DIE ZEITSCHRIF T FÜR AUSLANDSCHWEIZER OK TOBER 2006 / NR. 5 - Der Gotthard ist ein sagenhafter Berg Wie viel Patriotismus braucht die Demokratie? ...
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DIE ZEITSCHRIFT FÜR AUSLANDSCHWEIZER OK TOBER 2006 / NR. 5 Der Gotthard ist ein sagenhafter Berg Wie viel Patriotismus braucht die Demokratie? Tanja Frieden: Leben für den Fun-Sport
EDITORIAL I N H A LT 3 Plädoyer für einen «Patriotismus light» 5 V IELE SCHWEIZERINNEN UND SCHWEIZER haben mit ihrer Heimat nicht selten ei- Briefkasten nen Umgang, der von Unsicherheit geprägt ist und leicht masochistische Züge trägt. Engländer, Franzosen, Italiener oder gar Amerikaner verhalten sich ganz an- 5 ders. Sie waren im Gegensatz zu den Schweizern immer stolz auf ihre Heimat. Manchem Gelesen: Der Fall Jeanmaire Schweizer scheint seine Herkunft oft fast peinlich zu sein. 7 Ich erinnere mich an Radiosendungen zum 1. August mit Beiträgen von Auslands- Gesehen: Small Number, Big Impact korrespondenten, die erkunden mussten, welches Bild die Menschen in den Gastländern von der Schweiz hatten. Den Schweizern ist es stets wichtig zu wissen, was die anderen 8 über sie denken. Deshalb wird vor heiklen Abstimmungen auch immer wieder gedroht, Der Gotthard ist ein sagenhafter Berg vom Ausgang hänge das Ansehen der Schweiz im Ausland ab. Den Franzosen wäre das völlig egal, den Engländern auch. Wer ausländische Medien konsumiert, stellt schnell fest, 11 Abstimmungen dass die Schweizer Innenpolitik ausserhalb der Landesgrenzen kaum jemanden interes- siert. Vielleicht zu Unrecht... 12 Gerne wird hier auch übersehen, dass das Image der Schweiz in der ganzen Welt her- Offizielle EDA-Informationen vorragend ist, dass das Land, in dem angeblich Milch und Honig fliesst, oft gar zu makel- los dargestellt wird. Ist es Unsicherheit, die uns gewisse Realitäten nicht sehen lässt? Warum sind wir häu- fig geneigt, unser Licht unter den Scheffel zu stellen, obwohl wir keinen Grund dazu ha- ben? Zum Glück hat sich die Stimmung im Land in den letzten Jahren stark gewandelt. Wie ich im letzten Editorial geschildert habe, hat das weisse Kreuz im roten Feld in allen Gesellschaftsschichten längst Kultstatus erworben. Schweizer zu sein ist cool geworden, vor allem unter den Jungen. Der Soziologe Kurt Imhof von der Universität Zürich beschäftigt sich seit langem mit Fragen rund um den Patriotismus – unter besonderer Berücksichtigung der Situa- tion in der Schweiz. Wir haben uns mit ihm über die Definition der Heimatliebe unter- halten, über deren Notwendigkeit und die Gefahren, die fehlgeleiteter Patriotismus Tanja Frieden, Snowboard-Olympiasiegerin bewirken kann. Imhof erinnert im Gespräch daran, dass der Staat vor allem durch die 68er-Bewegung in Misskredit geraten war. Sie hat das Bild einer Regionalnachrichten ausbeuterischen Nation gezeichnet und diese als hässliche Fratze des Kapitalismus und der Bourgeoisie an den Pranger gestellt. Und noch in den Achtzigerjahren habe die Linke für die Schweizerinnen 14 Wie viel Patriotismus braucht die und Schweizer den Begriff Heimat nicht dingfest machen können, Demokratie? da die Schweiz für sie Synonym für unmoralisches und inkorrektes politisches Handeln war. Vor allem die Intellektuellen standen mit 16 der Schweiz auf Kriegsfuss. Die Feststellung des Schriftstellers Max ASO-Informationen Frisch wurde quasi zur Losung: «Mit der Schweiz verbindet mich Heinz Eckert nur noch der Reisepass.» Selbst die FDP, einst zusammen mit der 18 SP die staatstragende Partei des Landes, politisierte damals mit dem Slogan: «Mehr Frei- Porträt: Tanja Frieden, Olympiasiegerin heit, weniger Staat.» Diese Zeiten sind vorbei. Seit die Welt zum globalen Dorf gewor- den ist, befinden sich die Nationalstaaten wieder im Aufwind, Heimatgefühle dürfen wie- 19 In Kürze der ausgelebt werden. Imhof plädiert deshalb für einen «Patriotismus light», für einen Patriotismus ohne religiöse, politische oder ideologische Prägung. Man könne und dürfe doch stolz sein auf einheimische Errungenschaften und Institutionen, meint Imhof. Und er erwähnt die SBB, den funktionierenden Service Public, die soliden Sozialversicherun- Titelbild: gen oder die direkte Demokratie und erklärt sie zu Kunstwerken, an denen Generatio- Mineure feiern am nen erfolgreich gearbeitet hätten. 6. September 2006 den ersten Durchschlag für die So gesehen gibt es wirklich genügend Gründe, auf die Schweiz stolz zu sein. neue Oströhre im Gotthard. HEINZ ECKERT, CHEFREDAK T OR Foto: Keystone SC HWEIZ ER R EVU E Oktober 2006 / Nr. 5 I M P R E S S U M : «Schweizer Revue», die Zeitschrift für die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, erscheint im 33. Jahrgang in deutscher, französischer, italienischer, englischer und spanischer Sprache in 21 regionalen Ausgaben und einer Gesamtauflage von über 390 000 Exemplaren. Regionalnachrichten erscheinen viermal im Jahr. ■ R E DA K T I O N : Heinz Eckert (EC), Chefredaktor; Rolf Ribi (RR), Alain Wey (AW), Gabriela Brodbeck (BDK), Auslandschweizerdienst EDA, CH-3003 Bern, verantwortlich für die «Offiziellen EDA-Informationen». Aus dem Bundeshaus berichtet René Lenzin (RL). Übersetzung: CLS Communication AG ■ POS T ADRESSE: Herausgeber/Sitz der Redaktion/Inseraten-Administra- Foto: Keystone tion: Auslandschweizer-Organisation, Alpenstrasse 26, CH-3006 Bern, Tel. +4131356 6110, Fax +4131356 61 01, PC 30-6768-9. Internet: www.revue.ch ■ E - M A I L : revue@aso.ch ■ DRUC K: Zollikofer AG, CH-9001 St.Gallen. ■ ADRESS ÄNDERUNG: Bitte teilen Sie Ihre neue Adresse Ihrer Botschaft oder Ihrem Konsulat mit und schreiben Sie nicht nach Bern. Einzelnummer CHF 5.– ■
BRIEFKASTEN GELESEN 5 «Freudentaumel geschlichen hat. Gerhard In den späten Siebzigerjahren hatte ein «Jahrhundertverrat» in Rot-Weiss» Richter ist eher einer der sehr die Schweiz aufgewühlt. Der Einsterngeneral Jean-Louis In seinem ausgezeichneten grossen Maler unserer Zeit und Jeanmaire, Kommandant der (damaligen) Luftschutztrup- Editorial – dem man nicht obwohl er in seinen Werken in pen, war im August 1976 in Lausanne auf offener Strasse ver- unbedingt voll zuzustimmen der Tat auf die Fotografie zu- haftet worden. Die Vorwürfe im Haftbefehl: militärischer braucht – hat Chefredaktor rückgreift, so ist er dennoch Nachrichtendienst und militärische Spionage. Der Brigadier «Vaterlandsverräter» Heinz Eckert einen Fehler nicht das, was man als «künstle- der Schweizer Armee hatte seit den frühen Sechzigerjahren begangen. Er bezeichnet «La rischen Fotografen» bezeichnen militärische Dokumente an sowjetische Militärattachés über- Suisse n’existe pas» als Slogan, könnte. Nochmals vielen Dank geben. Es war die Zeit des Kalten Krieges, im Volk und in den mit dem die Schweiz in den für all Ihre Bemühungen für die