufthansa entworfen hatte. Aicher                                                         grammen, sogar bis zu einer fein ausdifferenzierten Serie
war sehr beeinflusst von seinen Erfahrungen der Kriegs­                                                        von Uniformen. Das Farbsystem spiegelte mit hellen,
jahre. Er war mit den Scholl-Geschwistern befreundet                                                           harmonisch aufeinander abgestimmten Tönen die ange­
gewesen und hatte für sich erkannt, dass er nicht einer                                                        strebte heitere Anmutung der Spiele wieder – Rot als do­
der Mitläufer sein wollte. Zusammen mit seiner Frau                                                            minante Farbe der 36er-Spiele blieb bewusst ausgespart.
Inge Aicher-Scholl gründete er nach dem Krieg die Ulmer
Volks­hochschule, um dem schlicht wiederherstellenden                                       visuelles          »hielten sie es für richtig, allen besuchern ständig mit
Wiederaufbau durch Bildung und Gestaltung etwas Neu­                                        erscheinungsbild   worten im ohr zu liegen und zu beteuern, die deutschen
                                                                                            otl aicher
es und Demokratisches entgegenzusetzen.                                                     18. april 1970.    können auch anders sein? gelöst, heiter, undogmatisch,
                                                                                            HfG-Archiv         ohne schicksalspathos? sollen wir jedermann sagen,
                                                                                            Ai. AZ 76.1        daß die deutsche geschichte der letzten hundert jahre,
                                                                                                               welche die europäische nachbarschaft ziemlich belastet
                                                                                                               hat, nicht alles über die deutschen aussagt, daß es auch
                                                                                                               einen barock, einen ludwig II., einen mozart, einen bach
                                                                                                               und einen heine gegeben hat? wir würden uns von einer
                                                                                                               oft karikierten seite zeigen: von der schulmeisterlichen.
                                                                                                               dagegen ist es legitim, den spielen in münchen einen

                                                           Personal in
                                                           hellblauen Uniformen
                                                           im Olympiastadion

                                                           Olympia-Plakate                                     Leichtathletik-
                                                           im Stadtraum           22   23                      Programmhefte
farbigen rahmen zu geben, ein ästhetisches klima, ein                                                                freiheit, der den sport kennzeichnet hat seine affinität im
visuelles profil, das aus sich heraus heiterkeit, jugend­                                                            bereich der ästhetik. die wahl unserer farben ist präzise
lichkeit, frische und menschliches verrät, in der sprache                                                            begrenzt und doch glauben wir, daß wir eine ganze welt
der zeichen bleiben wir glaubwürdig. […]                                                                             von kombinationen erschlossen haben. bestimmend für
                                                                                                                     die auswahl waren zwei faktoren: 1. wir hielten uns an
wenn wir den versuch machen, den olympischen spielen                                                                 den bereich der lichten, hellen, strahlenden und frischen
in münchen ein spezifisches erscheinungsbild zu geben,                                                               farben entsprechend der intention, strahlende und
so kann und darf es sich lediglich um eine selbstdar­                                                                heitere spiele zu veranstalten. 2. die spiele finden in
stellung handeln, nicht um einen aufgesetzten putz,                                                                  münchen statt. die farbwelt dieser stadt und ihrer
um eine sichtbarmachung dessen, wie man verstanden ­                                                                 umgebung ist spezifisch und auch gegenstand literari­
sein möchte und nicht um eine attrappe, um eine                                                                      scher beschreibung geworden. die silbernen seen, das
präsentation und nicht um eine repräsentation. an dieser                                                             grüne voralpenland, die klare silhouette der berge und
sprache der farben und zeichen, der fahnen und klei­                                                                 der offene himmel des föhn sind so prägnant, daß es
dungen, der drucksachen und verpackungen arbeitet die                                                                die stadtfarben von münchen, gelb und schwarz, schwer
abteilung XI des organisationskomitees. […]                                                                          haben, sich neben dem weiß und blau bayerns zu
                                                                                                                     behaupten.«
spiele sind merkwürdigerweise, nicht tun und lassen
                                                                                             Konzept visuelles
können was man will. erst feste elemente und ein                                             Erscheinungsbild für    »Die häßlichen Stellen im Stadtbild können
präzises regelwerk, das zu einem präzisen verhalten                                          die Stadt München,
                                                                                                                     weitgehend durch Fahnenpulks überdeckt
                                                                                             Nov. 1970.
zwingt, erlauben den gewinn einer spielerischen freiheit.                                                            werden.«
                                                                                             HfG-Archiv Ai. Br 416
dieser merkwürdige antagonismus zwischen zwang und

