Die Recherche vom Plusminus- und Handelsblatt-Team im Detail - DasErste.de

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Die Recherche vom Plusminus- und Handelsblatt-Team im Detail
Das neue Lieblingskind der Pharmaindustrie heißt Orphan Drugs. Dabei handelt es sich um
Arzneimittel, die zur Behandlung seltener Krankheiten eingesetzt werden. Die
Pharmaindustrie profitiert von einer EU-Sonderregelung, die den Einstieg auf den Markt
vereinfacht. Doch diese Sonderregelung wird auch missbraucht. Gemeinsam mit dem
Handelsblatt hat Plusminus zu dem Thema recherchiert. Einige unserer Recherchewege
zeigen wir hier auf.

Die Orphan Drugs stoßen nicht überall auf Gegenliebe. „Das Problem ist, dass die
Pharmaindustrie gedacht hat, das ist für uns eine Lizenz zum Gelddrucken“, sagt Jan
Salzmann von der Ärzteorganisation MEZIS. „Die haben teilweise Präparate entwickelt, die
25 000 Euro im Monat kosten, bei lebenslanger Behandlung.“ Deutliche Worte. Jan Salzmann
stört noch etwas anderes: Die Gelder würden oft gar nicht für die seltenen Krankheiten
ausgegeben, die eigentlich erforscht werden sollten. Auch der Vorsitzende der
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzte, Wolf-Dieter Ludwig, sieht das ähnlich. Auf
einer Liste der Top 14 Medikamente für seltene Erkrankungen findet er nur vier Krankheiten,
die er als selten bezeichnen würde. „Alle anderen sind per se zunächst keine seltenen
Erkrankungen, sondern werden zur seltenen Erkrankungen gemacht, indem sie unterteilt
werden durch spezielle Merkmale“, so Ludwig.

Verband Forschender Arzneimittelhersteller

Wir wollten genauer wissen, was es mit den Orphan Drugs auf sich hat und haben beim
Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) angefragt. Der vfa antwortete uns
schriftlich.

Plusminus/Handelsblatt: Orphan Drugs kommen unter vereinfachten
Zulassungsvoraussetzungen auf den Markt. Weder sind die Zulassungsstudien ähnlich
umfangreich wie bei sonstigen Medikamenten noch muss ein Zusatznutzen belegt werden.
Experten etwa des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
(IQWiG) fordern, dass auch für Orphan Drugs die üblichen Anforderungen gelten sollen.
Was sagt der vfa dazu?

vfa: Den Status „Orphan Drug“ können Medikamente gegen schwerwiegende Krankheiten
erhalten, an denen in der EU nicht mehr als fünf von 10.000 Bürgern leiden. Welches
Medikament ihn erhält, entscheidet die EU, die den Status und die damit verbundenen
Regularien im Jahr 2000 geschaffen hat, um die Entwicklung von Medikamenten gegen
seltene Krankheiten zu verstärken. An solchen Krankheiten leiden zwischen 27 und 36
Millionen EU-Bürger (Quelle: EU-Kommission).
Die Zulassungsanforderungen für Orphan Drugs sind nicht einfacher als für andere
Medikamente, sie sind nur in ein paar Punkten anders: Hinsichtlich des Zusatznutzens sind
die Zulassungsanforderungen an ein Orphan Drugs sogar höher als an normalen
Medikamente. Denn zusätzlich zu den für alle Medikamente geltenden drei Zulassungs-
kriterien (Wirksamkeit, Verträglichkeit und technische Qualität) müssen Orphan Drugs auch
noch die Anforderung erfüllen, einen Zusatznutzen gegenüber den bisher vorhandenen
Therapien zu haben oder eine Versorgungslücke zu schließen. Ist der Zusatznutzen nicht
erwiesen oder wird keine Versorgungslücke geschlossen, wird auch keine Orphan-Drug-
Zulassung erteilt. Deshalb kommen Orphan Drugs schon mit einem behördlich bestätigten
Zusatznutzen auf den Markt. Im anschließenden Nutzenbewertungsverfahren im deutschen
Gesundheitswesen wird dann noch das Ausmaß dieses Zusatznutzens bestimmt.
Also: Anders, als Sie angenommen haben, wird der Zusatznutzen von Orphan Drugs im
Zulassungsverfahren geprüft und belegt.

