De-/Kolonisierung Des Wissens - polis aktuell 1/2022 - Zentrum polis

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De-/Kolonisierung Des Wissens - polis aktuell 1/2022 - Zentrum polis
polis aktuell   1/2022

De-/Kolonisierung
   des Wissens
De-/Kolonisierung Des Wissens - polis aktuell 1/2022 - Zentrum polis
Liebe LeserIn, lieber Leser!

In dieser Ausgabe von polis aktuell wollen wir uns mit             Diese Entwicklungen spiegeln sich auch im Lehrplan
einem Thema beschäftigen, das in den letzten Jahren            und im Grundsatzerlass Politische Bildung wider.
großen Aufwind erfahren hat. Es handelt sich um die                Um uns dem Thema anzunähern, müssen wir erst
De-/Kolonisierung des Wissens.                                 verstehen, was Kolonialismus mit Bildung und Wissen
   Viele Ereignisse haben die Gesellschaft in den letzten      zu tun hat. Dazu werden wir zu Beginn den Begriff
Jahren dazu bewegt, genauer auf koloniale Kontinuitä-          „Wissen“ vorstellen, anschließend einen Blick auf die
ten zu schauen. Während Rassismus schon seit der Bür-          Kolonialismusgeschichte aus der Perspektive von Wissen
gerInnenrechtsbewegung in den USA auf der progressi-           und Bildung werfen und den Begriff der epistemischen
ven politischen Agenda steht, sind koloniale Inhalte von       Gewalt vorstellen. Anschließend tauchen wir ein in The-
Lehrplänen in Schulen und Hochschulen als Ursache für          orie und Praxis der Dekolonisierung. In mehreren Pra-
Rassismen erst seit kurzem in den Blick von sozialen           xisbeiträgen erfahren wir aus erster Hand, wie Dekoloni-
Bewegungen genommen worden.                                    sierung in Österreich praktisch umgesetzt werden kann.
   Eine Bewegung hat in den letzten Jahren den Diskurs         Das Unterrichtsbeispiel „Rassismus im Schulbuch?“ gibt
um Rassismus und Kolonialismus maßgeblich geprägt:             einen ersten Anstoß zur Umsetzung des Themas in der
Black Lives Matter. Ihr verdanken wir es, dass Men-            Schule. Zum Schluss haben wir Material-, Link- und
schen rund um die Welt bei rassistischer Gewalt nicht          Lesetipps aufbereitet.
mehr tatenlos zuschauen. Ausgelöst wurde die Welle der             Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen.
Empörung am 25. Mai 2020 durch die Ermordung des
US-Amerikaners George Floyd durch einen Polizisten.               Ihr Team von Zentrum polis
Bereits fünf Jahre zuvor hat eine andere dekoloniale Be-          > service@politik-lernen.at
wegung auf sich aufmerksam gemacht: Rhodes Must Fall.
Diese kritisierte das Gedenken an Kolonialherrscher im
                                                                   inhalt
öffentlichen Raum.
   Weitere Ereignisse, die wir uns zum Anlass genom-               1. Begriffliche Annäherung
                                                                      an das Thema............................................ 3
men haben, dieses Heft zu schreiben, sind die UN-Deka-
de der indigenen Sprachen und die spanische Kolonisie-             2. Walter Mignolo: Dekoloniales Denken............ 5
rung Mexikos, die vor 500 Jahren begann.                           3. Dekoloniale Praktiken................................ 6
   In den letzten Jahren hat sich ein lebendiger, aber noch        4. Unterrichtsbeispiel................................... 18
nicht allzu bekannter Diskurs um die De-/Kolonisierung
                                                                   5. Materialien, Links, Tipps............................ 19
des Wissens entwickelt, den wir hier für die pädagogi-
sche Praxis aufbereiten wollen.

                                                                                                                                         polis aktuell   Nr. 2   2016

                                                                                                     Transkulturelles und
                                                                                                    Interkulturelles Lernen
                                                                                                                        KÖRPE
                                                                                                                                R

                                                                                                                         AUSS
                                                                                                                              EH    EN
                                                                                                      ANSC
                                                                                                      WELT-HAUUNG

                                                                                                                                               CHEN

                                                                                                                               FT
                                                                                                                        HERKUN
                                                                                                                                           SPRA
                                                                                                                 EN

                                                                                                                                T
                                                                                                                             ECH

                                                                                                      VERM                                        N
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                                                                                                                                            ERE
                                                                                                                                L

                                                                                                                                         INT
                                                                                                                             CH
                                                                                                                         GES

                                                                                                                                         FAMIL
                                                                                                                 ER
                                                                                                           ALT                                   IE
                                                                                                                       RELIGIONEN

                                                                                                               o Kultur(en): Begriffe und Konzepte
                                                                                                               o Interkulturelles und Transkulturelles Lernen
                                                                                                               o Ausgewählte Themenfelder (u.a. Identität/en,
                                                                                                                 Diversität, Mehrsprachigkeit)
                                                                                                               o Kontextwissen für Lehrkräfte
                                                                                                               o Materialien und Links

         Sprachenrechte                                  Grenzen                              Transkulturelles und
        polis aktuell 5/2021                       polis aktuell 4/2019                      Interkulturelles Lernen
                                                                                                polis aktuell 2/2016
    > www.politik-lernen.at/                  > www.politik-lernen.at/
      pa_sprachenrechte                          pa_grenzen                                 > www.politik-lernen.at/
                                                                                               pa_transkulturelleslernen

2                                                                                                                     polis aktuell 1/2022
De-/Kolonisierung Des Wissens - polis aktuell 1/2022 - Zentrum polis
1 Begriffliche Annäherung
                                   an das Thema
   1.1 Was ist wissen?                                                           1.2 WIE WIRKT KOLONIALISMUS?
   Der Duden definiert Wissen als „Gesamtheit der Kennt-                         Um zu verstehen, wie Wissen und Kolonialismus zusam-
   nisse, die jemand auf einem bestimmten Gebiet hat.“1                          menhängen, wie also Wissen kolonisiert wurde und heu-
   Diese Definition ist richtig, wenn wir von Wissen aus                         te noch aktiv kolonisiert wird, müssen die Wirkungsme-
   Sicht des Individuums ausgehen. Unser Interesse liegt                         chanismen des Kolonialismus betrachtet werden. Über
   in diesem Heft bei der sozialen Bedeutung von Wissen,                         die Kolonisierung von Wissen gibt es eine seit über 40
   also welche Rolle Wissen für die Gesellschaft spielt.                         Jahren währende akademische Debatte, aus der einige
      Wissen, in diesem weiteren Sinn als Gesamtheit von                         wichtige Beiträge im Folgenden zusammengefasst wer-
   sozialen und kulturellen Erfahrungen und Erkenntnissen                        den.
   in der und über die Welt, wird in verschiedenen Gesell-
   schaften unterschiedlich vermittelt. Es lassen sich zwei                      Edward W. Said: Die Konstruktion der Anderen
   Hauptformen der Wissensweitergabe unterscheiden: die                          1978 erschien das einflussreiche Buch „Orientalism“ des
   mündliche und die schriftliche. Bei der mündlichen Wei-                       Literaturwissenschafters Edward W. Said. Seine Studien
   tergabe von Wissen ist auch von oral history die Rede.                        hatten zwei Fragen im Fokus: Wie konstruiert Europa
   In der westlichen Gesellschaft hat sich die schriftliche                      den Orient? Und wie wird dieses Wissen zur kolonialen
   Weitergabe von Wissen durchgesetzt. Zentrale Institu-                         Herrschaftsstabilisierung instrumentalisiert? Der Orien-
   tion der westlichen Wissensproduktion ist die Wissen-                         talismus, der als eigene akademische Disziplin im 18.
   schaft. Hier wird anhand von anerkannten Methoden                             Jahrhundert entstand, konstruiert den orientalischen
   an neuen Ideen geforscht. Ergebnisse werden nach dem                          Menschen als exaktes – stereotypes – Gegenbild des
   Peer-Review-Verfahren von unabhängigen GutachterIn-                           europäischen Menschen (othering): feminin, irrational
   nen gesichtet und korrigiert. Dieses Verfahren soll die                       und primitiv im Gegensatz zum maskulinen, rationalen
   Qualität der Ergebnisse sichern.                                              und fortschrittlichen Westen. Diese westliche (Fehl-)Re-
      Ein weiterer wichtiger Begriff in diesem Zusammen-                         präsentation des Orients stellt nach Said eine Form der
   hang ist die Erkenntnistheorie oder Epistemologie. Der                        Gewaltlegitimation dar.
   Brockhaus definiert Epistemologie als „philosophische
                                                                                 María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: Edward W. Said – Der orien-
   Untersuchung der Möglichkeit, der Natur, der Quellen,                         talisierte Orient. In: Postkoloniale Theorie – Eine kritische Einführung.
   des Umfangs, der Verlässlichkeit und der Grenzen von                          3. Aufl. Bielefeld 2020, S. 99 ff.
   Wissen“2.