                                        Skizze für unregel­
                                        mäßig auftretende
                                        Fahnenpulks an
                                        ­großen Straßen in    > Fahnenpulks auf
                                         und um München       dem Olympiagelände   24   25
Das Büro von Günter Behnisch entwarf das zweite visuelle                                    Dabei geht es deutlich um den Symbolwert und die Ab­
Kernstück der Olympischen Spiele: die Stadien. Die fast                                     grenzung zu monumental-totalitärer Gestaltung – demo­
schwebende Architektur in ihrer leichten und doch trag­                                     kratisch im Sinne von Mitsprache und demokratischen
fähigen Transparenz wurde als Sinnbild einer neuen de­                                      Prozessen bei der Entwicklung sind weder die Spiele
mokratischen Gesellschaft verstanden. Frei Otto, auf des­                                   nach München gekommen, noch ihr Erscheinungsbild
sen Netzkonstruktion des Pavillons der Weltausstellung                                      entstanden.
in Montreal 1967 das spektakuläre Olympia-Dach beruhte,
sah die Dinge weniger pathetisch. Aber bis heute gilt das                                   Am entschiedensten, was die Verbindung von Gestaltung
Ensemble der Münchener Olympiastadien als das ambiti­                                       und Demokratie anging, war womöglich der Olympia­
onierteste Bauwerk der Nachkriegszeit und als Symbol für              Olympiagelände        park, im Wettbewerb für die gesamte Anlage entworfen
die bundesrepublikanische Demokratie.                                 mit Stadien im        und dann ausgearbeitet im Büro für Grünplanung des
                                                                      Hintergrund und
                                                                      mit den Grünflächen   Landschaftsarchitekten Günther Grzimek. Mit dem auf
                                                                      voller Menschen       dem früheren Schuttfeld völlig neu modellierten Gelände

                                                            26   27
sollte eine Utopie verwirklicht werden, die allen un­ab­        > Blumenwiese auf
hängig von ihrer Herkunft eine freie Interaktion er­mög­        dem Olympiagelände

licht, ohne Privilegien und Schranken. Grzimek sah ­Land-­
schaft als ein soziologisches Phänomen, das er als pro­-
fa­nen Gebrauchsort gestaltete. Die Partizipation der Bevöl­-
kerung und deren Besitzergreifung des Rasens lagen ihm
am Herzen. Auf dem Münchner Olympiagelände wurden
entstehende Trampelpfade vorhergeahnt und in das Sys­
tem harmonisch geschwungener Wege einbezogen. Nie
wieder sollten Wege wieder so gerade werden, dass man
auf ihnen aufmarschieren kann. Im Olympiapark war es
ausdrücklich erlaubt, die Wiesenblumen zu pflücken und
den Rasen zu betreten – für damalige Verhältnisse eine
kleine Revolution.

                                                                linkes Bild:
                                                                Trampelpfad
                                                                am Berg

                                                                rechtes Bild:
                                                                Natürlicher Weg
                                                                ohne Stolper­kanten-
                                                                Begrenzung