Hinsichtlich der Teilnehmerzahl bei Studien mit Orphan Drugs nehmen die
Zulassungsbestimmungen Rücksicht darauf, dass die Krankheiten selten sind: So viele
Teilnehmer wie bei häufigeren Krankheiten können auch bei weltweiter Suche (die heute
Standard ist) nicht gefunden werden. Schon die Rekrutierung der kleineren Teilnehmer-
zahlen ist oft nur mit großem Aufwand über lange Zeiträume möglich. Um trotzdem
schnellstmöglich die Erfahrungsbasis auszuweiten, wird die Zulassung einer Orphan Drug
meist mit der Auflage verknüpft, nach der Markteinführung weitere Behandlungsdaten von
Patienten zu sammeln, auszuwerten und den Arzneimittelbehörden zu liefern.

Plusminus/Handelsblatt: Kritiker sprechen mittlerweile von einer Orphanisierung von
Krankheiten, etwa durch Slicing mit einer schleichenden Indikationsausweitung. Treibt die
Pharmaindustrie ihren Umsatz auf diesem Weg künstlich in die Höhe?

vfa:
     Zu „orphanisieren und „slicen“:
    Eine Krankheit, an der mehr Bürger als die genannten „fünf von 10.000“ leiden, lässt sich
    weder „orphanisieren“ (also irgendwie zur seltenen Krankheit erklären) noch “slicen“,
    also in viele seltene Unterformen der Krankheit unterteilen, für deren Behandlung ein
    Orphan-Drug-Status vergeben werden könnte. Anders gesagt: Selbst wenn ein
    Medikament nur für eine seltene Unterform einer häufigeren Krankheit geeignet ist,
    kann es doch keinen Orphan Drug-Status erhalten. Darüber wachen die
    Zulassungsbehörde EMA und die EU-Kommission. Man sieht das beispielsweise an
    Medikamenten gegen seltene Unterformen des häufigen nicht-kleinzelligen
    Lungenkrebses: Sie haben keinen Orphan Drug-Status. In der Liste aller Orphan Drugs
    unter www.vfa.de/orphans kann man sehen, dass es keinen Fall gibt, in dem ein Orphan
    Drug-Status bei einer nicht-seltenen Krankheit vergeben wurde.

    Zu den Indikationserweiterungen:
   Wie andere Medikamente auch werden Orphan Drugs manchmal nach der Erstzulassung
   noch gegen eine weitere Krankheit zugelassen („in ihrer Indikation erweitert“, wie Ärzte
   sagen). So eine erweiterte Zulassung wird nur erteilt, wenn das Medikament in
   zusätzlichen klinischen Studien gezeigt hat, dass es auch Patienten mit der zweiten
   Krankheit helfen kann. Ist auch die zweite Erkrankung eine seltene Krankheit, erhält das
   Medikament einen zweiten, auf diese Krankheit bezogenen Orphan Drug-Status. So
   etwas ist schon einige Male vorgekommen.

   Hingegen wird der Orphan-Drug-Status aufgehoben, wenn das Anwendungsgebiet eines
   Orphan-Medikaments auf eine nicht-seltene Krankheit erweitert wird. Das zeigt das
   Beispiel eines Medikaments, das zunächst als Orphan Drug gegen fortgeschrittenes
Adenokarzinom des Magens zugelassen war und den Status verlor, als es auch gegen
   bestimmte Stadien von nicht-kleinzelligem Lungenkrebs und Kolorektalkarzinom
   zugelassen wurde.

   Dazu gibt es noch einen Sonderfall: Gibt es zwei Medikamente mit dem gleichen
   Wirkstoff, von denen eines gegen eine häufige, das andere aber gegen eine seltene
   Krankheit zugelassen ist, dann kann das zweite einen Orphan Drug-Status haben. Der gilt
   aber nicht für das erste Medikament. So hatte bis 2014 ein Medikament zur Behandlung
   eines angeborenen Herzfehlers bei Neugeborenen, das Ibuprofen enthält, den Orphan
   Drug-Status. Der Status galt aber nicht für die zahlreichen Schmerzmittel mit dem
   gleichen Wirkstoff.
   Die Sonderkonditionen, die für Orphan Drugs gelten, lassen sich also in keinem Fall auf
   häufigere Krankheiten ausdehnen.

