Dynamiken des Erinnerns in der internationalen Jugendarbeit - Geschichte, Gedenken und Pädagogik zum Ersten Weltkrieg

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Dialoge –
                                                      Dialogues 8

Diemut König, Simone Odierna
in Zusammenarbeit mit Laurent Jalabert und Nicolas Czubak

Dynamiken des Erinnerns
in der internationalen
Jugendarbeit
Geschichte, Gedenken und
Pädagogik zum Ersten Weltkrieg
Dialoge – Dialogues
        Schriftenreihe des Deutsch-Französischen Jugendwerks
        Collection de l’ Office franco-allemand pour la Jeunesse

                                      Band 8

                       Die Zukunft soll man nicht
                       voraussehen wollen,
                       sondern möglich machen.
                       Pour ce qui est de l’ avenir,
                       il ne s’ agit pas de le prévoir,
                       mais de le rendre possible.

                                    Antoine de Saint-Exupéry

Die Reihe „Dialoge – Dialogues“ im Waxmann Verlag ist eine vom Deutsch-Franzö-
sischen Jugendwerk (DFJW) initiierte Publikationsreihe, mit der die Ergebnisse ange-
wandter Forschung und Evaluierung im Rahmen deutsch-französischer Projekte einem
breiteren Publikum zugänglich gemacht werden sollen.
Das DFJW, im Jahr 1963 gegründete internationale Organisation mit Standorten in
Paris und Berlin, fördert seit Jahrzehnten den transnationalen und interdisziplinären
deutsch-französischen Wissenschaftsdialog. In der vorliegenden Reihe, die vom For-
schungsbereich des DFJW betreut wird, werden Theorie, Methode und Praxis vor dem
Hintergrund unterschiedlicher nationaler und kultureller Erwartungshorizonte gewinn-
bringend miteinander verknüpft.
Neben der quantitativen und qualitativen Evaluierung von Austauschprojekten sollen
zusätzlich Einblicke in die Welt des interkulturellen Lernens und der Begegnungspä-
dagogik vermittelt werden.

                 © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch.
Diemut König, Simone Odierna
            in Zusammenarbeit mit
      Laurent Jalabert und Nicolas Czubak

Dynamiken des Erinnerns in der
 internationalen Jugendarbeit
   Geschichte, Gedenken und Pädagogik
          zum Ersten Weltkrieg

                  Waxmann 2020
                   Münster ∙ New York

    © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch.
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Dialoge – Dialogues Band 8

ISSN 2192-9416
Print-ISBN  978-3-8309-4321-1
E-Book-ISBN 978-3-8309-9321-6

© Waxmann Verlag GmbH, 2020
Steinfurter Strasse 555, 48159 Münster

www.waxmann.com
info@waxmann.com

Die französichen Texte wurden übersetzt von Hella Beister und Sarah Florence Gaebler.
Umschlaggestaltung: Anne Breitenbach, Münster
Satz: Roger Stoddart, Münster
Druck: Hubert & Co., Göttingen

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier,
säurefrei gemäß ISO 9706

Printed in Germany
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten.
Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des
Verlages in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung
elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Inhalt

Einleitung ................................................................................................................................ 9
Diemut König, Simone Odierna, Laurent Jalabert und Nicolas Czubak

Kapitel 1
Deutsche und französische Erinnerungen, Erinnerungskulturen und
Erinnerungspädagogik .......................................................................................................17

1.1  Der Erste Weltkrieg – Erinnern, Erinnerungskultur
     und Erinnerungspädagogik in Deutschland ...........................................................17
Simone Odierna

1.2  Erinnerung statt Geschichte. Die französische Gesellschaft
     und die Strukturen des Erinnerns ............................................................................37
Laurent Jalabert

1.3 Sommer 1914. Der Kriegsausbruch und zwei nationale Sichtweisen..................61
Laurent Jalabert

1.4  Deutsch-französische Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg.
     1916 – das Jahr von Verdun? .....................................................................................76
Laurent Jalabert

1.5  Grenzen, Minderheiten und Geschichte oder die verlorene Erinnerung.
     Das Beispiel Alsace-Moselle/Elsass-Lothringen ......................................................92
Laurent Jalabert

1.6  Bemühungen um gemeinsame Herangehensweisen.
     Die Konstruktion des historischen Diskurses in Frankreich
     und Deutschland im 20. Jahrhundert ....................................................................107
Laurent Jalabert

1.7  Der Erste Weltkrieg in Schule und Unterricht in Frankreich
     und Deutschland ......................................................................................................120
Laurent Jalabert

Kapitel 2
Ethnographische Einblicke in die internationale Jugendarbeit.
Die Projektreihe „100 Jahre Erster Weltkrieg, 100 Projekte für den
Frieden in Europa“ im Fokus der Begleitforschung ...................................................129
Diemut König

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2.1  Das Forschungsdesign – methodische und methodologische
     Erläuterungen............................................................................................................130
Diemut König

2.2  Selbsteinschätzung Teilnehmender und Projektverantwortlicher
     zu Erwartungen und Erfahrungen im Kontext internationaler
     Erinnerungsarbeit – Ergebnisse der onlinebasierten Befragung .......................142
Diemut König

2.3  Praktiken des Erinnerns und ihre Dynamiken – Resultate aus
     der Feldforschung zu Einflussfaktoren und Gelingensbedingungen
     pädagogischer Erinnerungsarbeit ..........................................................................167
Diemut König

2.4  Ein Kaleidoskop erinnerungspädagogischer Jugendbegegnungen –
     Schlussfolgerungen und Impulse für die internationale
     Erinnerungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen .............................................278
Diemut König

Kapitel 3
„The war to end all wars? The First World War in an European
theatre of peace“. Ein trinationales Theaterprojekt ....................................................289

3.1 Projektbeschreibung .................................................................................................289
Simone Odierna

3.2  Zur theoretischen Rahmung: Aspekte einer Didaktik des
     fruchtbaren Moments in der Erinnerungspädagogik ..........................................292
Simone Odierna

3.3 Empirischer Teil .......................................................................................................295
Simone Odierna

3.4 Fazit und Ausblick – abschließende Anmerkungen des Teams .........................306
Simone Odierna

Kapitel 4
Internationale Großveranstaltungen im Rahmen der Aktivitäten
zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg ......................................................................311

4.1  Deutsch-französische und internationale Jugendbegegnungen
     anlässlich der Gedenkfeierlichkeiten .....................................................................311
Simone Odierna

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4.2  Jugendliche bei der Gedenkveranstaltung zur Schlacht
     von Verdun: Rückblick auf eine kleine Befragung ...............................................325
Laurent Jalabert

4.3  Gruppenprozesse in einem Workshop bei einem internationalen
     Treffen zum Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs................................334
Laurent Jalabert und Nicolas Czubak

Kapitel 5
Aktuelle Formen der Erinnerungspädagogik ..............................................................342
Simone Odierna

5.1   Das Mémorial de Verdun: pädagogisch auf junge Menschen
      ausgerichtet ................................................................................................................344
Nicolas Czubak

5.2  Rahmenbedingungen und Anforderungen einer
     zukunftsorientierten Erinnerungspädagogik........................................................355
Simone Odierna

