Diskurs Finanzkrise und Arbeitslosenversicherung: Wie weit soll und darf sozialer Schutz gehen? - Bibliothek der ...
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November 2009 Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik Diskurs Finanzkrise und Arbeitslosenversicherung: Wie weit soll und darf sozialer Schutz gehen? Gesprächskreis Arbeit und Qualifizierung 1
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Expertise im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung Finanzkrise und Arbeitslosenversicherung: Wie weit soll und darf sozialer Schutz gehen? Ulrich Walwei
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Inhalt Vorbemerkung 3 Zusammenfassung 4 1. Einleitung 5 2. Auswirkungen der Finanzkrise auf den Arbeitsmarkt 6 3. Finanzierung der Arbeitslosenversicherung in Krisenzeiten 10 4. Funktionen und Elemente der Arbeitslosenversicherung 15 5. Zum weitergehenden Reformbedarf und dazu vorliegenden Vorschlägen 17 Literatur 20 Der Autor 25 Diese Expertise wird von der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich- Ebert-Stiftung veröffentlicht. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen sind vom Autor in eigener Verantwortung vorgenommen worden. Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Godesberger Allee 149 53175 Bonn Fax 0228 883 9205 www.fes.de/wiso Gestaltung: pellens.de Druck: bub Bonner Universitäts-Buchdruckerei ISBN: 978-3-86872-191-1
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Vorbemerkung In der gravierendsten Finanz- und Wirtschafts- re aus der erheblichen Steigerung der Leistungen krise der deutschen Nachkriegszeit sehen führen- bei konjunktureller Kurzarbeit und aus den Auf- de Wirtschaftsforschungsinstitute die deutsche wendungen für das Arbeitslosengeld. Wirtschaft im Herbst 2009 wieder auf einem Neben der Herausforderung, das bestehende leichten Wachstumskurs. Arbeitsmarktexpertin- Defizit auszugleichen, drängt sich die Frage auf, nen und Arbeitsmarktexperten befürchten aller- wie krisenfest und zukunftssicher die Arbeits- dings, dass ein Einbruch am Arbeitsmarkt und losenversicherung ist und ob sie sich als robust ein Anstieg der Arbeitslosenzahlen 2010 noch be- genug erweist, um nicht nur die gegenwärtige vorstehen. Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit Krise und ihre Folgen, sondern auch die zukünf- schlägt sich nicht allein in höheren Ausgaben für tigen Herausforderungen und veränderten Anfor- die Arbeitslosenversicherung nieder. Sie hat auch derungen der Arbeitswelt zu meistern. Konsequenzen für die anderen Bereiche der so- Der Gesprächskreis Arbeit und Qualifizierung zialen Sicherung, insbesondere für die Gesund- hat im Jahr 2008 einen konzeptionellen Vor- heits- und Rentenversicherung. Bricht die Be- schlag zur Weiterentwicklung der Arbeitslosen- schäftigung ein, dann sinken in der Folge hier die versicherung zu einer Beschäftigungsversiche- Einnahmen und die Systeme geraten unter Fi- rung vorgelegt.1 Die hier von Prof. Dr. Ulrich nanzierungsdruck. Angesichts der angespannten Walwei vom Institut für Arbeitsmarkt- und Be- öffentlichen Haushaltslage wirft dies die Frage rufsforschung der Bundesagentur für Arbeit in auf, wie Mittel zu ihrer Stabilisierung zur Verfü- Nürnberg erstellte Expertise setzt die Diskussion gung gestellt werden können. zur Zukunft der Arbeitslosenversicherung fort Der Arbeitslosenversicherung wird attestiert, und reflektiert die Leistungsfähigkeit der Arbeits- dass sie im bisherigen Verlauf der Krise ihre Be- losenversicherung und den Veränderungsbedarf deutung als automatischer Stabilisator der Wirt- vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Finanz- schaft unter Beweis gestellt hat. Allerdings hat die krise. Wir bedanken uns bei dem Autor für die Krise inzwischen den gesetzlichen Sozialversiche- Erstellung der Expertise und wünschen uns, dass rungen, vor allem der Arbeitslosenversicherung, die Analyse und die aufgezeigten Lösungsvor- ein hohes Defizit beschert: Allein in der Kasse der schläge Anregungen und Impulse für die weitere Bundesagentur für Arbeit fehlten bereits im ers- Diskussion um die Bedeutung und die Zukunft ten Halbjahr 10 Milliarden Euro. Dies lag einer- der Arbeitslosenversicherung bieten. seits am deutlichen Rückgang der Einnahmen; sie lagen im ersten Halbjahr 2009 um 30,6% unter dem Vorjahresniveau. Ein Grund dafür ist die Ruth Brandherm Senkung des Beitragssatzes. Auf der anderen Seite Leiterin des Gesprächskreises stiegen die Ausgaben. Dies resultiert insbesonde- Arbeit und Qualifizierung 1 Günther Schmid, 2008, Von der Arbeitslosen- zur Beschäftigungsversicherung: Wege zu einer neuen Balance individueller Verantwor- tung und Solidarität durch eine lebenslauforientierte Arbeitsmarktpolitik. 3
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Zusammenfassung Vom Frühjahr 2005 bis zum Herbst 2008 gab es Rücklage bereits Ende dieses Jahres weitgehend fast ausschließlich positive Nachrichten vom hie- aufgebraucht haben, weil die Krise bisher nicht sigen Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenzahl sank ste- gekannte Ausmaße annahm und der Beitragssatz tig und zum Ende dieser Periode erstmals seit lan- zur Arbeitslosenversicherung erst vor kurzem auf gem wieder unter drei Millionen. Fast zeitgleich ein nicht nachhaltiges Niveau abgesenkt wurde. löste der Zusammenbruch der US-amerikanischen Die Folge ist nicht nur ein kurzfristiges Defizit, Investment Bank Lehmann Brothers eine Welt- sondern darüber hinaus eine sich unter Status- wirtschaftskrise aus, die das Exportland Deutsch- quo-Bedingungen langfristig abzeichnende Un- land besonders stark in Mitleidenschaft zog. Die terfinanzierung der Arbeitslosenversicherung. Mit Finanzkrise sorgte in Deutschland für einen Blick auf die möglichen Alternativen zur Deckung schweren Einbruch der Volkswirtschaft. Ange- des Defizits und zur dauerhaften Stabilisierung sichts des starken Rückgangs des realen Brutto- der Finanzen der Arbeitslosenversicherung gibt es inlandsprodukts zeigt sich der Arbeitsmarkt je- keine einfache Lösung. In Frage kommt jedoch doch selbst am aktuellen Rand vor allem aufgrund ein Mix aus einer moderaten Anhebung des Bei- eines beträchtlichen, im Niveau bisher nicht be- tragssatzes, einer überwiegend nicht rückzahl- kannten Hortens von Arbeitskräften als noch ver- baren Krisenhilfe und einer längerfristig noch gleichsweise robust. Da eine schnelle und kräftige stärkeren Steuerfinanzierung der gesamtgesell- Erholung der Volkswirtschaft aus heutiger Sicht schaftlichen Aufgaben der Arbeitslosenversiche- unwahrscheinlich ist, wird die Finanzkrise den rung. Arbeitsmarkt noch härter