Plusminus/Handelsblatt: Wie erklärt der vfa, dass mittlerweile über ein Drittel aller neu
zugelassenen Medikamente Orphan Drugs sind?

vfa: In den letzten fünf Jahren (2011 bis 2015) waren im Schnitt 21 Prozent der neu
eingeführten Medikamente Orphan Drugs. Zu diesem Anteil haben mehrere Dinge
beigetragen:

      In den Gebieten „Krebs“ und „Stoffwechselstörungen“, in die viele seltene
       Krankheiten fallen, ist das medizinische Wissen seit den 1990er-Jahren enorm
       gewachsen. Das hat die Grundlage dafür gelegt, dass Pharmaforscher geeignete
       Medikamente entwickeln konnten.

      Die EU hat im Jahr 2000 eine Verordnung verabschiedet, die die Entwicklung von
       Orphan Drugs fördert. Ähnliche Regelungen gibt es auch in den USA, Japan und
       anderen Ländern.

      Ärzte und Patienten betonen, wie hoch der Bedarf an geeigneten
       Behandlungsmöglichkeiten für die geschätzt 6.000 bis 8.000 seltenen Krankheiten ist.
       Derzeit sind erst rund 100 seltene Krankheiten in einer Weise behandelbar, die über
       eine unspezifische Symptomlinderung hinausgeht.

Weil dieser medizinische Bedarf noch lange nicht gedeckt ist, rechnen wir damit, dass die
Unternehmen weiterhin in größerem Umfang an neuen Medikamenten gegen seltene
Krankheiten arbeiten werden. Bei den Mitgliedsunternehmen unseres Verbands betreffen
13 Prozent der fortgeschrittenen Arzneimittelprojekte, die bei der Erprobung mit Patienten
angekommen sind, Orphan Drugs.

Plusminus/Handelsblatt: Wie hoch war 2015 der Umsatz (deutschlandweit und weltweit)
der Pharmaindustrie mit Orphan Drugs?
vfa: Wir sind noch dabei, den Umsatz für Deutschland zu berechnen und hoffen, Ihnen den
Wert in den nächsten Tagen liefern zu können. Heute schon können wir Ihnen aber diese
Informationen liefern:
Bei den gesetzlichen Krankenkassen (GKV) in Deutschland entfielen 2015 3,1 Prozent ihrer
Arzneimittelausgaben auf Orphan Drugs. Bei 90 Prozent der Orphan Drugs lagen die
Ausgaben der GKV 2015 unterhalb von 50 Millionen Euro, bei 70 Prozent sogar unter 10
Millionen Euro.
Die Umsätze mit Orphan Drugs weltweit sind uns nicht bekannt. Sie wären auch schwierig zu
bestimmen, weil die Listen der Orphan Drugs in den USA, in Japan und der EU nicht ganz
übereinstimmen.

Plusminus/Handelsblatt: Nahezu alle Orphan Drugs sind Krebsmittel. Warum kümmert sich
die Pharmaindustrie im Sektor Orphan Drugs vor allem um diese Krankheit?

vfa: Unter den Orphan Drugs, die seit 2000 zugelassen wurden, stellen Krebsmedikamente
mit 44 Prozent zwar den größten Anteil; weitere dienen allerdings der Behandlung von
Stoffwechselkrankheiten (21 Prozent), neurologischen Krankheiten (7 Prozent), Herz-
Kreislaufkrankheiten (6 Prozent), Atemwegserkrankungen (ohne Krebs und Infektionen, 5
Prozent) und Infektionen (4 Prozent). Die übrigen 13 Prozent verteilen sich auf weitere
medizinische Gebiete.

Onkologen haben es neben vergleichsweise wenigen häufigen Krankheiten (wie Brust- oder
Prostatakrebs) mit einer großen Zahl seltener Krebsarten zu tun; dazu zählen beispielsweise
sämtliche Leukämien, der Eierstockkrebs, das Multiple Myelom, der Leber- und der Bauch-
speicheldrüsenkrebs sowie der Hirntumor Glioblastom.
Plusminus/Handelsblatt: An welchem Punkt des Zulassungsverfahrens wird der
Zusatznutzen geprüft - und von wem? In allen Experten-Publikationen dazu heißt es, dass
der Zusatznutzen mit Erteilung des OD-Status unterstellt wird - und der G-BA dann nur
noch das Ausmaß feststellt.

vfa: Es sind zwei Verfahren zu unterscheiden: das Verfahren, in dem einem Medikament der
Orphan Drug-Status zuerkannt wird, und das Zulassungsverfahren, in dessen Rahmen dieser
Status überprüft wird.