                                                                                       28   29
Schreiten mit leeren Händen –                                                                                       steht uns ins Fernseh-Haus. Die Hubertys, Kürtens und
                                                                                                                    Kloses müssen das riesige Spektakel dem deutschen
Rollenverteilungen                                                                                                  Zuschauer mundgerecht servieren – und das im wahr­
                                                                                                                    haft olympischen Dauereinsatz. Die Ehefrauen der
Nicht umsonst stehen die 70er Jahre für den Aufbruch                                                                geplagten Reporter erzählten der BILD + FUNK-Redakti­
der neuen Frauenbewegung. Am Beispiel des Sports kann                                                               on, was sie während der olympischen Zeiten tun und
man sehr anschaulich darstellen, wie ausschließlich die                                                             wie sie versuchen, ihre Männer fit zu halten.
bundesdeutsche Gesellschaft zu der Zeit von Männern
dominiert wurde.                                                                                                    Inge Huberty, der gute Geist von »Mr. Sportschau«,
                                                                                                                    umhegt ihren Ernst noch zärtlicher und liebevoller als
So hat der Deutsche Fußballbund bis 1970 all seinen Mit­                                                            sonst. »Ich werde ihn etwa 10 Tage lang in München
gliedsvereinen verboten, Frauen auf seinen Plätzen spie­                                                            besuchen. Schließlich braucht er in dieser Zeit größter
len zu lassen. Ernst Huberty zum Beispiel, eine der Ikonen                                                          Anspannung jemanden, der alles Unangenehme von
der ARD-Sportschau, führte ästhetische Gründe an, warum                                                             ihm fernhält, der ihm das »Zu-Hause-Gefühl« vermit­
bestimmte Sportarten für die schönen Körper von Frauen                                                              telt.« Die aktive Tennisspielerin versprach, den auf der
nicht geeignet seien.                                                                                               Mattscheibe fast immer lächelnden Ernst während der
                                                                                                                    Spiele in München »auf Händen zu tragen«. Aber auch
                                                                                                                    in nicht olympischer Zeit hat sie immer großes Interesse
Inge Huberty:                                                                                                       am Beruf ihres Mannes, insbesondere an Tennis,
In München trage ich ihn auf Händen                          Die Fernsehzeitschrift                                 Leichtathletik und »großen« Fußballspielen. Übrigens,
                                                             Bild+Funk porträtierte                                 die erste Frage, die der Ernst seiner jungangetrauten
                                                             in ihrer Olympia-
Für die Fernsehjournalisten sind die Olympischen Spiele      Vorberichterstattung                                   Frau beantworten mußte, war die Frage »Was ist
wahre Marathon-Veranstaltungen. Sechzehn Tage                Frauen prominenter                                     Abseits?«. »Ich bin nicht sicher, ob ich das damals
lang stehen die Sportreporter im zwölfstündigen              Sportreporter:                                         wirklich verstanden habe.«
                                                             Inge Huberty, Nicole
Olympia-Einsatz. Umsorgt von ihren Ehefrauen, die            Kürten, Gerda Klose
dem Ernst, Dieter, Oskar oder Harry in dieser Zeit alle      und Randi Valérien.                                    Bis 1973 sollte es dauern, bis mit Carmen Thomas im
privaten Aufregungen »vom Halse« halten wollen.              Eckhard Halupka in:                                    Aktuellen Sportstudio des ZDF die erste Frau eine Sport­
                                                             Bild+Funk 35, 1972
                                                                                                                    sendung im Fernsehen moderieren konnte. Nach einer
Auch bekannte Fernsehreporter sind nur Menschen.                                                                    harschen Konfrontation mit der Bild am Sonntag ver­
Diese banale Erkenntnis beruht nicht auf empirischen                                                                schwand sie schnell wieder in der Versenkung. Erst 1999
Untersuchungen, sondern schlichtweg auf den Aus­                                                                    kam Anne Will schließlich mit der Sportschau ins Haupt­
sagen der Ehefrauen dieser TV-Berühmtheiten. Wenn ­                                                                 programm der ARD.
der Papi abends nach Sportschau-Studio-Streß nach
Hause kommt, mürrisch zu Pantoffeln, Zeitung plus
Feierabend-Pfeife greift, plagen ihn dieselben »Ach                                             Olympia-Press 17,   Kein Platz für Journalisten-Frauen
Gott, hab ich wieder Kopf­schmer­zen«-Wehwehchen                                                März 1971.
                                                                                                BayHStA ND/E 173
wie unsereinen.                                                                                                     Deshalb folgender Hinweis: Journalisten, die ihre
                                                                                                                    Ehefrau 1972 nach München mitbringen wollen,
Die Kopfschmerzen der ARD- und ZDF-Sportreporter                                                                    müssen für deren Unterbringung und auch die Siche­
werden sich in dieser Woche gewaltig steigern: Olympia                                30   31                       rung der Kaufkarten selbst sorgen.
Schick und adrett zur Siegerehrung                             Olympia-Press 16,                                      Einzig der Hostessen-Bereich in der Protokoll-Abteilung
                                                               Oktober 1970.                                          lag in den Händen von Frauen. Unter der Leitung von
                                                               BayHStA ND/E 173
München (Olympia Press). Schick und adrett sollen bei                                                                 Dr. Emmy Schwabe waren über 1400 junge Frauen aus­
den Olympischen Spielen 1972 in München die Sport­                                                                    gewählt worden nach Benehmen, Aussehen und Sprach­
lerinnen auch zur Siegerehrung antreten können. Die                                                                   kenntnissen. Sie vertraten in hochgeschlossenen weiß-
Möglichkeit dazu bieten kleine Kosmetik-Kabinen, die in                                                               blauen Dirndln die Spiele nach außen, gaben Auskunft in
den Sportstadien jeweils in der Nähe des »Treppchens«                                                                 den verschiedenen Sportstätten und dem Olympischen
                                                                                             Fragen aus dem
eingerichtet werden sollen. Hier können sich beispiels­                                                               Dorf genauso wie an der zentralen Datenbank Golym, be­
                                                                                             »Lernprogramm
weise die 1500 Meter-Läuferinnen, die gleich nach ihrem                                      Allgemeines              treuten ausländische Mannschaften und reichten bei Sie­
anstrengenden Rennen zur Siegerehrung antreten, ein                                          Olympiawissen«           gerehrungen die Medaillen.
                                                                                             des Organisations­
neues Make-up machen lassen. Die Schwimmerinnen
                                                                                             komitees für die
können ihre Frisur, der bestimmt das »Bad« im Olympia­                                       Spiele der XX. Olym­
becken wenig zuträglich war, wieder in Ordnung bringen         Hostessen vor den             piade München 1972,
                                                                                             das in der Ausbildung
– falls sie nicht gleich eine Zweitfrisur griffbereit in der   Spielen auf dem
                                                                                             der Hostessen
                                                                                                                      Fragen aus dem Lernprogramm
                                                               Olympiagelände.
Sporttasche haben.                                             Ausschnitt aus                verwendet wurde.         Allgemeines Olympiawissen
                                                               dem Super-8-Film
Die Organisation der Olympischen Spiele 1972 bildet in         von Dr. Gertrude               Spielern teil.
                                                               Krombholz,                     Mannschaften zu je 7    Wieviele Spieler nehmen an einem
in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Die Initiatoren und         Gruppen-Chef-                  ballspiel nehmen 2      Wasserballspiel teil?
Gestalter waren allesamt Männer in ihren besten Jahren.        Hostess 1972                   An einem Wasser­
                                                                                                                      10 / 14 / 22
                                                                                             Frauen.
                                                                                             Wasserballturnier der    Gibt es ein Wasserballturnier der Frauen?
                                                                                             nein, es gibt kein
                                                                                                                      ja / nein

