Die Schule Bildungsgerechtigkeit - für alle - GGG Start

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GGG 2021 I 4

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Bildungsgerechtigkeit    ?

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Editorial
                          Liebe Mitglieder der GGG,
                                    liebe Leserinnen und Leser,

                          Hauptbahnhof Berlin. Im Zug nach Hamburg sind             Kita und Schule sind herausgefordert. Zu ihrem
                          alle Fahrgäste eingestiegen. Der Zug bleibt ste-          Auftrag gehört es, allen Kindern und Jugend-
                          hen. Dann die Durchsage: „Wegen eines Not-                lichen zu ermöglichen, sich optimal zu entwi-
                          arzteinsatzes wird unsere Abfahrt verzögert“. Ein         ckeln. Kita und Schule müssen in der Lage sein,
                          paar Plätze hinter mir höre ich die Stimme eines          kompensatorisch zu wirken. In unserer Gesell-
                          kleinen Jungen: „Was ist ein Notarzteinsatz?“             schaft besteht weitgehend Konsens darüber,
                          Später, während der Fahrt, fragt der Junge wei-           dass Chancengleichheit und Bildungsgerechtig-
                          ter: „Was ist ein Sandwich?“ Und kurz darauf:             keit fundamentale Grundlagen unseres gesell-
                          „Was ist Vesper?“ Jedes Mal antwor-                                   schaftlichen Zusammenlebens sind.
                          tet der Vater im Berliner Dialekt ge-                                 In der Vergangenheit ist oft belegt
                          duldig erklärend. Ich vermute, dass                                   worden, dass unser Schulsystem in
                          dieser Junge bei Schuleintritt gut ge-                                dieser Hinsicht große Defizite auf-
                          rüstet sein wird. Doch für viele Kinder                               weist. Und diese Defizite haben sich
                          gilt dies nicht. Sie haben keine Eltern,                              in der Corona-Pandemie noch einmal
                          die erklären können oder erklären                                     verstärkt, ohne dass bisher gehan-
                          wollen. Sie wachsen in Verhältnissen                                  delt worden ist. Nutzen wir die Krise
                          auf, die ihnen keine optimale Vorbe-                                  als Chance, unser Schulsystem sozial
                          reitung auf die Anforderungen von                                     gerechter weiterzuentwickeln. Es wird
                          Schule ermöglichen. Sie gehören oft                                   höchste Zeit!
                          zu denjenigen, die am ehesten schei-          Dieter Zielinski
                          tern. Sie sind nicht weniger intelligent.      Vorsitzender           Da sich Bildung im sozialen Raum voll-
                          Sie haben lediglich schlechtere Aus-            der GGG               zieht, wird das Schulsystem allein nicht
                          gangsbedingungen. Was daraus                                          in der Lage sein, die festgestellten
                          folgt, ist hinlänglich bekannt.                                       Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Bil-
                                                                                                dungs-, Sozial- und Finanzpolitik wer-
                          Kinder und Jugendliche sind nicht nur durch,              den eng zusammenwirken müssen. Die Bildungs-
                          sondern werden auch wegen ihrer Herkunft be-              politik wird über die strukturelle und inhaltliche
                          nachteiligt, so z.B. bei Übergangsentscheidun-            Gestaltung des Schulsystems ihren Beitrag dazu
                          gen, aber auch im Angebot eines selektiven                leisten müssen. Ob die Politik dies bei allen Be-
                          Schulsystems. Dazu schreiben Kai Maaz und An-             kenntnissen aus eigener Kraft heraus schafft, ist
                          nabell Daniel in ihrem Artikel Bildungsgerechtig-         zumindest fraglich. Lippenbekenntnisse allein rei-
                          keit – altbekannte Herausforderungen und neue             chen nicht aus. Ohne gesamtgesellschaftliches
                          Chancen: „Eine solche Kopplung zwischen Bil-              Engagement wird es nicht gehen.
                          dungserfolg und leistungsirrelevanten Merkma-
                          len widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz un-             Die Artikel in diesem Magazin legen den Finger
                          seres Grundgesetzes, …“ Der Gleichheitsgrund-             in die Wunde und zeigen Probleme, aber auch
                          satz ist nicht nur ethisches Gebot, sondern seine         Wege zur Realisierung von mehr Bildungsgerech-
                          Verletzung schadet dem sozialen Zusammen-                 tigkeit auf.
                          halt und dem wirtschaftlichen Wohlergehen ins-
                          gesamt.                                                   Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine anre-
DSfa GGG Magazin 4 2021

                                                                                    gende und gewinnbringende Lektüre.
                          Besonders empörend ist, dass mit den in die               Dieter Zielinski
                          Wiege gelegten ungleichen Startchancen künf-
                          tiger wirtschaftlicher Erfolg, gesundheitliches
                          Wohlergehen und die Lebenserwartung von
                          Menschen nicht unerheblich gekoppelt sind.

                                                                                                                             Editorial     1
Die Schule Bildungsgerechtigkeit - für alle - GGG Start
Editorial   I Dieter Zielinski                  .......1

                               GGG aktiv

             GGG, GEW und GSV: Eine konstruktive             .......4
             Zusammenarbeit ! I Dieter Zielinski

                            Ein Blick Politik

             Die Aufhebung von Haupt- und
                                                             .......7
             Realschule ... I Joachim Lohmann
zum Inhalt

                                im Fokus

                                                                         © Foto: Eva Giovannini
             Bildungsgerechtigkeit ...
                                                             .......13
             I Kai Maaz, Annabell Daniel

             Wo keine Villa ist, ist auch kein Weg –
                                                             .......16
             zum Abitur ? ... I Rainer Dahlhaus

             Private Schulen ...    I Marcel Helbig          .......22

             Über sozialen Aufstieg ...       I Ayla Çelik   .......24

             Einzelschulentwicklung gerecht und
                                                             .......26
             digital ... I Johanna Schulze

             Übergang Grundstufe - Sek I ...
             I Ulla Widmer-Rockstroh I Ursula Carle          .......27
             I Rixa Borns

             Bildungs(un)gerechtigkeit ? ...                 .......29
             I Anne Volkmann, Christa Lohmann
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Schulen im Fokus

Bildungsgerechtigkeit schaffen ...            .......32
I Gerd-Ulrich Franz

                                                          © Foto: Monique Anselm
Interventionen einer Schule ...               .......35
I Martina Seifert

Schule mit Anspruch ...                       .......38
I Claudia Bundesmann

               Länder Spiegel

Berlin   I Lothar Sack                        .......41

Hamburg       I Barbara Riekmann
                                              .......42
Hessen    I Konstanze Schneider
Nordrhein-Westfalen        I Behrend Heeren   .......43
Schleswig-Holstein       I Christa v. Rein,   .......44
Dieter Zielinski

   Nachruf

Susanne Thurn                                 .......45

                   zur Debatte

Ein Jahr zum Vergessen !?
                                              .......47
I Konstanze Schneider, Lothar Sack

Wie Bildung gelingt – Das Gespräch
geht weiter                                   .......50
I Ursula Forstner, Harald Lesch
Lernen:
verlernen – umlernen – neu lernen ...
                                              .......51
I Christa Lohmann

Auch lesenswert                               .......55
I Redaktion

                    zur Info                  .......56

                                                                                   3
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Bildungspolitische Aktivitäten

                                             Dieter Zielinski
                                             Jedes Jahr zu Himmelfahrt treffen
                                             sich Vertreter*innen der GGG, der
                                             Gewerkschaft Erziehung und Wis-
                                             senschaft (GEW) und des Grund-
                                             schulverbandes (GSV) mit Wissen-
                                             schaftlerinnen und Wissenschaftlern
                                             aus dem Bereich der Pädagogik.

                                             Sie tauschen sich über Grundlagen,
GGG aktiv

                                             Perspektiven und Strategien bezüg-
                        Dieter Zielinski
                                             lich der gemeinsamen Zielsetzung,
                    Vorsitzender der GGG
                                             der einen Schule für alle, aus. In der
                                             Regel sind die teilnehmenden Men-
                                             schen das Programm.

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GGG, GEW und GSV:
                                                                  Eine konstruktive Zusammenarbeit!