Zuerkennungsverfahren: Der Orphan Drug-Status kann für ein Medikament nur vor dem
Start des Zulassungsverfahrens gegen eine Orphan-Krankheit beantragt werden.
Typischerweise wird er sogar schon viele Jahre vor dem Zulassungsverfahren beantragt,
wenn das betreffende Medikament noch in der Entwicklung ist. Das bei der europäischen
Arzneimittelagentur EMA (European Medicines Agency) eingesetzte Committee for Orphan
Medicinal Products (COMP) entscheidet über den Antrag. Auf Basis der Empfehlung des
COMP wird der Orphan Status von der Europäischen Kommission erteilt. Ein Medikament
erhält den Orphan-Status der EU nur dann, wenn es voraussichtlich einen signifikanten/
erheblichen therapeutischen Nutzen im Vergleich zu bisher vorhandenen Behandlungen
aufweist (englische Version der EU-Verordnung: „significant“; deutsche Version:
„erheblich“). Entschieden wird darüber auf Basis der Ergebnisse aus der Laborforschung
oder aus klinischen Studien, die der Hersteller dafür liefert. Für die weitere Entwicklung
dieses Medikaments gegen die betreffende Krankheit bedeutet das unter anderem, dass
unter bestimmten Bedingungen von der EMA Gebührenreduktionen gewährt werden.

Zulassungsverfahren: Zulassungsanträge für Orphan Drugs werden wie andere
Zulassungsanträge auch bei der EMA gestellt. Dort werden wie beschrieben Wirksamkeit,
Verträglichkeit und technische Qualität geprüft. Zusätzlich muss im Fall eines Orphan Drugs
das COMP noch einmal darüber entscheiden, ob die Kriterien für den Orphan Drug-Status
weiterhin erfüllt sind. Nun aber, da die gesamten Daten aus der Arzneimittelentwicklung
vorliegen, geht es nicht wie zuvor um einen voraussichtlichen Zusatznutzen, sondern einen
belegten Zusatznutzen. Ist der nicht gegeben, wird dem Medikament noch vor der Zulassung
der Orphan-Status aberkannt.

Plusminus/Handelsblatt: Ein Blick auf die Bewertungen des G-BA zeigt, dass bei über 90
Prozent der zwischen 2011 und 2015 zugelassenen Orphan Drugs der Zusatznutzen mit
„nicht quantifizierbar“ sowie „gering“ bewertet wurde. Wie rechtfertigt der vfa diese
Situation angesichts der Tatsache, dass die Krankenkassen jährlich zig Millionen für diese
Medikamente ausgeben müssen?

vfa: Nach unserer Auswertung wurde der Zusatznutzen bei 86 Prozent der zwischen 2011
und 2015 zugelassenen Orphan Drugs mit "nicht quantifizierbar" oder "gering" bewertet.

Die Einstufung "nicht quantifizierbar" bedeutet, dass der Zusatznutzen gegeben ist, aber auf
Basis der aktuellen Datenlage noch nicht sicher in seinem Ausmaß zwischen gering und
erheblich angegeben werden kann. Ein „geringer Zusatznutzen“ liegt laut Arzneimittel-
Nutzenbewertungsverordnung vor, „wenn eine gegenüber der zweckmäßigen
Vergleichstherapie bisher nicht erreichte moderate und nicht nur geringfügige Verbesserung
des therapierelevanten Nutzens im Sinne von § 2 Absatz 3 erreicht wird, insbesondere eine
Verringerung von nicht schwerwiegenden Symptomen der Erkrankungen oder eine relevante
Vermeidung von Nebenwirkungen.“ Damit bedeutet schon ein geringer Zusatznutzen für die
betroffenen Patienten eine Menge.

Zu den Ausgaben: Die Preise von Orphan Drugs werden wie bei anderen Medikamenten
auch in Verhandlungen zwischen Krankenkassen und Herstellern vereinbart. Der Umsatz der
Pharma-Unternehmen mit Orphan Drugs betrug 2015 in Deutschland im ambulanten Bereich
910 Millionen Euro (von 30,5 Milliarden Euro Gesamtumsatz der Pharma-Unternehmen in
diesem Bereich; Angaben zu Herstellerabgabepreisen). Auf Orphan Drugs entfielen also nur
knapp 3 Prozent des Umsatzes.