                                                                                                                      Welches Torspiel dauert am
                                                                                                                      längsten (reine Spielzeit)?
                                                                                                                      Basketball / Handball / Fußball / Hockey
                                                                                                           Fußball

                                                                                                                      Wird das gesamte Olympiastadion von
                                                                                                                      dem Zeltdach überspannt?
                                                                                                                      Ja
                                                                                                seite                 Nein, nur die Ostseite
                                                                                                                      Nein, nur die Westseite
                                                                                                Nein, nur die West­

                                                                                             »Heitere Spiele«
                                                                                             »Olympia im Grünen«
                                                                                             der kurzen Wege«         Unter welchen 3 Mottos stehen die
                                                                                                                      Olympischen Spiele in München?
                                                                                             »Olympia

                                                                                              Bayerische Wappen.
                                                                                              Löwe brachte ihn ins
                                                                                              Herzog Heinrich der     Welches Wappentier hat Bayern?
                                                                                   32   33                            Adler / Roß / Löwe
                                                                                              Den Löwen,
In welchem Jahr wurde der erste                                                     Wie hoch ist die Zuzugziffer Münchens?
                                                                                        ­Menschen pro Jahr.
                                                                                        25.000 – 30.000
                          bayerische Landtag eröffnet?
                          1819 / 1918                                                                         Wer war von 1960-72 Münchner
                  1819

                                                                                                              Oberbürgermeister?
                                                                                      Dr. Hans-Jochen Vogel

                          Wann fand der Hitlerputsch in München statt?
                          1923 / 1933
                  1923                                                                 tz
                                                                                       Münchner Merkur
Widerstandes                                                                           Abendzeitung           Wie heißen die 4 größten, in München
auch ein Zentrum des                                                                   Süddeutsche Zeitung
                                                                                                              erscheinenden Tageszeitungen?
Bewegung, sondern
sozialistischen
punkt der national­                                                                                           An welchen Zuhörerkreis richten sich
war nicht nur Mittel­     Welche Rolle spielte München von 1933                                               die Programm, die »Radio Liberty« und
                          bis zur Kapitulation 1945?                                                          »Radio Free Europe« senden?
München

                                                                                                              An die Bürger der BRD
                          Von welchem Künstler wurden die spätgotischen                   Ostblockstaaten     An in der BRD stationierte US-Soldaten
                          Moriskentänzer geschaffen?                                                          An Bewohner der Ostblockstaaten
Von Erasmus Grasser                                                                       An Bewohner der

 hunderts

                          Wann wurde das Deutsche Museum gegründet?                                           Ein Besucher, der sich für den »Blauen Reiter«
 Anfang des 20. Jahr­                                                                 ausgestellt.)
                                                                                      Werke dieser Künstler
                                                                                      Kunst sind einige       interessiert, fragt Sie, wo Werke dieser
                          In welchem Jahr wurde das Haus der Kunst                    (Auch im Haus der       Künstlergruppe ausgestellt sind.
                          erbaut?                                                                             Welche große Galerie empfehlen Sie ihm?
                  1933                                                                Das Lenbachhaus.

                          In welchem Jahr wurde mit dem Bau des                                               Kreuzen Sie an, welche Aufgaben
                          Olympiaturmes begonnen?                                                             das IOC erfüllt!
                                                                                      Verlauf der Spiele
                          1965 / 1967 / 1969                                                                  Es vergibt die Olympischen Spiele
                  1965
                                                                                      einen würdigen
                                                                                      Veranstaltung und für   Es wählt die Athleten aus
                          In welchem Jahr war die Grundsteinlegung für                                        Es sorgt für die Veranstaltung der Spiele
                                                                                      Es sorgt für die
                                                                                      Olympischen Spiele
                  1969
                          die Bauten der Olympischen Spiele?                          Es vergibt die          Es finanziert die Olympischen Bauten
                                                                                      folgende Aufgaben:      Es sorgt für einen würdigen Verlauf der Spiele
                          Wie hoch ist der Anteil der gebürtigen Münchner                                     Es veranstaltet Weltmeisterschaften
                                                                                      Das IOC hat ­

                          an der Gesamtbevölkerung der Stadt?
           Ein Drittel.