      Die Epistemologie fragt ...
      ... nach den Wegen, auf denen wir Wirklichkeit
          erkennen können.
      ... nach den Möglichkeiten und Grenzen der
          menschlichen Erkenntnisfähigkeit.
      ... nach dem, was Wahrheit überhaupt ist.
      ... nach dem, was eine Wissenschaft kennzeichnet
          und eine Wissenschaft von einer Nicht-Wissen-
                                                                                 Quelle: Kira Kohnen, Glokal e.V.
          schaft unterscheidet (Wissenschaftstheorie).3

1 Duden (2022): Wissen, das. www.duden.de/rechtschreibung/Wissen
2 Brockhaus (2022): Erkenntnistheorie. https://brockhaus.de/ecs/enzy/article/erkenntnistheorie
3 Aus dem Onlineportal des Vereins Philosophie.ch (2022). www.philosophie.ch/beitraege/themenbereiche/theoretische-philosophie/erkenntnistheorie

  Titelbild: Die verwendete Weltkarte geht zurück auf den US-amerikanischen Futuristen und Architekten Richard Buckminster Fuller. Er schuf die
  „Dymaxion-Weltkarte“ als Projektion des gewohnten Globus auf einen Ikosaeder, einen aus zwanzig Flächen bestehenden Körper. Ausgefaltet als Karte
  ergibt sich eine neue Perspektive, die Kontinente erscheinen anders sortiert und nahezu verbunden. Fuller wollte so einen Blick frei von den herrschen-
  den soziokulturellen Deutungsmustern ermöglichen. Grafik: Justin Kunimune. CC BY-SA 4.0

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De-/Kolonisierung Des Wissens - polis aktuell 1/2022 - Zentrum polis
Homi K. Bhabha: „Agency“
Gegen Said argumentiert Homi K. Bhabha, dass die Au-                      der betroffenen Frauen. Solche Mechanismen, nämlich,
torität der kolonialen Macht niemals absolut war, und                     dass über bestimmte Menschengruppen hinweg disku-
nimmt dabei die Handlungsmacht („agency“) der Ko-                         tiert wird, ohne dass diese selbst zu Wort kommen, kön-
lonisierten in den Blick. In seiner Arbeit setzt er sich                  nen beispielsweise auch beim kontrovers debattierten
vermehrt mit den multiplen und dezentralen Strukturen                     „Burkaverbot“ beobachtet werden.
von Macht und Opposition auseinander, ohne die der                        Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität
antikoloniale Widerstand unmöglich geblieben wäre. Die                    und subalterne Artikulation. Aus dem Englischen von Alexander Josko-
Autorität der Kolonialmächte war stets ambivalent und                     wicz und Stefan Nowotny. Wien 2020.

ängstlich, ihre Unterwanderung war möglich, weil ihre
Macht niemals total oder absolut war. Die Ambivalenz,                     Claudia Brunner: Epistemische Gewalt
die er feststellt, hilft uns auch bei der Analyse zeitge-                 Epistemische Gewalt bezeichnet jene Gewaltform, die
nössischer Entwicklungen, in denen immer komplexere                       mit unserem Wissen zu tun hat. Diese verortet Brunner
globalisierte Netzwerke und hartnäckig proklamierte                       in einer globalen Dimension von Ungleichverhältnissen,
Identitäten einander gegenüberstehen. Bhabhas Ar-                         die immer auch Gewaltverhältnisse sind. Das klingt pa-
beit verdeutlicht, dass der Kolonialismus nicht in der                    radox, erstens, weil Wissen – das Epistemische – ja ge-
Vergangenheit verhaftet bleibt und trotz der bedeuten-                    radezu als Gegenmittel zu Gewalt verstanden wird, und
den Geschichten und Siege des Antikolonialismus nicht                     zweitens, weil sich Wissenschaft als universelle Sprache
überwunden ist. Nicht nur anhaltende asymmetrische                        der Gewaltlosigkeit zu inszenieren weiß.
Beziehungen, sondern auch ein halbes Jahrtausend des                          Zentral für das Konzept epistemischer Gewalt ist die
Widerstands, der Verhandlungen und der kulturellen                        Analyse von Rassismus und Sexismus, weil diese die glo-
Übersetzungen setzen sich bis in die Gegenwart fort.                      bale Arbeits- und Ressourcen(ver-)teilung eines globa-
María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: Homi K. Bhabha – Mimikry,
                                                                          lisierten kapitalistischen Weltsystems organisieren und
Hybridität und Dritte Räume. In: Postkoloniale Theorie – Eine kritische   naturalisieren. Dessen Anfänge liegen in der kolonialen
Einführung. 3. Aufl. Bielefeld 2020, S. 231 f.                            Expansion Europas seit dem so genannten „langen 16.
                                                                          Jahrhundert“. Dies war nicht nur mit Geld und Waffen
Gayatri C. Spivak:                                                        zu machen, sondern benötigte zunehmend universali-
Die Stimmen der „Subalternen“                                             siertes Wissen und entsprechende Normen, um die Aus-
Während Said und Bhabha in erster Linie Strukturen                        beutung von Menschen und Ressourcen ebenso wie die
der Unterdrückung und Möglichkeiten des Widerstands                       Vernichtung von alternativen Wissens- und Seinsweisen
herausarbeiten, die ihre Wurzeln im europäischen Ko-                      (Epistemizid) zu rechtfertigen.
lonialismus haben, weist Spivak auf Widersprüche in-                          Die Kategorie „Rasse“ hat die Akkumulation des
nerhalb des Globalen Südens hin. Dabei untersucht sie                     Wohlstands im europäischen Zentrum auf Dauer gewähr-
insbesondere die problematischen Geschlechter- und                        leistet – und mit ihm die epistemischen und daraus re-
Klassenverhältnisse innerhalb von dekolonialen Wider-                     sultierenden anderen Privilegien.
standsbewegungen, vor allem die gewaltsame Unterdrü-                      Claudia Brunner: Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der
ckung von Frauen des Südens. Diese unterprivilegierte                     kolonialen Moderne. Bielefeld 2020, S. 10-16; 44 f.
Mehrheit des Globalen Südens bezeichnet Spivak als                        www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5131-7/epistemische-gewalt

subaltern, das heißt als depriviert und marginalisiert. In
Ihrem bekanntesten Essay „Can the Subaltern Speak?“                          EpistemIzid ...
(Spivak, 1988) zeigt sie anhand des Verbots der Witwen-                      ... [meint] das systematische Auslöschen von
verbrennung (Sati) durch die englische Kolonialverwal-                           Wissen, das als „nicht gültig“, also nicht bedeu-
tung, dass die Witwen weder von den Engländern [sic!]                            tend oder nicht relevant, angesehen wird. Nur
noch von den indischen Eliten in angemessener Weise                              das Wissen, das nach den Kriterien der weißen,
repräsentiert wurden. Beide Seiten maßten sich an, für                           bürgerlichen Gesellschaft seit der Aufklärung
diese Frauen sprechen zu können: Die Kolonialverwal-                             geschaffen wurde, gilt als wissenschaftlich. Der
tung stellte sie als passive Opfer dar, die man vor ihrer                        E. – und die damit einhergehende Diskreditie-
eigenen Kultur schützen müsse, während die nationalis-                           rung nicht-westlichen bzw. nicht-weißen Wissens
tischen Eliten die angebliche Freiwilligkeit des Suizids                         – begann mit der Kolonisierung und dauert bis
                                                                                 heute an.
und den Heroismus der Frauen unterstrichen bzw. be-
                                                                                 Quelle: IDA e.V.
haupteten. Ironischerweise fehlte in diesem Diskurs die
                                                                                 www.idaev.de/recherchetools/glossar
Perspektive derjenigen, um die es eigentlich geht: die

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De-/Kolonisierung Des Wissens - polis aktuell 1/2022 - Zentrum polis
2 walter mignolo: dekoloniales denken
 Bevor im nächsten Kapitel auf aktuelle Praxisbeispiele eingegangen wird, soll hier nochmals eine Brücke geschlagen
         werden zur Theorie, um den historischen Kontext herzustellen, in dem sich Dekolonisierung bewegt.
          Dazu wird im Folgenden ein Vortrag von Professor Walter Mignolo von der Duke University (USA)
          vom 23. November 2021 in übersetzter, gekürzter und leicht adaptierter Fassung wiedergegeben.