                          2020 musste das „Himmelfahrts-Treffen“ pande-        Mit der während des Himmelfahrtstreffens er-
                          miebedingt ausfallen. Und in diesem Jahr war         arbeiteten und anschließend verbreiteten Stel-
                          alles anders. Wieder ausfallen sollte es nicht,      lungnahme (s. Fußnote) begrüßen GGG, GEW
                          aber ein Präsenztreffen wäre auch nicht ange-        und GSV grundsätzlich die Bereitstellung der
                          sagt gewesen. Da alle gelernt haben, mit Video-      Mittel für kompensatorische Fördermaßnahmen
                          konferenzen umzugehen, war das die Lösung.           und fordern, dass die Länder zusätzlich eigene Fi-
                          Den Höhepunkt der zweitägigen Veranstaltung          nanzmittel für das Programm zur Verfügung stel-
                          gestaltete Marianne Demmer mit der Vorstel-          len. Ein zentrales Ziel sehen die Verbände darin,
                          lung ihrer Schrift „1920 – 2020 – Schulreform in     dass mit dem Programm ein Abbau der beste-
                          Deutschland – Eine (un)endliche Geschichte?!“,       henden und durch die Pandemie noch einmal
                          die als Heft 7 der Schriftenreihe „Eine für alle –   verstärkten Bildungsarmut erfolgt.
                          Die inklusive Schule für die Demokratie“ erschie-
                          nen ist. Dafür wurde ihr uneingeschränktes Lob       Weiter werden u.a. gefordert:
                          zuteil.                                              „„ Die Verteilung der Mittel auf die einzelnen
                          Die Druckversion kann bei der Geschäftsstel-            Länder muss auf der Basis ihrer sozio-ökono-
                          le der GGG bestellt werden, als pdf ist sie auf         mischen Lage und nicht nach Königsteiner
                          der GGG-Website verfügbar (https://ggg-web.             Schlüssel oder gemäß ihres jeweiligen Um-
                          de/diskurs/publikationen/ueberregional/eine-            satzsteueraufkommens erfolgen.
                          fuer-alle/1539).
                                                                               „„ In den einzelnen Ländern sollen die Mittel
                                                                                  den Schulen entsprechend ihres sozio-öko-
                          Zentrale Themen der Veranstaltung waren die
                                                                                  nomischen Umfeldes möglichst auf der Basis
                          Auseinandersetzungen mit der Länderverein-
                                                                                  eines Sozialindexes zur Verfügung gestellt
                          barung der Kultusministerkonferenz (KMK) und
                                                                                  werden.
                          den darauf basierenden politischen Vorhaben,
                          mit aktuellen Studien zum Übergang von der           „„ Für außerschulische Anbieter von Fördermaß-
                          Grundschule zu den weiterführenden Schulen              nahmen müssen verbindliche Qualitätskriteri-
                          sowie mit der in der Corona-Pandemie auch für           en vorgegeben und überprüft werden.
                          eine breite Öffentlichkeit besonders deutlich ge-    „„ In der nächsten Legislaturperiode muss eine
                          wordenen Bildungsbenachteiligung von Kindern            verfassungsrechtliche Grundlage für eine
                          und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Fa-         Verstetigung des Förderprogramms zur weite-
                          milien. Die Diskussionen führten spontan zur Bil-       ren Bekämpfung der Bildungsarmut geschaf-
                          dung von weiterführenden Arbeitsgruppen, aus            fen werden.
                          denen Erklärungen und Anregungen für die Ver-
                          bände hervorgingen.1                                 Inzwischen hat das Schuljahr in allen Bundeslän-
                                                                               dern wieder begonnen. Mit schillernden Namen
                          Worauf es uns jetzt ankommt:                         wie „Ankommen und Aufholen“ (NRW), „Stark
                          Zur Milderung der durch die Pandemie verur-          trotz Corona“(Berlin) und „Bridge the Gap“ (BW)
                          sachten Lernrückstände sowie der seelischen          wurden Konzepte für den Einsatz der zur Verfü-
                          und körperlichen Beeinträchtigungen von Kin-         gung gestellten Mittel entwickelt. Dabei fällt auf,
DSfa GGG Magazin 4 2021

                          dern und Jugendlichen haben das Bundesminis-         dass jedes Bundesland wieder eigene Schwer-
                          terium für Bildung und Forschung und das Bun-        punkte setzt, die den gestellten Herausforderun-
                          desministerium für Familie, Senioren, Frauen und     gen oft nicht gerecht werden. Ein gemeinsames
                          Jugend gemeinsam den Bundesländern für die           Konzept zur Beseitigung von Bildungsungleich-
                          Jahre 2021 und 2022 im Rahmen ihres „Aktions-        heit fehlt. Wenn hier nicht schnell nachgebessert
                          programms Aufholen nach Corona“ 2 Mrd. Euro          wird, werden die eingesetzten Mittel ein Trop-
                          zur Verfügung gestellt.                              fen auf dem heißen Stein bleiben. Unsere oben

                                                                                                                    GGG aktiv        5
Die Schule Bildungsgerechtigkeit - für alle - GGG Start
angesprochenen Forderungen wurden gar nicht          stärken. Bis zu 20 Projekttage, die auch über das
                              oder nur bedingt umgesetzt.                          Schuljahr verteilt werden können, sollten mög-
                                                                                   lich sein. Weiter heißt es in der Bekanntmachung:
                              Auch die Empfehlungen der von der Kultusmi-          „Um einen Schulstart zu gewährleisten, der für
                              nisterkonferenz eingesetzten Ständigen wissen-       die Schülerinnen und Schüler ohne Druck und
                              schaftliche Kommission (StäwiKo) wurden nicht        Stress verläuft, werden bis zum 24.9.21 keine Klas-
                              ausreichend berücksichtigt. Diese hatte bereits      senarbeiten oder Test geschrieben.“ Beabsich-
                              im Juni einen ersten Expertenbericht vorgelegt,      tigt ist zudem die Gesamtzahl der schriftlichen
                              in dem sie fünf Empfehlungen für die Planung         Arbeiten abzusenken und die mündlichen Leis-
                              und Gestaltung der Fördermaßnahmen nennt:            tungen stärker zu gewichten.
                              1. Konzentration auf besonders betroffene
                                  Gruppen,                                         Die GGG wird den in den Ländern jeweils einge-
                              2. Besondere Förderung an Übergängen und             leiteten Prozess kritisch begutachten, begleiten
                                  Gestaltung von Anschlüssen,                      und sich mit Nachdruck dafür einsetzen, dass ein
                              3. Konzentration auf Basiskompetenzen statt          erfolgreicher Weg zur Beseitigung der Bildungs-
                                  Aufholen des Lehrplans,                          benachteiligung im Sinne unserer Forderungen
                              4. Gezielte Qualifizierung und Begleitung von        eingeschlagen wird. Dabei wird sie weiter die
                                  zusätzlichem pädagogischen Personal für          Zusammenarbeit mit der GEW und dem GSV
                                  Förderung,                                       pflegen.
                              5. Monitoring und Evaluation von Maßnahmen.
                                                                                   Inzwischen hat auch ein erstes Gespräch zwi-
      Besonders hervorzuheben ist folgende Bemer-                                  schen Vertretern des GGG-Bundesvorstandes
      kung der StäwiKo: „Es muss aber nach Ansicht                                 und der neuen GEW-Bundesvorsitzenden Maike
      der Kommission klar sein, dass zukünftig in den                              Finnern sowie dem neuen GEW-Vorstandsmit-
                                16 Ländern Strukturen                              glied für den Bereich Schule, Anja Bensinger-Stol-
 Nachhaltige Reduktion aufgebaut werden                                            ze, stattgefunden. Ein entsprechendes Gespräch
des Anteils der bildungs- müssen, die über das                                     mit dem Vorstand des Grundschulverbandes ist
                                kommende Schuljahr                                 angebahnt.
  benachteiligten Kinder hinaus eine nachhalti-
     und Jugendlichen! ge Reduktion des An-                                        Fußnote: ..............................................................................
                                teils der bildungsbe-                              1
                                                                                    Siehe dazu den Artikel" Übergang Grundstufe - Sek I - Die
      nachteiligten Kinder und Jugendlichen ermög-                                 Pandemie fordert Konsequenzen" in diesem Magazin und
      lichen. Viele der formulierten Empfehlungen für                              die Stellungnahme/Forderungen von GEW, GGG und GSV
                                                                                   zum „Aktionsprogramm Aufholen nach Corona“.
      das kommende Schuljahr sollten dementspre-
                                                                                   https://ggg-web.de/home/die-ggg/ggg-positionen/1601
      chend dahin gehend geprüft werden, ob sie in
      den Schulen mit einer langfristigen Perspektive
      etabliert werden können.“

                              Nicht allein die zur Verfügung gestellten finanzi-
                              ellen Mittel, sondern auch die Haltung hinter den
                              Maßnahmen wird mitentscheidend für deren Er-
                              folg sein. Wie eine am Kindeswohl orientierte
                              Ausrichtung aussehen kann, zeigt eine Bekannt-
                              machung des Niedersächsischen Kultusministe-
                              riums aus dem August 2021. Danach sollten die
                              Niedersächsischen Schulen das neue Schuljahr
    DSfa GGG Magazin 4 2021