                                                                                                              Wie hoch sind die bisherigen Gesamtkosten
   Hamburg
                                                                                                              der Olympischen Spiele 1972?
                                                                                              1.972 Mio DM
   West-Berlin und
   der BRD – nach         An welcher Stelle der Industriestädte in der
                          Bundesrepublik steht München?
   An dritter Stelle in
   Bayern
   An erster Stelle ­in   An erster Stelle in Bayern
   als Industriestadt:    An erster Stelle in der BRD
                          An dritter Stelle in der BRD
   München steht

                                                                            34   35
Unter den 65 Vertretern des Organisationskomitees mit                                                                  Das Erbe der Berliner Spiele 1936
Vorstand und Beirat, die sich aus Funktionsträgern aus
Politik, Sportverbänden, Kirchen, Gewerkschaften etc. zu­                                                              Die Olympischen Spiele in Berlin 1936 waren als die vor­
sammensetzten – auch der Prinz von Hannover hatte sei­                                                                 hergehenden Spiele in Deutschland ein wichtiger Bezugs­
nen Platz – befand sich nur eine einzige Frau. Und die war                                                             punkt für München 1972. Sie stehen für die Inszenierung
ausgerechnet die Sport-Professorin Liselott Diem, die                                                                  Nazi-Deutschlands und bilden dadurch eine Kontrastfolie
Witwe des umstrittenen großen Mannes der Olympischen                                                                   für die Darstellung der Bunderepublik Deutschland als
Spiele 1936, Carl Diem.                                                                                                junge Demokratie, die sich von den Dämonen der Vergan­
                                                                                                                       genheit befreit hat. Dennoch genossen die Spiele von
                                                                                                linkes Bild:           1936 in vielen Kreisen in der olympischen Welt, ganz ent­
                                                                                                Leni Riefenstahl       gegen unserer heutigen Einschätzung, ein hohes Anse­
                                                                                                mit Fackellauf-
                                                                                                Protagonisten          hen, was der deutschen Bewerbung für 1972 durchaus
                                                                                                beim Dreh für ihre     zugute kam.
                                                             Feierliche Veranstal­              »Olympia«-Filme
                                                             tung des IOC in der                zu den Olympischen
                                                             Münchener Glypto­                  Spielen 1936           Die Vorstellung einer großen olympischen Idee war in
                                                             thek am Vorabend                                          Deutschland seit langem besonders stark, man förderte
                                                             der Eröffnung der                  rechtes Bild:          Ausgrabungen im griechischen Olympia und versuchte,
                                                             Spiele 1972, u. a. mit             Entzünden des Olym­
                                                             König Konstantin II.               pischen Feuers im      eine Linie von der Antike bis zu den Körperidealen der
                                                             von Griechenland                   griechischen Olympia   30er Jahre zu ziehen und für sich zu nutzen.

                                                                                      36   37
Carl Diem, der Organisator der Berliner Olympiade 1936                                                              rend der Spiele nicht zu sehen sein, die Straßen um den
und bis in die 60er Jahre hinein eine Graue Eminenz des                                                             Olympiapark wurden ausschließlich nach möglichst un­
deutschen Sports, fügte den Olympischen Spielen mit                                                                 verfänglichen internationalen Sportfiguren benannt, eine
dem von ihm 1936 erfundenen Fackellauf von Olympia                                                                  Carl-Diem-Straße, die es zig-fach in der Bundesrepublik
ins Gastgeberland ein bis heute zentrales Element hinzu.                                                            gibt, kam nicht in Frage.
Die Olympischen Spiele gewannen in den 30er Jahren zu­
dem deutlich an Zuschauerzahlen und Breitenwirkung                                                                  Was München selbst anging, die ehemalige ›Hauptstadt
und stellten sie auf eine Stufe mit den Weltausstellungen,                                                           der Bewegung‹, war man weniger umsichtig. Die Sensi­
einem weiteren Instrument der nationalen Selbstdarstel­                                                              bilisierung für historische Orte entsprach noch nicht der
lung.                                                                                                               von heute. So wurde für die Ankunft der olympischen
                                                                                                                    ­Fackel – die im übrigen wie schon 1936 von Krupp-Stahl
Die Spiele in Berlin 1936 waren in ihrer Monumentalität
und Überhöhung zugleich eindrucksvoll und abschre­
ckend: mit Massenturnübungen auf dem Maifeld vor dem
Glockenturm und der Langemarckhalle, dem aus Flak­
scheinwerfern gebildeten Lichtdom zur Abschlussfeier,
markigen Skulpturen auf dem ganzen Feld und der mäch­
tigen Glocke – ganz abgesehen von dem politischen Sys­
tem, das sie repräsentierten.