Plusminus/Handelsblatt: Sind die Voraussetzungen "Versorgungslücke schließen" und
"Zusatznutzen" alternative oder kumulative Zulassungsvoraussetzungen?

vfa: Für alle Orphan Drugs gilt als eins der Kriterien zur Aufrechterhaltung des Orphan Drug-
Status, „that there exists no satisfactory method of diagnosis, prevention or treatment of the
condition in question that has been authorised in the Community or, if such method exists,
that the medicinal product will be of significant benefit to those affected by that condition.“
(Quelle:
http://eurlex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2000:018:0001:0005:en:PDF )
Dies bedeutet, dass das neue Medikament den bisher verfügbaren Medikamenten überlegen
sein muss, und dass ein Medikament, das nur „gleich gut“ ist, keine Chance auf den Orphan
Drug-Status hat. Nur in einem einzigen Fall wurde seit Inkrafttreten der Orphan Drug-
Verordnung im Jahr 2000 aber auch einem solchen „gleich guten“ Medikament der Orphan
Drug-Status zuerkannt, und zwar, weil das schon zugelassene Medikament seit längerer Zeit
nicht verfügbar war (wegen Produktionsproblemen); das neue Medikament ermöglichte, die
Patienten wieder zu therapieren. – Dieses Beispiel meinen wir mit „Versorgungslücke
schließen“.

Plusminus/Handelsblatt: Was würden die Pharma-Konzerne davon halten, dass alle
Orphan Drugs nach der Zulassung weiter untersucht werden müssen und jeder Hersteller
nach drei bis vier Jahren weitere Studiendaten liefern muss? Geschieht das nicht, könnte
ein Medikament wieder vom Markt genommen werden.

vfa: Genauso ist das doch heute schon geregelt: Die Arzneimittelbehörde EMA erteilt die
Zulassung für ein Orphan-Medikament stets mit der Maßgabe an den Hersteller, bestimmte
weitere Untersuchungen durchzuführen und die Daten nachzureichen. Diese Maßnahmen
sind im Risikomanagementplan zusammengefasst und können im öffentlichen
Bewertungsbericht EPAR auf der EMA-Website eingesehen werden. Das kann bedeuten,
dass der Hersteller ein Patientenregister einrichten und auswerten muss, oder dass er
weitere klinische Studien oder Anwendungsbeobachtungen durchzuführen hat. Für die
Festsetzung des Einreichungstermins wird abgeschätzt, wie schnell die Untersuchungen
abgeschlossen werden können. Für den Fall, dass keine Ergebnisse geliefert werden, ist
vorgesehen, dass dem Medikament für die betreffende Krankheit die Zulassung entzogen
werden kann.

Die Hersteller führen die beauflagten Untersuchungen – entgegen den Befürchtungen
einiger Ärzte – in der Tat durch. Diese dauern manchmal etwas länger als zunächst
vorgesehen, weil überschätzt wurde, wie schnell man genügend teilnahmebereite Patienten
mit der seltenen Krankheit finden kann. Bei einer Reihe von Orphan Drugs laufen diese
Untersuchungen derzeit noch. Bisher mussten die Arzneimittelbehörden nur einem Orphan-
Medikament wegen fehlender Beibringung weiterer Daten die Zulassung wieder entziehen.

Die Pharma-Unternehmen entwickeln Medikamente gegen diese Krankheiten, weil hier noch
bessere Medikamente dringend benötigt werden und neue wissenschaftliche Erkenntnisse
den Pharmaforschern auch die Möglichkeit dazu geben, sie zu entwickeln (siehe
http://www.vfa.de/digitorials/perspektive-2019/projekte-die-bis-2019-zu-einer-zulassung-
fuehren-koennen.html )

Plusminus/ Handelsblatt: Wie hoch waren 2015 die Ausgaben der Pharmaindustrie
(deutschlandweit und weltweit) für Werbung und Marketing, wie hoch die Ausgaben der
Pharmaindustrie (deutschlandweit und weltweit) für Forschung und Entwicklung?

vfa: Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung der Pharmaindustrie betrug 2014 weltweit
138 Milliarden US-Dollar (Quelle: Scrip 100, 2016). In Deutschland wurden 2014 von vfa-
Unternehmen 5,1 Milliarden Euro und 2015 5,3 Milliarden Euro für Forschung und
Entwicklung ausgegeben. Angaben über die Ausgaben für Marketing und Vertrieb in
Deutschland und weltweit liegen uns nicht vor.
GKV-Spitzenverband