                               Zum Nachhören in der englischen Originalfassung unter:
                                              youtu.be/BZfXSs8FioE

Ich möchte Ihnen dekoloniales Denken anhand von zwei            Das zweite Beispiel basiert auf den Arbeiten von
Beispielen erklären: eines von Mahatma Gandhi und           Linda T. Smith, einer Professorin für indigene Bildung.
ein anderes von Linda T. Smith. Gandhi wollte die bri-      Sie arbeitet eng mit den Mãori zusammen, die sie als
tischen Kolonialmächte aus Indien vertreiben, weil sie      indigene soziale Bewegung bezeichnet. Wenn Mãori das
die Lebensweise der indischen Bevölkerung störten. Er       Wort „Forschung“ hören, wissen sie, dass sie es mit ei-
kämpfte für die Befreiung und die Unabhängigkeit der        ner Waffe zu tun haben, um sie zu kontrollieren. Die
InderInnen. Er tat es durch das, was er zivilen Unge-       Dekolonisierung von Wissen ist für Linda Smith ein Weg,
horsam nannte. Diesen zivilen Ungehorsam übernahm er        um ihre eigene Forschung zu betreiben und um heraus-
von David Thoreau, einem US-amerikanischen Denker,          zufinden, welche Art von Wissen die Mãori brauchen,
Schriftsteller und Aktivisten aus der ersten Hälfte des     warum sie es brauchen, wann sie es brauchen und wo
19. Jahrhunderts. Für Thoreau bedeutete ziviler Unge-       sie es brauchen. Das ist notwendig, um sich von den
horsam, Ungehorsam gegenüber dem Staat, denn er war         Vorschriften westlichen Denkens zu befreien. Die Art
gegen den Krieg der Vereinigten Staaten gegen Mexiko        und Weise, wie die Mãori über Wissen nachdenken, ent-
in den Jahren 1846 bis 1848. Er weigerte sich, Steuern zu   stammt nicht der westlichen Kosmologie, die sich u.a.
zahlen, weil die Regierung die Steuern zur Finanzierung     von Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin ableitet,
dieses Kriegs verwendete. Als Gandhi von zivilem Unge-      sondern ihrer eigenen.
horsam sprach, war die Situation anders. Thoreau dachte         Wir sehen überall Menschen, die sich von der west-
in der gleichen westlichen Kosmologie, gegen die er sich    lichen Erkenntnistheorie lösen und mit der Wiederher-
auflehnte. Die westliche Kosmologie ist im Grunde eine      stellung ihrer eigenen Kosmologie, der Denkweise ih-
christliche Theologie, die sich im 19. Jahrhundert mit      rer Vorfahren, beginnen, in ihrer eigenen Sprache, die
der säkularen Wissenschaft und Philosophie verband.         durch und während der Invasion der Siedler zerstört
Kosmologien werden in Form von Erzählungen weiter-          wurde. Und zwar nicht nur politisch und wirtschaftlich,
gegeben und dienen als Erklärungen, um zu verstehen,        sondern vor allem durch Bildung.
warum wir hier sind, wie wir hierhergekommen sind und           Gandhi und Smith hatten verschiedene Ziele, aber
so weiter. David Thoreau bewegte sich zwar innerhalb        einen gemeinsamen Horizont.
der westlichen Kosmologie, aber er war ungehorsam.
Gandhi kam aus einer völlig anderen Kosmologie. Seine           Es geht darum, sich von der westlichen Invasion
Sprache war nicht Englisch, seine Sprache war Gujarati,         zu befreien. Weder Gandhi noch Linda Smith
und wir wissen, dass es in Indien viele, viele Sprachen           können aber zur kulturellen Zivilisation und
gab. Er übernahm den zivilen Ungehorsam von Thoreau,          zur Denkweise der InderInnen und Mãori vor der
aber unter seinen Bedingungen. Er verwandelte ihn in         Invasion der Briten zurückkehren. Die Neu-Konsti-
einen epistemischen Ungehorsam, weil er die epistemi-         tuierung dessen, was zerstört wurde, muss also in
sche Grundlage des westlichen Denkens missachtete.              Konfrontation mit der Bildung der westlichen
Statt der westlichen Art und Weise, Gesellschaften zu            Zivilisation erfolgen, die in uns allen steckt.
organisieren, die auf der Errichtung von Staaten basiert,
entwickelte er Hind Swaraj, das als Ausgangspunkt für           Das europäische Denken ist großartig, es hat fantas-
eine neue indische Gesellschaftsordnung dienen sollte.      tische Dinge geleistet. Diese wurden aber in und für Eu-
Es ging ihm also nicht darum, einen Nationalstaat in        ropa getan. Dekoloniales Denken heißt in jeder Region
Indien zu errichten, er setzte sich vielmehr für eine be-   der Welt eine Pluralität des Wissens, Denkens und Glau-
dürfnisorientierte kommunale Entwicklung ein.               bens zu schaffen.

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De-/Kolonisierung Des Wissens - polis aktuell 1/2022 - Zentrum polis
3 dekoloniale praktiken
              3.1 GASTBEITRAG VON MARCELA TORRES HEREDIA UND GABRIELE SLEZAK

    Marcela Torres Heredia absolvierte das Lehramt in Sozialwissenschaften an der Universidad Pedagógica Nacional,
           Bogotá (2009), den Master in Lateinamerikastudien der Universität Wien (2016) und den Master
     für angewandtes Wissensmanagement an der Fachhochschule Burgenland (2019). Derzeit ist sie Doktorandin
      und Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (DOC-team) am Institut für Sozial- und
     Kulturanthropologie der Universität Wien und forscht zur Rolle von Wissen zwischen kolonialer Reproduktion
                   und sozialen Alternativen innerhalb der afrokolumbianischen Frauenbewegungen.

       Gabriele Slezak studierte Afrikawissenschaften mit Doktorat in Soziolinguistik an der Universität Wien,
der Université de Ouagadougou und der Universität Bayreuth. Seit 1997 lehrt und forscht sie an der Universität Wien
    mit einem Schwerpunkt im Bereich Mehrsprachigkeit in institutionellen Kontexten, kolonialen Kontinuitäten
         in Bildungseinrichtungen und transdisziplinärer Forschung in Westafrika. Seit 1998 arbeitet sie in
       der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE), aktuell als Leiterin der
                               Öffentlichkeitsarbeit und Wissenschaftskommunikation.

                                                                 Wie spiegeln sich koloniale Strukturen in
                                                                 unserem Wissen wider?
                                                             Torres Heredia: Vielen Menschen fällt es schwer, sich vorzu-
                                                             stellen, dass koloniale Strukturen immer noch eine bedeu-
                                                             tende Rolle in unserem Alltag spielen; es ist auch schwie-
                                                             rig, sich vorzustellen, warum es wichtig ist, über etwas
                                                             zu sprechen, das mehr mit der Vergangenheit als mit der
                                                             Gegenwart oder Zukunft assoziiert wird und weit entfernt
                                                             von unserer aktuellen Lebenssituation zu sein scheint.
                               Marcela Torres Heredia.           Diese Perspektive ist kein Zufall; es ist keine einfa-
                                 Foto: privat
                                                             che Aufgabe, die Vorteile zu verstehen, die Gesellschaf-
                                                             ten des Globalen Nordens auf der Basis der Ausbeutung
                                                             von natürlichen Ressourcen und der Körper bestimm-
                                                             ter sozialer Gruppen hatten, im eigenen Land und noch
                                                             mehr im Globalen Süden. Eine erste Schwierigkeit ist die
                                                             eigene Verortung und Sozialisierung: Wenn man auf der
                                                             Seite der Profiteure steht, ist es nicht einfach, das Aus-
                                                             maß und die Auswirkungen der verschiedenen Formen
                                                             der Ausbeutung zu begreifen. Sie äußern sich sowohl in
                                                             den physischen und materiellen Folgen für die betroffe-
                                                               nen Ökosysteme als auch in den verschiedenen Formen
                                                                 sozialer Ungleichheit.
                                                                       Um die so entstandene soziale Ungleichheit zu
                                                                    rechtfertigen, braucht es Weltbilder (Ideologien),
                                                                     die eine Geschichte davon erzählen, dass alles
                                                                     seine rechte Ordnung hat. Diese Geschichten wer-
                                                                     den überall erzählt, auch in Bereichen, die wir für
                                                                    ideologiefrei halten, wie z.B. beim Wissen.
                                                                      Im Bereich des Wissens geschieht dies auf ver-
                                                                schiedene Weise. Es ist entscheidend, wer Wissen wo