treffen als dies bereits Mögliche Reformen der Arbeitslosenversiche- heute erkennbar ist. Die bis 2008 erzielten Fort- rung müssen ihre beiden wesentlichen Funkti- schritte am Arbeitsmarkt werden durch den in onen im Auge behalten. Zum einen hat sie eine der Dimension einzigartigen wirtschaftlichen Ab- verteilungspolitische Dimension, denn sie trägt schwung aller Voraussicht nach in nennenswer- temporär zur Einkommenssicherung von Per- tem Umfang zunichte gemacht. Verbesserungen sonen bei, die ihren Arbeitsplatz verloren haben. am Arbeitsmarkt werden nach dem so gut wie Zum anderen soll sie eine effiziente Suche ermög- sicheren weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit in lichen und damit die Allokation am Arbeitsmarkt 2010 einige Zeit in Anspruch nehmen, weil selbst unterstützen. Beide Funktionen können sich wi- bei einer wirtschaftlichen Erholung zunächst eine dersprechen, weil ein relativ hoher Lohnersatz Phase mit einem „jobless growth“ zu erwarten ist. zwar den materiellen Status des Arbeitslosen weit- In der schweren Krise erweist sich die Ar- gehend wahrt, aber den Suchprozess und damit beitslosenversicherung als einer der wichtigen Arbeitslosigkeit verlängern kann. Die deutsche automatischen Stabilisatoren. Durch die Gewäh- Arbeitslosenversicherung hat sich sowohl im letz- rung von Kurzarbeitergeld werden Beschäfti- ten Aufschwung als auch in der aktuellen Krise gungsverhältnisse gehalten und die Zahlung von bewährt, weil sie nach den umfassenden Arbeits- Arbeitslosengeld an freigesetzte Personen verhin- marktreformen beiden Funktionen auf wirksame dert weitere Nachfrageausfälle. Je mehr die Ar- Weise gerecht wird. Unabhängig davon ist dem beitslosenversicherung – nicht zuletzt auch durch Aspekt der Prävention von Beschäftigungsrisiken eine Ausweitung arbeitsmarktpolitischer Maß- größere Bedeutung beizumessen. Darauf zielende nahmen – zur Stabilisierung von Volkswirtschaft Maßnahmen, die schon im Bildungssystem an- und Arbeitsmarkt beiträgt, desto stärker ist aber setzen müssen, könnten sich als ein wesentliches unter sonst gleichen Bedingungen ihr Mittelbe- Element zur längerfristigen Stützung der vollzo- darf. Sie wird ihre in guten Zeiten aufgebaute genen Arbeitsmarktreformen erweisen. 4
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs 1. Einleitung Die durch die amerikanische Finanzmarktkrise Der nachfolgende Beitrag zu den Konse- ausgelöste Weltrezession hat vielfältige Auswir- quenzen der Finanzkrise für die Arbeitslosenver- kungen. Sie schwächt die Entwicklung von Wirt- sicherung geht schrittweise vor. Zunächst werden schaft und Arbeitsmarkt und beeinträchtigt die auf der Basis der vorliegenden Erkenntnisse die Finanzsituation der öffentlichen Haushalte sowie Folgen der schweren Rezession für den Arbeits- der sozialen Sicherungssysteme. Eine Sparte der markt dargelegt und damit die sich abzeichnende sozialen Sicherung, von der noch in 2008 gute Herausforderung für die Arbeitslosenversicherung Nachrichten kamen und die zuletzt Rücklagen näher beschrieben. Danach geht es um die un- für schlechte Zeiten bilden konnte, wurde durch verkennbaren Finanzierungsprobleme für diesen die Krise unmittelbar und hart getroffen. Es han- wichtigen Zweig der sozialen Sicherungssysteme. delt sich um die Arbeitslosenversicherung. Die zu In einem Exkurs werden die Möglichkeiten und erwartende weitere Verschlechterung der Arbeits- Grenzen einer der in Frage kommenden Finanzie- marktlage in 2010 wird aufgrund der rückläufigen rungsquellen, nämlich einer stärkeren Steuerfi- sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung und nanzierung der sozialen Sicherungssysteme im geringeren Lohnsteigerungen zu niedrigeren Bei- Allgemeinen und der Arbeitslosenversicherung tragseinnahmen führen. Mehr Menschen ohne im Besonderen, diskutiert. Schließlich wird erör- Arbeit bedeuten höhere Ausgaben für Arbeitslo- tert, wie gut die Arbeitslosenversicherung auf die sengeld und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen Krise vorbereitet ist und welche Reformvorschlä- wie der Kurzarbeit. Jedoch trägt die starke finan- ge sich kurz- und mittelfristig als sinnvoll erwei- zielle Belastung der Arbeitslosenversicherung sen. Dabei geht es um nicht mehr und nicht we- durch die Krise zur Stützung der Volkswirtschaft niger als die Frage, wie weit sozialer Schutz auch bei, weil andernfalls mit noch stärkeren Nachfra- in Krisenzeiten gehen soll und gehen darf. geausfällen zu rechnen wäre. 5
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung 2. Auswirkungen der Finanzkrise auf den Arbeitsmarkt Eine Schrumpfung des realen Bruttoinlandspro- nerell mit zeitlicher Verzögerung auf die wirt- dukts (BIP) in einer Größenordnung von minus schaftliche Entwicklung – im Abschwung wie im fünf bis sechs Prozent hat es in der 60-jährigen Aufschwung. Noch wichtiger war aber das in die- Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sem Ausmaß bisher nicht gekannte Horten von noch nicht gegeben. Als stark exportabhängiges Arbeitskräften. Es kann zum einen durch eine Re- Land ist Deutschland besonders stark vom Aus- duktion der Arbeitszeiten geschehen, wie z.B. fall der Nachfrage auf den Weltmärkten betrof- durch Überstundenabbau, eine Rückführung von fen. Nach Japan hat die hiesige Volkswirtschaft Salden auf Arbeitszeitkonten sowie der Nutzung von allen großen OECD-Ländern den stärksten von Kurzarbeit. Zum anderen können die Unter- Rückgang des realen BIP zu verkraften. Dabei traf nehmen die Arbeitsdichte in der verbliebenen Ar- der schwere Einbruch der Volkswirtschaft nach beitszeit verringern. Dies schlägt sich dann in der Pleite der Investmentbank Lehmann Brothers einem Rückgang des Outputs pro Arbeitsstunde auf einen Arbeitsmarkt, der sich bis zum letzten und damit der Stundenproduktivität nieder. Herbst noch positiv entwickelte. So sank im Bun- Ein Grund für das beträchtliche Horten von desgebiet im Oktober und November 2008 die Arbeitskräften in der aktuellen Rezession könnte Arbeitslosenzahl erstmals seit langem wieder un- darin liegen, dass der massive Einbruch sehr über- ter drei Millionen. Die deutliche Verbesserung raschend und Anpassungen der Belegschaften der Arbeitsmarktlage seit 2005 wurde zuallererst wegen institutioneller Regelungen wie dem Kün- von dem nachfolgenden wirtschaftlichen Auf- digungsschutz nicht von heute auf morgen um- schwung getragen. Verstärkt wurde die positive setzbar waren. Entscheidender dürfte aber sein, Entwicklung durch zwei weitere Faktoren: Zum dass die Unternehmen eine höchst rationale Ent- einen nahm die Zahl der verfügbaren Arbeits- scheidung getroffen haben. Gut eingearbeitete