Medien sorgte der «Landesverrat» für eine nationale Empö- Neunzigerjahren auf sich auf- Schweizer im Ausland! rung. In einem streng geheimen Verfahren der Militärjustiz merksam machte. In Tat und MAR TIN BAENNINGER, WES TMOUNT, wurde der Berufsoffizier im Juni 1977 degradiert, aus der Wahrheit ist «Suiza no existe» QUEBEC, KAN ADA Armee ausgeschlossen und zu 18 Jahren Zuchthaus verur- ein Bild des Waadtländer teilt, von denen er 12 Jahre absitzen musste. Jeanmaire starb Künstlers Ben Vautier, das mit Lavaux – einfach schön 1992 im Alter von fast 82 Jahren. über 100 anderen Kunstwerken Vielen Dank für den ausge- Der «Fall Jeanmaire» ist bis heute nicht zur Ruhe gekommen. So- den Schweizer Pavillon an der zeichneten Artikel in der Juni- eben ist ein Buch erschienen, dass die Hintergründe dieser Affäre, Weltausstellung von Sevilla Ausgabe dieses Jahres der die Stichhaltigkeit der Anklage, das Verfahren vor Militärgericht von 1992 zierte, der – wie vom «Schweizer Revue» über das und die Person des Offiziers sorgfältig beurteilt. Der Autor Jürg Bundesrat beschlossen – dem Lavaux. Ich habe mich sehr Schoch hatte seinerzeit als Journalist im Bundeshaus über die Thema Schweizer Kultur gefreut zu hören, dass das La- Staatsaffäre berichtet. Für seine Recherchen sind ihm nun die Jean- gewidmet war. Vautier wollte vaux in Kürze zum Weltkultur- maire-Akten im Bundesarchiv geöffnet worden. – Fast dreissig damit aussagen, dass es keine erbe der UNESCO zählen Jahre nach dem Gerichtsurteil stellen sich Fragen: Hat Jeanmaire schweizerische Kultur per se wird. Ich habe schon sehr viele tatsächlich Landesverrat zu Gunsten der Sowjetunion begangen? gebe, sondern eine Reihe loka- Länder bereist, aber glauben Sind bei seiner Verhaftung und seiner Verurteilung die rechtsstaat- ler und regionaler Kulturen in Sie mir, das Lavaux ist der lichen Normen eingehalten worden? Warum fiel das Urteil der- unserem Land. Der Pavillon schönste Platz auf Erden, dank massen hart aus? wurde zwar in der Schweiz von der aussergewöhnlichen Land- Im Parlament sprach Bundesrat Kurt Furgler am 7. Oktober 1976 gewissen konservativen Kreisen schaft und all den Weinbauern, von «geheimsten verratenen Unterlagen» und nannte den ange- heftig kritisiert, doch fand er die seit Generationen unter klagten Offizier noch vor der Gerichtsverhandlung einen «Verrä- internationale Beachtung und Schwerstarbeit die Weinberge ter». Die später bekannt gewordene Anklageschrift listet 35 Ver- wurde als zukunftsträchtig be- pflegen. Ein wichtiger Hinweis: stösse auf. Als «geheim» klassifiziert war nur das Reglement zur zeichnet. Unterschlagen wird Die Weinberge vom Lavaux Durchführung der Kriegsmobilmachung, von dem es aber tausende meist die Existenz eines zwei- befinden sich «am Fusse der Al- von Exemplaren gab. Korpskommandant Josef Feldmann stellte spä- ten Bildes von Ben Vautier im pen am Lac Léman» und nicht ter fest, dass Jeanmaire «nie Zugang zu streng geheimen Akten Schweizer Pavillon in Sevilla. «am Genfersee». Jeder Einwoh- hatte». Sein Titel: «Je pense donc je ner aus dem Kanton Waadt, der Rechtsstaatliche Grundsätze wurden wiederholt verletzt: Jean- Suisse»... etwas auf sich hält, würde diese maire wurde nach seiner Festnahme 107 Tage lang von der Umwelt PHILIPPE LÉVY, EHEM. GENERAL - Region nie anders nennen. abgeschnitten, was der Menschenrechtskonvention widersprach. DIREK T OR DER MESSE BASEL CLEO BOLENS DIBBLE, WAAD TL ÄNDE- Bei seiner Verhaftung lagen keinerlei Beweise vor, wie der Bundes- RIN, WOHNHAFT IN WASHING T ON, anwalt zugeben musste. Während der Untersuchung rapportierte Kleiner Fehler US A der Bundesanwalt regelmässig Bundesrat Furg- Zunächst möchte ich Ihnen ler, was eine Verletzung der Staatsgewalten war. meine Glückwünsche zu Ihrem Dankeschön Der Ankläger und der Gerichtspräsident bespra- ausgezeichneten Magazin aus- Wie bereits viele andere vor chen gemeinsam den Prozess, was ein sauberes sprechen, das ich immer mit mir möchte auch ich Ihnen und Gerichtsverfahren ausschloss. Das Urteil von 18 grosser Begeisterung lese. Der Ihren Mitarbeitern meinen Jahren Haft lag nur zwei Jahre unter der gesetz- Inhalt ist nicht nur sehr aktuell, grössten Dank für die ausge- lichen Höchststrafe. Der «Verrat am Vaterland» sondern auch sehr interessant, zeichnete «Schweizer Revue» musste gesühnt werden, so wollten es das Volk, gut präsentiert und im Ver- aussprechen. Ich lese jede Aus- die meisten Politiker, die Offiziere und die Me- SC HWEIZ ER R EVUE Oktober 2006 / Nr. 5 gleich zu anderen Veröffentli- gabe von vorne bis hinten durch dien. Das harte Urteil sollte zudem den auslän- chungen dieser Art intelligent und fühle mich sehr mit dem dischen Geheimdiensten zeigen, dass man die eigene Abwehr wie- geschrieben. Bravo. Dennoch verbunden, was in der Schweiz der im Griff hatte. Der Buchautor ist überzeugt, dass der Prozess möchte ich Sie auf einen tagtäglich passiert. Somit bleibt gegen den Offizier im damaligen aufgeputschten Klima nicht fair kleinen Fehler aufmerksam ma- der Schweizer in mir wach und sein konnte. «Jeanmaire war Täter und Opfer zugleich.» ROLF RIBI chen, der sich in der August- lebendig! Vielen Dank! Jürg Schoch: Fall Jeanmaire, Fall Schweiz. Wie Politik und Medien einen «Jahr- Ausgabe dieses Jahres ein- JEANNY KAR TH, SÜDAFRIKA hundertverräter» fabrizierten. Verlag «hier und jetzt», Baden 2006, Fr. 38.–
GESEHEN 7 Small Number – Big Impact Seit dem frühen 18. Jahrhundert sind mehrere Hunderttausend Schweizer in die USA ausgewandert. Einige haben nachhaltige Spuren hinterlassen, wie das Buch «Small Number – Big Impact» von Bruno Abegg und Barbara Lüthi zeigt. Bilder und Biografien stellen Motive für die Auswanderung, Reise, Eingliederung und den Einfluss der US-Schweizer dar. Das Buch ist im NZZ-Buchverlag in Englisch erschienen und kostet 68 Franken. Louis Chevrolet, Autokonstrukteur Fritz Zwicky, Wissenschaftler Elisabeth Kübler-Ross, Sterbeforscherin Othmar H. Ammann, Brückenbauer Fotos aus dem Buch: Small Number – Big Impact SC HWEIZ ER R EVUE Oktober 2006 / Nr. 5 Yule Kilcher, Abenteurer Marc Forster, Hollywood-Regisseur Ausgewanderte Schweizer Familie