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De-/Kolonisierung Des Wissens - polis aktuell 1/2022 - Zentrum polis
Gabriele Slezak. Foto: privat

generiert, welches Wissen tatsächlich als solches aner-        historische Mission, die in den Gesellschaften, die sie
kannt wird, denn oft gelten andere Sichtweisen zum             übernehmen wollen, entstanden ist, hat die Rechtferti-
Verständnis und zur Interpretation der Welt als unter-         gung zahlreicher Mechanismen extremer Gewalt ermög-
legen oder existieren in unseren Augen nicht. Einer der        licht, die dauerhafte Auswirkungen hinterlassen hat.
wichtigsten Beiträge der Kolonialitätsforschung zum            Diese Narrative, die bestimmte Formen des Fortschritts,
Verständnis unserer Beziehungen zueinander besteht             der Entwicklung und der Zivilisation propagieren, wur-
darin, klar zu stellen, dass Nichtexistenzen oder Un-          den unter der Idee der Moderne verbreitet, die aus ei-
sichtbarkeiten aktiv erzeugt werden. Wenn wir das Wis-         ner dekolonialen Perspektive direkt mit der Kolonialität
sen der Gemeinschaften des Amazonas oder der Anden             verknüpft ist, d.h. die Kolonialität ist die dunkle und
nicht kennen, wenn wir glauben, dass sie kein Wissen           mitkonstitutive Seite der Moderne.
haben oder ihre Geschichte homogen und unveränderlich
ist, dann liegt das daran, dass die kolonialen Strukturen      Slezak: Wissen ist kolonial geprägt. Es ist durchdrungen
des Wissens uns dazu bringen, solche Vorstellungen zu          von kolonialen Konzepten der Überlegenheit, Unterdrü-
reproduzieren. Wenn wir uns anschauen, was unter All-          ckung, Abwertung und Legitimierung von Ungerechtig-
gemeinwissen gemeint ist, können wir feststellen, dass         keit. Warum ist das so? Weil die Entstehung kolonialen
viele Wissensformen, die wenig mit europäischer Univer-        Denkens auf einen bestimmten Zeitpunkt zurückgeht.
salität oder Allgemeinheit zu tun haben, sondern eher          Wir sehen, dass mit dem Zeitalter der Aufklärung und
lokal und spezifisch sind, davon ausgeschlossen sind.          der Entstehung von Nationalstaaten eine Privilegierung
    Historisch gesehen ist das Rezept Barbaren/Zivi-           Europas gegenüber dem Rest der Welt etabliert wurde.
lisierte weit verbreitet und immer noch aktiv, obwohl          Diese eurozentrische Perspektive ist ein Paradigmen-
es Aktualisierungen oder neue Formate für diese Logik          wechsel in der Produktion von Wissen. Jede Art von
gibt, zum Beispiel die Idee der Entwicklung/Unterent-          Wissen, ungeachtet der Disziplin, das seit der Aufklä-
wicklung, neben vielen anderen derartigen Mustern. Ich         rung produziert, verhandelt, aufbereitet und verwaltet
erwähne sie aber vor allem deshalb, weil diese Idee im         wird, ist durchwoben von den Auswirkungen des Kolo-
Bereich des Wissens eine historische Grundlage für die         nialismus in der Gesellschaft. Schon alleine die Frage,
Rechtfertigung von Interventionen in anderen Kontex-           wer dieses Wissen produziert hat, ja auch die Frage, wer
ten und menschlichen Gruppen geliefert hat, und zwar           entscheiden konnte, was als Wissen zugelassen wurde,
unter der Vorstellung, dass es die Pflicht der Zivilisierten   um es zu archivieren und zu dokumentieren, führt uns
ist, die Barbaren zu zivilisieren, oder der Entwickelten,      zu kolonialem Denken. Wir finden daher seine Spuren
die Unterentwickelten zu entwickeln; diese scheinbare          in allen Disziplinen, nicht nur in der Geographie oder

polis aktuell 1/2022                                                                                                          7
De-/Kolonisierung Des Wissens - polis aktuell 1/2022 - Zentrum polis
der Afrikawissenschaft, was naheliegend ist. Auch in der        Eines unserer wichtigsten Instrumente im Dekolo-
Psychologie, Medizin, Philosophie, Rechtswissenschaft,       nisierungsversuch ist die Reflexivität, d.h. ein Prozess
Biologie oder Geologie findet sich Gedankengut, das wie      der kritischen Selbstbetrachtung und der Offenheit für
unsichtbar ist, weil es wenig bewusst ist und als gegeben    die Herausforderung, uns mit unseren eigenen Struk-
angesehen wird. Was ungesagt bleibt, ist, dass Wissen        turen auseinanderzusetzen und zu verstehen, wie un-
von nicht-weißen, nicht-europäischen Gesellschaften          sere Handlungsweise Machtverhältnisse reproduziert
ausgeklammert wurde. Man berücksichtigt zum Beispiel         und ihre Kontinuität gewährleistet, in diesem Fall im
nicht, dass auch die Art, wie Wissen in einer Bibliothek     Bildungsprozess. Dekolonisierung bedeutet, sich zu fra-
geordnet und aufbereitet wird, noch immer Strukturen         gen, wo es in meinem Bildungskontext unsichtbar ge-
aufweist, die nicht-weiße Perspektiven ausklammern.          machte Subjekte gibt und welche Strategien ich anwen-
Daran erkennen wir, dass es sehr wichtig ist, einen kri-     den kann, um diese Unsichtbarkeit zu bekämpfen. Es
tischen Blick zu entwickeln, der hilft, koloniale Spuren     bedeutet, die Hierarchien des Wissens zu hinterfragen
im Denken zu erkennen. Ich beschäftige mich mit dieser       und zu überlegen, inwieweit die Dichotomie von Wissen-
Frage aus einer Perspektive der Afrikawissenschaften.        den und Nichtwissenden reproduziert wird und wie ich
    Dieser interdisziplinäre Zugang hilft mir, kontinuier-   einen Dialog zwischen den verschiedenen Arten der In-
lich immer wieder auf rassistisch geprägte, Ungleichheit     terpretation sozialer Erfahrungen herstellen kann. Das
festschreibende Praktiken im Sprechen, Schreiben, Den-       bedeutet auch, dass ich darüber nachdenke, welchen
ken, Lehren und Lernen aufmerksam zu werden. Es ist          Wert ich den Fähigkeiten derjenigen beimesse, die sich
mir ein Anliegen, den Unterricht als einen Raum zu ge-       in einem Bildungsprozess befinden, ob alle Fähigkeiten
stalten, der es erlaubt, eine kritische, dekoloniale Pers-   wertgeschätzt werden oder ob sie ausgeschlossen wer-
pektive im Austausch zu üben. Ich nehme mich als Weiße       den, weil sie nicht als produktiv, nützlich, effizient usw.
aus dieser Lernerfahrung nicht aus, wenn wir zum Bei-        angesehen werden.
spiel gemeinsam der Frage nachgehen, welche kolonialen
Praktiken in Bibliotheken analysiert werden können.             RFCDC Teacher Self-Reflection Tool
                                                                                      Dieses Instrument soll Lehr-
    Welche Strategien zur Dekolonisierung gibt es im
                                                                                      kräfte und MultiplikatorInnen
    Allgemeinen? Welche verfolgt ihr? Und warum diese
                                                                                      bei ihrer Arbeit mit dem
    und nicht andere?
                                                                                      Referenzrahmen für Kompeten-
Torres Heredia: Unter Dekolonisierung verstehen wir                                   zen für eine demokratische
den Prozess der Reflexion, in dem wir versuchen, diese                                Kultur (RFCDC) des Europarats
Strukturen, die aus kolonialen Logiken entstanden sind                                begleiten. Es kann als Einstieg
und die wir in unseren verschiedenen Lebensbereichen                                  verwendet werden, um sich
sowie in den sozialen Strukturen reproduzieren, sicht-          mit dem RFCDC vertraut zu machen, kann aber auch
bar zu machen. Darüber hinaus zielt der Prozess der De-         als ein sehr allgemeiner Begleiter zur Selbstreflexion
kolonisierung darauf ab, alternative Praktiken zur hier-        über Unterricht und demokratische Kompetenzen
archischen, homogenisierenden, unsichtbar machenden             gesehen werden.
und dichotomisierenden Sichtweise der Welt zu entwer-
fen. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass die Be-             www.politik-lernen.at/teacherreflectiontool
mühungen um Dekolonisierung nicht das Vorhandensein
eines einzigen, im Voraus festgelegten Weges implizie-
ren, der buchstabengetreu zu befolgen ist; im Gegenteil,        All diese Ideen sind mit der Vorstellung eines li-
es handelt sich um einen kontextbezogenen Prozess,           nearen Fortschritts verbunden. Außerdem bin ich der
der eng mit den spezifischen Realitäten jedes Einzelnen      Meinung, dass skalenübergreifendes Denken von grund-
verbunden ist, mit den Empfindungen des Körpers, mit         legender Bedeutung ist, d.h. die Fähigkeit, zwischen lo-
den Interaktionen mit den Wesen um uns herum, seien          kaler, nationaler und globaler Ebene zu verknüpfen und
es menschliche oder nichtmenschliche Akteure. Es geht        zu interagieren. Diese Verbindungen sind sehr wichtig,
darum, etwas zu versuchen und vielleicht (und sicher-        insbesondere in Bildungskontexten, die von Migrations-
lich sogar) dabei zu scheitern, wobei das Scheitern nicht    prozessen geprägt sind. Dabei ist die Hinterfragung der
als Problem, sondern als Chance gesehen werden soll,         Machtverhältnisse, die z.B. zu Vertreibungen führen,
weiter zu lernen und die Schwierigkeiten im Umgang           sowie deren Auswirkungen auf das Leben derjenigen,
mit den verschiedenen kolonialen Strukturen, die uns         die diese Geschichte erleben, von grundlegender Bedeu-
umgeben, zu verstehen.                                       tung.