kräfte, also das sog. „Erwerbspersonenpotenzial“, Stammbelegschaften mit wertvollen betriebsspe- durch den demographischen Wandel ab. Zum an- zifischen Kenntnissen sind für die Unternehmen deren trugen die Arbeitsmarktreformen zum Be- ein ganz wichtiges Kapital. Viele der Unterneh- schäftigungsaufbau bei. Dadurch erhöhte sich die men haben noch die Schwierigkeiten bei der Re- Einstellungsbereitschaft der Unternehmen und krutierung von Fachkräften zum Ende des letzten das Matching von Arbeitskräfteangebot und Ar- Aufschwungs deutlich vor Augen. Zugleich wird beitskräftenachfrage verbesserte sich. Die Refor- ihnen auch immer klarer, dass aufgrund der de- men gingen jedoch mit einer wachsenden Un- mographischen Entwicklung die Nachwuchsjahr- gleichheit in der Beschäftigung einher, denn der gänge die Kohorte der ausscheidenden älteren Niedriglohnsektor legte weiter zu und atypische Arbeitnehmer nicht ohne weiteres ersetzen kön- Erwerbsformen gewannen weiter an Bedeutung. nen. Schließlich traf die Krise zunächst vor allem Nichtsdestoweniger konnte mit den Verände- exportabhängige Betriebe des verarbeitenden Ge- rungen der vormals verfestigten Arbeitslosigkeit werbes in den wirtschaftlich prosperierenden Re- entgegengewirkt werden. gionen. In der Regel handelt es sich dabei um Der massive Rückgang des realen BIP schlug stark technologieorientierte Betriebe, die wäh- zunächst noch nicht mit voller Wucht auf die Be- rend des Aufschwungs gut verdient haben und schäftigung nieder. Der Arbeitsmarkt reagiert ge- deren Produktpalette durchaus zukunftsfähig ist. 6
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Dass es in einer solchen Situation Sinn macht, die Viele Forschungsinstitute gehen angesichts Kernbelegschaften bei einem vorübergehenden des beträchtlichen Hortens von Arbeitskräften in Arbeitsausfall zu halten, ist nachvollziehbar. 2009 noch von einem moderaten Rückgang der Das Horten von Arbeitskräften wurde und Erwerbstätigkeit aus. So erwartet auch das IAB in wird erheblich von Seiten der Arbeitsmarktpolitik seinen aktuellen Modellrechnungen, dass die Er- unterstützt. Betriebe können von den erheblich werbstätigkeit nur um -0,4 % oder 160 Tsd. zu- erweiterten Möglichkeiten der Kurzarbeit, insbe- rückgehen wird (Bach 2009 et al.). Der Rückgang sondere der verlängerten Bezugsdauer und der wird sich jedoch aller Voraussicht nach weitge- Bezuschussung der Sozialversicherungsbeiträge hend aus einer Abnahme der sozialversicherungs- Gebrauch machen und haben dies auch getan. pflichtigen Beschäftigung in Höhe von 90 Tsd. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsfor- Personen speisen (vgl. Abbildung 1). Eine Kompo- schung (IAB) schätzt in seiner Projektion, dass die nentenzerlegung macht deutlich, dass über 5 Pro- Zahl der Empfänger von Kurzarbeitergeld im zentpunkte des zu erwartenden Rückgangs des Jahresdurchschnitt 2009 bei 1,1 Mio. und auch BIP für 2009 durch verschiedene Formen des Hor- im Jahresdurchschnitt 2010 bei noch 0,6 Mio. tens von Arbeitskräften (durchschnittliche Jahres- liegen wird. arbeitszeit: -3,0%; Stundenproduktivität: -2,2%) Abbildung 1: Entwicklung der Erwerbstätigkeit und der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung 1999–2010* – Veränderung gegenüber Vorjahr, in Tsd. 800 720 649 Erwerbstätige 577 555 568 600 513 sozialversicherungspflichtige 387 Beschäftigung 400 275 240 172 154 200 129 19 0 -45 -86 -200 -157 -220 -272 -325 -400 -370 -446 -600 -622 -800 -785 -827 -1000 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009* 2010* m.V. Quelle: Bach et al. 2009b * jeweils Projektionswerte (reales BIP 2009: -5,5% und 2010: +0,5%) 7
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung aufgefangen werden könnten. Die Abbildung 2 zumindest zunächst stärker den Rechtskreis SGB zeigt die Komponenten der BIP-Entwicklung im III und damit die Arbeitslosenversicherung be- Zeitverlauf. treffen wird. Jedoch ist im weiteren Verlauf des Eine sich verringernde Erwerbstätigkeit muss Abschwungs am Arbeitsmarkt und in dessen aber nicht zwangsläufig mit einem gleich hohen Nachgang davon auszugehen, dass der Anteil der Anstieg der Arbeitslosigkeit einhergehen. Zusätz- Langzeitarbeitslosen wieder zunehmen wird und lich zu berücksichtigen sind einerseits die bereits dann immer mehr die Grundsicherung tangiert. erwähnte Entwicklung der besonders durch de- Ein wesentlicher Grund hierfür besteht darin, mographische Faktoren bestimmten Zahl der ver- dass bei einer schlechter werdenden Arbeits- fügbaren Arbeitskräfte, sowie andererseits die marktlage die betrieblichen Einstellungen abneh- „verdeckten“ Arbeitslosen in der sog. „Stillen Re- men und damit vor allem für wettbewerbsschwä- serve“. Dabei handelt es sich um Personen, die chere Arbeitslose weniger Ausstiegsoptionen be- sich in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen be- stehen. Zudem werden deshalb mehr Personen finden und deswegen nicht immer als Arbeitslose vom Arbeitslosengeldbezug in die Grundsiche- gezählt werden oder die sich „entmutigt“ vom rung übergehen (vgl. Rothe 2009). Arbeitsmarkt zurückgezogen haben. Schon allein Generell unterzeichnet die bloße Betrach- weil nach Schätzungen des IAB das Erwerbsper- tung von Jahresdurchschnitten die Folgen der sonenpotenzial in 2009 um 140.000 Personen ab- schweren Wirtschaftskrise für den Verlauf von nehmen wird, wird die Arbeitslosigkeit nicht so Beschäftigung und Arbeitslosigkeit in der nahen stark zurückgehen wie dies die sinkende Erwerbs- Zukunft. Hintergrund hierfür ist, dass das Horten tätigkeit nahelegen würde. Bei der Stillen Reserve von Arbeitskräften nicht kostenlos zu haben ist. zeigt sich nach den Modellrechnungen der auch Es kommt solange zum Einsatz, wie die erwar- in früheren Abschwungphasen beobachtbare An- teten Suchkosten durch eine Stellenbesetzung im stieg. nächsten Aufschwung größer ausfallen als die Die ersten Erfahrungen mit der Krise legen Kosten bei unterausgelasteter Beschäftigung. Hal- weiter nahe, dass der Anstieg der Arbeitslosigkeit ten Unternehmen an ihren Arbeitskräften fest, Abbildung 2: Komponenten der BIP-Entwicklung 5 1,9 0,6 3 0,4 2,6 1,7 1,2 0,4 2,9 1,8 1 1,5 1,2 0,2 1,4 0,1 1,4 1,4 0,6 0,7 -0,5 -0,5 Prozent -1,2 -1 -0,9 -0,1 -1 -0,9 -0,1 -0,3 -2,1 -2,2 -0,6 -3 Erwerbstätigkeit -3,0 -5 Jahresarbeitszeit -0,4 Stundenproduktivität -7 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009* 2010* m.V. Quelle: Destatis, BA, Berechnungen des IAB * mittlere Variante mit einem Wachstum des realen BIP um 0,5% 8