Für die Patienten geht es bei den Medikamenten um die Wirksamkeit. Ein neues
Medikament soll aber nicht nur wirken, es soll auch besser sein, als andere. Denn dieser
Zusatznutzen rechtfertigt höhere Preise. Bei seltenen Krankheiten bekommen die
Medikamente jedoch den Zusatznutzen zugesprochen, ohne dass die Hersteller ihn durch
Studien belegen müssen. Der GKV-Spitzenverband hat auf unsere Anfrage ausgerechnet, wie
viele Medikamente tatsächlich keinen belegbaren, beziehungsweise einen geringen
Zusatznutzen haben.

Plusminus/Handelsblatt: Können Sie quantifizieren, wie viel Gelder die Gesetzlichen
Krankenkassen jährlich für Orphan Drugs ausgeben, aufgeschlüsselt nach der Einstufung
des Gemeinsamen Bundesausschusses? Also: Wie viel Geld kosten die Kassen Orphan
Drugs, deren Zusatznutzen zum Beispiel als „nicht quantifizierbar“ bewertet wurde, wie
viel wird für Orphan Drugs mit „niedrigem“ Zusatznutzen ausgegeben?

Der GKV-Spitzenverband antwortet uns per E-Mail:

Wir haben jetzt für Sie eine Auswertung zu Umsätzen für Orphan Drugs zu Lasten der GKV
nach Zusatznutzenvotum berechnet.

Kurzgefasst: Nach unserer Auswertung hat die GKV im Jahr 2015 insgesamt 582 Mio. Euro
für AMNOG-bewertete Orphan Drugs ausgegeben.
194 Mio. Euro, knapp 1/3 der Ausgaben im OD Sektor (33 Prozent) im Jahr 2015 entfiel(en)
auf Arzneimittel mit einem unklaren Zusatznutzen („nicht quantifizierbar“).

      Mit „Umsatz“ sind die Ausgaben der GKV auf Basis des sog.
       Apothekenverkaufspreises (AVP), das heißt vor Abzug gesetzlicher
       Herstellerabschläge, im Jahr 2015.

      Eingeschlossen in die Umsatzabfrage wurden alle Orphan Drugs, die bis Ende 2015 in
       Deutschland in den Verkehr gebracht wurden und damit zu Lasten der GKV
       abgegeben werden konnten.
   Die Zuordnung des Umsatzes des Arzneimittels zu den Zusatznutzen-Ausmaß-Gruppen
   wurde vorgenommen auf Grundlage des Standes des G-BA-Zusatznutzenvotums mit
   Gültigkeit im Jahr 2015, d.h. das bei Abrechnung des Arzneimittels gültige
   Zusatznutzenausmaß wurde zugrunde gelegt, es sei denn, zu diesem Zeitpunkt lag noch
   kein Zusatznutzenbeschluss vor.
   Dann wurde das Arzneimittel und sein Umsatz der Ausmaß-Gruppe aufgrund des im Jahr
   2016 ergangenen Beschlusses zugeordnet.
Im Detail: Von insgesamt 33 der im Jahr 2015 im Verkehr befindlichen Arzneimitteln mit
Orphan Drug Status hat die GKV

 für 2 (6,1%) OD Arzneimittel mit dem Votum                               158 Mio. €
 „beträchtlicher“ Zusatznutzen
 für 1 (3,0%) OD Arzneimittel mit einem zwischen Anwendungsgebieten       35 Mio. €
 und Patientengruppen differenzierenden gemischten Voten mit
 „geringem“ bzw. „beträchtlichem“ Zusatznutzen

 für 11 (33,33%) OD Arzneimittel mit dem Votum „geringer“ Zusatznutzen 195 Mio. €

 für 19 (57,6%) OD Arzneimittel mit „nicht quantifizierbarem Nutzen“      194 Mio. €
 Gesamtvolumen des Umsatzes                                               582 Mio. €

ausgegeben.
Novartis/Roche

Kritiker der Orphan Drugs stellen deren Wirksamkeit infrage, andere haben Zweifel an einer
auszureichenden Kontrolle der europäischen Zulassungsbehörde. Manche Experten sehen
die Gefahr, dass schlecht geprüfte Medikamente eingesetzt würden. „Plusminus“ wollte bei
den Pharma-Unternehmen direkt nachfragen. Ein Interview vor der Kamera wollte man uns
nicht geben. Schriftlich beantworteten uns Novartis und Roche einige Fragen.