5.3   Die Angebote des museumspädagogischen Dienstes
      des Mémorial de Verdun ..........................................................................................358
Nicolas Czubak

5.4  Vor- und Nachbereitung in der erinnerungspädagogischen Arbeit
     sowie neue Vermittlungsformen ............................................................................367
Simone Odierna

5.5   Eine andere Form des Gedenkens an den Ersten Weltkrieg?
      „Verdun, die gemeinsame Erinnerung“ .................................................................372
Nicolas Czubak

Kapitel 6
Fazit und Ausblick .............................................................................................................388
Diemut König, Simone Odierna, Laurent Jalabert und Nicolas Czubak

Autorinnen und Autoren....................................................................................................398

                           © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch.
Dank

An dieser Stelle möchten wir uns als Forschungsgruppe in erster Linie bei all den
Menschen ganz herzlich bedanken, die uns Einblicke in ihre Arbeit, ihren Erfah-
rungsschatz sowie ihre Gedanken- und Gefühlswelt gewährt haben. Wir hatten das
Privileg, in unseren Feldbesuchen viele spannende Eindrücke von der Vielfalt der
internationalen Jugendarbeit zu gewinnen und auf außerordentlich engagierte Men-
schen jeden Alters zu treffen, die sich für eine friedlichere Welt einsetzen. Danke
für Ihre/eure Offenheit und Unterstützung in unserer Forschung!
    Ein besonderer Dank gilt Anya Reichmann, die uns mit ihrer Expertise für in-
ternationale Zusammenarbeit als Forschungsgruppe über die gesamte Projekt-
laufzeit hinweg begleitet hat. Ob bei der Organisation von Forschungstreffen, der
Moderation interdisziplinärer Übersetzungen oder beim Schaffen wichtiger Ein-
blicke in die Arbeitsweise des DFJW – du warst für uns immer die erste Anlauf-
stelle und eine wichtige Konstante in unserem Arbeitsprozess. Danken möchten wir
ebenso Elisabeth Berger und Anne Gainville für die gelungene und wertschätzen-
de Zusammenarbeit. Tiphaine Burger hat uns außerdem mit ihrer Sorgfalt und Aus-
dauer beim Lektorieren der Endfassung des vorliegenden Bandes sehr unterstützt.
    Nicht zuletzt danken wir unseren Kolleg*innen an den Hochschulen und unse-
ren Familien, die in zahlreichen Diskussionen und Gesprächen zu all den Themen
und Fragen, die uns im Projekt und über die Begleitforschung hinaus beschäftigt
haben, nicht müde wurden zuzuhören, mitzudiskutieren und die richtigen Fragen
zu stellen.

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Einleitung

Diemut König, Simone Odierna, Laurent Jalabert und Nicolas Czubak

Als wir zu Beginn des Jahres 2015 gemeinsam mit dem Deutsch-Französischen
Jugendwerk in die Begleitforschung der Projektreihe „100 Jahre Erster Welt-
krieg, 100 Projekte für den Frieden in Europa“ starteten, standen viele Fragezei-
chen im Raum: Wer genau sind eigentlich diese Kolleg*innen, mit denen wir es
als Forschungspartner*innen im Projekt zu tun haben? Wie soll die Zusammenar-
beit in der Forschungsgruppe genau gestaltet sein? Auf welche methodische Vor-
gehensweise können wir uns in der sozialwissenschaftlich-historischen Konstella-
tion einigen? Von welchen theoretischen Grundannahmen gehen wir gemeinsam
für unsere Forschung aus? Wie gelingt uns der ‚gekreuzte Blick‘ auf die Thematik
der Geschichte, der Erinnerung und ihrer (Re-)Konstruktion im Zusammenhang
mit bildungspolitischen Jugendbegegnungen im internationalen (deutsch-französi-
schen) Rahmen? Wie fangen wir möglichst vielfältige Perspektiven dieses ‚Mam-
mutprojekts‘ ein, das über fünf Jahre in so vielfältiger Art und Weise von so un-
terschiedlichen Organisationen, Initiativen, Gruppen und Einzelpersonen in die Tat
umgesetzt und von so zahlreichen jungen Menschen aktiv mitgestaltet worden ist?
Als neu zusammengesetzte Gruppe standen wir vor vielen Herausforderungen, die
uns in unserer Zusammenarbeit begleiten sollten – Orientierungsphasen und Aus-
handlungsprozesse waren stete Begleiter auf unserem Weg zu dieser Publikation, die
das Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit darstellt. Sie ist der Versuch, unsere Per-
spektiven und Arbeitsprozesse zusammenzubringen. Auf inhaltlicher und didakti-
scher Ebene sollen unsere Erkenntnisse vor allem als Denkanstöße aus der Praxis
für die Praxis der internationalen erinnerungspädagogischen Begegnungen die-
nen, aber auch den theoretischen Hintergrund und das geschichtliche Gewordensein
des gesellschaftspolitischen Kontextes einbeziehen, vor dessen ‚Kulisse‘ die Projekt-
reihe als solche wie auch die einzelnen Begegnungen stattfanden. Die Arbeit die-
ser Forschungsgruppe basiert daher zum einen auf der theoretischen Auseinander-
setzung mit der Konstruktion von Geschichte und Erinnerung aus verschiedenen
Perspektiven. Diese Forschungsarbeiten verstehen sich in der Tradition der histo-
rischen Quellenforschung sowie der sozialwissenschaftlichen und erinnerungspäd-
agogischen Diskursforschung und beleuchten die Konstruktionsleistung von Erzäh-
lungen in mündlicher, textlicher, bildlicher und szenischer Form kritisch auf einer
forschungstheoretischen Ebene. Zum anderen hat unsere Forschungsgruppe den
Fokus auf die empirische Untersuchung aktueller Jugendprojekte im Rahmen inter-
nationaler, erinnerungspädagogisch fokussierter Begegnungen gelegt. Dabei wurde
weniger die Makroebene der Herstellung von Geschichte und Kultur als vielmehr
die Mikro- und Mesoebene in den Blick genommen und vor allem der Kontext der

                 © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch.
10       Diemut König, Simone Odierna, Laurent Jalabert und Nicolas Czubak

Begegnungen im Wechselspiel mit den sich in ihm vollziehenden Interaktionen
analysiert.
    In diesem Sinne soll zunächst eine kurze Einführung in unseren gemeinsamen
theoretischen Ausgangspunkt der sozialen Konstruiertheit kultureller und kultur-
historischer Wirklichkeit(en) gegeben werden, um die verschiedenen Herangehens-
weisen zu integrieren und die Forschungslücke aufzuzeigen, die mit diesem Band in
den Fokus genommen werden soll.