So versuchte man 1972 in deutlicher Abgrenzung zu den
Propaganda-Spielen von 1936, alle denkbaren Bezüge zu
Berlin, seiner Inszenierung und seinen Spielstätten zu
ver­meiden: Die im Ausland durchaus geschätzten Olym­
pia-Filme von Leni Riefenstahl sollten in München wäh­

                                                             Großkundgebung
                                                             und ›Feierstunde
                                                             der Jugend‹ im
                                                             Berliner Lustgarten
                                                             zum Auftakt der
                                                             Sommerspiele 1936                Kopie einer Anzeige
                                                             und zur Ankunft der              von Krupp-Stahl,
                                                             Olympischen Flam­                die ungewöhnlich
                                                             me: Schlussläufer                deutlich eine Ver­
                                                             Siegfried Eifrig vom             bindung von 1936
                                                             SC Charlottenburg                zu 1972 herstellt.
                                                             entzündet das Feuer              Stadtarchiv
                                                             in der Schale vor                München, Olympia-
                                                             dem Alten Museum.      38   39   Förder­verein / 419
gestellt wurde – ganz pragmatisch der Königsplatz, der
                                                       frühere Nazi-Aufmarschplatz, gewählt. Die Theresienwie­
                                                       se stand im Spätsommer wegen der Vorbereitungen zum
                                                       Oktoberfest eben nicht zur Verfügung. Der Fackellauf
                                                       wurde jedoch eher moderat inszeniert. Wie auch die Fei­
                                                       ern im Stadion: Auf den Fernsehaufnahmen springen bei
                                                       der Schlussfeier alle Athleten durcheinander – das Gegen­
                                                       teil eines totalitären Massenornaments.

                              Otl Aicher, Juli 1990.   »daß es alle farben geben darf, nur nicht rot.
                              HfG-Archiv
                              Ai. AZ 413.1
                                                       rot waren die olympischen spiele in berlin
                                                       unter hitler 1936. die farbe der cäsaren ist rot.«

                              1972 nehmen am
                              Fackellauf selbst­
                              verständlich auch
                              Frauen und Behin­
                              derte teil – ganz im
                              Gegensatz zu 1936.

Ankunft der Olym­
pischen Fackel
auf dem Münchner              Die Olympische Fackel
Königsplatz am                wird über den Tegern­
25. August 1972     40   41   see gerudert, 1972.
Spiele im Kalten Krieg                                                                                               rauf geachtet, dass die DDR international nicht mit ihrer
                                                                                                                     Flagge und Nationalhymne auftrat und nicht als eigen­
Nachdem 1952 nur Westdeutschland an den Olympischen                                                                   ständiger Staat akzeptiert wurde. Dieses politische Anlie­
Spielen teilnehmen durfte, verlangte das IOC von 1956                                                                 gen auf sportlicher NGO-Ebene durchzusetzen, gestaltete
bis 1964, dass beide deutschen Staaten gemeinsam unter                                                                sich immer schwieriger, immer mehr internationale
einer neutralen Flagge antreten – eine Art gesamtdeut­                                                               Sport­verbände erkannten die DDR an und wollten ihre
sche Fantasie-Flagge mit den olympischen Ringen als                                                                  Wettbewerbe nicht durch das Fehlen der sportlich starken
Emblem auf schwarz-rot-goldenem Grund – und dass als                                                                 DDR entwerten. Die sportliche Welt kam der politischen
Hymne die 9. Symphonie Beethovens gespielt wird. 1968                                                                 Ebene zuvor: Nach den turbulenten Spielen 1968, bei
stellte die DDR erstmals ein eigenes Team, musste aber                                                               ­denen die Bundesrepublik den Einmarsch des ostdeut­
dennoch in einem gemeinsamen Rahmen mit der Bun­                                                                      schen Teams als »DDR« stoppte, und sich die Ostdeut­
desrepublik auftreten. So waren die Spiele in München                                                                 schen gleichzeitig beschwerten, dass die Westdeutschen
1972 von großer deutsch-deutscher Bedeutung, weil zum                                                                im Olym­pischen Dorf ihre bundesrepublikanische Flagge
ersten Mal zwei eigenständige deutsche Mannschaften                                                                  wehen ließen, entschied sich das IOC, die DDR als eigen­
mit ihren Emblemen auftraten.                               Zwei gleiche deutsche                                     ständig anzuerkennen. Mit der neuen Ostpolitik sicherte
                                                            Flaggen nebenein­                                         dann der Grundlagenvertrag Ende 1972 offiziell die ge­
                                                            ander bei den Olym­
Das war keine Selbstverständlichkeit: Die Bundesrepublik    pischen Winterspielen                                     genseitige staatliche Anerkennung.
hatte bis dahin im Zuge der Hallstein-Doktrin penibel da­   von Grenoble 1968
                                                                                                                     Während die BRD die aufwändigen Spiele ausrichtete,
                                                                                                                     kon­nte sich die DDR ganz auf den Wettkampf konzentrie­
                                                                                                                     ren und nutzte die internationale Aufmerksamkeit, um
                                                                                                                     mit Kampagnen wie »2 x 36 = 72« den Gastgeber zu dis­
                                                                                                                     kreditieren und sich selbst in ein gutes Licht zu rücken.