8 EIN KÖNIGLICHES GEBIRGE Gotthard – der sagenhafte Berg entfernt – die Reuss und der Tessin. Das Gotthardmassiv ist auch eine Wetterscheide. Nicht das Matterhorn, nicht die Jungfrau oder der Pilatus – Wenn es im Norden regnet, beschert dem Sü- der Gotthard ist für die Eidgenossen der Berg der Berge. den meist ein Nordwind ein Bilderbuchwet- Hier soll die Schweiz entstanden sein, hier hat sie ihre Jahr- ter. Wenn im Norden der Föhn weht, giesst es im Tessin oft tagelang. hundertwerke gebaut. Von Rolf Ribi Die Strasse über den Pass Bis ins 12. Jahrhundert verhinderte die Jeder Schüler hört die Sage vom Bau der piz im 13. Jahrhundert geweiht wurde. Das Schlucht der Schöllenen den Weg zum Gott- Teufelsbrücke, wo die Urner den Teufel Altarbild zeigt den Heiligen Gotthard. hard. Erst nach dem Bau der Teufelsbrücke überlistet haben. Viele kennen das Bild «Der Gotthard ist zwar nicht das höchste um 1220 begann ein Saumverkehr mit Last- «Gotthardpost» von Rudolf Koller, das im Gebirge der Schweiz, und in Savoyen über- tieren bis in die Lombardei. Aber bis ins Zürcher Kunsthaus hängt. Ältere Männer trifft ihn der Montblanc an Höhe um vieles; und Frauen erinnern sich an das militärische doch behauptet er den Rang eines königli- Reduit am Gotthard im Zweiten Weltkrieg. chen Gebirges über alle andern, weil die Manche Eidgenossen sehen die Geburts- grössten Gebirgsketten bei ihm zusammen- stunde des Landes im Freiheitswillen der laufen», schrieb Johann Wolfgang von Goe- Hirten am Gotthard. Und the 1779 in seinen «Briefen alle Schweizer sind stolz auf aus der Schweiz». In der Tat die Jahrhundertwerke der treffen die Berner und Wal- Passstrasse, der Eisenbahn liser Alpen von Westen, die mit ihren Kehrtunnels, der Glarner und Bündner Al- Denkmal für verunglückte Mineure in Airolo. Autobahn mit dem Strassen- pen von Osten am Gott- tunnel und schon bald des hard zusammen. Im Nor- 16. Jahrhundert blieb der gefährliche Pfad längsten Bahntunnels der den und Süden schneiden vor allem eine lokale Verbindung zwischen Welt. die Reuss und der Tessin den beiden Tälern. Für den Weg von Flüe- tiefe Täler ins Gebirge. len nach Bellinzona brauchten die Säumer «Königliches Gebirge» Der Gotthard ist eine eu- sieben Tage. Im 17. und 18. Jahrhundert gab Zunächst ist der Gotthard ropäische Wasserscheide. es einen Pferdepostdienst zwischen Zürich ein massives Gebirge zwi- Die legendäre «Gotthardpost» Von seinen Höhen nehmen und Mailand. Mit dem Ausbau des alten schen dem Reusstal und der von Rudolf Koller, 1870. vier grosse Flüsse ihren Lauf Saumweges zur Passstrasse um 1830 wurde Leventina, genauer zwischen Urserental und – der Rhein bis zur Nordsee, die Rhone zum der Gotthard zum wichtigsten Verkehrsweg Bedrettotal. Sein höchster Gipfel Pizzo Ro- Mittelmeer, die Reuss in die Aare und später über die Alpen – zuerst mit Pferdekutschen tondo erreicht 3192 Meter. Der Name Gott- in den Rhein, der Tessin in den Po und dann und später mit den ersten Automobilen. hard stammt vom Pass zwischen Hospental ins Adriatische Meer. Zuoberst auf dem Pass Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte ein und Airolo, und dieser trägt den Namen ei- fliessen zwei muntere Bächlein aus kleinen wachsender Reiseverkehr ein. Mit dem Na- nes Bischofs, dem die Kapelle auf dem Hos- Bergseen, nur wenige Schritte voneinander tionalstrassenbau kam die Idee eines Stras- Sammlung Rhyner, Stadt- und Universitätsbibliothek Bern, Pro Literis, Pressedienst. SC HWEIZ ER R EVUE Oktober 2006 / Nr. 5 Fotos: Alptransit/Kunsthaus Zürich/ Fast vier Jahre dauerten die Bohrungen ... ...bis zum ersten Durchbruch am 6. September 2006.
9 sentunnels am Gotthard auf. 1980 war der damals längste Strassentunnel der Welt nach elfjähriger Bauzeit verwirklicht – 16,9 Kilo- meter lang in einer einzigen Tunnelröhre mit einem Sicherheitsstollen. «Der Tunnel ist kein Korridor für den Schwerverkehr. Un- sere Verkehrspolitik sieht heute und morgen den Güterverkehr auf der Schiene», sagte Bundesrat Hans Hürlimann bei der Einwei- hung. Heute wissen wir: Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt, die Flut der Lastwagen Ein Gesamtkunstwerk: die sieben Kehrtunnels der Gotthardbahn. (und Personenwagen) wird immer grösser und bringt den Menschen an der Gotthard- die Gotthardautobahn wieder Schlagzeilen: dungsmythos eindrücklicher geprägt als der route mehr Fluch als Segen. Riesige Felsbrocken lösten sich bei Gurtnel- Dichter Friedrich Schiller in seinem Frei- Am 24. Oktober 2001 um 9.44 Uhr wird len aus dem Berg und stürzten 700 Meter in heitsdrama «Wilhelm Tell» von 1804. «Der der Gotthardstrassentunnel zum Inferno: die Tiefe. Ein deutsches Ehepaar im Auto Gotthardweg wird zum Schicksalsweg Tells, Ein nordwärts fahrender Lastwagen voller wurde tödlich getroffen, viele andere hatten zum gemeinsamen Schicksalsweg der Eidge- Pneus stösst frontal mit einem südwärts fah- Glück. Bis 125 Tonnen schwere und 50 Ku- nossen» (Helmut Stalder). Der neue Bundes- renden Sattelschlepper zusammen. Feuer bikmeter grosse Granitbrocken versperrten staat von 1848 habe diesen Mythos gern auf- bricht aus, ein Dieseltank explodiert, der Autobahn und Kantonsstrasse. Gegen solche genommen: «Um den Gotthard herum liess Rauch raubt Sicht und Atemluft, die Tunnel- Giganten gebe es keinen Schutz, sagten die sich eine nationale Identität aufbauen», mit decke stürzt herab. Elf Menschen sterben an Urner Behörden. Der überhängende Felskopf Tugenden wie Freiheitsliebe, Wehrhaftigkeit, Rauchvergiftung. Der Brand wurde Tage später von Fach- Gottesfurcht und Traditionsverbundenheit. im Gotthardtunnel wurde leuten meisterhaft gesprengt. Ein Jahrhundert lang blieb der Gotthard zur nationalen Katastrophe, Dutzende Fernsehkameras das Symbol für Freiheitswille, Widerstand ja zum europäischen Ereignis. verfolgten das Spektakel auf und Wachsamkeit, ja sogar als die von Gott Es war das schlimmstmögli- der sicheren Talseite. geschaffene Festung der Schweiz. Dieser che Szenario. Kritiker ver- Überzeugung war der Bundesrat am Vor- langten den raschen Bau ei- Vaterländischer Mythos abend des Zweiten Weltkriegs: «Es kommt ner zweiten Tunnelröhre und «Der Bau der Teufelsbrücke nicht von ungefähr, dass die ersten eidgenös- endlich die Verlagerung des in der Schöllenen wurde als sischen Bünde sich um den Gotthardpass la- Güterverkehrs auf die Bahn. die entscheidende Tat gese- gerten. Die Tatsache war providenziell und Das Bundesamt für Strassen hen, die am Anfang der Eid- wesentlich für den Sinn des eidgenössischen erklärte, der Tunnel mit sei- Die Schöllenen mit der genossenschaft stand», Staatsgedankens.» Der Gotthard als Symbol ner Infrastruktur sei sehr si- Teufelsbrücke. schreibt der Historiker und der Selbstbehauptung – das galt auch für die cher. «Kein Mensch hätte im Tunnel sterben Journalist Helmut Stalder in seinem Buch Alpenfestung des «Reduit national» von Ge- müssen, wenn sich die Betroffenen richtig «Mythos Gotthard». Der Gotthard als Keim- neral Henri Guisan. Am Ende des Krieges verhalten hätten.» Fünf Jahre später lieferte zelle der Schweiz – keiner hat diesen Grün- stand fest: Der Gotthard und seine Festung Fotos: Alptransit/Sammlung Rhyner, Stadt- und Universitätsbibliothek Bern, Pro Literis, Pressedienst. SC HWEIZ ER R EVUE Oktober 2006 / Nr. 5 Aufschüttung mit Aushub aus dem Gotthard im Reussdelta vor Flüelen. Grossbaustelle beim Tunneleingang in Faido.