Von der Firma Novartis wollten wir wissen:
1. Novartis produziert Glivec, eine frühere Orphan Drug, für das mittlerweile neben der
ursprünglichen Indikation Leukämie zahlreiche andere Indikationen zugelassen sind.
Wie viele Indikationen und welche (möglichst allgemeinverständliche Bezeichnung) gibt es
für Glivec?
2. Halten Sie Leukämie für eine seltene Erkrankung?
3. Wann wurde der Status als Orphan Drug zurückgezogen und von wem?
4. Glivec wird als Musterbeispiel für das Slicing angesehen mit dem Ziel einer
Indikationsausweitung. Was sagen sie dazu?
5. Welchen Umsatz jährlich erzielte Novartis 2015 mit Glivec?
6. Welche anderen Orphan Drugs produziert Novartis mit welchen Indikationen?
7. Wie hoch ist ihr Forschungs-Etat?
8. Wie viel Geld geben Sie pro Jahr für Werbung (bei Patienten und Ärzten) aus?

Das Unternehmen antwortete per E-Mail:

Glivec® (Imatinib) ist ein Tyrosin-Kinase-Inhibitor (TKI), der vor allem bei der Behandlung von
zwei Krebsarten eingesetzt wird: von Philadelphia-Chromosom-positiver (Ph+) chronischer
myeloischer Leukämie (CML) und von c-Kit-positiven, gastrointestinalen Stromatumoren
(GIST).1 Seit Einführung von Glivec® hat sich die Ph+ CML in den meisten Fällen von einer
einst tödlichen in eine behandelbare Erkrankung gewandelt. Heute verfügen neun von zehn
CML-Patienten über eine normale Lebenserwartung.2
Weitere Informationen zu den weiteren Indikationen erhalten Sie auch auf www.fachinfo.de
und www.patienteninfo-service.de.

Glivec® ist nur für zwei Formen der Leukämie zugelassen – der chronischen myeloischen
Leukämie und akuten lymphatischen Leukämie. Die Inzidenz der chronischen myeloischen
Leukämie liegt bei etwa 0,6-2,0/100.000 Einwohner und Jahr.3 Die der akuten lymphatischen
Leukämie bei 1,1/100.000 im Jahr.4 Laut Definition der European Medicines Agency gilt eine
Erkrankung als selten, wenn weniger als 5 von 10.000 Menschen in der EU betroffen sind.5

Für die Indikation chronische myeloische Leukämie endete der Orphan Drug Status
automatisch 10 Jahre nach der Zulassung dieser Indikation am 12.11.2011. Der Orphan Drug
Status und dessen Beendigung wird nach Verordnung (EG) Nr. 141/2000 über Arzneimittel
für seltene Leiden geregelt.

In 2015 hat Novartis einen weltweiten Gesamtumsatz von 49,4 Milliarden US Dollar
gemacht. Die Investitionen in Forschung und Entwicklung lagen bei 8,9 Milliarden US Dollar.
Dies können Sie online in unserem Geschäftsbericht 2015 nachlesen.6
1 Novartis Pharma GmbH. Fachinformation Glivec®, Stand Mai 2016
2 O'Brien S, et al. International Randomized Study of Interferon versus STI571 (IRIS) 7-year follow-up Sustained survival, low
rate of transformation and increased rate of major molecular response in patients with newly diagnosed chronic myeloid
leukemia in chronic phase treated with imatinib. Abstract # 186. American Society of Haematology 2008 Annual Meeting,
San Francisco, CA.
3 Science Direct. Epidemiology of chronic myeloid leukaemia (CML). Verfügbar unter:

http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1521692609000401. Aufgerufen am 12.09.2016
4 Onkopedia. Akute Lymphatische Leukämie. Verfügbar unter:

https://www.onkopedia.com/de/onkopedia/guidelines/akute-lymphatische-leukaemie-all/@@view/html/index.html.
Aufgerufen am 14.09.2016
5 European Medicines Agency. Orphan designation. Verfügbar unter:

http://www.ema.europa.eu/ema/index.jsp?curl=pages/regulation/general/general_content_000029.jsp&mid=WC0b01ac0
5800240ce Aufgerufen am 13.09.2016
6 Novartis. Geschäftsbericht 2015. Verfügbar unter: https://www.novartis.com/sites/www.novartis.com/files/novartis-