                              mit einer einwöchigen Einstiegsphase beginnen,
                              die auf bis zu vier Wochen ausgedehnt werden
                                                                                                     Bücherstand für das Bündnis
                              konnte. Zielsetzung sollte ein Zusammenfinden
                                                                                                     „Eine für alle...“ bei der
                              von Schülerinnen und Schülern und Lehrkräf-
                              ten sein. Konkret sollte es um Orientierungstage                       Veranstaltung des GGG Landes-
                              gehen, die den Klassenzusammenhalt und die                             verbandes Hessen zum Thema
                              Klassengemeinschaft sowie die Persönlichkeit                           „Neu(e) an der IGS“

    6
Die Schule Bildungsgerechtigkeit - für alle - GGG Start
2-säuliges Konkurrenzsystem
EinBlick Politik

                                                         Eine Reform von oben
                                                         Die Gesamtschule wird die einzige
                                                         Alternative zum Gymnasium. Auch
                                                         wenn der Weg dahin noch lang und
                                                         steinig sein wird, so sind doch
                                                         entscheidende Pflöcke schon einge-
                                                         schlagen.
                             Dr. Joachim Lohmann
                           ehem. Stadtschulrat in Kiel
                               Staatssekretär a.D.
                             in Schleswig-Holstein
                           ehem. Bundesvorsitzender
                                   der GGG

             Dieser Link führt zum Artikel der
             Rubrik "Ein Blick Politik", Seite 7- 11
                                                                                              7
Die Schule Bildungsgerechtigkeit - für alle - GGG Start
Die Aufhebung von Haupt-
    und Realschule istsamen
                        ein Schritt zur gemein-
                             Schule für alle
    Joachim Lohmann
    Fünf Bundesländer haben die Haupt- und               Das so entstandene 2-säulige Konkurrenzsystem
    Realschule zugunsten der Gesamtschule auf-           ist nicht das Ende der Schul- und Bildungsreform.
    gehoben.1 Es gab Vorbehalte gegen diese              Das System ist nicht stabil, die verbleibenden
    schulorganisatorische Neuordnung aus dem             Ungerechtigkeiten und sozialen Ungleichheiten
    Kreis der Gesamtschulanhänger. Diese befürch-        führen zu Konflikten, denen sich die Politik nicht
                                                         dauerhaft entziehen kann.
    teten, dass die neu errichteten Schulen des
    gemeinsamen Lernens hinter den bestehenden
                                                         Statt der beabsichtigten Preisgabe wird
    Gesamtschulen in der Qualität zurückbleiben          die Gesamtschule dominierende Kraft
    könnten und dass die Reform ein gesellschafts-       Fünf Bundesländer - Berlin, Bremen, Hamburg,
    politischer Anlass sei, das Ziel der gemein-         Saarland und Schleswig-Holstein - ersetzten
    samen Schule für alle aufzugeben. Doch die           Haupt- und Realschule zugunsten der Gesamt-
    Reform ist ein struktureller sowie ein pädago-       schule. An die Stelle des hierarchischen, selekti-
    gischer Erfolg.                                      ven Schulsystems trat das 2-säulige Konkurrenz-
                                                         system mit Gymnasium und Gesamtschule.
    Die Reorganisation ersetzt die Hierarchie des
    Gymnasiums gegenüber der Haupt- und Real-            Die Durchsetzung des Konkurrenzsystems ist ein
    schule zugunsten einer Struktur der Gleichwer-       Sieg. Der erwartete gesellschaftliche wie politi-
    tigkeit und Konkurrenz von Gesamtschule und          sche Widerstand blieb fast völlig aus, und die Re-
    Gymnasium.                                           form setzte sich gegen eine einmütige Verabre-
                                                         dung der Kultusminister durch.
    Sie macht in den fünf Ländern die Gesamtschu-
    le zur Mehrheitsschule, die zu mehr qualifizierten   Nur in Schleswig-Holstein strengte der Realschul-
    Schulabschlüssen führt und soziale Benachtei-        lehrerverband zusammen mit der FDP ein Volks-
    ligungen reduziert. Erstaunlicherweise ist Wider-    begehren gegen die Aufhebung von Haupt-
    stand fast völlig ausgeblieben. Im Gegenteil: die    und Realschule an, das schon an der ersten
    Reorganisation findet breite gesellschaftliche       Hürde scheiterte. Stattdessen wurde die Reform
    und politische Unterstützung.                        in den Ländern von der CDU mitgetragen bzw.
                                                         von ihr toleriert.

                                                         Noch erstaunlicher ist die Durchsetzung des
                                                         Konkurrenzsystem in immerhin fünf Bundeslän-
                                                         dern wenige Jahre nach einer einmütigen Ab-
                                                         machung der Kultusminister. Diese hatten sich
                                                         auf Grund des PISA-Schocks im Jahre 2002 auf
                                                         ein Ende der Strukturreform festgelegt. Faktisch
                                                         hätte diese Abmachung das längerfristige Ende
                                                         der Gesamtschule bedeutet. Doch u.a. an der
                                                         SPD-Parteibasis in Schleswig-Holstein und an
                                                         dem Regierungsinteresse des Hamburger Bür-
                                                         germeisters von Beust scheiterte die beabsich-
                                                         tigte Restauration.

                                                         Statt sie aufzugeben ist die Gesamtschule die
                                                         Mehrheitsschule geworden. In diesen Bundes-
                                                         ländern besuchen jeweils mehr Achtklässler die

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Gesamtschule als das Gymnasium, in Bremen             Das Urteil der Empiriker ist vorurteilsbeladen,
                          sogar fast drei Viertel. Eine Aufhebung der Ge-       oberflächlich und theorielos. Ob ein Schüler
                          samtschule zugunsten einer dem Gymnasium              einen Abschluss erhält, hängt einzig davon ab,
                          untergeordneten Schulform ist vom Tisch, an           ob er die Mindeststandards erfüllt. Diese Stan-
                          der Gesamtschule wird sich niemand mehr ver-          dards sind für die Schulen und Schulformen im
                          greifen.                                              jeweiligen Bundesland gleich.

                          Das gilt selbst bundesweit. Denn zusätzlich zu den    In Berlin
                          fünf Ländern haben auch Baden-Württemberg             „„ erhielten an ehemaligen Hauptschulen statt
                          und Nordrhein-Westfalen mit einer Strategie von          früher knapp 2 % jetzt 30 % und
                          unten die Gesamtschulen stark ausgebaut. Bun-
                                                                                „„ an ehemaligen Realschulen statt vorher gut
                          desweit stagniert der Besuch der 8. Klassenstu-
                                                                                   30 % jetzt über 40 % eine Oberstufenberech-
                          fe der Gesamtschule nicht mehr wie jahrzehnte-
                                                                                   tigung.
                          lang bei gut 8 %, sondern liegt inzwischen bei fast

                          20 % eines Schülerjahrganges. Deutschlandweit         In Bremen erreichten an den neu gebildeten
                          ist die Gesamtschule zur zweitstärksten Schulform     Oberschulen gegenüber den früheren Sekun-
                          nach dem Gymnasium aufgestiegen, der Real-            darschulen und Gesamtschulen 30 % mehr Schü-
                          schulbesuch geht zurück, und die Hauptschule          ler den mittleren Abschluss.
                          wurde zur Restschule mit weniger als 10 % eines
                          Jahrganges.                                           Das ist ein beachtlicher pädagogischer Erfolg
                                                                                und eine deutliche Verbesserung der Leben-
                          Der Gesamtschulausbau ist ein Erfolg                  schancen von Schüler*innen. Die Zahlen bele-
                          – den Interpretationen der Empiriker                  gen, wie abgeschlagen, wie unterlegen sich vor
                          zuwider                                               allem die Hauptschule, aber auch die Realschu-
                          Die Durchsetzung des Konkurrenzsystems ist in         le gegenüber dem Gymnasium gefühlt haben,
                          Berlin und Bremen empirisch begleitet worden.         dass sie so wenige qualifizierte Abschlüsse ver-
DSfa GGG Magazin 4 2021

                          Die Empiriker interpretieren die Reform als erfolg-   geben haben. Sie zeigen andererseits, wie allein
                          los. Sie befürchten wegen der gestiegenen Ab-         eine äußere Umstellung von unterprivilegierten
                          schlussquoten einen Niveauverlust. Für sie haben      Schulen auf die Gesamtschulen die Abschluss-
                          sich die Chancen sozial Benachteiligter nicht         barrieren sprengt.
                          verbessert und die Schulleistungen seien nicht
                          gestiegen.                                            Auch die soziale Bildungsbenachteiligung wird
                                                                                aufgebrochen. Infolge der Reform in Berlin