10 EIN KÖNIGLICHES GEBIRGE haben den Feind von einem Angriff abgehal- Mailand nicht mehr dabei – der Vater der von Zürich nach Mailand wird um eine ten, die Unabhängigkeit hat gesiegt – auch Gotthardbahn galt als Sündenbock für die Stunde auf zwei Stunden 40 Minuten ver- dank einem gnädigen Schicksal. Kostenüberschreitung und trat verbittert zu- kürzt. Die Flachbahn ermöglicht längere rück. Güterzüge mit doppelt so viel Gewicht wie Die Bahn durch den Gotthard Nicht nur der Tunnel, die ganze Gotthard- heute, die bis 160 Stundenkilometer schnell Gotthard oder Lukmanier – der jahrelange bahn ist ein grandioses Gesamtkunstwerk. fahren werden. Streit um den neuen Alpentunnel endete erst Dazu gehören die sieben Kehrtunnels bei Die neue Gotthardstrecke ist Teil der 1871 mit der Gründung der Gotthardbahn- Wassen, im Dazio Grande und in der Bia- Neuen Eisenbahn-Alpentransversalen gesellschaft. Treibende Kraft war der Zür- schina-Schlucht, die elegant hunderte von (Neat). Der 1992 vom Schweizervolk be- cher Politiker und Kaufmann Alfred Escher. Höhenmetern überwinden. «Die Gotthard- schlossene Bau der Neat und das 1998 geneh- Der Genfer Louis Favre erhielt den Zuschlag bahn, das war der helvetische Suezkanal, das migte Projekt mit dem Bau der beiden Tun- für den Bau des 14,9 Kilometer langen Tun- war die technische Bezwingung der Alpen, nels am Gotthard und am Lötschberg soll nels, den er für 47,8 Millionen Franken in ge- das war der Sieg über die Vertikale» (Helmut 2016 vollendet sein und wird gegen 18 Milli- nau acht Jahren verwirklichen wollte. Stalder). arden Franken kosten. Schon jetzt lässt sich Im September 1872 beginnen die Mineure sagen: Der Gotthardbasistunnel mit seinen ihre unglaublich harte Arbeit. Sie stehen Noch ein Jahrhundertwerk zwei einspurigen Röhren wird zum Werk des knietief im Wasser, die Luft ist heiss und rau- Und wieder entsteht am Gotthard ein Bau- 21. Jahrhunderts. chig, der Aufenthalt im Tunnel höchst ge- werk des Jahrhunderts: Der 57 Kilometer Und was geschieht nach der Eröffnung der fährlich. Am 28. Februar 1880 treffen die lange Basistunnel von Erstfeld nach Bodio neuen Flachbahn mit der alten Gotthard- Bohrstangen aus den beiden Stollen fast ist ein Tunnel der Superlative, der längste Ei- bahn, diesem Meisterwerk der Ingenieur- exakt aufeinander – seitlich weichen sie nur senbahntunnel der Welt. Zwischen der Zent- kunst? Wenn statt der heute 260 Züge am 33 Zentimeter ab, in der Höhe fehlen nur ralschweiz und der Südschweiz entsteht die Tag nur noch drei Dutzend Lokomotiven die wenige Zentimeter. Der damals längste erste alpenquerende Flachbahn, eine gerade Kehrtunnels beim Kirchlein von Wassen er- Bahntunnel der Welt und die erste winter- Verbindung in der Ebene, die kühnste Vision klimmen? Dann soll die alte Gotthardstre- sichere Verbindung durch die Schweizer zur Bezwingung der Alpen. Seit dem Herbst cke zum Weltkulturerbe der Unesco wer- Alpen sind vollendet. Am 1. Juni 1882 nimmt 1993 arbeiten sich mächtige Tunnelbohrma- den. die Gotthardbahn den Betrieb auf. schinen mit einem Bohrkopf von zehn Me- Mindestens 200 Mineure, fast alle Italie- ter Durchmesser in den hunderte Millionen ner, haben ihr Leben verloren. Auf dem Jahre alten Fels. Noch nie wurde ein Tunnel Friedhof von Göschenen ist ihnen ein klei- so tief in den Berg gebohrt. Gemäss Compu- ner Gedenkstein gewidmet, beim Bahnhof termodell werden die Tunnelvortriebe am von Airolo steht das von Vincenzo Vela ge- Ende mit weniger als zwanzig Zentimeter LITERATUR. DOKUMENTATION: Helmut Stalder: «Mythos Gotthard». Orell Füssli Verlag, schaffene Denkmal «Le vittime del lavoro» Abweichung aufeinander treffen. Zürich 2003. Fr. 44.80, Euro 29.90; «Der St.Gotthard für die verunglückten Arbeiter. Louis Favre Auf einem Kilometer müssen die Züge und seine Hospize». Schweizerischer Kunstführer. Bern 1994; www.alptransit.ch (Neat-Basistunnel) erlebte seinen Triumph nicht mehr – ein hal- höchstens acht Höhenmeter überwinden. www.gotthard-strassentunnel.ch (Verkehrsinformatio- bes Jahr vor der Vollendung seines Werks Dank dieser geringen Steigung werden die nen, Besuch Kommandozentrale); www.gotthardtun- nel.ch (Informationen zum Bahntunnel und seine brach er im Tunnel zusammen. Auch Alfred Reisezüge mit 250 Kilometern pro Stunde Geschichte); www.gotthard-hospiz.ch (Sehenswürdig- Escher war bei den Feiern in Luzern und durch die Alpen brausen. Die Verbindung keiten, Hotel, Restaurant) SC HWEIZ ER R EVUE Oktober 2006 / Nr. 5 Foto: Alptransit Schema des Gotthardbasistunnels mit Nothaltestellen und Lüftung. Mit 57 Kilometern ist der neue Basistunnel der längste Eisenbahntunnel der Welt.
POLITIK/ABSTIMMUNG 11 Vorschau auf die Abstimmung Resultate der Abstimmung Kommentar: Herbe Niederlage vom 26. November vom 24. September für die Linke 1. Beitrag an die neuen 1. Ja zum neuen Ausländer- und Bis kurz vor der Abstimmung war die Mitgliedstaaten der EU zum neuen Asylgesetz Linke zuversichtlich, eine Mehrheit für 2. Einheitliche Kinderzulagen 2. Nein zur Volksinitiative «Nati- ihre Volksinitiative «Nationalbankge- von mindestens 200 Franken onalbankgewinne für die AHV» winne für die AHV» erzielen zu können. Umso ernüchternder fiel das Ergebnis für Im Zusammenhang mit dem zweiten bilate- Die Schweiz kann ihr Ausländerrecht defini- sie aus: Drei von fünf Stimmberechtigten ralen Verhandlungspaket haben die Schweiz tiv modernisieren. Die Stimmberechtigten und 23 von 26 Kantonen lehnten den Vor- und die EU gleich noch zwei weitere Verein- haben dem linksgrünen Referendum eine schlag ab. Eine deutliche Mehrheit sagte barungen getroffen: Den Ausbau des freien Abfuhr erteilt und das Gesetzesprojekt von damit Nein zu einem Abenteuer, auf das Personenverkehrs auf die zehn neuen Mit- Bundesrat und Parlament deutlich angenom- sich bisher noch kein Land eingelassen glieder der Union und einen Beitrag von ei- men. Es schreibt ein duales Zulassungssys- hat, nämlich die Verknüpfung von Wäh- ner Milliarde Franken an diese zehn Staaten. tem für Ausländer fest: EU-Bürger sind auf- rungs- und Sozialpolitik. So verlockend Die eigentlichen Verhandlungsdossiers und grund der bilateralen Verträge Schweizern der Geldsegen für die AHV gewesen wäre – die Ausdehnung des Personenverkehrs ha- gleichgestellt, von ausserhalb der EU haben das Volk vermochte darin weder eine ben den Referendumstest im vergangenen nur noch gut qualifizierte Personen Zugang nachhaltige Lösung für die Sicherung der Jahr bestanden. Nun muss das Volk auch zum schweizerischen Arbeitsmarkt. Verbes- Renten zu sehen, noch wollte es Bund noch über den dritten Teil befinden. Die sert werden soll die Integration der in der und Kantonen jährliche Einnahmeaus- Schweizerische Volkspartei hat, unterstützt Schweiz anwesenden Ausländer. fälle von 1,5 Milliarden bescheren. von Schweizer Demokraten und der Aktion Parallel zum Ausländergesetz befürwor- Die Abstimmungssieger werden trotz für eine unabhängige und neutrale Schweiz, tete das Volk auch eine Verschärfung des des klaren Verdikts nicht lange auf ihren erfolgreich das Referendum gegen diese Ko- Asylrechts. Obwohl das Referendumskomi- Lorbeeren ausruhen können. In wenigen häsionszahlungen ergriffen. tee gegen diese Bestimmungen breiter abge- Jahren droht der AHV eine Finanzierungs- Bundesrat und Parlament wollen die Un- stützt war und sich der Abstimmungskampf terstützungsbeiträge im Rahmen des Osthil- fast ausschliesslich