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De-/Kolonisierung Des Wissens - polis aktuell 1/2022 - Zentrum polis
unsichtbar gemacht wurden; die Schaffung von For-

      > lesetipp                                                              men der Selbstorganisation, um Zugang zu und Dialog
                                                                              mit verschiedenen Formen von Wissen zu erhalten; die
           Handbuch Migrationspädagogik                                       Schaffung alternativer Strategien der Repräsentation
           Paul Mecheril. Beltz Verlag, 2016.                                 von marginalisierten und rassifizierten Gruppen; In-
           Migrationspädagogik bezeichnet einen Blick­                        terventionen bei der Selbstdarstellung von Machtinsti-
           winkel, unter dem Fragen gestellt und thema-                       tutionen, die weiterhin die Ausbeutung des Lebens in
           tisiert werden, die bedeutsam sind für eine                        anderen Kontexten fortführen, wie z.B. transnationale
           Pädagogik unter den Bedingungen einer                              Unternehmen. Dies sind nur einige Beispiele.
           Migrationsgesellschaft.
           www.beltz.de/fachmedien/paedagogik/produk-
           te/details/30210-handbuch-migrationspaedago-                          > lesetipp
           gik.html                                                                   Vera Heimisch: Künstlerische Interventionen
                                                                                      als dekoloniale Strategie? Entstanden im
                                                                                      Rahmen der gleichnamigen Masterarbeit an der
                                                                                      Universität Bremen, 2020.
       Ich glaube, dass es zu den Aufgaben der Schule ge-
   hört, verschiedene Arten von Wissen in einen Dialog zu                             www.yumpu.com/en/document/read/64617690/
   bringen, und zwar nicht in einer exotisierenden Weise                              kunstlerische-interventionen-als-dekoloniale-
   oder als Teil eines einmaligen Ereignisses im Schulka-                             strategie
   lender, sondern als eine ständige Aufgabe, die von allen
   Mitgliedern der Gesellschaft Lernen und Verlernen ver-
   langt.
       Was die konkreten Strategien der Dekolonisierung                       Slezak: Dekolonisierungsarbeit beginnt bei einem selbst.
   angeht, an denen viele Menschen beteiligt sind, so be-                     Dekolonisierung heute ist nicht gleichzusetzen mit dem
   wegen sie sich in mehreren Bereichen. An dieser Stelle                     Prozess, den Kolonialismus abzuschaffen, sondern es
   möchte ich die Rolle der Kollektivität in diesem Prozess                   verlangt, dekolonial zu denken und zu handeln. Damit
   betonen; ich dekolonisiere nicht allein, Dekolonisierung                   meine ich, aus gewohnten Denkmustern auszusteigen.
   ist ein kollektiver Prozess. Hier trifft der Ubuntu-Satz                   Es braucht eine Reflexion und kritische Betrachtung der
   „Ich bin, weil wir sind“ sehr gut zu. Dies verdeutlicht                    eigenen Annahmen. Aber dieser Prozess ist damit nicht
   den Einfluss des Kollektivs, in dem man sich befindet,                     abgeschlossen. Es ist notwendig, dass er zu Veränderun-
   sowie des kollektiven Handelns und gleichzeitig meine                      gen im Handeln führt.
   Verantwortung für das Kollektiv.                                              Warum? Die Erfindung der menschlichen Rasse und
       Wir wollen der kolonialen Geschichtsschreibung im                      die darauf aufbauende Rassentheorie durch europäische
   urbanen Raum auf die Spur gehen. Wir tun dies in Form                      und amerikanische weiße Männer hat es ermöglicht,
   von Stadterkundungen wie Decolonizing in Vienna4 oder                      andere Menschen zu kolonisieren, zu unterdrücken
   mit Gruppen von Studierenden. Darüber hinaus versu-                        und zu versklaven. Diese Ungerechtigkeit wurde mit
   chen wir mit der Gruppe Antikoloniale Interventionen in                    Machtstrukturen und Wissen untermauert. Strukturen,
   Wien5 die Kämpfe zahlreicher Menschen in verschiede-                       die der Kolonialismus einst geschaffen hat, prägen bis
   nen Kontexten gegen die negativen Auswirkungen der                         heute Gesellschaften weltweit. Postkoloniale Theoreti-
   Kolonialität im Globalen Norden sichtbar zu machen,                        kerInnen zeigen auf, wie der Imperialismus anhaltenden
   zum Beispiel die Kämpfe indigener Völker und von Um-                       Einfluss auf alle Lebensbereiche hat. Die hierarchische
   weltaktivistInnen aus dem Globalen Süden gegen die                         Weltordnung prägt Sprache, Identität, Verhaltenswei-
   Zerstörung ihrer Lebensweisen.                                             sen, Politik- und Wirtschaftsentscheidungen bis heute.
       Dies sind einige Strategien, aber es gibt auch an-                     Es geht also um das Aufgeben unbewusster Vorurteile,
   dere, wie die Wiederherstellung von Erinnerungen und                       um Gleichberechtigung näher zu kommen.
   Wissen von Subjekten, die in verschiedenen Kontexten

4 https://decolonizinginvienna.at

5 Das Kollektiv ist auf Facebook und Instagram zu finden: www.facebook.com/Kollektiv-antikolonialer-Interventionen-in-Wien-104377878015281
  www.instagram.com/antikoloniale_interventionen