Die soziale Konstruktion von kultureller und kulturhistorischer
Wirklichkeit

Poststrukturalistische Theorien des sozialwissenschaftlichen Bereichs enttarnen das
Denken von bisher unangefochtenen Tatsachen als durch soziale, kulturelle Denk-,
Sprach- und Handlungspraxen hergestellte Wirklichkeit, die – größtenteils unbe-
wusst – von jedem Individuum selbst produziert, reproduziert und somit aufrecht-
erhalten wird (vgl. Thomas 2011: 25). Kulturelle Subjektivität, die zwangsläufig
immer wieder neu hergestellt und bestätigt wird, ist gekennzeichnet von Unabge-
schlossenheit und Prozesshaftigkeit. Während das klassische Verständnis von Kultur
diese als homogene Einheit begreift, die sich klar von anderen Kulturen abgrenzen
und somit unterscheiden lässt, tendiert der moderne Kulturbegriff in die gegen-
läufige Richtung: Demnach ist Kultur nicht monadisch; sie ist nicht trennscharf
von anderen Kulturen abzugrenzen und kann nicht isoliert betrachtet werden, da
sie permanent in Beziehung zu anderen Kulturen besteht und sich in der Differenz
zu diesen oder in Gemeinsamkeiten mit diesen konstituiert. Soziale Gruppen in-
teragieren stets mit anderen Gruppen, nie in der Isolation. Interkulturelle Kontakte
sind also prinzipiell unter einer „systematisch-dynamische[n] Perspektive“ (Ladmi-
ral & Lipiansky 2000: 20) zu betrachten: Es geht nicht darum, dass zwei voneinan-
der vollkommen unabhängig kommunizierende Subjekte mit ihrer jeweiligen Kultur
– verstanden als starrer, ontologischer Zustand – aufeinandertreffen, sondern viel-
mehr konstituieren sich die Subjekte erst in ihrer Kommunikation miteinander, in
der Differenz (vgl. auch: Lüsebrink 2004; Moosmüller 2004). Die Wahrnehmung ei-
gener meist impliziter kultureller Dispositionen wird im Zusammentreffen mit ab-
weichenden Handlungsweisen und Haltungen erkennbar und relevant gemacht.
Das Fremde definiert so das Eigene und bietet überhaupt die Möglichkeit, eigenes
Denken und Verhalten zu reflektieren sowie eigene Automatismen zu bemerken.
Das als das Eigene und das „Normale“ Definierte wird in der Differenz offenbar
(vgl. u. a. Baecker 2003: 17f.). Geht man davon aus, dass das Aufeinandertreffen mit
dem Fremden, dem Anderen, die Voraussetzung zur Explizierung des Eigenen dar-
stellt, bewirkt eine Begegnung wie in den vom DFJW geförderten Projekten1 also

1    Interkulturelle Begegnung wird in diesem Kontext zunächst einmal auf der offensichtlich national-
     kulturellen Ebene zwischen deutschen und französischen jungen Menschen angesiedelt. Eine Be-
     dingung für die Förderung der Projekte nach den Richtlinien des DFJW stellt nämlich die Teil-

                     © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch.
Einleitung      11

das Bewusstwerden über eigene Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmuster, die
im besten Fall reflektiert, kritisch hinterfragt und als eine von vielen möglichen For-
men der Enkulturation erkannt werden.
    Bezogen auf die thematische Ausrichtung der Projektreihe „100 Jahre Ers-
ter Weltkrieg, 100 Projekte für den Frieden in Europa“ und den in der Ausschrei-
bung explizierten Anspruch des DFJW an die Projektreihe, zivilgesellschaftliche
Gruppen bzw. junge Menschen im Allgemeinen zur Partizipation an der Entwick-
lung von Erinnerungsarbeit und Gedenkkultur zu bringen,2 spielen Ausprägun-
gen verschiedener impliziter oder auch expliziter erinnerungskultureller Wahrneh-
mungs-, Denk- und Verhaltensdispositionen eine besondere Rolle. In der Differenz
zu den Erzählungen und der/n Geschichte(n) Anderer werden die eigenen (nationa-
len, regionalen, familialen) Narrationen und Traditionen bezüglich der Präsenthal-
tung bzw. -machung bewusst. Schnittstellen der Erzählungen erweisen sich dabei als
ebenso relevant wie unterschiedlich Erinnertes. Dabei hängt „[d]ie Erinnerung [..]
nicht nur von der Vergangenheit ab, an der ihr Bild konstruiert wird, sondern auch
von den sozialen Bedingungen, in denen dieses Bild in der fortlaufenden Gegen-
wart erinnert wird.“ (Sebald & Weyand 2011: 174). Durch diese Strukturierung
werden, nach Sebald und Weyand, soziale Gedächtnisse geformt, also „das sozia-
le Vermögen, Vergangenes gegenwärtig verfügbar zu halten bzw. zu machen“ (ebd.).
Dies geschieht über die Modi Erinnern und Vergessen (Ricœur 2004). Sofern sich
also soziale Gedächtnisse ebenso wie das Gedenken als „die Praxis des Vergegen-
wärtigens von Vergangenem“ (König 2020b: o. S.) aus der gegenwärtigen Situation
heraus formieren, entscheidet sich die Perspektive, unter welcher die Ereignisse, Ta-
ten oder Personen betrachtet werden, stets aus der Gegenwart und ihrem Nutzen
heraus. Das Was und vor allem Wie der Repräsentation des Vergangenen geschieht
immer im Rückgriff auf Geschehenes und gestaltet sich somit ebenfalls dynamisch,
nicht starr, und mit gegenwärtigem Bezug (vgl. Halbwachs 2012: 313). „Nur aus
Sicht der Gegenwart wird neu befunden und neu bewertet, welche vergangene Leis-
tung aktuell noch relevant ist.“ (Dimbath & Heinlein 2015: 150). Der Kontext – der
Zeitraum, also die aktuelle Gegenwart bzw. Situation, aus der heraus Erinnern ge-
schieht, ebenso wie das Setting, in dem es sich vollzieht, sind also maßgeblich rele-
vant für Form und Inhalt. Die Medien, mit deren Hilfe die erinnerten Inhalte dar-
gestellt werden, konstruieren erst über die Selektion und die Form der Darstellung
entsprechende Versionen von Wirklichkeit bzw. Vergangenheit, ebenso von ihnen
inhärenten Normen, Werten und Selbstkonzepten (vgl. Erll 2005: 124).

    nahme junger Menschen (mindestens) dieser beiden Nationalitäten dar (vgl. DFJW Richtlinien
    2019: 17). Da der übergreifende Auftrag des Jugendwerks in der Vermittlung/Verbindung spezi-
    ell der Bürger*innen der deutschen und der französischen Nation im Nachgang zu belastenden
    Kriegserlebnissen miteinander in der Vergangenheit besteht, ist die Differenzierung in die beiden
    obligatorischen Gruppen der Teilnahme schon vorgegeben. Dies schließt aber nicht aus, dass in
    den geförderten Projekten auch interkulturelle Erfahrungen im intranationalen Kontakt eine Rolle
    spielen oder nationalkulturelle Unterschiede von religionsspezifischen, geschlechtsspezifischen oder
    anderen strukturkategoriellen Differenzen überlagert oder begleitet werden.
2   Vgl. https://www.dfjw.org/forschung-und-evaluierung/100-jahre-erster-weltkrieg-100-projekte-fur-
    den-frieden-in-europa.html, Stand: 13.04.2020.