                                                                                                               Ein Blick Politik   9
verdoppelte sich an den Nichtgymnasien die            tion geliefert – zur Konzeption von Gesamtschu-
                          Quote der Jugendlichen mit Hauptschuleltern,          len mit oder ohne Oberstufe.
                          die eine Oberstufenberechtigung erhielten –
                          statt früher nur gut 10 % sind es jetzt gut 20 %.     Ergebnis ist, dass die Gesamtschulen ohne Ober-
                                                                                stufe bei den Anmeldungen deutlich geringer
                          Auch in Bremen stieg mit der Reform die Abitu-        angesehen sind. Im Verhältnis zu Gesamtschu-
                          rientenquote. Sie erhöhte sich in der sozial pri-     len mit Oberstufe
                          vilegierten Hälfte der Stadtteile um 20 %, in der     „„ sind die Schulplätze um 40 % seltener nach-
                          Hälfte der sozial benachteiligten Stadtteile stieg       gefragt,
                          sie dagegen um gut 40 % – ein doppelt so star-
                                                                                „„ liegen die Grundschulnoten um 20 % und die
                          ker Anstieg ist ein sozialpolitischer Durchbruch.
                                                                                   kognitiven Fähigkeiten um gut 10 % niedriger,
                          Diesen Durchbruch als Begleitforscher nicht zu
                          würdigen, ist beschämend.                             „„ ist der Sozialindex um über 20 % geringer und
                                                                                   der Migrantenanteil fast doppelt so hoch.
                          Weiterhin unterstellen die Empiriker, dass das
                          Hauptziel der Strukturreform die Leistungssteige-     Auffallend groß sind ebenso die Unterschiede
                          rung sei und dass diese nicht erreicht wurde. Die     bei den Leistungen und der Zugangsberechti-
                          letzte Aussage offenbart deren Theorielosigkeit.      gung zur Oberstufe. Die Differenzen zwischen
                          Denn die Umwandlung einer Schule in eine an-          den Gesamtschulen ohne und mit Oberstufe
                          dere Schulform bewirkt unmittelbar noch keine         entsprechen weitgehend den ehemaligen Dif-
                          Leistungssteigerung. Eine neue Schulform führt        ferenzen zwischen Haupt- und Realschule. Län-
                          zu anderen Zielsetzungen, neuen Abschlüssen           gerfristig sind die Gesamtschulen ohne Oberstu-
                          und anderen Erwartungen von Eltern, Schüler*in-       fe gegenüber dem Gymnasium kaum konkur-
                          nen und Lehrkräften. Diese bewirken über kurz         renzfähig. Die Gesamtschulen benötigen grund-
                          oder lang eine Veränderung des Bewusstseins.          sätzlich alle eine eigene Oberstufe.
                          In deren Folge wandeln sich Einstellungen, Ver-
                          halten und Methoden, die dann Leistungen stei-        Statt integrierter Sekundarstufe II die Klas-
                          gern. Diese Entwicklungen brauchen ihre Zeit.         senstruktur der Allgemein- wie der Berufs-
                          Leistungssteigerungen stattdessen schon in der        bildung überwinden
                          ersten Phase der Umstrukturierung zu erwarten,        Die Forderung nach Oberstufen für alle Gesamt-
                          ist theorielos.                                       schulen ist eine konzeptionelle Veränderung.
                                                                                Sie bedeutet die Aufgabe des Konzepts einer
                          Sie dagegen längerfristig zu erwarten, ist rea-       Berufs- und Allgemeinbildung integrierenden
                          listisch. Am überzeugendsten sind Vergleiche          Sekundarstufe II.
                          von Ländern, einerseits von Ländern, die wie
                          Deutschland noch weiterhin hierarchisch-selek-        Seit der Gesamtschulgründung bestand ein Wi-
                          tiv organisiert sind, und solchen Ländern, die seit   derspruch zwischen der Konzeption einer Stu-
                          langem die Integration durchgesetzt haben.            fengliederung und der Strategie, dass nur Ge-
                          PISA liefert diese Vergleiche alle drei Jahre. Sie    samtschulen mit Oberstufe gegenüber den
                          ergeben äußerst enge Korrelationen zwischen           Gymnasien konkurrenzfähig seien. Bis zur teilwei-
                          dem Zeitpunkt der Auslese, der Anzahl von Schul-      sen Durchsetzung des 2-säuligen Konkurrenzsys-
                          formen und dem Umfang der sozialen Leistungs-         tems hatte gut die Hälfte der Gesamtschulen
                          diskriminierung. In Deutschland ist dieser Zusam-     keine Oberstufe, inzwischen ist der Anteil deut-
                          menhang äußerst krass. Mithin ist zu erwarten,        lich gestiegen.
                          dass auch die Einführung des 2-säuligen Konkur-
                          renzsystems nach einiger Zeit zu höheren Leistun-     Das Konzept einer Integration von Berufs- und
DSfa GGG Magazin 4 2021

                          gen der sozial Benachteiligten führen wird.           Allgemeinbildung innerhalb der Sekundarstufe II
                                                                                ist inzwischen überholt. Es ist nicht realisierbar, es
                          Die Gesamtschulen ohne Oberstufe                      war zu klein gedacht, und es überwindet nicht
                          sind kaum konkurrenzfähig                             die Klassenstrukturen sowohl der Allgemein- als
                          Einen entscheidenden Beitrag hat die Berliner         auch der Berufsbildung.
                          Begleituntersuchung zur Gesamtschulorganisa-

10
Eine integrierte Sekundarstufe II bedeutet die Zu-    flikten, und die Politik wird sich auf Grund des
                          sammenlegung aller gymnasialen Oberstufen in          gesellschaftlichen Druckes dazu entschließen,
                          Oberstufenzentren. Die Abspaltung der Ober-           das Konkurrenzsystem zugunsten der gemein-
                          stufe vom grundständigen Gymnasium würde              samen Schule für alle zu überwinden. Es gab in
                          einen Protest der Gymnasialklientel auslösen,         Deutschland wie in anderen Ländern viele weit-
                          den keine Regierung überleben würde.                  gehend gleichwertige, miteinander konkurrie-
                                                                                rende Schulformen, die sich fast alle nicht ge-
                          Zudem ist die integrierte Sekundarstufe II ein Kon-   halten haben.
                          zept der 60er Jahre. Es war damals kaum voraus-
                          zusehen, dass sowohl die gymnasiale Oberstufe         Der Zwischenschritt ist aber unvermeidbar. Denn
                          als auch die Hochschule inzwischen die Ausbil-        kein Bundesland wird wagen, die Gymnasien zu
                          dungsstätte der Mehrheit ist. Dabei ist der Hoch-     integrieren, bevor nicht die Nichtgymnasien be-
                          schulbesuch in Deutschland unterentwickelt, er        legt haben, dass sie erfolgreich sehr viele ihrer
                          ist einer der geringsten innerhalb der OECD.          Schüler*innen zum Abitur führen können. Viel-
                          Faktisch hatte sich das Modell der integrierten       mehr werden Schulen mit niederen Abschluss-
                          Sekundarstufe II mit der Klassenstruktur bei der      zielen von den Gymnasien als Beleg für die Leis-
                          Allgemein- wie auch der Berufsbildung abgefun-        tungsunterschiede von Schüler*innen herhalten,
                          den. Doch diese ist nicht mehr hinnehmbar und         die einem gemeinsamen Unterricht unüberwind-
                          ihre Überwindung wird denkbar.                        lich entgegenstünden. Nur wenn die Gesamt-
                                                                                schule die einzige Alternative zum Gymnasium
                          So reicht angesichts der stark gewachsenen indi-      ist, lässt sich gesellschaftspolitisch der Nachweis
                          viduellen, gesellschaftlichen und politischen He-     führen, dass praktisch alle Jugendlichen qualifi-
                          rausforderungen eine elementare Allgemeinbil-         zierbar sind.
                          dung von nur neun oder zehn Schuljahren nicht
                          mehr aus und beeinträchtigt zugleich erheblich        Das Zwischenziel des 2-säuligen Konkurrenzsys-
                          den künftigen beruflichen und gesellschaftlichen      tems ist nicht nur – wie in den fünf Bundesländern
                          Status des Einzelnen.                                 – durch eine Reform von oben realisierbar, son-
                                                                                dern im beachtlichen Umfang auch dadurch,
                          Die elementare Berufsausbildung innerhalb der         dass Schulen und Schulträger zur Umwandlung
                          Sekundarstufe II genügt ebenfalls nicht mehr an-      von Schulen zu Gesamtschulen ermutigt wer-
                          gesichts der Globalisierung und der digitalen Re-     den, wie dies in großen Maßen in Baden-Würt-
                          volution. Die postulierte Gleichwertigkeit der be-    temberg und Nordrhein-Westfalen gelungen ist.
                          ruflichen und akademischen Bildung ist weder          An den verbleibenden Ungerechtigkeiten und
                          ökonomisch noch gesellschaftlich gegeben; sie         sozialen Ungleichheiten des 2-säuligen Konkur-
                          ist eine öffentliche Irreführung. Zugleich bildet     renzsystems wird die Politik auf Dauer nicht vor-
                          die duale Berufsausbildung nur noch einen Teil        beigehen können; sie wird vielmehr schrittweise
                          der Jugendlichen aus; denn sie schraubt die Ein-      Gymnasium und Gesamtschule integrieren.
                          stellungsvoraussetzungen in die Höhe. Insgesamt
                          zeichnet sich der Aufstieg der Berufsausbildung       Insgesamt ist das 2-säulige Konkurrenzsystem ein
                          in den Hochschulbereich ab.                           bedeutender Schritt auf dem Wege zur gemein-
                                                                                samen Schule für alle.
                          Mit dem Konkurrenzsystem zur gemeinsa-
                          men Schule für alle                                   Fußnoten: ............................................................................
                          Insgesamt ist das 2-säulige Konkurrenzsystem ein      1
                                                                                  Da für Schulen des gemeinsamen Lernens in Deutsch-
                          unvermeidbarer Zwischenschritt zur gemeinsa-          land 9 verschiedene Bezeichnungen bestehen, die in
                          men Schule für alle. Er ist auf anderen Wegen         Bundesländern teilweise noch andere Schulformen be-
                                                                                deuten, wird einheitlich die Bezeichnung Gesamtschule
DSfa GGG Magazin 4 2021