                                                                                              Spiele der XX. Olym­   »1972 – Die Olympischen Sommerspiele sind an
                                                                                              piade München 1972.    München vergeben. Zugleich ist es mit jeglicher Ein­
                                                                                              Herausgegeben
                                                                                              von der Gesellschaft   schränkung für den Sport unseres Arbeiter- und Bauern-
                                                                                              zur Förderung          Staates vorbei. Hart hat die olympische Geschichte die
                                                                                              des olympischen        Feinde des Sports, die Feinde unserer Republik und
                                                                                              Gedankens in der
                                                                                              Deutschen Demokra­     unseres sozialistischen Aufbaus geschlagen. Sie, die
                                                                                              tischen Republik       sportfeindlichen Kräfte in der Bundesrepublik – die eine
                                                                                              Sportverlag Berlin     Souveränität des DDR-Sports im Weltmaßstab jahrzehn­
                                                                                              1973, Alfred Heil:
                                                                                              Gedanken nach          telang mit allen Mitteln zu verhindern trachteten – müs­
                                                                                              München                sen nun im eigenen Land den Start der ersten völlig
                                                                                                                     souveränen Olympiamannschaft der Deutschen Demo­
                                                                                                                     kratischen Republik vorbereiten und organisieren. Sie
                                                                                                                     sind es, die erstmals bei Olympischen Sommerspielen
                                                                                                                     die Flagge der DDR hissen, unsere Hymne einstudieren
                                                                                                                     und spielen müssen.«
                                                                                    42   43
Sportlich fand das innerdeutsche Duell seinen Höhepunkt      > Für die Sportschau
mit dem 4 x 100m Lauf der Damen, den Heide Rosendahl         zum V. Turn- und
                                                             Sportfest der DDR
im Ziellauf gegen Renate Stecher für die Bundesrepublik      1969 in Leipzig
entschied. In der Gesamtwertung wiederum lag die DDR         gestalten die Teil­
einen Platz vor der Bundesrepublik auf Platz 3, hinter der   nehmer im Leipziger
                                                             Zentralstadion eine
UdSSR auf Platz 1 und den USA auf Platz 2. Der Einfluss      Veranstaltung mit
des Kalten Kriegs auf die Olympischen Spiele war damit       Tribünenbildern und
nicht beendet, er setzte sich mit dem Boykott der Spiele     Aktionen.

in Moskau 1980 und dem anschließenden Gegen-Boykott
der Spiele in Los Angeles 1984 in den folgenden Jahren
weiter fort.

                                                             Letzter Stabwechsel
                                                             des 4 x 100-m-Laufs
                                                             der Damen. Für die
                                                             BRD übernimmt
                                                             Heide Rosendahl (M)
                                                             den Stab von Anne­
                                                             gret Richter (verdeckt)
                                                             und behauptet den
                                                             Vorsprung vor DDR-
                                                             Sprinterin Renate
                                                             Stecher (r), die den
                                                             Stab von Bärbel
                                                             Struppert (2.v.r)
                                                             übernommen hat.

                                                             Die erfolgreiche
                                                             Staffel der
                                                             Bundes­republik:
                                                             Ingrid Mickler-Becker,
                                                             Christiane Krause,
                                                             Annegret Richter,
                                                             Heide Rosendahl           44   45
Politik und Spiele –
Jahre des Umbruchs

Die Olympischen Spiele wurden 1966 nach München ver­
geben, sie fielen damit in die Zeit von Mitte der 60er Jahre
bis Anfang der 70er Jahre, die von gesellschaftlichen Um­
brüchen geprägt war, von denen aber bei Weitem nicht
alle gesellschaftlichen Schichten gleich begeistert waren.