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs steigen aufgrund der niedrigeren Stundenproduk- unter Überkapazitäten leiden, stehen aber noch tivität deren Lohnstückkosten. Ändert sich dies vor schwierigen Anpassungsprozessen. nicht, leiden in der Folge Rentabilität und Wett- Von daher ist es wahrscheinlich, dass die bewerbsfähigkeit. Ähnliches gilt auch für den zwischen 2005 und 2008 erzielten Fortschritte Einsatz der Kurzarbeit. Für den Arbeitsausfall fal- am Arbeitsmarkt durch die Krise in nennens- len zwar keine direkten Lohnkosten an. Verschie- wertem Umfang zunichte gemacht werden. So- dene Lohnzusatzkosten, die sog. „Remanenzko- mit trifft die Weltrezession den deutschen Ar- sten“, sind aber von betrieblicher Seite zu tragen beitsmarkt zwar zeitverzögert, aber dennoch hart. (vgl. Bach/Spitznagel 2009; Crimmann/Wießner Die zurzeit vorliegenden Projektionen gehen wie- 2009). der von einem leichten Wirtschaftswachstum für Da der Anstieg der Lohnstückkosten in wirt- 2010 aus. Einige Banken sind sogar noch opti- schaftlichen Schwächephasen nicht auf die Preise mistischer. Dennoch: Durch die zu erwartende überwälzt werden kann, steigt mit zunehmender Normalisierung von Produktivität und Arbeitszeit Dauer der Krise der finanzielle Druck für die Un- ist im nächsten Jahr bei einem Wirtschaftswachs- ternehmen. Auch wenn sich die Anzeichen meh- tum von 0,5% mit einem Rückgang der Erwerbs- ren, dass eine Bodenbildung erreicht wird und es tätigkeit von um die 2,1% oder 830 Tsd. Personen offenbar zu einer Trendwende mit Hoffnung auf zu rechnen. Absehbar für die nahe Zukunft ist Besserung gekommen ist, spricht für eine dem darüber hinaus, dass sich selbst bei einer – im Tempo und der Stärke der Rezession entspre- Moment noch keinesfalls als sicher zu bezeich- chende Aufwärtsdynamik bisher wenig. Daher nenden – wirtschaftlichen Erholung in den Fol- erscheint es unwahrscheinlich, dass das Horten gejahren erst langsam Fortschritte beim Beschäf- von Arbeitskräften im genannten Umfang durch- tigungsaufbau einstellen werden. Es ist davon gehalten wird. Um die Erwerbstätigenprodukti- auszugehen, dass nach dem schweren Wirt- vität wieder den Normalwerten anzunähern, wer- schaftseinbruch eine Phase von „Jobless Growth“ den die Unternehmen, deren Absatzchancen sich folgen wird, in der zunächst weiter der von den nicht in absehbarer Zeit wieder erholen, zuneh- Unternehmen geschaffene Produktivitäts- und mend die Beschäftigung nach unten anpassen. Arbeitszeitpuffer abgebaut wird. Das aber bedeu- Wie schwer die Konsequenzen der Finanzkri- tet: Nur wenn nach 2010 einige Jahre mit einer se für den Arbeitsmarkt in 2010 und den Folge- soliden wirtschaftlichen Entwicklung folgen, ist jahren tatsächlich sein werden, ist nicht alleine eine durchgreifende Verbesserung der Arbeits- davon abhängig, wie tief das reale BIP in 2009 marktlage realistisch. tatsächlich fallen wird. Entscheidend ist viel- Eine gewisse Entspannung ergibt sich aller- mehr, wie lange der Erholungsprozess dauert und dings aus den Konsequenzen des demographi- mit welchen strukturellen Verwerfungen er ver- schen Wandels. Durch den Rückgang verfügbarer bunden sein wird. Dabei könnte sich die hohe Arbeitskräfte in den nächsten Jahren wird selbst Wettbewerbsfähigkeit und die starke Marktstel- eine stagnierende Beschäftigungsentwicklung er- lung der deutschen Exportwirtschaft vor der Krise träglicher. Doch im demographischen Wandel als Vorteil erweisen, wenn sich im Zuge der Erho- stecken auch Risiken. Ohne vermehrte bildungs- lung das Produktportfolio der deutschen Indus- politische Anstrengungen aller Beteiligten dro- trie weltweit wieder großer Beliebtheit erfreuen hen akute Engpässe bei der Rekrutierung von würde. Mittel- und längerfristig erscheint es Fachkräften, die die Grundlagen künftigen durchaus plausibel, dass der durch den Moderni- Wachstums massiv gefährden können. sierungsbedarf aufstrebender Volkswirtschaften Als Zwischenfazit lässt sich an dieser Stelle ausgelöste Hunger nach Kapitalgütern Schlüssel- festhalten, dass die sich abzeichnende Entwick- bereiche der Exportwirtschaft wie den Maschi- lung in der nahen Zukunft die Arbeitslosenver- nen- und Anlagenbau wieder auf Touren bringt. sicherung stark belasten wird. Andere Bereiche, die wie der Kraftfahrzeugbau 9
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung 3. Finanzierung der Arbeitslosenversicherung in Krisenzeiten Die zu erwartende weitere Verschlechterung der Trotz des gesunkenen Beitragssatzes und ver- Arbeitsmarktlage bis 2010 und die danach ver- schiedener ausgabenwirksamer Entscheidungen mutlich nur zögerliche Erholung werfen einen der Bundesregierung (wie z.B. der Anfang 2008 großen Schatten auf die Finanzen der Arbeits- vollzogenen Verlängerung der Bezugsdauer des losenversicherung. Das ist bereits heute unüber- Arbeitslosengelds für Ältere) gelang es der für die sehbar. Weniger sozialversicherungspflichtige Be- Arbeitslosenversicherung verantwortlichen BA, schäftigung und geringere Lohnsteigerungen auf- in den letzten Jahren eine Rücklage zu bilden. grund der Krise haben geringere Beitragseinnah- Ende 2008 betrug sie nach ihren Angaben knapp men zur Folge und mehr Menschen ohne oder 17 Mrd. EUR. Die schwere Wirtschaftskrise wird mit weniger Arbeit führen zu höheren Ausgaben jedoch aller Voraussicht nach dafür sorgen, dass für Arbeitslosengeld und arbeitsmarktpolitische die Rücklage aufgrund geringerer Beitragseinnah- Maßnahmen wie z.B. der Kurzarbeit. Jedoch trägt men und höherer Ausgaben (insbesondere auch die starke finanzielle Belastung der Arbeitslosen- für Kurzarbeitergeld) bereits Ende 2009 weitge- versicherung in Krisenzeiten zur Stützung der hend aufgebraucht sein könnte. Aufgrund der Volkswirtschaft bei, weil anderenfalls mit noch sich weiter verschlechternden Arbeitsmarktlage stärkeren Nachfrageausfällen zu rechnen wäre. könnte sich bereits bis zum Ende des nächsten Die Wirkung der Arbeitslosenversicherung als au- Jahres ein Defizit im zweistelligen Milliardenbe- tomatischer Stabilisator ist zweifellos eine Stärke reich aufgebaut haben. Weil sich auch in den des deutschen Sozialversicherungssystems, die Folgejahren die Arbeitsmarktlage vermutlich auch international Beachtung findet. nicht schnell und deutlich verbessern wird, er- Es ist aber nicht nur die Krise, die die Arbeits- weist sich der auf 2,8% bzw. 3,0% abgesenkte Bei- losenversicherung belastet. Der Beitragssatz zur tragssatz als in keiner Weise nachhaltig. Der Ar- Arbeitslosenversicherung ist in den letzten Jah- beitslosenversicherung droht also in Folge der ren in mehreren Schritten verringert worden. Bis Wirtschaftskrise nicht nur ein erhebliches kurz- 2006 betrug er für Arbeitgeber und Arbeitnehmer fristiges Finanzierungsdefizit, sondern