                          erreichbar, er ist – wie fast alle Zwischenschritte
                                                                                für die Schulen des gemeinsamen Lernens gewählt.
                          – umstritten, weil mit jeder erreichten Verbesse-
                          rung befürchtet wird, dass Gesellschaft und Poli-     2
                                                                                 Eine detaillierte historisch und theoretisch fundierte Ein-
                          tik das umfassende Ziel aufgeben könnten.             schätzung der Bildungsbenachteiligung am Übergang in
                                                                                die Sekundarstufe I siehe: Carle, Ursula; Ogrodowski, Jana
                                                                                (2021): Übergänge ressourcenorientiert gestalten: Von der
                          Doch das Konkurrenzsystem beruht auf Unge-
                                                                                Grundschule in die weiterführende Schule. Reihe: Kinder
                          rechtigkeit und Ungleichheit, es führt zu Kon-        Stärken, Bd. 10. Stuttgart: Kohlhammer (im Erscheinen)

                                                                                                                                         Ein Blick Politik               11
Bildungsgerechtigkeit

                                                                                   Prof. Dr. Kai Maaz
                                                                                   Seit 2013 an der Johann Wolfgang
                                                                                   Goethe-Universität Frankfurt a.M.
                                                                                   und am Leibniz-Institut für Bildungs-
                                                                                   forschung und Bildungsinformation
                                                                                   (DIPF), Ständiges Mitglied der StäwiKo
                                                                                   (Ständige wiss. Kommission der KMK)

                                                                                   Dr. Annabell Daniel
                                                                                   Wiss. Mitarbeiterin im DIPF - Abt.
                        Dr. Kai Maaz         Dr. Annabell Daniel
                                                                                   Struktur und Steuerung des Bildungs-
                   Uni FfM., DIPF, StäwiKo          DIPF
                                                                                   wesens

                                                                                   Prof. Dr. Marcel Helbig
                                                                                   Arbeitsbereichsleiter "Strukturen
                                                                                   und Systeme" am Leibniz-Institut
                                                                                   für Bildungsverläufe (LIfBI).
                                                                                   Senior Researcher in der Projekt-
                                                                                   gruppe bei der Präsidentin am
                                                                                   Wissenschaftszentrum Berlin für
                                                                                   Sozialforschung (WZB)

           Rainer Dahlhaus        Dr. Marcel Helbig          Ayla Çelik            Ayla Çelik
              Redaktion             WZB und LIfBi       GEW NRW, Vorsitzende       Fächer Deutsch und Biologie.
                                                                                   Seit 2001 im Schuldienst.
                                                                                   2012 Abteilungsleiterin an der Carl-
                                                                                   von Ossietzky-Gesamtschule Köln.
                                                                                   Gewerkschaftliche Arbeit in ver-
                                                                                   schiedenen Positionen, seit Juni 2021
                                                                                   Vorsitzende der GEW NRW.
im Fokus

                                                                                   Dr. Martin Pfafferott
                                                                                   Uni Bonn - Institut für Politische Wissen-
                                                                                   schaft und Soziologie, Leiter des
         Dr. Christa Lohmann      Anne Volkmann                                    Bereichs Bildung und Wissenschaft
                                                          Dr. Martin Pfafferott
                                                                                   der Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
              Redaktion             Redaktion           Friedrich-Ebert-Stiftung

                                                                                   Dr. Johanna Schulze
                                                                                   Uni Paderborn, wiss. Mitarb. im
                                                                                   Institut für Erziehungswissen-
                                                                                   schaft, Lehrstuhl für Schulpäda-
                                                                                   gogik, Lehrstuhl für Allgemeine
                                                                                   Didaktik und Schulpädagogik
                                                                                   unter Berücksichtigung der
                                                                                   Medienpädagogik

                                Dr. Johanna Schulze                                Ulla Widmer-Rockstroh
                                Universität Paderborn                              Berlin, Grundschullehrerin i.R.,
                                                                                   vorm. Fachreferentin Inklusion
                                                                                   im Grundschulverband e.V.

                                                                                   Dr. Ursula Carle
                                                                                   Professorin für Grundschulpä-
                                                                                   dagogik i.R. an der Universität
                                                                                   Bremen, Lehrbeauftragte an der
                                                                                   Freien Universität Bozen, Stellv.
                                                                                   Bundesvorsitzende des Grund-
                                                                                   schulverbands e.V.
        Ulla Widmer-Rockstroh     Dr. Ursula Carle           Rixa Borns
         Grundschullehrerin,     Universität Bremen,      GEW NRW, Vors. FG        Rixa Borns
                 GSV               GSV - stv. Vors.         Grundschulen           Münster, Grundschulleiterin i.R.,
                                                                                   langjährig Vorsitzende der
                                                                                   Fachgruppe Grundschule der
       Dieser Link führt zu den Artikeln                                           GEW NRW
       der Rubrik "im Fokus", Seite 13- 30
Bildungsgerechtigkeit
                                – altbekannte Herausforderungen und neue Chancen
                          Kai Maaz
                          Annabell Daniel                                      Soziale Ungleichheiten in der Schule
                          Die pandemiebedingten Schulschließungen              Internationale Studien zeigen, dass die Schul-
                                                                               schließungen während der Pandemie zu Lern-
                          haben zuletzt noch einmal in aller Deutlichkeit
                                                                               rückständen geführt haben, von denen ins-
                          aufgezeigt, was lange bekannt ist: Der Bildungs-
                                                                               besondere Schülerinnen und Schüler aus so-
                          erfolg junger Menschen hängt in hohem Maße
                                                                               zial benachteiligten Familien betroffen sind
                          von der sozialen Herkunft ab. Das verleiht auch      (Hammerstein et al. 2021). Über die Situation in
                          der Diskussion über Maßnahmen zum Abbau              Deutschland lassen sich aktuell noch keine fun-
                          sozialer Ungleichheit neue Dynamik.                  dierten Aussagen treffen, da eine belastbare
                                                                               Datenbasis bislang fehlt. Es ist aber anzunehmen,
                          Mit der Pandemie und den ersten Schulschlie-         dass sich auch hierzulande beste-
                          ßungen im Frühjahr 2020 wurde für viele Akteu-       hende Ungleichheiten verschärft Das deutsche
                          rinnen und Akteure in der Schule und Bildungs-       haben. Schon lange vor der Pan- Bildungssystem hat
                          administration eindrücklich sichtbar und damit       demie haben Schulleistungsstu-
                          auch greifbar, unter welch unterschiedlichen Be-     dien dem deutschen Bildungssys- ein Gerechtigkeits-
                          dingungen Kinder und Jugendliche lernen. Nicht       tem ein Gerechtigkeitsproblem problem.
                          alle verfügen etwa über einen eigenen Arbeits-       attestiert. Es war einer der über-
                          platz zum Lernen zu Hause oder bekommen au-          raschenden Befunde aus der ersten PISA- Stu-
                          ßerhalb der Schule die nötige Unterstützung.         die, dass der Zusammenhang zwischen der so-
                          Dabei ist das Thema der sozialen Ungleichheit        zialen Herkunft und dem Kompetenzerwerb von
                          nicht neu. Seitdem vor mehr als 20 Jahren die        Jugendlichen so eng ist wie in keinem anderen
                          Ergebnisse der ersten PISA-Studie veröffentlicht     OECD-Staat.
                          wurden, hat die Bildungsforschung immer wieder
                          darauf hingewiesen, dass der Bildungserfolg jun-     Die Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern
                          ger Menschen in erheblichem Maße von ihrer so-       unterschiedlicher Herkunft unterscheiden sich
                          zialen Herkunft abhängt. Sowohl der Zugang zu        bereits beim Eintritt in die Grundschule. Ein Grund
                          verschiedenen Bildungsgängen und -abschlüs-          hierfür sind die familiären Anregungsmilieus, die
                          sen als auch der Kompetenzerwerb sind syste-         sich nach sozialer Herkunft unterscheiden und
                          matisch mit Merkmalen der sozialen Herkunft,         die Kompetenzentwicklung beeinflussen. Hinzu
                          wie dem Bildungsniveau oder dem sozioöko-            kommt, dass Kinder aus sozial begünstigten Fa-
                          nomischen Status der Eltern, assoziiert. Eine sol-   milien, noch bevor sie ihre Schullaufbahn begin-
                          che Kopplung zwischen Bildungserfolg und leis-       nen, häufiger an förderlichen Betreuungs- und
                          tungsirrelevanten Merkmalen widerspricht dem         Bildungsangeboten im frühkindlichen und vor-
                          Gleichheitsgrundsatz, wonach niemand auf-            schulischen Bereich teilgenommen haben (Au-
                          grund seines Geschlechtes, seiner Abstammung,        torengruppe Bildungsberichterstattung 2020). In
                          seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und      der Schule angekommen sind ihre Lernzuwächse
                          Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder    größer als die ihrer Mitschülerinnen und -schüler
                          politischen Anschauungen bevorzugt oder be-          aus sozial benachteiligten Familien, sodass sich
                          nachteiligt werden soll (Art. 3 GG). Diese offen-    die eingangs beobachteten Kompetenzunter-
                          kundige Diskrepanz zwischen Anspruch und so-         schiede im Verlauf der Grundschulzeit noch ver-
                          zialer Wirklichkeit begründet die Notwendigkeit      größern (Neumann et al. 2014).
DSfa GGG Magazin 4 2021