auf sie konzentrierte, lücke. Also gilt es, rasch eine Reform auf- fegesetzes leisten. Es handelt sich nicht um erreichten beide Gesetze praktisch die glei- zugleisen und dabei einen Mix aus Leis- Zahlungen an den Kohäsionsfonds der EU, che Zustimmung: 68 Prozent der Stimmen- tungskorrekturen und Mehreinnahmen zu sondern um direkte Beiträge der Schweiz an den sagten Ja zum Ausländergesetz, 67,8 Pro- finden, der im Volk mehrheitsfähig ist. bilateral ausgehandelte Projekte in osteuro- zent waren es beim Asylgesetz. Alle Kantone Noch deutlicher ist die Niederlage der päischen Staaten. Festgelegt ist nur die Ge- stimmten zu. Über 75 Prozent Ja-Stimmen Linken bei den Revisionen des Asyl- und samthöhe und die Verteilung an die einzel- erreichten beide Gesetze in den Kantonen des Ausländergesetzes. Obwohl auch bür- nen Länder. Insgesamt werden sich die Aargau, Appenzell-Innerrhoden, Glarus, gerliche Kreise die Gesetze kritisiert hat- Zahlungen auf zehn Jahre erstrecken. Zu 60 Nidwalden, Obwalden, Schwyz, Thurgau ten und obwohl die Asylgesuche so gering Prozent müssen die beiden Departemente, und Zug. In der Westschweiz schlossen sind wie seit Jahren nicht mehr, ist die welche die Osthilfe leisten, die zusätzlichen die Gesetze etwas schlechter ab als in Mehrheit überzeugt, dass der Zugang zum Ausgaben intern kompensieren. Nicht ge- der Deutschschweiz. Nur knapp über 50 Pro- Asylrecht weiterer Verschärfungen be- kürzt werden darf dabei die Entwicklungs- zent war die Zustimmung in Genf, Jura und darf. Dieses Ergebnis kommt insofern hilfe an die Länder der südlichen Hemi- Neuenburg. nicht überraschend, als das Volk in sämt- sphäre. Die restlichen 40 Prozent stammen lichen Abstimmungen zur Ausländer- aus allgemeinen Bundesmitteln. Nationalbankgewinne nicht für die AHV politik der letzten Jahre Bundesrat und Die Volksinitiative der Sozialdemokraten, Parlament gefolgt ist. Preis für den bilateralen Weg welche einen Teil der Nationalbankgewinne Mit dem Ja zum Ausländergesetz haben Die SVP hat verlangt, dass die Milliarde bud- in die Alters- und Hinterbliebenenversiche- die Stimmberechtigten die Basis für eine getneutral finanziert wird. Zudem wollte sie rung leiten wollte, scheiterte am Volks- und zeitgemässe Einwanderungs- und Inte- ins Gesetz schreiben, dass die Schweiz keine am Ständemehr. 58,3 Prozent der Stimmen- ähnlichen Zahlungen leistet, wenn Rumä- den sagten Nein zu diesem Vorschlag. Zu- grationspolitik gelegt. Weniger klar ist, nien, Bulgarien und weitere Staaten der EU stimmung erhielt er nur gerade in den Kan- ob das revidierte Asylgesetz die hohen Erwartungen der Befürworter zu erfüllen SC HWEIZ ER R EVUE Oktober 2006 / Nr. 5 beitreten. Mit beiden Anliegen ist sie im Par- tonen Tessin (57,5 Prozent), Basel-Stadt lament gescheitert, weshalb sie das Referen- (53,6) und Genf (51,3). Ganz knapp fiel das vermag. Denn auch mit diesen Verschär- dum ergriffen hat. Der Nationalrat stimmte Begehren im Jura durch (49,2 Prozent Ja). fungen dürfte es schwierig bleiben, Men- dem Gesetz mit 127 zu 53 Stimmen zu, der Am klarsten wurde es in Appenzell-Inner- schen von der Schweiz fernzuhalten, die Ständerat mit 37 zu 1. rhoden (74,9 Prozent Nein), Zug (66,8), zwar in ihren Ländern nicht verfolgt Für den Bundesrat und die Mehrheit des Glarus (66,5) sowie Appenzell-Ausserrhoden werden, aber im reichen Norden auf ein Parlaments sind diese Zahlungen der Preis und Thurgau (je 66,2) verworfen. RL besseres Leben hoffen. RENE LENZIN Fortsetzung auf Seite 15
12 O F F I Z I E L L E E D A - I N F O R M AT I O N E N Ehegüterrecht Arbeit, sowie die Zinsen des chen Anteil am Vermögen des werden können und der von ih- Eigengutes. andern. nen gewählte schweizerische bei Wohnsitz Wird der Güterstand durch Güterstand keine Geltung hat. im Ausland Scheidung oder Tod aufgelöst, Änderung der Güterstände Entsprechende Bestimmungen wird die Errungenschaft hälftig durch Ehevertrag darüber, welches Recht nun an- Das schweizerische Ehegüter- der Frau und dem Mann zuge- Die Ehegatten können durch gewendet wird - das schweize- recht regelt, welche Güter schrieben. Der Anteil, der einen Ehevertrag die vom rische oder das ausländische - während der Ehe den Ehegat- dem verstorbenen Ehegatten Gesetzgeber vorgegebenen enthält das massgebliche ten gehören und wie das Ver- gehört, vererbt sich nach den Regelungen in einem gewissen internationale Privatrecht des mögen bei Scheidung oder Tod Bestimmungen des Erbrechts. Rahmen ihren individuellen Wohnsitzstaates. aufgeteilt wird. Bei Wohnsitz- Bedürfnissen anpassen. Wer Das internationale Privat- nahme im Ausland kann das Gütergemeinschaft einen Ehevertrag schliessen recht regelt, welche Rechtsord- internationale Privatrecht des Gesetzlich in Artikel 221 bis will, muss urteilsfähig sein. Un- nung auf den jeweiligen Sach- Wohnsitzlandes unter Um- 246 ZGB festgehalten, wird mündige oder Entmündigte verhalt angewendet wird. Es ständen vorsehen, dass der in sie durch Ehevertrag zwischen brauchen die Zustimmung ih- regelt privatrechtliche Rechts- der Schweiz gewählte Güter- den Ehegatten vereinbart. Hier res gesetzlichen Vertreters. beziehungen (Personenrecht, stand nicht gültig ist. Es ist werden drei Vermögensmassen Grundsätzlich werden Ehever- Familienrecht, Erbrecht, Ver- deshalb empfehlenswert, sich unterschieden: das Frauengut, träge in der Schweiz bei einem tragsrecht, Gesellschaftsrecht bei einem Wohnsitzwechsel das Männergut und das Ge- Notar abgeschlossen. usw.) mit internationalem Cha- ins Ausland über die massgeb- samtgut. Das Gesamtgut gehört rakter. Es beantwortet haupt- lichen internationalen Privat- beiden Ehegatten ungeteilt. Weitere Informationen zum sächlich folgende Fragen: rechtsregelungen des Wohn- Was zum Gesamtgut gehört, schweizerischen Ehegüterrecht Welches nationale Recht ist an- sitzstaates zu informieren. wird im Ehevertrag geregelt. sind in der Broschüre «Ehe- wendbar? Welches Gericht ist und Erbrecht, ein Leitfaden zuständig? Unter welchen Be- Das schweizerische Zivilgesetz- Gütertrennung für Braut- und Eheleute» des dingungen kann ein Entscheid, buch (ZGB) unterscheidet Die Gütertrennung wird als Bundesamtes für Justiz enthal- der in einem Staat gefällt wur- drei verschiedene Formen des «ausserordentlicher Güter- ten. Sie kann über diese Inter- de, in einem anderen Staat Güterstandes. stand» umschrieben und ent- netadresse bezogen werden: anerkannt und vollstreckt wer- weder von Gesetzes wegen www.bundespublikationen.ch den? Im Ausland werden also Errungenschaftsbeteiligung oder durch den Richter ange- diejenigen Normen zur Beur- Sie wird in den Artikeln 196 bis ordnet (Artikel 247 bis 251 Bei Wohnsitz im Ausland teilung von Sachverhalten an- 220 ZGB geregelt. Sie wird als ZGB). Die Gütertrennung Komplexer wird die Situation, gewendet, die die internationa- «ordentlicher Güterstand» be- kann aber auch durch Ehever- sobald Schweizer Ehepaare ih- len Privatrechtsregelungen der zeichnet und gilt von Gesetzes trag zwischen den Ehegatten ren Wohnsitz von der Schweiz betroffenen Staaten vorsehen. wegen, wenn die Ehegatten kei- gewählt werden. Bei der Gü- ins Ausland verlegen. In sol- Für unsere Mitbürgerinnen nen Ehevertrag geschlossen ha- tertrennung gibt es kein ge- chen Fällen wird neben schwei- und Mitbürger im Ausland ben. Bei der Errungenschafts- meinsames Vermögen. Beide zerischem auch ausländisches wichtig zu wissen: Es gilt grund- beteiligung