ohne Ge- zusammen noch 6,5% und ist dann von 4,2% in gensteuern ein langfristiges Problem der struktu- 2007, auf 3,3% in 2008 und schließlich 2,8% bis rellen Unterfinanzierung. Mitte 2010 (danach: geplant 3,0%) gesenkt wor- Um das schnell wachsende Defizit auszuglei- den. Begünstigt wurde die Entwicklung des Bei- chen, kommen verschiedene Möglichkeiten in tragssatzes durch den letzten Arbeitsmarktauf- Betracht. Weil jede der Optionen mit gewissen schwung von 2005 bis 2008, eine effektivere Problemen verbunden ist, gibt es keine „first-best- Steuerung der Arbeitsmarktpolitik durch die Bun- Alternative“. Ein erster, nahe liegender Weg be- desagentur für Arbeit (BA) sowie zusätzlichen stünde darin, den Beitragssatz wieder deutlich Bundesmitteln für die Arbeitslosenversicherung anzuheben. Dies würde jedoch den Einsatz des aus der letzten Mehrwertsteuererhöhung. Im Er- Faktors Arbeit zum ungünstigsten Zeitpunkt be- gebnis resultierte daraus eine starke Entlastung lasten, denn dann müssten in einer Phase mit der Beitragszahler, die über den gesamten Zeit- wachsender Arbeitslosigkeit die Arbeitskosten raum im zweistelligen Milliardenbereich liegen steigen und die Nettolöhne sinken. Der zweite dürfte. Weg wären Ausgabenkürzungen und damit das 10
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Streichen von Pflicht- und Ermessensleistungen stehen, z.B. im Rahmen des Tilgungsfonds des der Arbeitsmarktpolitik. Angesichts der aus heu- Bundes. Zusätzlich dürfte zukünftig eine noch stär- tiger Sicht wohl länger anhaltenden hohen Ar- kere und den aktuellen Beitragssatz stabilisierende beitslosigkeit erscheint diese Variante nicht ver- Steuerfinanzierung erforderlich sein, welche al- tretbar, weil in schlechten Zeiten weitgehend auf lerdings aus den in Folge der Krise immer knapper arbeitsmarktpolitische Maßnahmen verzichtet werdenden öffentlichen Einnahmen zu finanzie- und/oder das Arbeitslosengeld verringert werden ren wäre (vgl. hierzu ausführlich den Kasten „Mög- müsste. Als dritter Weg käme ein Darlehen des lichkeiten und Grenzen einer stärkeren Steuer- Bundes zur Absicherung des Defizits in Frage. Das finanzierung der sozialen Sicherungssysteme“). Problem besteht hier darin, dass der Bund auf- Da es für die unübersehbaren Finanzierungs- grund des zu erwartenden längerfristigen Finan- probleme der Arbeitslosenversicherung keine zierungsdefizits vermutlich über längere Zeit Kre- „Zauberlösung“ gibt, erscheint ein Mix aus ver- dite gewähren müsste und es nicht klar ist, ob schiedenen Elementen als der einzig gangbare und wann das wohl sehr umfangreiche, zunächst Weg. So könnte ein Paket aus einer moderaten wachsende Darlehen von der BA überhaupt zu- Anhebung des Beitragssatzes, einer überwiegend rückgezahlt werden könnte. nicht rückzahlbaren Krisenhilfe und einer länger- Schließlich verbleibt als vierter Weg ein hö- fristig noch stärkeren Steuerfinanzierung der von herer Bundeszuschuss. Wenig bewährt haben sich der Arbeitslosenversicherung wahrgenommenen die vor den Arbeitsmarktreformen noch üblichen, gesamtgesellschaftlichen Aufgaben (wie z.B. der in der Regel jährlich schwankenden und an der Abschaffung des Eingliederungsbeitrags beim jeweiligen Finanzlage der BA ausgerichteten Bun- Übergang von Arbeitslosen aus der Versicherung deszuschüsse. Die Jahre der Arbeitsmarktreform in die Grundsicherung) zur längerfristigen Stabi- haben gezeigt, dass eine auch in finanzieller Hin- lisierung der Arbeitslosenversicherung beitragen. sicht stärkere Autonomie und Eigenverantwor- Der Beitragssatz sollte künftig so bemessen sein, tung der BA zu einer effektiveren Steuerung der dass die Arbeitslosenversicherung künftig in gu- Arbeitsmarktpolitik und damit auch zu einem ten Zeiten Rücklagen für schlechtere Zeiten bil- besseren Finanzergebnis beiträgt. Um dies nicht den kann. zu gefährden, müssen mögliche Zuschüsse einer- seits aus einer einmaligen Konjunkturhilfe be- 11
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung Möglichkeiten und Grenzen einer stärkeren Steuerfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme Die Sozialversicherungsbeiträge sind in Deutsch- dann 35%, ehe er Mitte der 90er Jahre die land in mehreren Etappen gestiegen (vgl. Abbil- 40%-Schwelle hinter sich ließ. Am aktuellen dung 3). Nachdem der Beitragssatz in den 50er Rand liegt der Beitragssatz dank der Arbeits- Jahren noch bei 20% lag, wurde nach 25% in losenversicherung knapp unter 40%, ist aber den 60er Jahren Mitte der 70er Jahre die 30%- insgesamt noch immer auf einem hohen Schwelle erreicht. Mitte der 80er Jahre waren es Niveau. Abbildung 3: Entwicklung der Sozialversicherungsbeiträge (in Prozent des Bruttolohns 1950 bis 2009) 45,0 Allgemeine Rentenversicherung 40,0 Pflegeversicherung Krankenversicherung 35,0 Arbeitslosenversicherung 30,0 25,0 20,0 15,0 10,0 5,0 0,0 82 84 86 88 90 92 94 96 98 00 02 04 06 08 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 19 0 50 8 19 19 19 19 19 19 19 19 20 20 20 20 20 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 Quelle: BMAS Hohe und wachsende Sozialversicherungsbei- Einsatz des Faktors Arbeit und bremsen dadurch träge sind wissenschaftlichen Befunden zufolge die Arbeitsnachfrage. Steigende Sozialversiche- eine Ursache für Probleme am Arbeitsmarkt rungsbeiträge vergrößern auch den Abgabenkeil (Bassanini/Duval 2006; Layard et al. 1991). Auf zwischen Arbeitskosten und Nettolohn. Dies ist der Seite der Arbeitgeber belasten hohe Sozial- vor allem dann ein Problem, wenn der mit den versicherungsbeiträge ceteris paribus – d.h. falls Beiträgen verbundene „Sozialllohn“ nicht mehr sie weder auf die Arbeitnehmer noch auf die uneingeschränkt den Präferenzen der „Sozial- Konsumenten überwälzt werden können – den versicherten“ entspricht. 12