                          einer Auseinandersetzung mit möglichen Maß-
                          nahmen, die darauf abzielen, bestehende Un-          Der anschließende Übergang von der Grund-
                          gleichheiten im Bildungssystem abzubauen. Die        schule in die weiterführenden Schulen stellt dann
                          Entwicklung wirksamer Maßnahmen setzt je-            die Weichen für die weitere Bildungsbiographie
                          doch zunächst ein grundlegendes Verständnis          (s.a. den Beitrag von U. Widmer-Rockstroh in
                          über Ausmaß und Ursachen sozialer Bildungsun-        diesem Heft – Anm. der Redaktion). Wenngleich
                          gleichheiten voraus.                                 unterschiedliche Schulabschlüsse inzwischen in

                                                                                                                      im Fokus       13
verschiedenen Bildungsgängen (z.B. an Haupt-          Entstehungsbedingungen sozialer
                                schulen, Realschulen, Gymnasien oder integrier-       Ungleichheit
                                ten Formen wie Gesamt- oder Sekundarschulen)          Für die Entstehung bzw. Veränderung von Bil-
                                erworben werden können, gibt es nach wie vor          dungsungleichheiten sind aus Perspektive der
                                eine enge Kopplung zwischen dem besuchten             empirischen Bildungsforschung insbesondere
                                Bildungsgang und dem späteren Bildungsab-             drei Bereiche relevant.
                                schluss – und damit auch den späteren Berufs-
                                und Erwerbschancen. Welchen Bildungsgang              Erstens entstehen Ungleichheiten außerhalb von
                                Kinder nach der Grundschule besuchen, hängt           Bildungseinrichtungen in der Familie, im nach-
                                von ihrer Herkunft ab. So ist die Wahrscheinlich-     barschaftsbezogenen Wohnumfeld oder in der
                                keit, ein Gymnasium zu besuchen, selbst bei glei-     Freizeit, und führen wiederum dazu, dass sich Un-
                                chen Leistungen für Kinder aus sozial begünstig-      gleichheiten innerhalb von Bildungsinstitutionen
                                ten Familien deutlich höher als bei Kindern aus so-   intensivieren. Der Einfluss sozial unterschiedlicher
                                zial benachteiligten Familien (Dumont et al. 2014).   außerschulischer Lernbedingungen zeigt sich ins-
                                                                                      besondere in der schulfreien Zeit, in der Kinder
         Jenseits der sozial ungleichen Bildungsbeteili-                              aus sozial begünstigten Familien von einem ko-
         gung lassen sich soziale Unterschiede im Kom-                                gnitiv anregenden häuslichen Umfeld profitie-
         petenzerwerb feststellen. Die PISA-Ergebnisse                                ren, das ihre Kompetenzentwicklung positiv be-
         der letzten Jahre offenbaren, dass es in Deutsch-                            einflusst. Aber auch das regionale Umfeld einer
         land eine beträchtliche Zahl von 15-Jährigen                                 Schule kann zum Beispiel durch eine Konzentra-
         gibt, deren fachliche Kompetenzen sehr wahr-                                 tion örtlicher Problemlagen Bildungsungleichhei-
         scheinlich nicht ausreichen, um eine Berufsaus-                              ten verschärfen.
         bildung erfolgreich zu durchlaufen. In diese so-
                          genannte Risikogruppe fielen im                             Zweitens können institutionelle Merkmale des Bil-
  Die Risikogruppe Jahr 2018 im Bereich sowohl der                                    dungssystems den Einfluss der sozialen Herkunft
ist gleich groß wie Lesekompetenz als auch der ma-                                    auf die Kompetenzentwicklung verstärken. Unter
                          thematischen Kompetenz 21 Pro-                              der Annahme, dass Schülerinnen und Schüler in
     vor 20 Jahren zent aller getesteten 15-Jährigen                                  leistungshomogenen Lerngruppen besser ge-
                          (Weis et al. 2019; Reinhold et al.                          fördert werden können, werden sie bereits zu
         2019). Trotz Reformbemühungen ist dieser Anteil                              einem frühen Zeitpunkt auf unterschiedlich an-
         „kompetenzarmer“ Schülerinnen und Schüler                                    spruchsvolle Bildungsgänge verteilt. Der Über-
         vergleichbar hoch wie in der ersten PISA Erhe-                               gang in die verschiedenen Bildungsgänge ist
         bung vor mehr als 20 Jahren. Betrachtet man die                              nachweislich mit der sozialen Herkunft assoziiert:
         soziale Zusammensetzung dieser Risikogruppe,                                 Je höher der Bildungsabschluss der Eltern, desto
         fällt auf, dass Jugendliche aus sozial benachtei-                            größer ist die Chance der Kinder, auf ein Gym-
         ligten Familien hier überproportional häufig ver-                            nasium zu wechseln, auch bei gleichen Leistun-
         treten sind (Müller & Ehmke, 2016). Inwieweit sich                           gen. In der Folge entstehen relativ homogene
         diese Gruppe „kompetenzarmer“ Schülerinnen                                   Entwicklungsmilieus, d.h. in den verschiedenen
         und Schüler im Zuge der Pandemie noch ver-                                   Bildungsgängen lernen Schülerinnen und Schü-
         größert, bleibt abzuwarten. Fest steht aber, dass                            ler mit ähnlicher Leistungsfähigkeit und ähnli-
         ihr neben der Beobachtung auch eine gezielte                                 cher sozialer Herkunft. Neben solchen Effekten
         Förderung zuteilwerden muss.                                                 der leistungsbezogenen und sozialen Komposi-
                                                                                      tion einer Schule beeinflussen institutionelle Ef-
                                Denn die in der Sekundarstufe I beobachteten          fekte, wie die sich zwischen verschiedenen Bil-
                                sozialen Unterschiede setzen sich im Bildungs-        dungsgängen unterscheidenden Lehrpläne, die
                                verlauf fort. So wird zum Beispiel auch beim Zu-      Kompetenzentwicklung der Schülerinnen und
      DSfa GGG Magazin 4 2021

                                gang zur gymnasialen Oberstufe und bei den            Schüler. Das führt dazu, dass im gymnasialen Bil-
                                Übergängen in die berufliche oder hochschuli-         dungsgang die Lernzuwächse der Schülerinnen
                                sche Ausbildung die soziale Herkunft der Schü-        und Schüler über die Zeit besonders stark ausfal-
                                lerinnen und Schüler wirksam. Frühe soziale Un-       len, während sie in der Hauptschule eher gering
                                gleichheiten führen damit langfristig zu unglei-      sind. Schließlich entstehen und verschärfen sich
                                chen Chancen in der Teilhabe am gesellschaft-         Ungleichheiten an den Übergängen zwischen
                                lichen Leben.                                         Bildungsinstitutionen, etwa dem Übergang von