haben Frau und Ehegatten verwalten und nut- Recht tangiert. Viele Braut- sätzlich das internationale Pri- Mann grundsätzlich getrennte zen ihr Vermögen autonom und Eheleute sind sich nicht vatrecht ihres Wohnsitzlandes. Vermögen. Die Vermögens- und verfügen selbstständig bewusst, dass bei einem Wohn- Dieses bestimmt im Wesentli- werte werden in Eigengut und darüber während der Ehe. Bei sitzwechsel ins Ausland die chen, welches Recht für ihre Errungenschaft aufgeteilt. der Auflösung der Ehe hat kein Rechtsbestimmungen des güterrechtlichen Verhältnisse Zum Eigengut gehören Ehegatte einen güterrechtli- Wohnsitzstaates angewendet angewendet wird und welche Vermögenswerte, die einem Ehegatten ausschliesslich zum persönlichen Gebrauch dienen: zum Beispiel Kleider, Sport- ausrüstung oder Vermögens- werte, die ein Ehegatte bereits bei der Heirat besitzt oder SC HWEIZ ER R EVUE Oktober 2006 / Nr. 5 die er während der Ehe unent- geltlich erwirbt (Schenkung, Erbschaft). Unter die Errun- genschaft fallen Vermögens- Illustration: Bartak werte, die die Ehegatten im Verlauf ihrer Ehe entgeltlich erwerben, beispielsweise durch
13 Gestaltungsmöglichkeiten be- geber ein Kostenvoranschlag VOLKSINITIATIVEN stehen. unterbreitet. Auf diese Weise Seit der letzten Ausgabe sind folgende Volksinitiativen lanciert wor- Wir empfehlen deshalb im kann die Kundin oder der den und können unterschrieben werden: Ausland lebenden schweizeri- Kunde entscheiden, ob das schen Ehepaaren, sich in ihrem Institut die Rechtsabklärungen ■ «Für ein Verbot von Kriegsmaterial-Exporten; bis 27. Dezember Wohnsitzstaat über die dort vornehmen soll oder nicht. 2007 geltenden Bestimmungen des Adresse: ■ «Gegen masslosen Bau umwelt- und landschaftsbelastender Anla- internationalen Privatrechts zu Schweizerisches Institut für gen»; bis 20. Dezember 2007 erkundigen. Unter Umständen Rechtsvergleichung, ■ «Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen!»; bis 20. Dezem- kann dieses gewisse Wahlmög- 1015 Lausanne ber 2007 lichkeiten bei der Festlegung Tel.: +41 21 692 49 11 Unter der Seite www.admin.ch/ch/d/pore/vi/vis_1_3_1_1.html der güterrechtlichen Verhält- Fax: +41 21 692 49 49 können Sie die Unterschriftenbogen der hängigen Initiativen herun- nisse einräumen. Dies würde E-Mail: Secretariat.isdc- terladen. bedeuten, dass die schweizeri- dfjp@unil.ch schen Ehepaare mitbestimmen Internet: www.isdc.ch könnten, welches Recht für URNENGANG ihre güterrechtlichen Verhält- Eidgenössische Volksabstimmung vom 26. November 2006 nisse massgeblich ist, ob Gesunde Umwelt schweizerisches oder dasjenige ■ Bundesgesetz vom 24. März 2006 über die Zusammenarbeit mit den des Wohnsitzstaates. Auch soll- und Sozialwerke Staaten Osteuropas (unter Vorbehalt des Zustandekommens des Refe- ten sich Auslandschweizerin- durch Energie- rendums) nen und -schweizer erkundi- besteuerung ■ Bundesgesetz vom 24. März 2006 über die Familienzulagen (unter gen, was mit dem bisher Vorbehalt des Zustandekommens des Referendums) gelebten Güterrecht geschieht. Ein überparteiliches Initiativ- Auskünfte über die zuständi- komitee hat die eidgenössi- gen Rechtsbehörden des sche Volksinitiative «Nicht Erdgas sowie Energie von digen Schweizer Botschaft Wohnsitzlandes können die erneuerbare Energien statt Wasserkraftwerken. oder Ihrem zuständigen schweizerischen Vertretungen Arbeit besteuern» lanciert. Nach Auffassung des Initia- Schweizer Konsulat im Aus- im Ausland erteilen. Diese ver- tivkomitees würden sich die land. Nur diese Stellen sind für mitteln auch Adressen von An- Die Volksinitiative bezweckt, Lohnkosten reduzieren und er- die Verwaltung der Adressen wälten und Notaren im Wohn- die schweizerische Bundesver- hielten die Arbeitnehmer netto unserer Landsleute im Ausland sitzstaat. fassung (BV) zu ändern. In ei- mehr Lohn. Ebenso würde der und damit für den korrekten Sieht das internationale Pri- nem neuen Artikel 131a BV sol- Faktor Arbeit für die Wirt- Versand der «Schweizer Re- vatrecht des Wohnsitzstaates len die Grundzüge einer schaft günstiger und bestehe vue» zuständig. eine Anwendung des schweize- ökologischen Energiesteuer ein Anreiz, neue Arbeitsplätze Durch Ihre Mithilfe lassen rischen internationalen Privat- festgehalten werden. So soll zu schaffen. So würde auch der sich aufwändige Nachforschun- rechts vor und wollen sich der Bund alle obligatorischen Konsum angekurbelt. gen vermeiden, die der Aus- Auslandschweizerinnen und Sozialversicherungen teilweise Die Initiative können Sie landschweizerdienst aufgrund -schweizer über die entspre- oder vollständig mittels Steu- noch bis zum 24. Juli 2007 un- der zahllosen Rücksendungen chenden schweizerischen ern auf nicht erneuerbare terzeichnen. von unzustellbaren Ausgaben Bestimmungen informieren, Energien finanzieren. Durch der «Schweizer Revue» durch- können sie an folgende Stellen die Verlagerung der Abgaben zuführen hat. in der Schweiz gelangen: von der Arbeit auf diese Ener- Adressänderungen: ■ Rechtsauskunftsstellen der gien soll die Umwelt geschützt Bitte nicht nach Kantone und sollen die Sozialversiche- Bern melden VERANT WOR TLIC H FÜR DIE OFFI- ■ kantonale Anwaltsverbände. rungen in der Schweiz langfris- ZIELLEN EDA-INF ORMATIONSSEITEN: Ferner erteilt das schweize- tig gesichert und finanziert Melden Sie Adressänderungen G ABRIEL A BRODBEC K, AUSL AND- rische Institut für Rechtsver- werden. einzig und allein Ihrer zustän- SC HWEIZERDIENS T/EDA gleichung in Lausanne Rechts- Ferner sieht die Initiative auskünfte, allerdings gegen vor, die Beiträge aller sozialver- Inserat SC HWEIZ ER R EVUE Oktober 2006 / Nr. 5 Gebühr. Die Tarife bewegen sicherungspflichtigen Prämien- sich je nach Aufwand zwischen zahler schrittweise und mög- CHF 150 und CHF 450 pro lichst schnell zu reduzieren. Stunde. Sollten die Recherchen Die Prämien sollen ersetzt einen Aufwand von CHF 500 werden, indem nicht erneuer- übersteigen, so wird der Auf- bare Energien besteuert wer- traggeberin oder dem Auftrag- den. Dies sind Kohle, Erdöl,
14 PAT R I O T I S M U S U N D D E M O K R AT I E Ein Plädoyer für den «Patriotismus light» Wirtschaftspolitik gar nicht in der Lage, den Nationalstaat zu pflegen und für die Linke Das weisse Kreuz auf rotem Grund ist zum modischen Accessoir war es politisch inkorrekt, die Schweiz auch geworden, die Schweiz steht quer durch die Bevölkerung wieder nur irgendwie gut zu finden. Der neue Patri- hoch im Kurs: Ein neuer, unpolitischer Patriotismus liegt im otismus kommt von den Jungen, die nicht in den alten politischen Querelen involviert Trend. Kurt Imhof, Soziologe und Patriotismus-Experte, erklärt waren und die Schweiz einfach lieben. warum. Interview Heinz Eckert Und seit wann ist diese Art von Patriotismus festzustellen? «Schweizer Revue»: Noch vor wenigen War das ein Kalkül der SVP? Die Zweifel an der Globalisierung haben Jahren gehörte es zum guten Ton, die Schweiz Die SVP hat mit diesem Programm für nicht nur der SVP geholfen, sondern auch zu kritisieren. Was war der Grund für diese viele ein Vakuum gefüllt, aber ich glaube den Boden für den neuen Patriotismus vor- negative Einstellung zur Heimat? nicht, dass es kalkuliert war. Christoph Blo- bereitet. Als dann die Expo.02 die Schweiz Kurt Imhof: Mit der Achtundsechziger- cher ist sicher ein Patriot, er spielte nichts auf eine unbekümmerte Art und Weise ge- Bewegung begann der politische Kampf vor. feiert hat, wirkte sie als