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs Abbildung 4: Entwicklung der Sozialversicherungsbeiträge und ausgewählter Erwerbsformen 1991 bis 2007 6000 43 42 5000 Sozialversicherungsbeiträge in % 41 Erwerbsformen in Tausend 4000 40 39 3000 38 2000 37 36 1000 35 0 34 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 Sozialversicherungsbeiträge Mini-Jobs (Mikrozensus) Mini-Jobs (BA) * Midi-Jobs Mehrfachbeschäftigte Ein-Personen-Selbstständige Quelle: BA, IAB, Mikrozensus * ausschließlich geringfügig Beschäftigte Von hohen und steigenden Sozialversiche- Welche Forschungsbefunde liegen zu den Be- rungsbeiträgen gehen außerdem strukturelle schäftigungseffekten einer Senkung der Sozial- Wirkungen am Arbeitsmarkt aus. Sie können zu abgaben vor? Bei empirischen Untersuchungen Ausweichreaktionen führen, z.B. in Richtung ist zwischen partialanalytischen und makro- schattenwirtschaftlicher Aktivitäten sowie Be- ökonomischen Ansätzen zu unterscheiden. Par- schäftigungsformen, die wie Mini- und Midi- tialanalytische Angebots- und Nachfrageana- Jobs oder selbstständige Tätigkeiten nicht in lysen haben gezeigt, dass durch eine Senkung gleichem Umfang durch Sozialabgaben belastet der Sozialabgaben ceteris paribus zusätzliche werden (vgl. Abbildung 4). Zudem leisten hohe Arbeitskräfte zu einer Beschäftigungsaufnahme Sozialabgaben einen Beitrag zu den offenkun- motiviert werden und Unternehmen bereit wä- digen Beschäftigungsproblemen wettbewerbs- ren, zusätzliche Arbeitskräfte einzustellen. An- schwächerer Arbeitnehmer. Vor allem im Nied- gebotsanalysen ergaben, dass der größte Teil des riglohnbereich machen sie den größten Anteil zusätzlichen Angebotes auf Frauen mit Partner am Abgabenkeil aus (OECD 2009). Auf der be- entfiele. Auf der Nachfrageseite kommt es zu trieblichen Seite sorgen hohe Sozialabgaben einem überproportionalen Zuwachs an Arbeits- dafür, dass einfache Tätigkeiten verschwinden plätzen mit geringen Qualifikationsanforde- bzw. erst gar nicht entstehen. Auf der Seite der rungen (Kaltenborn et al. 2003). Arbeitnehmer verringert sich durch hohe So- zialabgaben der Abstand zu den Transferleis- Makroökonomische Ansätze berücksichtigen tungen. Somit können sich hohe Sozialabgaben außerdem die Finanzierungsseite und Interde- für Personen mit geringer tatsächlicher oder er- pendenzen auf den verschiedenen Teilmärkten. warteter Produktivität als Einstiegsbarriere in Die Analysen basieren hier gewöhnlicherweise den Arbeitsmarkt erweisen. auf makroökonometrischen Modellen oder auf ➜ 13
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung ➜ Gleichgewichtsmodellen (Feil/Zika 2005). Die Existenz trägt dazu bei, dass es für wettbewerbs- Modellrechnungen zeigen unisono, dass eine schwächere Arbeitnehmer schwer ist, eine Exis- Senkung der Sozialabgaben unter bestimmten tenz sichernde Beschäftigung zu finden. Simu- Umständen einen Beitrag zu mehr Beschäfti- lationsrechnungen zeigen, dass durch die Ab- gung leisten kann. Entscheidend sind dabei die schaffung der Mini-Jobs erhebliche Zusatzein- Form der Gegenfinanzierung und das unterstell- nahmen für die Sozialversicherungssysteme te Lohnverhalten. Wird zur Finanzierung der und die öffentlichen Haushalte generiert wer- Einnahmenverluste beispielsweise die Mehr- den könnten, ohne dass dadurch die Erwerbs- wertsteuer angehoben, sind von Anfang an Be- anreize in nennenswertem Maße tangiert wür- schäftigungsgewinne möglich. So wird die Ex- den (Blos et al. 2007; Bofinger et al. 2007). Von portwirtschaft durch die Abgabensenkung ent- Ansätzen, die zu einer Stärkung Existenz sichern- lastet, durch die Mehrwertsteueranhebung aber der Einkommen durch intelligente Kombilöhne nicht belastet. Dagegen können bei einer Ge- und moderate gesetzliche Lohnuntergrenzen genfinanzierung durch eine Ausgabensenkung führen, würde gerade auch das Sozialversiche- und den damit verbundenen sofortigen Ent- rungssystem profitieren (Bofinger et al. 2006). zugseffekten anfängliche Beschäftigungsverlus- te nicht ausgeschlossen werden. Sie werden aber Insgesamt kann eine asymmetrische Senkung den vorliegenden Simulationsrechnungen zu- der Sozialabgaben mit dem Schwerpunkt Nied- folge später nicht nur wieder ausgeglichen, son- riglohnbereich aber bestenfalls als ein Einstieg dern überkompensiert. Generell fallen die Be- in eine umfassende Reform des Steuer- und Ab- schäftigungsgewinne umso höher aus, je mehr gabensystems betrachtet werden. Eine solche die Abgabensenkung mit einer moderaten Tarif- Reform ist aber nötig, weil angesichts der in politik verknüpft wird und je weniger die Ge- Folge der demographischen Entwicklung ab- genfinanzierung dazu führt, dass im Nachgang sehbaren Ausgabensteigerungen in der Renten- höhere Löhne als im Referenzszenario verein- und Krankenversicherung partielle Verände- bart werden. rungen kaum weiterhelfen werden. Vielmehr muss die Finanzierung der Sozialversicherungen Die Untersuchungen zu den Beschäftigungs- in der längeren Frist auf eine neue, breitere effekten einer Senkung der Sozialabgaben zei- Grundlage gestellt werden. Eine Finanzierung, gen weiter, dass sich durch eine stärkere Redu- die zum überwiegenden Teil an den Faktor Ar- zierung im unteren Lohnbereich – also einer beit gekoppelt ist, wird diesen in zunehmendem asymmetrischen im Vergleich zu einer linearen Maße überfordern. Als Orientierungshilfe kön- Senkung – höhere Arbeitsmarkteffekte erzielen nen dabei skandinavische Länder dienen, deren ließen. Hiervon würden vor allem arbeitsinten- Sozialstaat auf eine Grundsicherung mit ergän- sive Betriebe, Tätigkeiten mit geringen Qualifi- zender Eigenvorsorge zielt und überwiegend kationsanforderungen und niedriger Entloh- steuerfinanziert ist. Eine solche Reform darf je- nung profitieren. Dabei treten jedoch vielfältige doch nicht mit der Erwartung überfrachtet wer- Ausgestaltungsprobleme auf, denn je nach Aus- den, dass sich dadurch die Arbeitslosigkeit um- gestaltung könnten dadurch besonders Teilzeit- fassend senken ließe. Nichtsdestoweniger wür- beschäftigungsverhältnisse gefördert werden de ein Umbau der Sozialversicherung in Rich- oder die niedrigeren Abgaben kämen nicht den tung einer deutlich stärkeren Steuerfinanzierung Personen und Haushalten zugute, deren Ar- in Kombination mit einer stärkeren Förderung beitsanreiz und Beschäftigung unbedingt zu der Eigenvorsorge die Rahmenbedingungen für fördern ist. Diese Kritik trifft auch die aktuelle Beschäftigung in Deutschland nachhaltig ver- Ausgestaltung der Mini- und Midi-Jobs. Ihre bessern. 14