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De-/Kolonisierung Des Wissens - polis aktuell 1/2022 - Zentrum polis
Sollte dekoloniales Denken stärker in die              oder unsichtbar gemacht wurden, und sich mit der
     Antirassismus-Arbeit einfließen? Wie hängt beides      komplexen, dynamischen, sich wandelnden und viel-
     zusammen? Könnt ihr konkrete Beispiele von             schichtigen Geschichte von Subjekten zu befassen, die
     kolonialen Kontinuitäten in der österreichischen       der Segregation unterworfen waren. Es bedeutet, Aus-
     Bildungslandschaft nennen?                             drucksmöglichkeiten in allen erforderlichen Sprachen
                                                            zu schaffen und den Mehrwert zu erkennen, der in der
                                                            Vielfalt der Perspektiven auf ein Phänomen besteht.
     > hörtipp                                                  Er impliziert einen Dialog auf Augenhöhe, d.h. das
                                                            Aufbrechen einer Reihe von Hierarchien bei der Produk-
       Durch Widerstand unser koloniales Erbe
                                                            tion und Reproduktion von Wissen. Dass mehrere Stim-
       überwinden
                                                            men auch entscheiden können, was fürs Lernen relevant
       Der Kolonialismus prägt nach wie vor unsere          ist, wo die Interessen im Bildungssystem liegen, welche
       Wirtschaft und wie wir heute leben. Um das zu        Dynamik in dem Bildungsumfeld entstehen soll. Dies ist
       ändern, müssen wir verstehen, welche Mecha-          eine der großen Herausforderungen der Schule, nämlich
       nismen ihn hervorgebracht haben und heute            ein Umfeld zu schaffen, in dem Lernen nicht vom Lehr-
       noch aufrechterhalten.                               personal auf den Lernenden übertragen wird, sondern in
                                                            dem die Möglichkeit besteht, von allen am Lernprozess
       https://enorm-magazin.de/gesellschaft/zusam-
                                                            Beteiligten zu lernen, und zwar in Verbindung mit dem
       menleben/tschuess-kolonialismus-durch-wider-
                                                            sie umgebenden Kontext. Dies ist der Schlüssel dazu,
       stand-unser-koloniales-erbe-ueberwinden
                                                            dass Lernen nicht nur eine spezifische Aktivität in der
                                                            Schule oder in offiziellen Bildungseinrichtungen ist,
                                                            sondern eine ständige Aufgabe, die in der Lage ist, zur
Torres Heredia: Zweifellos gehen beide Aspekte Hand in      Emanzipation der Menschen beizutragen und sich der
Hand: Wie ich bereits erwähnt habe, ist die Hinterfra-      Welt zu stellen, in der wir heute leben, das heißt einer
gung des Rassismus und seiner aktuellen Auswirkun-          komplexen, sich verändernden und vielfältigen Welt.
gen einer der zentralen Aspekte der Dekolonialität.
Dies betrifft nicht nur die Repräsentation der Menschen
und den symbolischen Bereich, sondern auch konkre-             UN-Dekade der indigenen Sprachen
te Diskriminierung, Eine dekoloniale Denkweise führt
notwendigerweise zu einer antirassistischen Praxis und         Die Vereinten Nationen haben die Jahre 2022-
umgekehrt.                                                     2032 zur Internationalen Dekade der indigenen
                                                               Sprachen ausgerufen, um die Aufmerksamkeit der
     Was können Schulen, insbesondere Lehrkräfte tun,          Weltöffentlichkeit auf die kritische Situation vieler
     um Wissen zu dekolonisieren?                              indigener Sprachen zu lenken und deren Erhaltung
Slezak: In einem unserer Workshop-Module (siehe                und Wiederbelebung zu fördern.
Seite 12, Anm. d. Red.) zeigen vier junge Menschen             https://en.unesco.org/idil2022-2032
in einem Video, wie wichtig es ihnen ist, aktivis-
tisch gegen Rassismus aufzutreten, die aber nicht als
wandelndes Rassismuslexikon zur Verfügung stehen
möchten. Ihre Forderung, dass sich alle selbstständig                           Podcast: Richtig und Falsch
bilden und eigene Vorurteile aufdecken sollen, geht an
                                                                                Folge 5: Alltagsrassismus erkennen
alle Mitglieder der Gesellschaft – Ressourcen gibt es ge-
                                                                                und diskutieren
nug. Ich denke diese Forderung ist genau so auch an
                                                                                Wie kann politisches und rassis­
Schulen und Lehrkräfte gerichtet. Sie können einen
                                                                                muskritisches Lernen heute aus-
Lernraum gestalten, der es erlaubt, Kompetenzen für
                                                               sehen? Was tun bei rassistischen Zwischenfällen
eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Rassismen auf-
                                                               im Klassenzimmer? Und vor allem, wo liegen die
zubauen.
                                                               eigenen blinden Flecken, was versteckten Alltags­
Torres Heredia: Einige dekoloniale AutorInnen sprechen
                                                               rassismus betrifft?
vom Wissensdialog als einer dringenden Notwendigkeit,
um die Kolonialität des Wissens zu durchbrechen. Eine          www.politik-lernen.at/folge5_richtigundfalsch
der ersten Voraussetzungen für diesen Dialog besteht
darin, diejenigen kennenzulernen, die zuvor exotisiert

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3.2 ÖFFENTLICHEN RAUM DEKOLONISIEREN

                             Protest gegen das Denkmal von Karl
                             Lueger, Bürgermeister Wiens von 1897
                             bis 1910. Wegen der antisemitischen
                             Einstellungen Luegers ist das Denkmal
                             im 1. Wiener Bezirk seit längerer Zeit
                             in der Kritik. Die Stadt Wien plant als
                             Reaktion dessen Umgestaltung.
                             Foto: Nikolai Weber

Der öffentliche Raum ist umkämpft. Spätestens seit
dem Erscheinen von sozialen Bewegungen wie Rhodes
Must Fall oder Black Lives Matter stehen rassistische
                                                                         >  Unterrichtsimpuls: Umgang mit
                                                                         Denkmälern aus dekolonialer Perspektive
Symbole, Darstellungen und Verherrlichungen des Kolo-
                                                                         Gehen Sie mit Ihrer Klasse auf einen Stadtspazier-
nialismus sowie andere Formen von Unterdrückung und
                                                                         gang. Geben Sie vorher Ihren SchülerInnen einige
Diskriminierung wie z.B. Antisemitismus unter zuneh-
                                                                         Reflexionsfragen mit:
mender Kritik.
                                                                             Warum meint ihr, wird bestimmten Personen ein
                                                                             Denkmal gewidmet und anderen nicht?
                                                                             Welche Argumente findet ihr, warum es prob-
                                                                             lematisch sein kann, wenn Personen, die für
                                                                             Menschrechtsverletzungen bekannt sind, ein
                                                                             Denkmal erhalten?
                                                                             Wie sollte man mit problematischen Denk­mälern
                                                                             umgehen?
                                                                         Artikel zur Einführung in das Thema: „Dekoloniale
                                                                         Utopien: Welche Denkmäler brauchen wir?“
                                                                         https://decolonizinginvienna.at/?p=203
Entfernung der Statue von Cecil Rhodes vom Campus der Universität von
Kapstadt, 9. April 2015, im Zuge der Rhodes Must Fall Protestbewegung.
Foto: Desmond Bowles, CC BY-SA 2.0

polis aktuell 1/2022                                                                                                          11
3.3 BIBLIOTHEKEN DEKOLONISIEREN
Bibliotheken als Wissensspeicher bieten viele Möglich-
keiten, um Methoden der Dekolonisierung umzusetzen.
                                                          >   Unterrichtsimpuls:

Die C3-Bibliothek für Entwicklungspolitik, die von        Diskutieren Sie in Ihrer Klasse folgende Fragen:
der Österreichischen Forschungsstiftung für Internati-        Welche Literatur wird in Bibliotheken ange-
onale Entwicklung (ÖFSE), der Frauen*solidarität und          boten, welche findet keinen Eingang in den
Baobab geführt wird, setzt sich seit 2018 mit Strategi-       Bibliothekskatalog?
en der Dekolonisierung und rassismuskritischen Bildung
                                                              Warum nicht?
auseinander. Die Bibliothek ist öffentlich und hat den
größten Bestand Österreichs zu den Themen Internatio-         Wie hängt das mit dem Thema De-/Kolonisie-
nale Entwicklung, Frauen, Gender und Globales Lernen,         rung von Wissen zusammen?
der auch ein breites Angebot zu globalen Ungerechtig-         Wie soll man mit rassistischer Literatur um­
keiten, Rassismus und kolonialen Kontinuitäten für Pä-        gehen?
dagogInnen wie auch SchülerInnen beinhaltet.

     > lesetipp                                           ÖFSE Workshop: Kolonialismus. Auswirkungen im
       Gabriele Slezak et al.: Rassismen im Bücher-
                                                          Heute verstehen und Rassismus erkennen.
       regal? Ein Praxisbericht von der kolonialen
                                                          Interaktiver Online-Workshop mit Live-Moderation
       Spurensuche in der Bibliothek bis hin zu einer
                                                          für Schulklassen, empfohlen für 10. und 11. Schul­
       rassismuskritischen Bildung, 2021.
                                                          stufe. Kann jederzeit gebucht werden.
       Auf dieser Website finden Sie den oben
                                                          Ein Online-Workshop mit vier Modulen zu Kolo-
       genannten Bericht sowie alle Informationen zu
                                                          nialismus. Der Workshop berücksichtigt soziale,
       den dekolonialen Aktivitäten und Ansätzen der
                                                          politische und wirtschaftliche Machtverhältnisse,
       C3-Bibliothek für Entwicklungspolitik, bspw.
                                                          um Wissensproduktion, Informationsverteilung
       eine Anleitung zur „kolonialen Spuren­suche“ in
                                                          und –zugang auf globaler Ebene kritisch zu
       der eigenen Bibliothek:
                                                          hinterfragen. Es wird der Frage nachgegangen,
       https://libreas.eu/ausgabe40/slezak/               wessen Perspektiven und Stimmen Gehör finden
                                                          und welche nicht, sowie wer in welchen Situa­
                                                          tionen für wen spricht. Es werden exemplarische
                                                          Werke aus dem Bestand der C3-Bibliothek aus-
                                                          gewählt und auf unterschiedliche Formen von
                                                          Rassismus untersucht – wie zum Beispiel othering,
                                                          Fremdbezeichnungen oder die White-Savior-Figur.
                                                          Damit können explizite wie implizite Erschei-
                                                          nungsformen von Rassismus benannt und Schü-
                                                          lerInnen Anhaltspunkte gegeben werden, selbst
                                                          unterschiedliche Medien einer rassismuskritischen
                                                          Prüfung zu unterziehen. Ein Modul führt hin zum
                                                          Alltag von jungen Menschen, die aktivistisch tätig
                                                          sind und ihre Einsichten und Erfahrungen zu
                                                          Rassismus in Österreich teilen.
                                                          www.oefse.at/en/veranstaltungen/rueckblick/
                                                          veranstaltung/event/show/Event/kolonialismus-
                                                          auswirkungen-im-heute-verstehen-und-rassismus-
                                                          erkennen

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3.4 EINE REISE FÜR DAS LEBEN

                  Begrüßungsansprache von Subcomandante Moises am Flughafen Wien Schwechat, 14.9.2021. Foto: privat

  Im Herbst 2020 kündigten die Zapatistas, indigene RebellInnen aus dem Süden Mexikos, an, mit einer „Reise für
das Leben“ Abgesandte auf alle Kontinente zu entsenden, beginnend mit Europa. Im Juni 2021 erreichte eine Vorhut
    von sieben Delegierten per Schiff das spanische Festland, um am 13. August 2021 in der Hauptstadt Madrid
 demonstrativ den 500. Jahrestag der Zerstörung der Aztekenhauptstadt Tenochtitlan durch spanische Raubmörder
   zu zelebrieren. Unter dem Motto: „No Nos Conquistaron“ (span.: „Sie haben uns nicht erobert“) erinnerten die
Delegierten vor allem an 500 Jahre ungebrochenen Widerstand der Bevölkerungen der amerikanischen Länder gegen
       den kolonialen Landraub, die Unterdrückung der Menschen und die Zerstörung von Kultur und Umwelt.