      14
der Grundschule in die weiterführenden Schu-          Ausgleich herkunftsbedingter Fähigkeitsunter-
                          len. In Anlehnung an Boudon (1974) wird bei           schiede einsetzen, desto wirkungsvoller können
                          der Erklärung von sozial ungleichen Übergangs-        sie sein. Daher liegen gerade im Ausbau und in
                          entscheidungen zwischen primären und sekun-           der Qualitätsentwicklung frühkindlicher Bildungs-
                          dären Herkunftseffekten unterschieden. Primäre        und Betreuungsangebote große Potentiale. Au-
                          Herkunftseffekte beschreiben soziale Unterschie-      ßerhalb der familiären Umwelt können beson-
                          de in den schulischen Leistungen und Fähigkei-        ders sprachliche sowie mathematische Kompe-
                          ten. Diese resultieren aus Unterschieden in den       tenzen gefördert werden.
                          innerschulischen Lerngelegenheiten und den
                          außerschulischen Anregungsmilieus, die Kinder         Diese Basiskompetenzen sind nicht nur relevant
                          in der Familie oder Nachbarschaft vorfinden. Se-      für das Lernen in der Schule, sondern auch für
                          kundäre Herkunftseffekte hingegen beschreiben         die späteren Übergänge in Ausbildung und
                          soziale Unterschiede im Entscheidungsverhalten,       Beruf. Eine zentrale Aufgabe der Schule, insbe-
                          die aus unterschiedlichen Kosten-Nutzen-Ab-           sondere nach den längeren Phasen der Schul-
                          wägungen resultieren. So entscheiden sich sozi-       schließung, besteht darin, diese Basiskompeten-
                          al begünstigte Eltern bzw. deren Kinder eher für      zen zu sichern und zu stärken. Indem möglichst
                          höhere Bildungsgänge, da sie nach Abwägung            alle Kinder das für den weiteren Bildungs- und
                          der Erträge (z.B. weitere Anschlussmöglichkei-        Berufsweg notwendige Mindestniveau an Basis-
                          ten oder ein hohes soziales Prestige), Kosten und     kompetenzen erwerben, lässt sich das Ausmaß
                          einer hinreichend hohen Wahrscheinlichkeit auf        der Bildungsarmut verringern. Dafür bedarf es
                          Erfolg, einen größeren Nutzen erwarten als sozial     geeigneter Diagnose- und Förderkonzepte in
                          weniger begünstigte Familien. In ihre Erwägun-        der Unterrichtsentwicklung, um Leistungsdefizi-
                          gen fließt auch das Motiv des sozialen Statuser-      te identifizieren und erfolgreich kompensieren
                          halts ein, mindestens das Bildungsniveau der El-      zu können.
                          tern anzustreben. Am Übergang von der Grund-
                          schule in die weiterführenden Schulen werden          Eine besondere Bedeutung kommt hierbei dem
                          zwar vor allem primäre Herkunftseffekte wirksam,      Prinzip der individuellen Förderung zu. Gerade in
                          es lassen sich darüber hinaus aber auch deutli-       der aktuellen Situation können differenzierte För-
                          che soziale Unterschiede im Entscheidungsver-         derkonzepte dazu beitragen, dass alle Schüle-
                          halten nachweisen (Maaz & Nagy 2009).                 rinnen und Schüler auf individualisierten Wegen
                                                                                wieder den Anschluss nach den Schulschließun-
                          Chancen zum Abbau sozialer Ungleichheiten             gen finden und ihre jewei-
                          Welche Maßnahmen geeignet sind, um die Bil-           ligen Lernlücken schließen Individuelle Förderung
                          dungsgerechtigkeit verbessern zu können, wird         können. Das Prinzip der in- muss systematisch
                          in Wissenschaft und Politik teils kontrovers disku-   dividuellen Förderung soll-
                          tiert, so zum Beispiel, ob ein längeres gemein-       te daher systematisch im im Unterricht verankert
                          sames Lernen der Schülerschaft sinnvoll ist. An-      Unterrichtsgeschehen ver- werden.
                          gesichts des Forschungsstandes und der Folgen         ankert werden. Da alle
                          einer anhaltenden Pandemie sollten die Maß-           Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer
                          nahmen jedoch nicht allein an den Übergän-            sozialen Herkunft davon gleichermaßen profi-
                          gen im Bildungssystem ansetzen, sondern auch          tieren dürften, würden sich soziale Ungleichhei-
                          den sozial ungleichen Kompetenzerwerb in              ten allerdings kaum verringern. Womöglich ver-
                          den Fokus rücken. Für die sozialen Ungleichhei-       schärfen sich diese sogar, wenn man bedenkt,
                          ten beim Übergang von der Schule in die wei-          dass Kinder und Jugendliche aus sozial begüns-
                          terführenden Schulen sind schließlich zu einem        tigten Familien zusätzlich durch ein kognitiv an-
                          großen Teil Kompetenzunterschiede, die bereits        regendes häusliches Umfeld gefördert werden.
DSfa GGG Magazin 4 2021

                          beim Schuleintritt beobachtet werden können,          Eine Verringerung der Ungleichheiten wäre zu
                          verantwortlich. Maßnahmen zum Abbau sozi-             erwarten, wenn die Leistungen der sozial be-
                          aler Ungleichheiten sollten dementsprechend           günstigten Schülerinnen und Schüler entweder
                          möglichst früh implementiert und nicht erst dort      schlechter würden oder aber die Lernzuwächse
                          umgesetzt werden, wo Ungleichheiten in der Bil-       über die Zeit stagnieren, während ausschließlich
                          dungsbeteiligung konkret sichtbar werden. Je          die Schülerinnen und Schüler aus sozial benach-
                          früher in der Bildungsbiografie Maßnahmen zum         teiligten Familien gefördert würden. Beides wäre

                                                                                                                      im Fokus      15
aus einer gerechtigkeitstheoretischen Perspekti-       bereichen ineinandergreifen, können Ungleich-
                          ve nicht vertretbar. Eine konsequente individuel-      heiten nachhaltig abgebaut werden.
                          le Förderung jedoch würde das Leistungsniveau
                          aller Schülerinnen und Schüler anheben und             Ein solcher Ansatz wird mit der 2021 gestarteten
                          Kompetenzarmut, die Ungleichheiten im weite-           Bund-Länder-Initiative „Schule macht stark“ ver-
                          ren Bildungsverlauf bedingt, verringern können.        folgt. Das Vorhaben begleitet und unterstützt die
                          Doch Lern- und Bildungsprozesse finden eben            Schul- und Unterrichtsentwicklung, die Professi-
                          nicht nur innerhalb von Bildungsinstitutionen          onalisierung der pädagogisch-didaktisch Täti-
                          statt, sondern unterliegen auch Einflüssen des So-     gen sowie die Vernetzung in den Sozialraum an
                          zialraums oder der Peer Group, die den Zugang          deutschlandweit 200 Schulen in herausfordern-
                          zu Bildung bzw. den Kompetenzerwerb erschwe-           den sozialen Lagen. In enger Zusammenarbeit
                          ren können. Bildungspolitisch scheint daher un-        mit der Bildungspraxis werden nicht nur Strategi-
                          bestritten, dass wirksame Ansätze zur Verringe-        en und Konzepte zum Abbau sozialer Ungleich-
                          rung sozialer Ungleichheiten eine umfassende           heiten entwickelt, sondern auch Erkenntnisse
                          Betrachtung des sozialen Lebensumfeldes er-            zu den Gelingensbedingungen bereitgestellt.
                          fordern. Für Schulen bestünde zum Beispiel eine        Damit wird eine wichtige Handlungsgrundlage für
                          Möglichkeit darin, die Zusammenarbeit mit au-          bildungspolitische Entscheidungen geschaffen.
                          ßerschulischen Anbietern zu stärken. Nur wenn
                          die Maßnahmen in allen Lebens- und Bildungs-           Literaturliste auf ggg-web.de

                          Wo keine Villa ist, ist auch
                          kein Weg – zum Abitur ?
                                           Bildungsungerechtigkeit – im Kontext betrachtet

                          Rainer Dahlhaus
                          Der Titel dieses Textes lehnt       Bildungsungerechtigkeit wird        tanz sozialer Ungleichheit in und
                                                              damit zum Teil einer ungerech-      durch Deutschlands Schulen“
                          sich an eine Kapitelüberschrift
                                                              ten Gesellschaftsordnung neo-       vom Klaus Klemm (Essen 2021).
                          von Butterwegge/Butterwegge
                                                              liberal-kapitalistischer Prägung.   So ist auch die Forderung nach
                          (2021) an: „Wo eine Villa ist,
                                                              Handlungsperspektiven sehen         mehr Bildungsgerechtigkeit der-
                          ist auch ein Weg – zum Abitur       dann Veränderungen für die          zeit wieder in aller Munde. Die
                          …“. Ziel dieser Zeilen ist es,      Schule vor, reichen aber auch       Vorschläge, Bildungsungerech-
                          die Frage der Bildungs(un)ge-       deutlich über die Schule hinaus.    tigkeit zu beseitigen, sind dabei
                          rechtigkeit ein weiteres Mal aus                                        vielfältig und ganz offenbar ab-
                          einer rein (?) pädagogischen        Die bildungspolitische Dis-         hängig von der Verortung des
                          Diskussion um didaktische,          kussion – ein unvollständiger       jeweiligen Autors, der Autorin im
                                                              Überblick                           politischen Spektrum.
                          curriculare und kompensatori-
DSfa GGG Magazin 4 2021