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs 4. Funktionen und Elemente der Arbeitslosenversicherung Durch Leistungen der Arbeitslosenversicherung wähnte Einkommenssicherungsfunktion der Ar- können zwar die Folgen der Weltwirtschaftskrise beitslosenversicherung, die zumindest potenziell abgemildert werden, sie können Anpassungspro- den sozialen Frieden stärkt. Ohne eine solche Ab- zesse im Zuge des sektoralen Strukturwandels be- sicherung wäre der mit einem Prozess der krea- gleiten und die Anreize für die Arbeitsmarktak- tiven Zerstörung einhergehende strukturelle teure richtig setzen. Jedoch kann mit arbeits- Wandel der Volkswirtschaft nur schwer zu bewäl- marktpolitischen Instrumenten allein ein ekla- tigen, denn die davon betroffenen Arbeitnehmer tantes Missverhältnis zwischen Arbeitsplätzen hätten bei einem Arbeitsplatzverlust viel zu ver- und Arbeitskräften nicht beseitigt werden. Anders lieren und würden deshalb unter Umständen mit als die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik allen Mitteln um den Erhalt ihrer Beschäftigungs- hält sie nicht den entscheidenden Schlüssel für möglichkeiten kämpfen. Eng verbunden mit der die Lösung schwerwiegender Arbeitsmarktpro- Einkommenssicherungsfunktion der Arbeitslo- bleme in der Hand. senversicherung ist die volkswirtschaftliche Be- Eine ausreichende Finanzierung der Arbeits- deutung des Arbeitslosengelds als Nachfragekom- losenversicherung muss zweierlei sicherstellen. ponente. Die Lohnersatzleistung ist in diesem Zum einen trägt sie temporär zur Einkommenssi- Zusammenhang als ein automatischer Stabilisa- cherung von Personen bei, die ihren Arbeitsplatz tor zu sehen, der bei unfreiwilliger Arbeitslosig- verloren haben. Damit hat sie eine verteilungspo- keit und insbesondere in Krisenzeiten auf der Mi- litische Dimension, der in wirtschaftlichen kro- und Makroebene Nachfrageausfällen entge- Schwächephasen auch ein Beitrag zur Stützung genwirkt und damit die Konjunktur stützt. der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zugemes- Dem Arbeitslosengeld kommt im Suchpro- sen werden kann. Zum anderen soll die Arbeitslo- zess eine spezifische Rolle zu. Der Einkommens- senversicherung eine effiziente Suche ermögli- strom aus der Versicherungsleistung beeinflusst chen und damit die Allokation am Arbeitsmarkt das Suchverhalten, denn je höher sie ausfällt, de- unterstützen. Dabei stehen die Anreizeffekte der sto niedriger sind die Suchkosten für die Arbeits- Lohnersatzleistung im Vordergrund (vgl. Franz losen. Damit sinkt bei einer großzügigen im Ver- 2003). Beide Funktionen können sich widerspre- gleich zu einer weniger großzügigen Arbeitslo- chen, weil ein relativ hoher Lohnersatz zwar den senunterstützung aus suchtheoretischer Perspek- materiellen Status des Arbeitslosen weitgehend tive die Wahrscheinlichkeit der Aufnahme einer wahrt, aber den Suchprozess und damit Arbeitslo- Beschäftigung und die Dauer der Arbeitslosigkeit sigkeit verlängern kann. Dies gilt insbesondere verlängert sich tendenziell. Allerdings unterstützt bei einer langen Bezugsdauer des Arbeitslosen- ein „angemessenes“, und damit am vorherigen gelds (vgl. Lalive et al. 2006). Wenn somit beiden Status orientiertes, befristetes Arbeitslosengeld Funktionen der Arbeitslosenversicherung eine das Matching zwischen Arbeitsangebot und Ar- Berechtigung zukommt, sie sich aber auch wider- beitsnachfrage und damit die Ausgleichsprozesse sprechen können, ist danach zu fragen, wie groß- auf dem Arbeitsmarkt. Denn durch eine solche zügig die Arbeitslosenversicherung sein sollte Suchsubvention sehen sich Arbeitslose nicht ver- und sein darf. anlasst, schnell das erstbeste Angebot annehmen Die Arbeitslosenversicherung hat gerade in zu müssen. schlechten Zeiten besonders wichtige Aufgaben. Die Ausgestaltung des Arbeitslosengelds be- Zu nennen ist hier zuallererst die eingangs er- einflusst auch die Akteure des Arbeitsmarkts. So 15
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung können großzügige Transferleistungen die Ver- der geht es dabei um zusätzliche Steuermittel handlungsmacht der Gewerkschaften stärken oder materielle Ressourcen der Arbeitslosenversi- und damit die Lohnsetzung beeinflussen. Werden cherung. Im Falle Deutschlands bedeutet eine Löhne durchgesetzt, die oberhalb des Wertschöp- großzügigere Arbeitslosenunterstützung, dass der fungsbeitrags der Arbeitskraft liegen, kommt es Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung zumin- zu Arbeitsplatzverlusten. Allerdings ist der Zu- dest längerfristig höher ausfallen müsste, was sammenhang nicht eindeutig, weil es nicht nur dauerhaft Wachstum und Arbeitsplätze kostet. eine positive Beziehung zwischen gewerkschaft- Generell wird die Bedeutung der Arbeitslo- licher Verhandlungsmacht und Arbeitslosigkeit senversicherung für die Ausgleichsprozesse am gibt, sondern auch einen negativen Zusammen- Arbeitsmarkt oft unterschätzt. Sie ist ein wirk- hang zwischen Lohnniveau und vorheriger Ar- sames und mit Blick auf die Ausgestaltung be- beitslosigkeit. Dabei ist zu beachten, dass das Ge- stimmter Elemente vergleichsweise kostengün- werkschaftsverhalten von der Arbeitslosenquote stiges Instrument zur Beeinflussung des Suchver- beeinflusst wird (Lutz 2009). haltens. Die jüngsten Arbeitsmarktreformen ha- Die Arbeitgeber können das Arbeitslosengeld ben in dieser Hinsicht eine ganze Reihe von nutzen, indem sie die Kosten zeitweiliger Un- systemimmanenten Änderungen mit sich ge- terauslastung zumindest teilweise auf die Arbeits- bracht: frühzeitige Meldepflichten, verbindliche losenversicherung überwälzen. So können Teile Eingliederungsvereinbarungen, striktere Kriterien der Belegschaft vorübergehend freigestellt und für zumutbare Beschäftigung, die Einführung des dann im Sinne eines „Recalls“ wieder eingestellt Arbeitslosengelds II sowie die Verkürzung der Be- werden. Diese Praxis konnte für die USA nachge- zugsdauer. Die Maßnahmen erhöhten die Ar- wiesen werden (vgl. Feldstein 1978; Topel 1983), beitsanreize und leisteten einen Beitrag, der Ver- ist aber in Deutschland aufgrund der weiterrei- festigung der Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken. chenden Kündigungsschutzregelungen nicht so Gleichzeitig wurden die Arbeitnehmer jedoch leicht praktizierbar (vgl. Schneider et al. 2004). stärker in die Verantwortung genommen und tra- Darüber hinaus muss das Niveau der Absi- gen seither einen noch größeren Teil des Beschäf- cherung im Falle der Arbeitslosigkeit immer auch tigungsrisikos. finanziert werden oder finanzierbar sein. Entwe- 16
Wirtschafts- und Sozialpolitik WISO Diskurs 5. Zum weitergehenden Reformbedarf und dazu vorliegenden Vorschlägen Zur Weiterentwicklung der Arbeitslosenversiche- heit der US-amerikanischen Bundesstaaten ein rung sind in der jüngeren Vergangenheit eine wesentliches Element der hiesigen Beschäfti- Reihe von Reformvorschlägen zur Diskussion ge- gungssicherung, nämlich die Kurzarbeit, aller- stellt worden, die von eher marginalen, system- dings mit weit schlechteren Konditionen zum immanenten Veränderungen bis hin zu einem Einsatz bringt. Eine temporäre Verlängerung der fundamentalen Systemwechsel reichen. Nachfol- Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes ginge unter gend sollen ein unmittelbar an den Folgen der sonst gleichen Bedingungen zwangsläufig mit Finanzkrise ansetzender Vorschlag sowie drei wei- höheren Ausgaben in der Arbeitslosenversicherung tergehende und grundlegend verschiedene Re- einher. Um diese gegenzufinanzieren, müssten formtypen in ihren Grundzügen kurz erläutert entweder Steuern herangezogen werden oder in werden und hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile besseren Zeiten Einsparungen in der Arbeitslo- gegenüber dem bestehenden System geprüft wer- senversicherung realisiert werden, z.B. durch eine den. dann gegenüber dem Status Quo verkürzte Be- zugsdauer. Beides erscheint aus heutiger Sicht als problematisch: Ersteres wegen der schwierigen Temporäre Ausweitung der Bezugsdauer Finanzsituation von BA und öffentlicher Hand des Arbeitslosengelds und Letzteres vor allem aus Gründen der sozialen Verträglichkeit. Nicht zu unterschätzen sind zu- Im Zuge der sich immer deutlicher abzeichnenden dem mögliche Antizipationseffekte einer solchen Folgen der Finanzkrise für den Arbeitsmarkt wird Regelung auf Seiten von Arbeitnehmer und Be- zuletzt häufiger gefordert, die Bezugsdauer des trieben. Wenn Arbeitslosigkeit durch eine längere Arbeitslosengeldes nach US-amerikanischen Vor- Bezugsdauer stärker abgefedert würde, könnten bild zumindest temporär auszuweiten. Begründet Anstrengungen in Richtung betriebsinterner Fle- wird dies damit, dass Arbeitslose in schlechten xibilität zurückgefahren werden. So könnte es Zeiten länger brauchen, bis sie einen Arbeitsplatz wegen der dann geringeren Folgen für die Betrof- finden und damit ein zusätzlicher Beitrag zur fenen häufiger zu Freisetzungen kommen und bei Stützung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage Älteren die Arbeitslosigkeit wieder stärker als Brü- geleistet würde. Außerdem könnte man so vielen cke in die Rente genutzt werden. Zudem ergeben Arbeitslosen einen schnellen „Absturz“ in die be- sich schwierige Umsetzungsfragen und uner- dürftigkeitsabhängige Grundsicherung ersparen. wünschte Ausstrahleffekte. So ist danach zu fra- Auch wenn ein solcher Vorschlag angesichts gen, was die Verlängerung bzw. später die Verkür- der Konsequenzen der Krise nachvollziehbar er- zung genau auslösen soll und wie beides politisch scheint, wirft er doch eine Reihe von Problemen durchgesetzt werden kann. Zudem ist die Frage, oder zumindest Fragen auf. Das fängt schon da- ob dann nicht auch andere Gruppen, wie z. B. mit an, dass die USA hier nur bedingt als Referenz Grundsicherungsempfänger, Verbesserungen für fungieren können. Denn dort ist die Höhe der sich fordern könnten. Generell ist eine solche Lohnersatzleistung weit niedriger als hierzulande Maßnahme selbst aus verteilungspolitischer Sicht und die Regelbezugsdauer mit 26 Wochen deut- nicht ohne Haken und Ösen. Denn es profitieren lich kürzer. Dazu kommt, dass nur eine Minder- davon in erster Linie Arbeitslose mit einer län- 17
WISO Diskurs Friedrich-Ebert-Stiftung geren Erwerbsbiographie und höherem Lohnein- Kontenmodelle kommen vor Arbeitslosigkeit. Niedrigeinkom- mensbezieher und Personen mit unstetiger Er- Eine Abkehr vom Versicherungssystem und da- werbsbiographie hätten dagegen so gut wie gar mit ein besonders radikaler Systemwechsel ginge nichts davon. Zu prüfen ist schließlich auch, ob mit dem Vorschlag der sog. „Kontenmodelle“ ein- nicht andere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen her (Schäfer 2003; Glismann/Schrader 2005). geeigneter wären, um die gewünschten antizyk- Kerngedanke ist eine Selbstversicherung des Ar- lischen Impulse auszulösen. Z.B. könnte man wie beitnehmers in Form obligatorischer Sparverträ- in Dänemark das Budget für Eingliederungsleis- ge. Etwaige Guthaben würden am Ende des Ar- tungen an die Höhe der Arbeitslosenquote bin- beitslebens gutgeschrieben. Sind die Sparkonten den. Das hätte den Vorteil, dass die Leistungen durch Arbeitslosigkeitsepisoden erschöpft, erhal- der Arbeitslosenversicherung nicht verändert ten freigesetzte Personen die Grundsicherung. werden müssten und in guten wie in schlechten Der Vorteil des Ansatzes besteht darin, dass dem Zeiten eine verlässliche Größe für alle Akteure der Arbeitslosenversicherung innewohnende darstellen. „moral hazard“ entgegengewirkt wird. Durch das Sparkonto würde das Arbeitslosigkeitsrisiko stär- ker internalisiert und damit ein Anreiz zur Ar- Experience Rating beitslosigkeitsvermeidung geschaffen. Dagegen sprechen mehrere Gründe. So sind soziale Härten Um zu vermeiden, dass Arbeitgeber Beschäfti- zu erwarten: Zum einen zu Beginn des Erwerbs- gungsrisiken über Gebühr auf die Arbeitslosen- lebens, weil die Konten der Betroffenen dann versicherung verlagern, wird häufig das aus den noch nicht gefüllt sind. Zum anderen können USA bekannte sog. „experience rating“ ins Spiel Probleme bei Personen auftreten, deren Konten gebracht (vgl. Holz/Hauser 2000). So könnte der nach längerer Arbeitslosigkeit überzogen sind. Sie Arbeitgeberbeitrag wie in der Kraftfahrzeughaft- würden bei neuerlicher Arbeitslosigkeit mit einem pflichtversicherung in Schadensklassen eingeteilt schnellen Absturz in die Grundsicherung hohen werden und damit davon abhängig gemacht wer- sozialen Risiken ausgesetzt. Aus allokativer Sicht den, wie oft der Schadensfall eintritt und damit ist bedenklich, dass durch das „Zwangssparen“ eine Inanspruchnahme der Arbeitslosenversiche- Kapital in hohem Maße gebunden ist und nicht rung erfolgt. Die Vorteile des Ansatzes liegen in für andere Zwecke zur Verfügung stehen kann. einer stärkeren Internalisierung der Risiken. Dem Bei Personen, deren Konten ausgeschöpft sind, stehen jedoch gravierende Nachteile gegenüber. könnte zudem der hohe Arbeitsangebotsdruck ein Zusätzliche Belastungen durch höhere Versiche- ineffizientes Matching zur Folge haben. Schließ- rungsbeiträge nach Freisetzung können Unter- lich würde die Arbeitslosenversicherung ihre nehmenskrisen weiter verstärken. Dazu kommt, konjunkturstabilisierende Funktion weitgehend dass innovative, stärker auf Risiko setzende Un- verlieren. ternehmen stärker betroffen sein dürften. Beste- hende Strukturen würden somit tendenziell kon- Beschäftigungsversicherung serviert. Zwar mag die durch den Ansatz bewirkte höhere Beschäftigungsstabilität den Stammbeleg- In eine ganz andere Richtung geht der letzte hier schaften zugute kommen, sie senkt aber die Ein- dargestellte Ansatz, nämlich die Arbeitslosenver- trittschancen für Arbeitslose. Darüber hinaus sicherung in eine Beschäftigungs(fähigkeits)versi- dürften die üblichen, zum Teil zyklischen Schwan- cherung zu überführen. Hierzu liegt ein umfas- kungen der Produktnachfrage auf Unternehmens- sender Vorschlag von Günther Schmid in einem ebene in einem Regime mit „experience rating“ Gutachten für die Friedrich-Ebert-Stiftung vor den Anreiz verstärken, Stammbelegschaften zu (Schmid 2008). Die Leitidee besteht darin, die Ar- reduzieren. beitsmarktpolitik und auch andere Institutionen 18
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