1965 die ersten US -Kampftruppen landen in Vietnam /
Doctor Schiwago wird uraufgeführt / Malcom X wird er­
mordet / »Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt«-
Aktion von Joseph Beuys / »Like a Rolling Stone« von
Bob Dylan 1966 Große Koalition beginnt / BRAVO -Beat­
les-Blitztournee durch Deutschland / England gewinnt
durch das Wembley-Tor die Fußball-WM / Leonid Bresch­
new wird Generalsekretär des ZK der KpdSU / »Zum blau­-
en Bock« kommt ins Fernsehen / Franz Beckenbauer macht
die erste Sportlerwerbung für Knorr-Suppe 1967 Die
Kommune 1 wird gegründet / Adenauer stirbt / Benno
Ohnesorg wird erschossen / Farbfernsehen geht auf Sen­
dung / »Summer of Love« 1968 »Das Wunder der Lie­
be« von Oswalt Kolle hat Premiere / Kaufhaus-Brandan­
schlag von Andreas Baader und Gudrun Ensslin / der
Prager Frühling wird niedergeschlagen / Mai-Unruhen in
Frankreich / Studentenbewegung / Notstandsverfassung
wird verabschiedet / Heintjes »Mama« ist die meistver­
kaufte Single Deutschlands / Martin Luther King wird er­
schossen 1969 Mondlandung / 5. Turn- und Sportfest
der DDR in Leipzig / Woodstock-Festival / Willy Brandt
wird Bundeskanzler / »Easy Rider « kommt ins Kino /
Richard Nixon wird US -Präsident 1970 Brandts Kniefall
am Warschauer Ghetto / Gründung der RAF / die Trimm-
Dich-Bewegeung startet / das erste Programmkino eröff­
                                                               Paul Breitner,
net in Hamburg / Palästinenser-Aufstand »Schwarzer Sep­-       Fußballspieler des
tember« in Jordanien / Queen und Kraftwerk werden              FC Bayern, posiert
gegründet 1971 Erich Honnecker wird Erster Sekretär            für die Presse unter
                                                               einem Mao-Poster
des ZK der SED / erste Show von »Dalli Dalli« mit Hans         mit der Peking-
Rosenthal / Gründung von Greenpeace und Ärzte ohne             Rundschau.             46   47
Grenzen / Viermächteabkommen über Berlin / McDonalds           Szenenfoto aus
eröffnet erste deutsche Filiale in München 1972 »Nicht         der ZDF-Serie
                                                               »Der Bastian«
der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in        von 1973.
der er lebt« von Rosa von Praunheim / Watergate-Affäre /       Zwei Episoden
»Keine Macht für Niemand« von Ton Steine Scherben er­          spielen bei den
                                                               Olympischen
scheint / Kurt Waldheim wird Generalsekretär der UN /          Spielen in München:
Deutschland gewinnt die Fußball-EM in England 1973             Einmal quartieren
Weltfestspiele der Jugend in Ost-Berlin / Pinochet putscht     sich ungebetene
                                                               Gäste zum Über­
gegen Salvador Allende / erste Ölkrise / Oscar für Francis     nachten während
Ford Coppolas »Der Pate« / Jom-Kippur-Krieg 1974 »Faust-       der Spiele ein,
trecht der Freiheit« von Rainer Werner Fassbinder / Ikea       einmal gewinnt
                                                               der unkonven­-
eröffnet sein erstes Einrichtungshaus in Eching bei Mün­       tionelle Titelheld
chen / ABBA gewinnt mit »Waterloo« den Grand Prix Eu­          beim Rückwärts­-
rovision de la Chanson / Nelkenrevolution in Portugal /        lauf im Park –
                                                               an Karten für die
Rücktritt Willy Brandts nach der Guillaume-Affäre / Deutsch-   echten Olympischen              Kinder spielen mit
land wird in München Fußball-Weltmeister                       Spiele war er für               Wettbewerben wie
                                                               sich und seine                  Purzelbaumschlagen
                                                               Freundin nicht                  1972 zuhause die
                                                               gekommen.                       Olympischen Spiele
                                                                                               nach.

                                                                                               Plakataufruf zu
                                                                                               den Olympischen
                                                                                     48   49   Spielen 1972
Politisch engagierte Sportler nutzten die Olympischen
                                                            rechtes Bild:
Spiele als öffentlichkeitswirksame Plattform für ihre An­   1968 recken Tommie
liegen, was nach den Statuten des Olympischen Komitees      Smith und John
streng verboten ist. So wurden sowohl 1968 als auch 1972    Carlos bei der Sieger­
                                                            ehrung über 200 m
schwarze US-Leichtathleten von den Spielen ausgeschlos­     die Faust zur ‚Black
sen, nachdem sie auf dem Siegerpodest gegen die Ras­        Power’-Geste. Der Au­
senpolitik der USA demonstriert hatten. Auch bei den        stralier Peter Norman
                                                            trägt wie sie einen
jüngst vergangenen Spielen in Peking 2008 wurde die         Button des „Olympic
im olympischen Rahmen eingeschränkte politische Mei­        Project for Human
nungsäußerung kontrovers diskutiert.                        Rights“.

                                                            linkes Bild:
                                                            Wayne Collett und
                                                            Vincent Matthews
                                                            knüpfen 1972 bei ihrer
                                                            Siegerehrung über
                                                            400 m an die Prote­
                                                            ste von 1968 durch
                                                            Abwenden von der
                                                            US-Flagge und sehr
                                                            lässiges Auftreten an.

                                                                                     50   51
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