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12       Diemut König, Simone Odierna, Laurent Jalabert und Nicolas Czubak

     Antoine Prost (1996: 305)3 zieht dazu folgendes Resumée:
       Letzten Endes macht der Historiker die Geschichte, die die Gesellschaft
       von ihm verlangt; wenn nicht, wendet sie sich von ihm ab. Nun verlan-
       gen unsere Zeitgenossen aber eine Geschichte der Erinnerung, der Identi-
       tät, eine Geschichte, die sie von der Gegenwart ablenkt und von der sie be-
       wegt sein können oder sich über sie empören. Wenn der Historiker dieser
       Forderung nicht nachkommt, begibt er sich selber in den akademischen El-
       fenbeinturm.

Erinnern, wie in diesem Band bei Laurent Jalabert ausgeführt, versteht sich stets
im Kontext der Konstruktionsleistung von Geschichte als erzählte Geschichte, aber
auch bspw. als Nationalmythos transportiert über Gedenken als Praktik des Ver-
gegenwärtigens von Vergangenem (vgl. König 2020) und über Bildung als die be-
schriebene Geschichte und stets als eine mögliche Selektion von Berichtenswertem
(vgl. Odierna in diesem Band).4 Bei interkulturellen Forschungsarbeiten ist also
eine stärkere Berücksichtigung zweier Komponenten notwendig: „zum einen [von]
mehr Elemente[n] oder Sektoren des kulturellen Systems und zum anderen [der]
‚situativen Faktoren‘, [der] Kontexte“ (Roth 2004: 121), um ein umfassenderes Ver-
stehen des Geschehens bei interkulturellen Interaktionen zu erlangen.
    Zusammenfassend bedeutet Kontext hier also die spezifische Situation, die si-
tuativ beteiligten Faktoren oder, anders ausgedrückt, die Umweltfaktoren bzw. das
so genannte Setting einer Interaktion, die Roth innerhalb einer interkulturellen In-
teraktion wirksam auf drei Ebenen vertreten sieht: einer Makro-, Meso- und Mi-
kroebene. Auf der „das Ereignis unmittelbar umgebende[n] [..] Mikroebene […]
kommen schließlich nicht nur die konkreten zeitlich-räumlichen Umstände der
konkreten Interaktionen [..], sondern auch die individuellen Charaktere der Akteu-
re, ihre Werthaltungen, Vorstellungen, Erfahrungen, Stimmungen und Gefühle zum
Tragen“ (ebd.: 127), also die Betrachtung der Situation auf interpersoneller Ebe-
ne. Der Makrokontext entspricht dagegen allen „sozio-kulturelle[n], historische[n],
rechtliche[n], ökonomische[n] und politische[n] Rahmenbedingungen“ (vgl. ebd.:
127), in die eine Interaktion eingebettet ist, während der Mesokontext die Bedeu-
tung der Gestaltung einer Interaktion von institutioneller Seite her in den Vor-
dergrund stellt. Diese Ebene sieht Roth für die interkulturelle Interaktion als ent-
scheidend an, da die Rahmenbedingungen der makrogesellschaftlichen Ebene über
Organisationen, Unternehmen, sonstige Gemeinschaften und Gerichts-, Bildungs-,
Freizeit- oder behördliche Institutionen auf der Mesoebene in die konkrete Inter-
aktion getragen werden. „(D)ie jeweiligen institutionstypischen Konventionen und
Codes, Routinen und Rituale, Rollen und Machtverhältnisse“ bestimmen somit „in
meist sehr direkter Form den Rahmen des Handelns“ (ebd.: 127).

3    Übersetzung Hella Beister.
4    Vgl. auch Jalabert in Bezug auf die kritische Betrachtung der Schulbildung in Frankreich, vgl. Kapi-
     tel 1.7 Der Erste Weltkrieg in Schule und Unterricht in Frankreich und Deutschland.

                      © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch.
Einleitung   13

    Wirft man mit dieser Perspektive einen Blick auf die vom DFJW initiierte Pro-
jektreihe, wird deutlich, dass mit den ausgewählten und durch die entsprechenden
Förderungsbedingungen strukturierten Begegnungen ein spezifischer Handlungs-
rahmen, eben ein solches Setting, vorgegeben wird. Das formulierte Ziel der Projekt-
reihe, nämlich den Rahmen zu nutzen, um zivilgesellschaftliches Engagement über
die verschiedenen Herangehensweisen an Themen und Methoden der Friedenser-
ziehung und Erinnerungspädagogik in den einzelnen Projekten zu unterstützen, im-
pliziert die Idee, Interaktionen über die Mesoebene (Rahmen, Setting) und die Mik-
roebene (konkrete Interaktion einzelner Beteiligter) derart zu strukturieren, dass sie
(teilweise) Einfluss auf die Makroebene nehmen könn(t)en, was hieße, gesellschaft-
liche Prozesse anzustoßen. Bei diesem Anspruch stellt sich natürlich zum einen die
Frage nach den Chancen dieses Vorgehens sowie zum anderen nach der Nachhal-
tigkeit. Aufzuzeigen, welche Bedingungen zu Effekten und deren Nachhaltigkeit im
Erleben dieses Wirkungsfeldes von Seiten der Teilnehmenden wie der Durchführen-
den und Organisierenden führen (könnten), war das Ziel dieser Begleitforschung.
    Im vorliegenden Band werden hierzu zunächst die Stränge der (Re-)Konstrukti-
on von Erinnerung und Geschichte zum Ersten Weltkrieg innerhalb Deutschlands
und Frankreichs sowie in der gemeinsamen Bearbeitung der Vergangenheit der bei-
den Länder beleuchtet (Kap. 1). Dabei werden Begriffsklärungen aus verschiedenen
Perspektiven – ‚deutsch‘ und ‚französisch‘, historisch und sozialwissenschaftlich –
vorgenommen und die Konstruktionsleistung von Narrationen der Geschichte und
Erinnerung wird unter verschiedenen Foki analytisch in den Blick genommen. Ne-
ben der historischen Entwicklung erinnerungspädagogischer Ansätze und der ex-
emplarischen Betrachtung der gesellschaftspolitischen Diskurse um Erinnerung und
Gedenken in verschiedenen Kontexten wird eine kritische Perspektive auf die Kon-
struktion schulischer Bildung und deren Rolle im Kontext von Geschichtsschrei-
bung und Deutungshoheiten genommen.
    Wie über die Konfrontation mit dem Fremden insbesondere der eigene (his-
torisch-)kulturelle Hintergrund bewusstwerden kann und im Kontakt Selbst- und
Weltverständnisse irritiert bzw. aktualisiert werden können, soll im Folgenden über
die Begleitforschung der Projekte rekonstruiert werden (Kap. 2, 3 und 4). Bei der
Untersuchung der Projekte wurden nicht ausschließlich Ergebnisse zur (Re-)Kon-
struktion kultureller und historischer Wirklichkeiten erzielt, sondern auch allge-
meingültigere Impulse zur Gestaltung des Rahmens bzw. Kontextes ebensolcher
Projekte generiert. Die Ergebnisse beziehen sich also auf Kontexte außerschulischer
Bildungsarbeit mit interkulturellen, aber auch bildungspolitischen Hintergründen
und liefern Ergebnisse für die Ausgestaltung der Organisation des Zusammenar-
beitens im Hinblick auf Möglichkeiten und Grenzen. Es werden Bedingungen der
Rahmengestaltung ermittelt, die für eine offene und gewinnbringende Auseinan-
dersetzung mit teilweise kontroversen Themen im Sinne einer Unterstützung zur
Demokratiebildung nötig sind. Die Entwicklung einer kritischen, selbstdenkenden
Haltung bei jungen Menschen, wie dies für die Gedenk(stätten)arbeit und politische
Jugendbildung an verschiedenen Stellen bereits im theoretischen Rahmen gefordert