         Im September 2021 stiegen dann fast 200 Delegierte der selbstverwalteten Gebiete der Zapatistas und
    anderer indigener Gemeinden, die sich im Congreso Nacional Indígena (Nationaler Indigener Kongress – CNI)
      zusammengeschlossen haben, in Schwechat aus dem Flugzeug, um von Wien aus ganz Europa zu bereisen.
        Zwei Drittel der Gäste waren junge Frauen. Im Rahmen ihres Besuchs in Österreich fand ein Kolloquium
 unter dem Titel „Saberes de abajo – Wissen von unten“ statt. Ziel der Veranstaltung war es, Erfahrungsberichte aus­
       zutauschen und in Dialog zu treten sowie disziplinäre, ethnische und nationale Barrieren zu überwinden.

    Ein Netzwerk verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen und einzelner AktivistInnen hat den Besuch
       der mexikanischen RebellInnen in Österreich organisiert und beabsichtigt, sich auch weiterhin um einen
        Austausch von Geschichten, Wissen, Gefühlen, Werten, Herausforderungen, Misserfolgen und Erfolgen
        zu bemühen – zwischen Menschen verschiedenster Weltgegenden, die gemeinsam an der Überwindung
                                  von Kolonialismus und Gewalt arbeiten möchten.

    Wir haben einige der AktivistInnen gebeten, für uns ein Resümee dieses ganz besonderen Besuchs zu ziehen.
                          Eine umfassende Dokumentation der Reise befindet sich unter:
                                  www.zapalotta.org/category/reise-fuer-das-leben

polis aktuell 1/2022                                                                                                  13
Welchen Ansatz verfolgen die Zapatistas, um zu            Wie hat dich der Besuch der zapatistischen
     einer Dekolonisierung der Welt beizutragen?               Delegation beeinflusst?
     Welche Rolle spielt Wissen dabei?                      Wir haben die Erkenntnis gewonnen, dass die Motivati-
Mit ihren Selbstverwaltungsstrukturen entziehen die         on für antikoloniale Arbeit nicht das tolle Gefühl sein
Zapatistas sich selber und ihre Gebiete im südlichsten      darf, als notorische Besserwisserin den Mitmenschen um
und ärmsten mexikanischen Bundesstaat Chiapas dem           einen antikolonialen Denkschritt voraus zu sein, um sie
neokolonialen, kapitalistischen Zugriff. Gleichzeitig ha-   zu belehren, sondern vor allem einmal: Zuhören. Sich in
ben sie seit 28 Jahren alle wesentlichen Schritte des       andere Weltwahrnehmungen hineinversetzen. Denkan-
Aufbaus kommunitärer, revolutionärer Selbstverwal-          schlüsse suchen. (Tina Leisch)
tung mit großen und kleinen Erzählungen weltweit be-
kannt gemacht. Erzählungen, die nicht nur geschickte        „Für eine Welt, in der viele Welten Platz haben“, ist ei-
Agitprop für ihr eigenes politisch-soziales Projekt sind,   ner der Sätze, die ich von den Zapatistas gelernt habe.
sondern vor allem als mentale Rahmen, als Frames, als       Alle Ideologien können zum Faschismus führen, wenn
Narrative dienen, mit denen und durch die Menschen          sie den Menschen vergessen. Von den Zapatistas können
auf der ganzen Welt dekolonisierende/antikoloniale Per-     wir lernen: Vorschlagen, nicht nachschimpfen. Abstim-
spektiven ausprobieren können.                              men, nicht wählen. (anonym)
                          Auch der Besuch in Europa
                       im Sommer und Herbst 2021 war           Wie hat die Delegation zur Dekolonisierung
                       beides: Konkrete Begegnung von          rassistischer oder kolonialer Strukturen in Österreich
                       AktivistInnen, Kennenlernen der         beigetragen?
                       zapatistischen Kämpfe, Strukturen    Die gründlichen, selbstkritischen und dadurch auch sehr
                       und Menschen, Vernetzung einer-      lehrreichen Schilderungen ihrer Erfahrungen im Kämp-
seits und eine große, freche, antikoloniale Erzählung       fen, Widerstand leisten, eigene Selbstverwaltungsstruk-
vom „Gegenbesuch”, den die Zapatistas 500 Jahre nach        turen aufbauen, Konflikte lösen und Zusammenhalten
der Zerstörung der Aztekenhauptstadt Tenochtitlan           waren sehr inspirierend. Unsere Gäste haben uns über-
durch europäische Raubmörder unternehmen. Eine Er-          wältigt durch ihren Mut, mit 200 Leuten vertrauensvoll
zählung, die 500 Jahre koloniale Zurichtung und Unter-      zu gänzlich unbekannten Menschen zu reisen und sich
werfung und 500 Jahre Widerstand dagegen auf die Bild-      auf uns zu verlassen. (Tina Leisch)
schirme gebracht und die Menschen neugierig gemacht
hat, mehr zu erfahren.                                      Für mich war es besonders spannend, nach den Gesprä-
    Auch die Berichte der Delegierten des Congreso Na-      chen mit den Delegierten zu reflektieren, was Menschen
cional Indígena, die die Reise begleitet und über den       in Mexiko, die von Menschenrechtsverletzungen und
Widerstand indigener Gemeinden in anderen mexikani-         Umweltverschmutzung durch das kapitalistische Wirt-
schen Bundesstaaten berichtet haben, sind Musterbei-        schaftssystem auf schlimmste Weise betroffen sind,
spiele dafür, wie die mexikanische Regierung im Dienste     konkret (nicht) tun können, um darauf zu achten, dass
großer, oft transnationaler Unternehmen die Rechte der      es innerhalb der Lieferketten keine Menschen-, Arbeits-
indigenen Bevölkerungen verletzt. Die Berichte über das     und Umweltrechtsverletzungen gibt. Das war wichtig
Megaprojekt des fälschlicherweise „Tren Maya“ (Maya-        für die Überlegungen, wie wir ein österreichisches oder
Zug) genannten Ausbeutungs- und Erschließungspro-           europäisches Lieferkettengesetz designen können, mit
jektes von Mayagebieten gegen den Willen der dort           dem Betriebe in Europa für solche Rechtsverletzungen
lebenden Bevölkerung, die Berichte über agroindustriel-     verantwortlich gemacht werden sollen. In unserem Den-
len Avocadoanbau durch Drogenkartelle auf indigenem         ken haben wir Organisationen (NGOs, Gewerkschaften,
Land, über Industrieparks, Windparks, Autobahnen,           MenschenrechtsverteidigerInnen, indigene Gemein-
Gaspipelines, die gegen den erklärten Willen und den        schaften oder Betriebsratskörperschaften) eine viel zu
Widerstand der indigenen Gemeinden durchgesetzt wer-        tragende Rolle zugedacht, die sie real wahrscheinlich
den, haben uns Zuhörenden wirtschaftliche und poli-         nicht erfüllen können. Trotzdem hat in diesen Über-
tische Strukturen einer neokolonialen Weltordnung an        legungen die Möglichkeit, den Menschen vor Ort einen
ganz konkreten Beispielen klar gemacht. (Tina Leisch,       Zugang zu europäischen Gerichten zu eröffnen und ih-
Regisseurin, Journalistin und politische Aktivistin)        nen Rechtsschutz zu bieten, immer noch einen hohen
                                                            Stellenwert. (Petra Bayr, Nationalratsabgeordnete)

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> lesetipps                                                      Beitrag zur Leseförderung