                                                              Die Bildungsungerechtigkeit die
                          sche Maßnahmen zu lösen und
                                                              insbesondere das deutsche           Im eher konservativen Spektrum
                          in einen gesellschaftstheoreti-     Schulwesen prägt, wird seit Jah-    wird auf jedes Hinterfragen der
                          schen, gesellschaftspolitischen     ren immer wieder angepran-          Schulstruktur verzichtet. Vielmehr
                          Kontext einzubetten:                gert, zuletzt etwa in der vom       werden die (scheinbaren) Aus-
                                                              DGB herausgegebenen Experti-        wirkungen einer verbindlichen
                                                              se „Alle Jahre wieder - Zur Kons-   Zuweisung der Kinder am Ende

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der Klasse vier auf die weiterfüh-   ser Methode findet sich u.a. bei       gerankt, hier etwa anhand der
                          renden Schulformen in den Blick      Dahlhaus (2021). Im Hintergrund        Leistungen in Mathematik (Ta-
                          genommen, insbesondere hin-          stellt sich – ausgesprochen oder       belle 1, IQB-Bildungstrend 2018,
                          sichtlich des Zugangs zum Gym-       nicht – die Frage, die ein leiten-     S. 203).
                          nasium. Bildungsgerechtigkeit        der Ministerialbeamter aus dem
                          wird auf Leistungsgerechtigkeit      Schulministerium NRW vor eini-         Schon hier werden auf Grund
                          reduziert. Da in Bundesländern       gen Jahren so formulierte:             der Befunde Konsequenzen ein-
                          mit verbindlicher Schulformemp-      „Ist nicht jede Schulform neben dem    gefordert:
                          fehlung (etwa auf der Grundla-       Gymnasium eine Restschule?“.
                          ge von Notenkonstellationen)                                                „Zusammenfassend zeigt sich
                          die Leistungen der Schülerin-        Aus linker Sicht schließlich geht      anhand der Daten des IQB-
                          nen und Schüler in der Sekun-        es zur Verringerung von Bildungs-      Bildungstrends 2018, dass sozia-
                          darstufe I deutlich besser seien     ungerechtigkeit um den grund-          le Herkunftsmerkmale der Familie
                          als in Bundesländern mit nicht       legenden Umbau der Schulstruk-         für den Kompetenzerwerb in Ma-
                          verbindlichen Schulformemp-          tur. Beispiel:                         thematik (…) in der Sekundarstufe I
                          fehlungen, wird die Rückkehr zu      „Wesentliche Ursache der sozia-        nach wie vor sehr relevant sind, (…).
                          mehr Verbindlichkeit als Heilmit-    len Spaltung in der Bildung ist die    Daher sollte es auch künftig ein Ziel
                          tel proklamiert. Dies habe auch      frühe Aufteilung der Schüler*innen     bildungspolitischer und schulprakti-
                          Vorteile für leistungsstarke Schü-   in unterschiedliche Schulformen.       scher Bemühungen sein, Bedingun-
                          lerinnen und Schüler aus unteren     In der Coronazeit hat sich gezeigt,    gen zu schaffen, die zur Verringe-
                          sozialen Schichten und sei damit     wie unterschiedlich die Vorausset-     rung sozialer Disparitäten beitra-
                          ein Beitrag zu mehr Bildungsge-      zungen der Schüler*innen sind: Ei-     gen und Schülerinnen und Schülern
                          rechtigkeit (Esser/Seuring 2020,     nige haben ein eigenes Zimmer und      unabhängig von ihrer sozialen Aus-
                          S. 298). Zur Relativierung der Er-   einen Laptop, andere müssen sich       gangslage möglichst gute Entwick-
                          gebnisse Esser/Seurings verglei-     beides teilen. Nicht alle bekommen     lungschancen bieten“
                          che Klemm (2021).                    wertvolle Unterstützung zu Hause.      (Stanat et.al. 2019, S. 292).
                                                               (…) Wir wollen eine Schule für alle:
                          Aus der politischen Mitte findet     Eine Gemeinschaftsschule, die
                          sich die Forderung, „Ungleiches      kein Kind zurücklässt und sozialer
                          ungleich zu behandeln“. Ge-          Ugleichheit entgegenwirkt“
                          meint ist, Schulen an sozial he-     (Die Linke 2021, S. 48).
                          rausfordernden Standorten mit
                          zusätzlichen Ressourcen (lehren-     Zur Bewertung solcher Vorschlä-
                          dem und nicht lehrendem Per-         ge lohnt immer wieder der Blick
                          sonal, Ganztagsbetrieb mit zu-       auf die sozialen Rahmenbedin-
                          sätzlichen unterrichtlichen wie      gungen, unter denen Schüle-
                          außerunterrichtlichen Angebo-        rinnen und Schüler lernen und
                          ten inklusive kostenfreiem Mit-      Leistung erbringen. Dazu gibt es
                          tagessen, zusätzlichen Räumen        vielfältige, auch vergleichende
                          etc.) auszustatten und damit         Daten (vgl. etwa Klemm 2021),
                          mehr Bildungsgerechtigkeit für       die im Folgenden um regionale
                          die Schülerinnen und Schü-           Aspekte ergänzt und aufgefä-
                          ler dieser Schulen zu erreichen.     chert werden sollen.
                          Viele der Autor*innen verzich-
                          ten dabei auf eine grundsätzli-      Leistungen und soziale
                          che Infragestellung der Schul-       Belastungen im Bundeslän-
                                                               der-Vergleich
DSfa GGG Magazin 4 2021

                          struktur mit ihren unterschiedlich
                          wertgeschätzten Schulformen.         Als Maßstab für die Leistungen
                          Wie ein solches Modell der Res-      der Schülerinnen und Schüler
                          sourcensteuerung nach „Sozi-         und damit der Schulsysteme                                       Tabelle 1
                          alindex“ aussehen kann, lässt        der Bundesländer werden gern
                          sich bei Schräpler/Jeworutzki        die Daten des IQB herangezo-
                          (2020) nachlesen, Kritik an die-     gen und die Länder danach

                                                                                                                               im Fokus       17
Unter den vier Spitzenreitern
                          dieser Tabelle finden sich üb-
                          rigens die Länder mit beson-
                          ders stringenter Zuweisung der
                          Schülerinnen und Schüler auf
                          die weiterführenden Schulen:
                          Sachsen, Bayern und (ehemals)
                          Baden-Württemberg. Die Leis-
                          tungsunterschiede sind deutlich
                          und verdienen in der Tat, auf
                          ihre Ursachen hin noch genau-
                          er befragt zu werden.

                          Anders als das IQB, das sich auf
                          Indikatoren für den sozioökono-
                          mischen Status wie etwa den
                          sozioökonomischen Index (ISEI)
                          oder die EGP-Sozial-Klassifikati-     Grafik 1
                          on (siehe Stanat et.al. 2019, S.
                          267ff.) bezieht, werden im Fol-
                          genden Daten des Statistisches
                          Bundesamtes (Destatis) her-
                          angezogen, um Ursachenfor-
                          schung voran zu bringen. Diese
                          Sozialstatistik erlaubt es, zusätz-
                          liche relevante Daten mit der
                          Tabelle der Schülerleistungen
                          in Verbindung zu bringen. Man
                          findet: Während weder die
                          Ausgaben der Bundesländer
                          je Schüler*in (Grafik 1) noch
                          das durchschnittliche Familien-
                          einkommen in den Ländern
                          (Grafik 2) Auswirkungen auf die
                          Ergebnisse der IQB-Erhebung zu        Grafik 2
                          haben scheinen – die Streuung
                          der Punkte ist einfach zu groß -,
                          fällt ein Merkmal auf.

                          Ein häufig herangezogenes Da-
                          tum zur Charakterisierung von
                          Bevölkerungsteilen ist die Quote
                          der Menschen, die Leistungen
                          nach SGB II (vulgo Sozialhilfe)
                          erhalten. Diese Daten liegen
                          zudem verfeinert bezogen auf
                          Menschen unter 18 Jahren vor.
DSfa GGG Magazin 4 2021

                                                                Grafik 3

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