                 © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch.
14     Diemut König, Simone Odierna, Laurent Jalabert und Nicolas Czubak

wurde (vgl. bspw. Knigge 2010: 11), bedarf eben dieser (empirischen) Analyse. Die-
se kann Aufschluss über konstruktive Potenziale geben, auch aus der praktischen
Arbeit/der Praxisreflexion und vor allem aus dem Erleben der tatsächlich Beteilig-
ten: erfahrene Fachkräfte und Ehrenamtliche sowie diejenigen jungen Menschen,
denen die Bildungsarbeit zugutekommen soll. Während Kapitel 2 einen multiper-
spektivischen Gesamteindruck über verschiedenste Begegnungsformate der Pro-
jektreihe „100 Jahre Erster Weltkrieg, 100 Projekte für den Frieden in Europa“ lie-
fert, wird in Kapitel 3 der Forschungsschwerpunkt vor allem auf theatrale Elemente
in der Erinnerungspädagogik gelegt. In Kapitel 4 werden erinnerungspädagogische
Großaktionen im Kontext der Gedenkveranstaltungen zum Ersten Weltkrieg einer
Analyse unterzogen.
    Schließlich werden aktuelle Ansätze und Formen erinnerungspädagogischer Di-
daktik vorgestellt (Kap. 5), deren Weiterentwicklung vor allem vor dem Hinter-
grund schwindender Zeitzeugen an Relevanz gewinnt. Das Mémorial de Verdun als
zentrales Mahnmal des Ersten Weltkrieges mit seinem pädagogischen Konzept wird
dabei als Fallbeispiel eingehend betrachtet.
    Die Schlussbetrachtungen (Kap. 6) münden in den Versuch, diese verschiedenen
Perspektiven und die Ergebnisse sowie Impulse aus den unterschiedlichen analyti-
schen Herangehensweisen zusammenzuführen in der Idee, Aufschluss darüber ge-
ben zu können, in welcher Weise internationale und interkulturelle Begegnungen
Einfluss auf die Konstruktion des Verhältnisses der Einzelnen zu einem Geschichts-
objekt haben (können) und wo die Potenziale der praktischen Erinnerungsarbeit
liegen.

Literatur
Baecker, D. (2003). Wozu Kultur? Berlin: Kulturverlag Katmos.
Dimbath, O. & Heinlein, M. (2015). Gedächtnissoziologie. Paderborn: Ferdinand Schöningh
      (utb).
Erll, A. (2005). Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart,
      Weimar: J.B. Metzler.
Halbwachs, M. (2012 [1985]). Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (4. Aufl.)
      Frankfurt/M.: Suhrkamp. Französische Ausgabe: Halbwachs, M. (1925). Les cadres so-
      ciaux de la mémoire. Paris: Librairie Félix Alcan.
Knigge, V. (2010). Zur Zukunft der Erinnerung. Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ),
      25/26, 10–16.
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Kapitel 1
Deutsche und französische Erinnerungen,
Erinnerungskulturen und Erinnerungspädagogik

1.1 Der Erste Weltkrieg – Erinnern, Erinnerungskultur
    und Erinnerungspädagogik in Deutschland
Simone Odierna

                                                         Denk an die Tage der Vergangenheit,
                                                         lerne aus den Jahren der Geschichte!
                                                    Frag deinen Vater, er wird es dir erzählen,
                                                       frag die Alten, sie werden es dir sagen.
                                                    Dtn 32,7 (zitiert nach Mannheimer, 2007)

1.     Einführung

Zur Annäherung an die Erinnerungspädagogik in Deutschland in Bezug auf den
Ersten Weltkrieg ist es nötig, die der Erinnerungspädagogik zu Grunde liegenden
Begriffe zu klären. Einführend sollen daher die Begriffe des „Erinnerns und Verges-
sens“, der „Erinnerung“, der „Kollektiven Erinnerung“, des „Kollektiven Gedächt-
nisses“, der „Erinnerungskultur“ sowie „Erinnerungspädagogik“ vorgestellt und be-
trachtet werden. Anschließend wird auf die spezielle Situation von „Erinnern“ und
„Erinnerungskultur“ in Deutschland in Bezug auf den Ersten Weltkrieg in den ver-
schiedenen Phasen der politischen Entwicklung vom Kriegsbeginn über die Weima-
rer Republik, Nazideutschland, die Nachkriegszeit, beide deutsche Staaten und die
Zeit nach der Wiedervereinigung in sehr konzentrierter Form eingegangen.
    Es folgt eine kurze Einführung zur Didaktik der Erinnerungspädagogik. Ab-
schließend werden Aspekte einer Didaktik des fruchtbaren Moments in der Erinne-
rungspädagogik vorgestellt.1
    Wichtig für unser Projekt ist es auch, in die Zukunft der Erinnerungspädagogik
zu blicken, um das Lernen aus der Vergangenheit zu ermöglichen.
       … Nach hundert Jahren steht die Geschichtserinnerung auf dem Prüfstand:
       Man schaut nicht nur zurück auf die Ereignisse der Geschichte, sondern
       auch voraus in die Zukunft dieser Erinnerung und macht sich Gedanken
       über ihre Bedeutung, ihre Formen und ihre Dauer (Assmann 2018: 94).

1    Diese werden in Kapitel 3 „The war to end all wars? The First World War in an European theatre of
     peace“. Ein trinationales Theaterprojekt mit weiteren Beispielen aus der Forschung veranschaulicht.

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18       Simone Odierna

Die damit zusammenhängenden Themen – vor allem neue Formen und Methoden
der Erinnerungspädagogik und ihrer Didaktik – werden in Kapitel 5 vorgestellt.

2.     Wesentliche Begriffe

In der folgenden Passage werden die für die theoretische Rahmung unserer Unter-
suchung wesentlichen Begriffe vorgestellt.