Katalisator und ver- gegen den Staat mit all seinen Ausprägungen. stärkte den Trend zum neuen Patriotismus Bekämpft wurden Auswüchse des Kalten Der Patriotismus, der heute gepflegt wird, hat noch. Auch die Kulturschaffenden machten Krieges wie die staatliche Überwachung, die damit aber nicht mehr viel zu tun. damals mit. So setzte sich ein Schweizbild Bundespolizei, der Ausbau des durch, das nicht durch Parteifar- Staatsschutzes sowie die Bour- ben getönt war. geoisie und das Kapital. Man darf dabei nicht vergessen, dass die SP Und seither darf man wieder unge- – wie die FDP auch – nach dem straft mit einem Schweizerkreuz Krieg eine ausgesprochen staats- auf der Brust herumlaufen und tragende Partei war. Auch da- erst noch als modisch gelten? gegen protestierte die Achtund- So ist es. Die Expo machte sechziger-Bewegung. Hinzu kam, das Schweizerkreuz zu einem dass die Schweiz im Nord-Süd- modischen Accessoir. Alle, die Dualismus nicht als Opfer, son- die Schweiz politisch verein- dern als Täter betrachtet wurde. nahmt oder aus wirtschaftlichen Damals wurde die Revolution ja Gründen abgelehnt hatten, wur- vom Süden erwartet. Der linke den so durch Jugendliche unter- Kampf gegen den Staat wurde laufen, die feststellten, dass sie dann durch bürgerliche Parteien in einem tollen Land lebten. fortgesetzt. In den Siebzigerjah- Diese Jungen stellten Vergleiche ren begann die FDP mit dem an und waren plötzlich stolz auf Slogan «Weniger Staat, mehr ihre Heimat. Freiheit» zu werben. Der Anti- etazismus hat also eine lange linke Taten sich andere Länder ähnlich wie rechte Tradition. Kurt Imhof: «Schweizbild ohne Parteifarben» schwer mit dem Patriotismus? Auch italienische Linke hatten Das war lange vor Ronald Reagan und Mar- Nein. Die SVP hat den Patriotismus ganz Mühe mit dem Staat, aber so extrem wie in garet Thatcher… stark politisch gefärbt. Diejenigen, die den der Schweiz war es sonst nirgends. Die Ja, die Schweiz war damals eine Vorkämp- Mythos Schweiz mit Fahnen pflegten, waren Schweiz ist eben eine Willensnation ohne ferin für den Neo-Liberalismus. Erst Jahre politisch eindeutig festgelegt. Die Holocaust- selbstverständliches, historisch gegebenes später kamen Reagan und Thatcher mit dem Debatte in den Neunzigerjahren hat das Selbstverständnis, es muss immer wieder er- gleichen Programm an die Macht. 1983 hat noch verschärft. Das hat der SVP erneut Ge- neuert werden. dann die SVP von der FDP das «Antietazis- legenheit gegeben, ihr spezifisches Schweiz- mus-Szepter» übernommen und mit einem Verständnis noch zu verstärken. Wurden denn die Schweizer Tugenden wie SC HWEIZ ER R EVUE Oktober 2006 / Nr. 5 «Landi-Patriotismus» ergänzt. Mit Letzte- Sauberkeit, Sicherheit, Pünktlichkeit, Zuver- rem hat sie ihre Stimmen gewonnen. In den Von Ihnen stammt der Begriff Patriotismus lässigkeit, welche die Jungen heute so preisen, Neunzigerjahren wurde der Antietazismus, light. Was ist das? früher nicht wahrgenommen? verbunden mit Patriotismus und basierend Dieser Patriotismus kommt weder von der Im Gegenteil. Man hat sie sogar abgelehnt. auf geistiger Landesverteidigung, noch ver- rechtskonservativen Seite noch aus der po- Die Linke hat sie als kleinkariert und bour- Foto: Keystone stärkt und als Mischung zum Erfolgsrezept litischen Mitte noch von der Linken. Die geois verschrieen, die Mitte meinte, diese der SVP. Mitte war aufgrund ihrer globalisierten Schweizer Errungenschaften würden zu viel
15 Fortsetzung von Seite 11 kosten. Für den Patriotismus blieb nur die Absolut. Unsere Demokratie ist ohne Sou- für den Bilateralismus. Die Schweiz profi- SVP übrig. verän mit einem Selbstverständnis als tiere von der Öffnung der neuen Märkte in Schweizer Bürger nicht denkbar. Mittel- und Osteuropa und müsse daher Braucht eine Demokratie den Patriotismus? auch einen Beitrag an die Entwicklung die- Eine Demokratie braucht den Glauben ans Sieht das ein Euroturbo auch so? ser Region leisten. Sie warnen davor, dass ein Gemeinsame, sie braucht Loyalität und Ak- Die Euroturbos haben das vergessen, weil Nein der Schweiz den bilateralen Weg ge- zeptanz. Warum sollten wir uns sonst einem sie nur das Primat der Wirtschaft und den fährden könnte. Zwar hat Brüssel noch nicht demokratischen Entscheid beugen? Deshalb Markt als Regulierungsprinzip vor Augen ha- verlauten lassen, wie die Union auf einen ist eine Demokratie ohne Patriotismus über- ben. negativen Volksentscheid reagieren würde. haupt nicht denkbar. Diese Tatsache haben Aber es ist davon auszugehen, dass weitere die Linke und die Mitte während vieler Jahre Genügt Europa als Identifikation nicht? Verhandlungen tatsächlich schwierig wür- erstaunlicherweise übersehen oder verges- Die europäische Identität beruht entwe- den. In der Schwebe ist derzeit noch die Ra- sen. Und nicht nur das: Die Schweiz wurde der auf der Abwehr gegen neue Kriege, auf tifizierung des Beitritts der Schweiz zum sogar abgelehnt und als Auslaufmodell be- dem Christentum oder auf der Aufklärung. Schengener Abkommen. zeichnet. Viele meinten, eine globalisierte Als gemeinsamer Nenner für eine europäi- Welt brauche keine nationalen Identitäten sche Identität würde sich nur die Aufklärung Mindestens 200 Franken pro Kind mehr. eignen. «Ein Kind, eine Zulage» - diesen Grundsatz hat das Parlament im März dieses Jahres ver- Welche Rolle spielte die EU-Frage? Patriotismus ist immer auch eine Frage des abschiedet. Stimmt Ende November auch Eine entscheidende Rolle. Sie hat die Eli- Masses. Wie viel davon erträgt es? noch das Volk zu, erhält jedes Kind in der ten gespalten. Früher sind Politik und Wirt- Es kommt darauf an, wie der Patriotismus Schweiz mindestens 200 und jeder Jugendli- schaft immer Hand in Hand gegangen. Und inhaltlich geladen ist. Der ethnische Patrio- che in Ausbildung mindestens 250 Franken diese Spaltung war nicht gut für das Selbst- tismus schliesst andere aus und ist so gefähr- Zulage pro Monat. Diese Beträge gelten verständnis des Landes. lich wie der religiös geprägte Patriotismus, unabhängig vom Beschäftigungsgrad der der den Gedanken der Auserwähltheit in sich Eltern. Allerdings gibt es eine Ausnahme: Ein grosser Schub Patriotismus kommt nun ja birgt. Von diesen beiden gibt es überall zu Selbstständig Erwerbende fallen nicht unter ausgerechnet von den Secondos. Sollten diese viel. Vom offenen republikanischen Patrio- das landesweite Obligatorium. nicht eher multikulturell sein? tismus hingegen, der aufgrund eines Willens- Heute sind die Zulagen kantonal geregelt. Das ist das Resultat eines gelungenen In- aktes von Bürgern eines Staates entstanden Für das erste Kind variieren sie von 154 Fran- tegrationsprozesses, der immer zu einer Art ist, kann es nicht genug geben. ken im Kanton Jura bis zu 260 Franken im von Überidentifikation führt. Das Gegenteil Wallis. In 17 Kantonen erhalten Eltern der- davon sind die Banlieus in Frankreich, wo Wird sich der neue Patriotismus politisch auf zeit weniger als 200 Franken für das erste Sub-Gesellschaften aus nicht integrierten die nächsten eidgenössischen Wahlen auswir- Kind. Allerdings sind das Mindestansätze. Einwanderern entstanden sind. ken? Etliche Kantone kennen bereits heute höhere Ganz sicher. Es kommt nun darauf an, wie Zulagen ab dem zweiten oder dritten Kind Liegt der neue Patriotismus weltweit im weit die Linke und die politische Mitte in der sowie für Jugendliche in Ausbildung. Zudem Trend? Lage ist, Projekte und Visionen