      Kinder sollen lernen, mit der Erde zu leben                              Die Hälfte der Sonne.
      Interview mit Marichuy, der ersten indigenen
                                                                               Chimamanda Ngozi Adichie.
      Kandidatin für eine Präsidentschaftswahl in
                                                                               Aus dem Englischen von
      Mexiko, bei einer der Stationen der „Reise für
                                                                               Judith Schwab. Frankfurt am
      das Leben“.
                                                                               Main: Fischer Taschenbuch,
      https://kijuku.at/bildung/kinder-sollen-lernen-
                                                                               5. Aufl., 2016.
      mit-der-erde-zu-leben
      Jens Kastner: Dekolonialistische Theorie aus                             1967 erklärte sich ein Teil
      Lateinamerika.                                                           von Nigeria zur unabhän-
      Unrast Verlag, 2021.                                                     gigen Nation Biafra. Drei
      https://unrast-verlag.de/vorankuendigungen/                              Jahre und einen verhee-
      dekolonialistische-theorie-aus-lateinamerika-     renden Krieg später, in dem die Zivilbevölkerung
      detail                                            systematisch ausgehungert wurde, hatte die
                                                        nigerianische Regierung wieder Oberhand über die
                                                        erdölreiche Region. Durch Wechsel der Perspektiven
                                                        und Zeitebenen wird ein breites, postkoloniales
                                                        Gesellschaftspanorama entworfen. Die Rolle und
 >   Unterrichtsimpuls:                                 Verantwortung der britischen Kolonialherrschaft
                                                        wird dabei genau analysiert.
 MUSEEN ALS ORTE DER DE-/KOLONISIERUNG
 Museen spielen eine tragende Rolle innerhalb der
 Diskussion um die Dekolonisierung des Wissens. So
 widmet sich beispielsweise das Haus der Geschichte     Mehrsprachiger Redewettbewerb
 Österreich der Schwarzen Geschichte hierzuzulande:     „Sag’s Multi!“
 www.hdgoe.at/pasua                                     Beim mehrsprachigen Redewettbewerb „Sag’s
 www.hdgoe.at/nachgefragt_spanbauer                     Multi!“ treten Jugendliche in bis zu 50 verschiede-
 Das Weltmuseum Wien gibt der künsterischen             nen Sprachen an. Dabei sind inspirierende Gedan-
 Auseinandersetzung mit Themen wie Rassismus,           ken von Jugendlichen aus den unterschiedlichsten
 Kolonialismus und Eigen- sowie Fremddarstellungen      Herkunftskulturen zu hören.
 immer wieder in Form von Ausstellungen Raum. Das       https://sagsmulti.orf.at
 Weltmuseum ist jedoch selbst Gegenstand kontrover-
 sieller Diskussionen, beispielsweise wenn es um die
 koloniale Aneignung fremder Wertgegenstände wie
 des Azteken-Federkopfschmucks „Penacho“ geht.

                                                        Themenvorschläge für vorwissenschaftliche
 Besuchen Sie mit Ihrer Klasse den Saal „Geschich-
                                                        Arbeiten und Diplomarbeiten
 ten aus Mesoamerika“ in der Schausammlung des
 Weltmuseums. Diskutieren Sie im Anschluss folgende     Decolonize the city! Wo ist das koloniale Erbe noch
 Artikel mit Ihrer Klasse:                              sichtbar? Wie prägt der Kolonialismus noch heute
 www.wien.orf.at/stories/3117026                        unser Denken?
 www.bit.ly/3rNr0qH                                     Kolonialismus in Schulbüchern. Koloniale Kontinui-
 www.fluter.de/restitution-savoy-afrikas-kampf-kunst    täten im österreichischen Bildungssystem.
                                                        Rassismusprävention im europäischen und interna-
     Was spricht für die museale Ausstellung von        tionalen Kontext: rechtliche Rahmenbedingungen
     „fremden“ Objekten?                                und konkrete Maßnahmen

     Warum wird dies als problematisch diskutiert?      Angebot der C3-Bibliothek für SchülerInnen für die
                                                        VWA- oder DA-Vorbereitung:
     Welche Argumente sprechen für eine Rückgabe        www.centrum3.at/bibliothek/unser-service/vorwis-
     des Azteken-Federkopfschmucks, welche dagegen?     senschaftliches-arbeiten

polis aktuell 1/2022                                                                                          15
3.5 Black Voices Anti-Rassismus Volksbegehren

                   Noomi Anyanwu und Madgalena Osawaru, Sprecherinnen des Black Voices Volksbegehrens,
                        kommen zur De-/Kolonisierung des österreichischen Schulsystems zu sprechen.
           Zentrale Forderung des Volksbegehrens ist die Einführung eines Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus,
                in dem anti-rassistische Maßnahmen für die Bereiche Repräsentation und Öffentlichkeit, Polizei,
                         Flucht und Migration, Gesundheit, Bildung und Arbeitsmarkt erstellt werden.

       In unseren Schulen wird Geschichte und Wissen ab-                         Dieser Satz kommt sehr oft als Vorwand, sich nicht
   seits der weißen, eurozentrischen Norm wenig bis gar                       mit dem Thema Dekolonisierung und strukturellem Ras-
   nicht thematisiert. Im Unterricht lernen wir die wich-                     sismus auseinander setzen zu müssen. Kolonien sind
   tigsten Aspekte von Geschichte, diese aber stets aus                       aber keine Voraussetzung dafür, dass sich Rassismus in
   der Sicht weißer Menschen, und oft sind die auch noch                      unseren Strukturen und Köpfen festsetzt. Wir fordern
   männlich und alt. Das heißt, wir müssen uns fragen:                        deshalb die Einführung des Unterrichtsprinzips Post-
   Wie wird Wissen produziert und von wem? Und welches                        Kolonialismus, in dessen Rahmen z.B. reflektiert werden
   Wissen wird uns gelehrt beziehungsweise lehren wir?                        kann: Wer war Angelou Soliman, wieso gibt es Diskus-
   Wir sollten uns damit auseinandersetzen, wie wir unser                     sionen über die M*Gasse6 in Wien und was hat das mit
   Bildungssystem diversifizieren können. Denn Österreich                     mir zu tun?
   ist viel mehr als weiß, alt und männlich.                                     Zwei wichtige Stützpfeiler der rassismuskritischen
       Prinzipien des Anti-Rassismus müssen als separat                       Bildungsarbeit sind die curricularen Gegebenheiten,
   hervorgehobener und fixer Bestandteil in die österrei-                     wie erwähnt, und eben die Lehrkräfte – das gilt vom
   chischen Lehrpläne aufgenommen werden. Bis dato fin-                       elementar-pädagogischen bis hin zum universitären Bil-
   det man in den Allgemeinen Didaktischen Grundsätzen                        dungssektor.
   zwar ein eigenes Kapitel zum Thema Diversität und In-                        Um die angestrebten Änderungen adäquat umzuset-
   klusion, Chancen- und Geschlechtergerechtigkeit wie-                       zen ist es wichtig, dass die Lehrkräfte geschult werden.
   der, in dem auf kulturelle Vielfalt und Mehrsprachigkeit                   Die Handlungen von LehrerInnen und SchulleiterInnen
   eingegangen wird, jedoch wird dadurch die Dringlich-                       sind ausschlaggebend für die Qualität der Schulzeit ihrer
   keit und Größenordnung des österreichischen Rassis-                        SchülerInnen. Die LehrerInnen haben damit eine große
   mus-Problems nicht deutlich.
       Es reicht nicht, Anti-Rassismus einfach „mitzuden-
                                                                                                                       Madgalena Osawaru.
   ken“ und unter dem Sammelbegriff „Inklusion“ zu pa-                                                                        Foto: privat
   cken. Natürlich ist die Diversifizierung der Unterrichts-
   materialien (Stichwort Repräsentation) wichtig, um den
   Kindern ein akkurates Bild unserer Gesellschaft zu ver-
   mitteln, aber es ist sicherlich nicht damit getan, in allen
   Beispielen die Namen von Lisa und Philipp auf Yusuf
   und Azra zu ändern. Vielmehr muss in den Curricula der
   einzelnen Fächern aufgeräumt werden. Beispielsweise
   muss laut Mittelschullehrplan Rassismus explizit nur im
   Geschichteunterricht bei den Themen Kolonialisierung
   und Shoa thematisiert werden. Rassismus ist jedoch kein
   in sich abgeschlossenes historisches Phänomen, sondern
   allgegenwärtig, und so sollte auch die Thematisierung
   dessen sowie Präventions- und Aufklärungsarbeit fixer
   Bestandteil der Schulkultur sein.

        „Wir hatten keine Kolonien.
    Was haben wir mit Rassismus zu tun?“

6 Es handelt sich hier um zwei rassistische Straßennamen in Wien-Leopold­
  stadt, deren Anführung im Klartext für Menschen mit rassistischer Diskri-
  minierungserfahrung beleidigend ist.

   16                                                                                                            polis aktuell 1/2022
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