Erinnern
Etymologisch bedeutet das Verb „erinnern“: „ins Gedächtnis zurückrufen“, „mah-
nen“, „aufmerksam machen“ (vgl. Pfeifer 2018: 294). In Abgrenzung zum Prozess
des Vergessens geht es beim Erinnern darum, etwas ins Gedächtnis zurückzuholen.
Allerdings beinhaltet erinnern auch immer, dass selektiv aufmerksam gemacht wird.
Nie wäre es einer Person möglich, alle Perspektiven eines Geschehnisses nochmals
abzurufen.2
    Wir holen also mit dem Prozess des Erinnerns etwas in das Gedächtnis zurück,
was ansonsten verloren ginge. Wir können das Ziel haben, uns an etwas Schönes zu
erinnern, was wir noch einmal nachempfinden möchten. Das können z. B. Situatio-
nen in der Familie oder im Freundeskreis irgendwann im Lebenslauf sein. Handelt
es sich dagegen um Kriegsereignisse, so haben wir das Ziel, zu mahnen und auf et-
was aufmerksam zu machen, was sonst nicht beachtet, nicht bearbeitet würde.
    Erinnerung ist nach einem heftigen militärischen Konflikt und einer schmerzli-
chen Niederlage nicht immer die beste Strategie – Vergessen und Versöhnung kön-
nen die unerwünschten Rückwirkungen (wie Rache, weitere Eskalationen) für eine
gewisse Zeit besser verhindern. Die Geschichte/überlieferte Erzählungen liefern für
diese durchaus gängige Praxis des (verordneten) Vergessens/Verdrängens zahlreiche
Beispiele:
    Bereits im Tanach (Hebräische Bibel), dem Neuen Testament in der Bibel und
im Koran wird die Geschichte von Lots Frau erzählt. Engel bzw. Allah unterstützten
Lot und seine Familie bei der Flucht aus Sodom, welches zerstört wird. Entgegen
des Verbotes der Engel/Allahs dreht Lots Frau sich trotz der Todesdrohung um und
erstarrt zur Salzsäule (vgl. Der Grosse Brockhaus 1955: 326). Diese Bibel- bzw. Ko-
ranpassagen könnten als Bild dafür interpretiert werden, sich in schrecklichen Situ-
ationen nicht zu erinnern, nicht „zurückzusehen“ (vgl. auch Bibel: Mose: 13, Mose:
18, Mose: 19, Lukas: 17:28–32, Petrus: 2 6–8 und Koran 7:83, 11:81, 15:60, 26:171,
27:57, 29:32).

2    Eine Ausnahme stellt eine Form des Autismus dar, die sich durch die Inselbegabung einer außer-
     gewöhnlichen Erinnerung auszeichnet.

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Der Erste Weltkrieg – Erinnern, Erinnerungskultur und Erinnerungspädagogik in Deutschland       19

   In Athen wurde nach dem athenischen Bürgerkrieg eine Befriedungspraxis ver-
ordnet, die dazu diente, zu vermeiden „im öffentlichen Diskurs an alte Wunden zu
rühren, um mit dem wiederaufleben lassen von altem Schmerz und Hass neue Res-
sentiments und Aggressionen zu schüren“ (Assmann 2018: 41).
      Dort wurde für diese Norm des Vergessens sogar ein neues Wort gebildet.
      ‚Mnédikakein‘ heißt wörtlich ‚das Schlimme erinnern‘ und entspricht in der
      athenischen Rechtssprache einem Erinnerungsverbot-als-Kommunikations-
      verbot und damit einem Akt der öffentlichen Zensur im Namen des Ge-
      meinwohls (ebd.).

So verweist Leggewie (2017) im Film „Nachlass“ in der Passage „Über das Verges-
sen“ darauf hin, dass eine kollektive Amnestie und Amnesie des algerisch-franzö-
sischen Krieges verordnet wurde. Selbst Historiker*innen durften die Akten nicht
einsehen. Teilweise seien Dinge bis heute unter Verschluss.
    Diese Sorte des „kollektiven Vergessens“ sei völlig falsch: Folterer seien so da-
vongekommen. Eine ganze Generation junger Männer, die gegen den sog. „Antiter-
rorismus“ gekämpft und die teilweise auch gefoltert hätten, lebte mit einem Trauma,
das sie das ganze Leben begleitete.
    Leggewies Schlussfolgerung ist, dass die Fähigkeiten von Gesellschaften, sich
mit der Gegenwart und Zukunftsproblemen zu befassen, von der Selbstreflexion
der eigenen Fehler abhängen. Wichtig sei für Gesellschaften jedoch auch, sich ih-
rer Erfolgsbilanz und den eigenen Werten zu stellen und zu sehen, was sie aufge-
baut haben. Beides seien Ressourcen für die Problemlösung und Urteilskraft, um
mit Nüchternheit und Phantasie in der Gegenwart ein Narrativ für die Zukunft zu
entwickeln.
    In Frankreich im 19. und Deutschland im 20. Jahrhundert wurde die ständig
aufrechterhaltene Erinnerung an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71
und den Ersten Weltkrieg politisch genutzt. In Frankreich führte der Gedanke der
„Erniedrigung Frankreichs durch die Deutschen“ zu einer Stimmung, welche die
politische Vorbereitung des Ersten Weltkriegs begünstigte. Die Erinnerung an die
„Erniedrigung Deutschlands“ durch den Vertrag von Versailles in der Weimarer Re-
publik war ein politisch genutzter Faktor der medial unterstützten Manipulation3
der Bevölkerung und unterstützte damit die Entwicklung hin in den Zweiten Welt-
krieg4 (vgl. ebd.: 38ff.).

3   Vgl. Erll 2017, Kapitel 5: Medien und Gedächtnis.
4   Die anderen, besonders die ökonomischen und politischen Faktoren können in diesem Rahmen
    leider nicht ausgeführt werden, auch wenn sie aus Sicht der Autorin von höchster Relevanz sind.

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20       Simone Odierna

Erinnerung

Der Begriff der Erinnerung wird in der Literatur als individueller oder auch als kol-
lektiver Prozess gefasst. Dieser Prozess findet auf verschiedenen Ebenen statt (emo-
tional, kognitiv …), die sich wechselseitig beeinflussen. So spielen individuelle Er-
innerungen eine Rolle für die kollektive Wahrnehmung vergangener Ereignisse,
ebenso beeinflussen kollektive Erinnerungsmuster die Rezeption der Geschehnis-
se beim Einzelnen.
       Erinnerung bezeichnet die Gesamtheit aller Perspektiven auf und Reprä-
       sentationen von Vergangenheit, die ein Individuum oder eine soziale Grup-
       pe aufgrund ihrer spezifischen soziokulturellen Position charakterisieren.
       Weil sie (die Erinnerung, Anm. der Autorin) wesensgemäß subjektiv ist,
       liegen ihr Affekte und Emotionen zu Grunde, die sie folglich vielfältig und
       veränderbar werden lässt (DFJW/OFAJ 2015: 10).

Erinnerung kann auch als „Akt des individuellen und gemeinschaftlichen Sich-Er-
innerns“ (Gilzmer & Kmec 2016: 6) gefasst werden. Dann ist Erinnern
       nicht als ein Zugreifen auf und Zurückgreifen in die Vergangenheit oder
       gar als Wiederherstellung, Restitution bzw. ‚Wieder-holung‘ von etwas Frü-
       herem, sondern vielmehr als prozessuale Etablierung eines Erlebnisbereichs
       ganz eigener Art zu verstehen, der den kognitiven Bereich eben um memo-
       riale Prozesse erweitert (Reisigl, zitiert nach Gilzmer & Kmec 2016: 6, vgl.
       auch Halbwachs 2016: 163ff.).

Memoriale Prozesse sind auf der neurobiologischen Ebene beeinflusst von Gefüh-
len und Hormonen, welche die Repräsentanz im Gehirn sowie die spätere Abruf-
barkeit bedingen (vgl. McGaugh, zitiert nach Gilzmer & Kmec 2016: 8). Wie diese
Repräsentanz später erfolgt, ist davon geprägt, welche Gefühle (große Angst, Freu-
de, oder auch Neutralität) mit den zu speichernden Sachverhalten/Erlebnissen ver-
bunden sind.