annual-report-2015-de-low-res.pdf Aufgerufen am 12.09.2016

Plusminus/Handelsblatt: Von dem Unternehmen Roche wollten wir wissen, was es mit den
Chancen von Patienten steht, die mit der Förderung von Orphan Drugs steigen. Aber auch
um die Frage, wie mit angeblich nur selten gebrauchten Medikamenten so viel Geld
verdient werden kann. Was ist dran an der Kritik der Orphanisierung oder des Slicings?
Was sind die Vorteile der vereinfachten Zulassung? Und ist es dauerhaft gerechtfertigt,
dass ein Zusatznutzen erstmal vorausgesetzt wird?

Ganz generell haben wir es uns bei Roche zum Ziel gesetzt, durch die Bereitstellung von
innovativen Arzneimitteln und Diagnostika das Leben von Menschen mit schweren oder
lebensbedrohlichen Krankheiten zu verlängern oder deren Lebensqualität zu verbessern. Ein
Grundpfeiler unserer Strategie ist dabei, solche Arzneimittel zu entwickeln, für die ein hoher
medizinischer Bedarf besteht – also Medikamente, die einen hohen Nutzen für betroffene
Patienten und die Gesellschaft haben. In unserem Forschungs- und Entwicklungsprogramm
und bei der Fokussierung auf Therapiegebiete folgen wir den neuen wissenschaftlichen
Erkenntnissen über die Entstehung von Krankheiten. Roche gehört zu jenen Unternehmen,
die weltweit mit am meisten in Forschung und Entwicklung investieren: Wir beschäftigen
über 18.000 Mitarbeitende in diesem Bereich und haben 2015 rund 9,3 Milliarden Schweizer
Franken in Forschung und Entwicklung investiert. Wir unterhalten ein breites Netzwerk und
starke Allianzen mit anderen forschenden Unternehmen, Universitäten und
Forschungsinstitutionen.

Bisher hat Roche in Deutschland den Patienten zwei Orphan Drugs zur Verfügung stellen
können. Einmal Esbriet® zur Behandlung der idiopatischen Lungenfibrose und Gazyvaro® zur
Behandlung der chronisch lymphatischen Leukämie.

Die Erforschung von Orphan Drugs unterscheidet sich stark von regulären Arzneimitteln.
Beispielsweise müssen Teilnehmer für Studien weltweit gesucht werden und mit weitaus
weniger Patienten durchgeführt werden, da die Krankheiten so selten vorkommen. Orphan
Drugs werden ausschließlich gegen solche Krankheiten entwickelt, die genuin selten sind,
d.h. in der EU definitionsgemäß bei weniger als einem von 2.000 EU-Bürgern auftreten.
Medikamente gegen Unterformen häufiger Erkrankungen (etwa Lungenkrebs) können
keinen Orphan Drug-Status erhalten. Darüber wachen die Zulassungsbehörde EMA und die
EU-Kommission. Das Aufteilen häufigerer Krankheiten in "orphan-fähige" Teilgebiete - ein
Slicing oder eine Orphanisierung - ist somit ausgeschlossen.
Zugelassen werden Orphan Drugs wie andere Medikamente nur, wenn die
Zulassungsbehörde EMA den Nutzen ihrer Anwendung bei den Patienten höher als das
Risiko bewertet. Damit ein Medikament im Zulassungsverfahren den Orphan Drug-Status
behalten kann, muss es sogar einen Zusatznutzen gegenüber den bisher vorhandenen
Therapien aufweisen. Davon unberührt bleibt, dass jedes Orphan Drug in Deutschland das
frühe Nutzenbewertungsverfahren durchlaufen muss. Da der Zusatznutzen als solcher
bereits auf europäischer Ebene ermittelt wurde, bewertet der G-BA dabei dessen Ausmaß.
Anschließend führt der GKV-Spitzenverband für diese Orphan Drugs Preisverhandlungen mit
dem Hersteller.

Da wir, wie oben beschrieben, nur zwei der aktuell rund 90 in der EU zugelassenen
Medikamente mit einem Orphan Status haben, möchten wir uns als Unternehmen nicht
anmaßen, hier als Experten in diesem Bereich aufzutreten und von einem Drehtermin
absehen.
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