für die steht es den Arbeitgebern frei, höhere Zula- Ja, der Nationalstaat als primäres Ord- Schweiz anzubieten und sich dem eigenen gen auszurichten. So erhalten zum Beispiel nungsmodell der Weltgesellschaft lebt wie- Land zuzuwenden. Themen könnten Bil- Bundesangestellte monatlich 330 Franken für der auf und nimmt nicht nur symbolisch an dung, Familie, Verkehr, Konkordanz und De- das erste Kind. Bedeutung zu. Die Menschen identifizieren mokratie sein. Wenn sich SP, FDP und CVP Die Harmonisierung führt zu jährlichen sich über ihren Nationalstaat. Das ist eine der Schweiz und ihrer Institutionen an- Mehrkosten von rund 600 Millionen Fran- Reaktion auf die Globalisierung. Gleichzei- nimmt, wird die SVP auf hohem Niveau ken. Drei Viertel davon hat die Wirtschaft tig nimmt weltweit auch die Diskussion über stagnieren. Auch die Europapolitik muss auf zu tragen, welche die Zulagen über Arbeit- die Demokratie zu. der Souveränität basieren. Die Europa- geberbeiträge finanziert. Deshalb haben der politiker müssen mit dem Ziel antreten, Gewerbe- und der Arbeitgeberverband das Wie wichtig ist das Nationalgefühl für die per- Europa zu verschweizern. Dann gelingt das Referendum ergriffen. Unterstützt werden sönliche Identität? Vorhaben. sie von der FDP und der SVP. Hingegen set- In politischer Hinsicht von entscheiden- zen sich die Gewerkschaften, die CVP, die der Bedeutung. In einer Demokratie sind wir SP und die Grünen für die Vorlage ein. Sie SC HWEIZ ER R EVUE Oktober 2006 / Nr. 5 KURT IMHOF (49) ist Professor für Publizistikwissen- ohne patriotisches Nationalgefühl absolut schaft und Soziologie an der Universität Zürich. Er lei- empfinden die heutigen kantonalen Unter- regierungs- und regulierungsunfähig. Für die tet den Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesell- schiede als stossend und betrachten höhere subjektive Befindlichkeit ist die Bedeutung schaft. Imhof, der vor seiner Hochschulkarriere als Kinderzulagen als wichtiges Element der Hochbauzeichner und Bauführer tätig war, ist Autor des Nationalgefühls unterschiedlich. zahlreicher Bücher über Medien, Kommunikation und Familienpolitik. Der Nationalrat hat sich mit den sozialen Wandel. 106 zu 85 Stimmen für einheitliche Mindest- Dann beurteilen Sie die gegenwärtige Ent- zulagen ausgesprochen, der Ständerat mit wicklung als positiv? 23 zu 21. (RL)
16 A S O - I N F O R M AT I O N E N 84. Ausland- spiele für die fruchtbare schen Partizipation von Aus- dem Bundesgesetz über die Zusammenarbeit zwischen landschweizerinnen und Zusammenarbeit mit den Staa- schweizer-Kongress Wirtschaft und Kultur. Die Auslandschweizern und sprach ten Osteuropas zuzustimmen. in Basel Teilnehmer des Auslandschwei- sich entsprechend für eine ra- Der Rat stimmte dem Gesetz zer-Kongresses hatten die Gele- sche Einführung dieser Wahl- mit grossem Mehr zu. Der 84. Auslandschweizer- genheit, sich davon ein eigenes und Abstimmungsvariante aus. Eine engagierte Debatte Kongress vom 18. bis 20. Au- Bild zu machen – dank organi- Das E-Voting sollte nach An- führte der ASR zum Thema gust in Basel war dem Thema sierten Besuchen von Basler sicht des ASR wenn immer Solidarität und Asyl im Hin- «Partnerschaft zwischen Wirt- Grosskonzernen wie Novartis, möglich noch vor dem Jahr blick auf die Volksabstimmung schaft und Kultur» gewidmet. Roche und Syngenta sowie von 2010 Realität werden. vom 24. September über das Als Vertreter des Bundesrats Basler Kulturtempeln, die zum Etwas mehr als ein Jahr vor neue Ausländergesetz und die begrüsste Christoph Blocher internationalen Renommee den eidgenössischen Parla- Revision des Asylgesetzes. die 400 Kongressteilnehmer, der Rheinstadt beitragen: mentswahlen vom Oktober Mehrere Ratsmitglieder äus- die Gelegenheit bekamen, Fondation Beyeler, Tinguely- 2007 hat der ASR ein Wahlma- serten ihr Unbehagen in Bezug Basels Chemiekonzerne und Museum, Schaulager, Kunst- nifest verabschiedet, das auf auf dieses Dossier und stellten Museen zu besuchen. museum, Antikenmuseum und fünf Pfeilern basiert: Politik, die humanitäre Tradition der Museum der Kulturen. Mobilität, Bildung, internatio- Schweiz in den Vordergrund Bundesrat Christoph Blocher nale Präsenz der Schweiz sowie sowie den möglichen Image- sprach über die Rolle der Auslandschweizerrat Pflege der Beziehung zum Hei- schaden, den die Schweiz in der Schweizer im Ausland und der Die rund 100 anwesenden Mit- matland. Im Bereich Politik Welt aufgrund von Gesetzen Ausländer in der Schweiz. Blo- glieder des Auslandschweizer- wünscht sich der ASR eine erleiden könnte, die von eini- cher erinnerte an die Aussage rats (ASR) debattierten am stärkere Beteiligung der Aus- gen gar als unmenschlich kriti- des Schriftstellers und siert werden. Nach lebhafter Schweizkritikers Max Diskussion stimmte der Rat Frisch, ihn verbinde den beiden Gesetzen mit 38 zu mit der Heimat nur 26 Stimmen zu. noch der Pass. Mit den Der 85. Auslandschweizer-Kon- Auslandschweizern sei gress findet vom 17. bis 19. August das bestimmt anders, 2007 in Genf statt. Das Thema ist meinte Blocher und in- die humanitäre Rolle der formiert dann über das Schweiz. neue Asylgesetz, über das am 24. September abgestimmt wurde. Schweizerschulen Im Anschluss an seine im Ausland Rede beantwortete zu Gast in Zürich: Bundesrat Blocher Fragen aus dem Publi- Keyplayer der kum und sprach sich Bundesrat Blocher im politischen Gespräch mit jungen Auslandschweizern. Schweizer Qualität klar gegen weitere Schliessungen von Konsulaten Vortag im Basler Rathaus über landschweizer an der politi- Zürich beherbergte vom aus. Dann unterhielt sich aktuelle Themen rund um die schen Debatte und ermutigt 4. bis 6. Juli die Präsidenten Blocher ausführlich mit jungen Fünfte Schweiz, darunter die jene dazu, für einen Sitz im eid- und Leiter der 16 Schweizer- Auslandschweizern über poli- Einführung des elektronischen genössischen Parlament zu schulen im Ausland. Diese tische Fragen. Abstimmens und Wählens kandidieren. treffen sich einmal jährlich Im Rahmen der Plenarsit- (E-Voting). Bundeskanzlerin Im Bestreben, die mit der in der Schweiz zu einem zung vom Samstag sprachen Annemarie Huber-Hotz prä- Unterzeichnung der bilateralen mehrtägigen Informations- Michael Plüss, Leiter Novartis sentierte in diesem Zusammen- Verträge zwischen der Schweiz und Erfahrungsaustausch. Schweiz, Guido Magnaguagno, hang den Stand der Entwick- und der EU erworbenen Direktor des Basler Tinguely- lung auf Bundesebene. Sie Rechte wie etwa die Personen- Hauptthemen der diesjährigen S C HWE IZER REVU E Oktober 2006 / Nr. 5 Museums, sowie Charles-Henri bestätigt, dass die Pilotversu- freizügigkeit zu bewahren, Konferenz waren Finanzma- Favrod, Schriftsteller, Journa- che erfolgreich verlaufen sind bekräftigte der ASR seine nagement, mehrsprachiger Un- list und Gründer des Lausan- und dass E-Voting eingeführt Unterstützung des 1-Milliar- terricht in einem multikultu- ner Musée de l’Elysée, zum werden könnte. Der Ausland- den-Kohäsionsbeitrags der rellen Umfeld, pädagogisches Kongressthema. schweizerrat erachtet das Schweiz an die zehn neuen EU- Benchmarking, gemeinsamer Basel und seine Region bilden E-Voting als wertvolles Instru- Mitgliedländer und empfahl, Auftritt des Bildungs- und For- Foto: ASO eines der besten Schweizer Bei- ment zur Förderung der politi- am kommenden 26. November schungsplatzes Schweiz im
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