Kollektive Erinnerung – kollektives Gedächtnis – kulturelles Gedächtnis
Was verstehen die Akteur*innen der wissenschaftlichen Diskussion unter den Be-
griffen kollektive Erinnerung – kollektives Gedächtnis – kulturelles Gedächtnis?
    Die Forschung ist vorrangig beeinflusst durch den französischen Soziologen
Maurice Halbwachs5 und Aby Warburg, Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler,
der die Bildikonographie untersuchte.

5    Halbwachs „war gerade zum Professor am Collège de France berufen worden, was ihm erlauben
     sollte, fast seine ganze Zeit der Forschung zu widmen“ (Halbwachs 1991: 18). Er „wurde bei einem
     Gegenschlag gegen die Aktivität seiner Söhne und seiner Freunde, die der Résistance angehörten
     – deren Tätigkeit er aus seinem Gewissen als freier Mensch billigte – von der Gestapo verhaftet“
     (ebd.). Halbwachs wurde mit seinem jüngsten Sohn deportiert und starb im KZ Buchenwald im
     Februar 1945 (ebd.: 19).

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Der Erste Weltkrieg – Erinnern, Erinnerungskultur und Erinnerungspädagogik in Deutschland        21

   Von Maurice Halbwachs wurde der Begriff der mémoire collective, des „kollekti-
ven Gedächtnisses“ entwickelt.
      Es handelt sich dabei zum einen um die sozial bedingt entwickelte, indi-
      viduelle Erinnerung, die u. a. durch die Familie und andere soziale Wesen
      mitgeprägt werden sowie zum zweiten um durch Kommunikation entwi-
      ckeltes, kollektives „Wissen über Daten und Fakten, kollektive Zeit- und
      Raumvorstellungen sowie Denk- und Erfahrungsströme“ (Erll 2017: 13).

Es werden zu Halbwachs’ Begriff der mémoire collective drei Bereiche unterschie-
den:
• die Theorie zur sozialen Bedingtheit individueller Erinnerung
• die Untersuchungen zu Formen und Funktionen des zwischen den Generationen
  gebildeten Gedächtnisses
• seine Ausweitung des Begriffs des kollektiven Gedächtnisses auf die Bereiche kul-
  tureller Überlieferung und Traditionsbildung
  (vgl. Erll 2017: 12)

Der Begriff des „kollektiven Gedächtnis“ (vgl. Halbwachs 2016) spricht eine Erinne-
rung an, die nicht privat im Kreise der Familie angesprochen wird, sondern dauer-
hafter ist, weil sie kulturell befestigt worden ist.
    Halbwachs entwickelt in seinem Werk „Das Gedächtnis und seine sozialen Be-
ziehungen“ (1925) in der Analyse von kollektivem Familiengedächtnis, dem Kollek-
tivgedächtnis sozialer Gruppen und der gesellschaftlichen Klassen und ihrer Tradi-
tionen die sozialen Rahmungen der kollektiven Erinnerungen (Halbwachs 2016).
    Voraussetzung für die Entwicklung seines Modells sind die Analyse des Trau-
mes und der Erinnerungsbilder, die Untersuchung von Sprache und Gedächtnis so-
wie die Untersuchung der Rekonstruktion von Vergangenheit in verschiedenen Ge-
nerationen.
    Im Kapitel zur Lokalisierung von Erinnerungen werden das Wiedererkennen
und die Lokalisierung von Erinnerungen beschrieben. Halbwachs erklärt darin
auch, warum „frische Erinnerungen“ behalten werden und erläutert die Wichtig-
keit und die Rolle von Assoziationen, diese bieten für die Erinnerungspädagogik
Möglichkeiten der Anknüpfung und ermöglichen die innere Verortung der Erinne-
rung neben benachbarten (vgl. Beispiel in Halbwachs 2016: 178ff.). Anschließend
bestimmt er die gesellschaftlichen Gruppen, die als Träger des kollektiven Gedächt-
nisses wirken.
    Er beschreibt jedoch auch die Wandlungen der sozialen Gruppen und ihrer kol-
lektiven Erinnerungen durch die Veränderungen in Gesellschaften. Es besteht eine
zeitliche Begrenztheit der kollektiven Erinnerungen, die nur solange existieren, wie
die Gruppen in der Gesellschaft bestehen.6

6   An dieser Stelle wäre es interessant, sich mit der Herausbildung des deutschen Nationalismus und
    der Prägung des Narrativs von der „Erbfeindschaft Frankreichs und Deutschlands“ vorwiegend seit
    dem Ende des 18. Jahrhunderts und im Zuge der Romantik zu beschäftigen. Zu nennen sind Ver-

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22       Simone Odierna

       Die Gruppen und die einzelnen existieren aber in zeitlicher Dauer und las-
       sen ihre Spur im Gedächtnis der Menschen zurück. Es gibt in diesem Sin-
       ne keine soziale Idee, die nicht zugleich eine Erinnerung der Gesellschaft
       wäre. (…) Jede Persönlichkeit und jedes historische Faktum wird schon bei
       seinem Eintritt in dieses Gedächtnis in eine Lehre, einen Begriff, ein Sym-
       bol transponiert; es erhält einen Sinn, es wird zu einem Element des Ideen-
       systems der Gesellschaft. So erklärt es sich, daß die Traditionen und die
       gegenwärtigen Ideen übereinstimmen können: nämlich weil die aktuellen
       Ideen in Wirklichkeit auch Traditionen sind, und weil die einen wie die an-
       deren sich gleichzeitig und mit gleichem Recht auf ein älteres oder jüngeres
       Leben der Gesellschaft berufen, in dem sie gewissermaßen ihre Schwung-
       kraft erhalten haben (Ebd.: 389f.).

In den 1980er Jahren wird in der Forschung das Gedächtnisthema neu aufgenom-
men.
       Pierre Noras lieux de mémoire hat sich dabei als das international einfluss-
       reichste Konzept erwiesen. Aleida und Jan Assmann haben einige Jah-
       re darauf mit dem ›kulturellen Gedächtnis‹ ein Konzept vorgelegt, das im
       deutschsprachigen Raum das wirkungsvollste und im internationalen Ver-
       gleich das am detailliertesten ausgearbeitete ist (Erll 2017: 11).

Wichtig für die Erinnerung sind „Orte der Erinnerung“ (Nora 1990), die man auch
als „Anker der Erinnerung“ bezeichnen könnte. Dies sind Denkmäler, Feiern, Ritu-
ale, Romane und/oder Symbole (z. B. die Red Poppies7 als Symbol für die gestorbe-
nen englischen Soldaten im ersten Weltkrieg).
    Das Symbol der Mohnblumen wurde angesichts des 100. Jahrestags des En-
des des Ersten Weltkriegs auch in Deutschland zur Erinnerung an das Kriegsen-
de genutzt. Im November 2018 fand zur Erinnerung an das Ende des Ersten Welt-
kriegs auf dem Münchner Königsplatz eine Kunst- und Friedensinstallation mit
3.000 Mohnblumen des Aktionskünstlers Walter Kuhn statt.8 Ein temporärer Erin-
nerungsort oder -raum, der den Münchner*innen ein Anker der Erinnerung sein
wird.
    Aleida Assmannn nennt die „Orte der Erinnerung“ „Erinnerungsräume“ (Ass-
mann 2018).

     treter*innen ausgehend vom politischen Prediger Schleiermacher über Kleist, Schiller, den Turn-
     vater Jahn bis hin zum Freiherrn von Stein und auch der entstehenden Frauenbewegung bis zu
     Bismarck. Dieser nutzte das Narrativ, um ausgehend von der verkürzten Nachricht aus der Emser
     Depesche (Telegramm von König Wilhelm I.) den Krieg 1870/1871 zu beginnen. Im Rahmen die-
     ser Veröffentlichung ist es leider nicht möglich, dies näher auszuführen und zu beleuchten. Es wird
     verwiesen auf Planert 2004: 11ff. und Wehler 2011: 62ff.
7    Info z. d. Red Poppies vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Poppy
8    niemalswieder.com/der-künstler

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Der Erste Weltkrieg – Erinnern, Erinnerungskultur und Erinnerungspädagogik in Deutschland   23

      In den Lieux de mémoire (…) legt Nora die Voraussetzungen dar, die ein
      Ereignis oder Gegenstand erfüllen muss, um als Erinnerungsort bezeich-
      net zu werden. Ihm zufolge können drei Dimensionen der Erinnerungsor-
      te unterschieden werden: eine materielle, eine funktionale und eine symbo-
      lische (…) (Nora, zitiert nach: Erll 2017: 21).

Unter der materiellen Dimension wird verstanden, dass es sich bei dem Ort, dem
Gemälde oder auch den Schweigeminuten um „kulturelle Objektivationen“ im wei-
testen Sinne handelt. Die funktionale Dimension besagt, dass diese Objektivationen
in einer Gesellschaft einen Sinn erfüllen müssen, zum Beispiel eine Erinnerung ins
Gedächtnis rufen. Die symbolische Funktion bedeutet, dass z. B. Handlungen zu Ri-
tualen oder Orte zum Gedächtnisort (Verdun, Dachau, Auschwitz) und damit sym-
bolisch überhöht werden (vgl. ebd.).
    Gedächtnisorte sind nach Nora:
      zunächst einmal Überreste (…). Museen, Archive, Friedhöfe und Samm-
      lungen (…) sind die Zeugenberge eines anderen Zeitalters, Ewigkeits-
      illusionen. (…)
      Die Gedächtnisorte entspringen und leben aus dem Gefühl, daß es kein
      spontanes Gedächtnis gibt, daß man Archive schaffen, an den Jahresta-
      gen festhalten, Feiern organisieren, Nachrufe halten, Verträge beim No-
      tar beglaubigen lassen muß, weil diese Operationen keine natürlichen sind.
      (…) Ohne die Wacht des Eingedenkens fegte die Geschichte sie bald hin-
      weg. Wäre aber das, was sie verteidigen, nicht bedroht, so bräuchte man sie
      nicht zu konstruieren. Lebte man die in sie eingeschlossenen Erinnerungen
      wirklich, so wären sie unnütz (Nora 1990: 17).

Hier weist Nora darauf hin, dass Erinnerungsorte die Eigenschaft haben, anzumah-
nen, dass „da noch etwas ist“, was die Gesellschaft nicht tatsächlich eingelöst hat:
z. B. Frieden tatsächlich zu leben.
    Erll definiert Erinnerungsorte wie folgt:
      (…) ›Erinnerungsorte‹ Sie sind in der Tradition der antiken Mnemotech-
      nik als loci im weitesten Sinne zu verstehen, (…) Sie können geographische
      Orte, Gebäude, Denkmäler und Kunstwerke ebenso umfassen wie histori-
      sche Persönlichkeiten, Gedenktage, philosophische und wissenschaftliche
      Texte oder symbolische Handlungen (Erll 2017: 20).

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24      Simone Odierna

Damit schließt Erll an einen Begriff von Ort bzw. Raum an, der nicht ausschließlich
geographisch verstanden wird, sondern vor allem auch als kommunikativ bzw. sym-
bolisch hergestellt.9, 10

Kollektive Erinnerung – kulturelles Gedächtnis
Unter kollektivem Gedächtnis verstehen Aleida und Jan Assmann zwei Gedächtnis-
Rahmen: das kommunikative Gedächtnis und das kulturelle Gedächtnis (vgl. Ass-
mann 1992: 56 und Assmann, 2002, 2006, 2007). Ersteres entsteht in der Alltags-
interaktion und bezieht sich auf einen Zeitraum von bis zu ca. 100 Jahren. Es ist
veränderlich und es beinhaltet keinen festen Bedeutungszusammenhang. Das kul-
turelle Gedächtnis dagegen ist „eine an feste Objektivationen gebundene, hochgra-
dig gestiftete und zeremonialisierte, v. a. in der kulturellen Zeitdimension des Festes
vergegenwärtigte Erinnerung (Erll 2017: 25)“. Das kulturelle Gedächtnis wird getra-
gen von dazu ausgebildeten Spezialisten (Schamanen, Priester, Historiker etc.), wel-
che es interpretieren, wahren und seine Kontinuität fördern (vgl. ebd.).
    In dem 1988 erschienenen Aufsatz „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Iden-
tität“ prägt Jan Assmann den Begriff ‚kulturelles Gedächtnis‘ und definiert ihn wie
folgt:
      Unter dem Begriff kulturelles Gedächtnis fassen wir den jeder Gesellschaft
      und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten,
      -Bildern und -Riten zusammen, in deren ›Pflege‹ sie ihr Selbstbild stabili-
      siert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht
      ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusst-
      sein von Einheit und Eigenart stützt (Assmann 1988: 15).

Das kommunikative Gedächtnis entsteht durch die Interaktion im Alltag, es be-
inhaltet Geschichtserfahrungen der Menschen. Daher bezieht es sich auf den Erin-
nerungshorizont der Lebenden, d.h. auf ca. 80 bis 100 Jahre. Die Inhalte des kom-
munikativen Gedächtnisses hängen von den Akteur*innen ab. Das kommunikative
Gedächtnis ist bei Jan Assmann Teil der „Oral History“. Jan und Aleida Assmann
benutzen den Begriff als „Oppositionsbegriff “ zum kulturellen Gedächtnis. Dieses
steht im Fokus ihrer Arbeiten.

9  Ein Beispiel dafür ist das Werk des Künstlers Jochen Gerz Le monument vivant de Biron. Dort wird
   eine geheime Frage gestellt und die Antwort anonym auf dem Denkmal der Gefallenen beider
   Weltkriege im Dorf angebracht. Es geht darum, miteinander zu kommunizieren, in Kontakt zu blie-
   ben, nicht zu vergessen.
   https://www.jochengerz.eu/works/le-monument-vivant-de-biron
   https://fr.wikipedia.org/wiki/Le_Monument_vivant_de_Biro
   https://taz.de/!1447370/
   https://books.google.de/books?id=BGAWBQAAQBAJ&printsec=frontcover&dq=Hans+Dickel+Jo
   chen+gerz&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwj06qPnmbzkAhXM66QKHdfbAGYQ6AEIKTAA#v=one-
   page&q=%20gerz&f=false
10 Vgl. auch Schlitte & Hünefeldt, 2017.

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