EIN NEUES VERSTÄNDNIS VON ENTKRIMINALISIERUNG - DROGENPOLITIKREFORM: BERICHT 2016

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EIN NEUES VERSTÄNDNIS VON ENTKRIMINALISIERUNG - DROGENPOLITIKREFORM: BERICHT 2016


DROGENPOLITIKREFORM:

EIN NEUES VERSTÄNDNIS
VON ENTKRIMINALISIERUNG

BERICHT 2016

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EIN NEUES VERSTÄNDNIS VON ENTKRIMINALISIERUNG - DROGENPOLITIKREFORM: BERICHT 2016
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DIE KOMMISSIONSMITGLIEDER

     KOFI ANNAN                                         ALEXANDER KWASNIEWSKI
     Vorsitzender der Kofi Annan Foundation und         Ehemaliger Präsident von Polen
     ehemaliger Generalsekretär der Vereinten
     Nationen, Ghana

     LOUISE ARBOUR                                      RICARDO LAGOS
     Ehemalige UN-Hochkommissarin für                   Ehemaliger Präsident von Chile
     Menschenrechte, Kanada

     PAVEL BÉM                                          OLUSEGUN OBASANJO
     Ehemaliger Oberbürgermeister von Prag,             Ehemaliger Präsident von Nigeria
     Tschechische Republik

     RICHARD BRANSON                                    GEORGE PAPANDREOU
     Unternehmer, Gründer der Virgin Group,             Ehemaliger Ministerpräsident von Griechenland
     Mitbegründer von The Elders, Vereinigtes
     Königreich

     FERNANDO HENRIQUE CARDOSO                          JORGE SAMPAIO
     Ehemaliger Präsident von Brasilien                 Ehemaliger Präsident von Portugal

     MARIA CATTAUI                                      GEORGE SHULTZ
     Ehemalige Generalsekretärin der Internationalen    Ehemaliger Aussenminister, Vereinigte Staaten
     Handelskammer, Schweiz                             (Ehrenvorsitz)

     NICK CLEGG                                         JAVIER SOLANA
     Ehemaliger stellvertretender Premierminister,      Ehemaliger Generalsekretär für die Gemeins-
     Vereinigtes Königreich                             ame Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) der
                                                        Europäischen Union, Spanien

     RUTH DREIFUSS                                      THORVALD STOLTENBERG
     Ehemalige Bundespräsidentin und Vorsteherin        Ehemaliger Aussenminister und UN-
     des Eidgenössischen Departements des Innern,       Hochkommissar für Flüchtlinge, Norwegen
     Schweiz (Vorsitz)

     CESAR GAVIRIA                                      MARIO VARGAS LLOSA
     Ehemaliger Präsident von Kolumbien                 Schriftsteller und Intellektueller, Peru

     ANAND GROVER
     Ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für das       PAUL VOLCKER
     Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare      Ehemaliger Vorsitzender der Notenbank der
     Höchstmass an körperlicher und geistiger Ge-       Vereinigten Staaten und des Economic Recovery
     sundheit, Indien                                   Advisory Board, Vereinigte Staaten

     ASMA JAHANGIR                                      ERNESTO ZEDILLO
     Ehemalige UN-Sonderberichterstatterin über         Ehemaliger Präsident von Mexiko
     willkürliche, aussergerichtliche und summarische
     Hinrichtungen, Pakistan

     MICHEL KAZATCHKINE
     Ehemaliger Geschäftsführer des Globalen Fonds
     zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und
     Malaria, Frankreich

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INHALT
VORWORT DER VORSITZENDEN                                                              7

KURZFASSUNG                                                                           9

VON DER PROHIBITION ZUR ENTKRIMINALISIERUNG:
EINE KURZE BETRACHTUNG DER GESCHICHTE                                                11

1. DAS SCHEITERN DER PROHIBITION                                                     12
   1.   Mit strafrechtlichen Massnahmen gegen Drogen:
   		   nach eigenen Massstäben gescheitert                                          13
   2.   Untergrabung des Rechts auf Privatsphäre                                     13
   3.   Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit                                         15
   4.   Menschenrechts-verletzungen unter dem internationalen Drogenkontrollregime   16
   5.   Drogenstrafgesetze und Volksgesundheits-krisen                               17
   6.   Drogenstrafgesetze und ihre Auswirkungen auf überfüllte Gefängnisse          18
   7.   Drogengesetze als Instrumente sozialer Kontrolle                             19
   8.   Die Konsequenzen eines Strafregistereintrags                                 19
   9.   Die Kriminalisierung von Drogenbesitz und Drogenkonsum beenden               20

2. DIE VORTEILE EINER SORGFÄLTIG
   UMGESETZTEN ENTKRIMINALISIERUNG                                                   21
   1.   Entkriminalisierung: falsch verstanden und unzulänglich umgesetzt            22
   2.   Entkriminalisierung und verbesserte Volksgesundheit                          22
   3.   Entkriminalisierung und positive soziale und finanzielle Ergebnisse          24
   4.   Über bestehende Modelle hinaus:
   		   warum der Konsum und Besitz von Drogen nicht bestraft werden sollte          25

3. ÜBER DEN BESITZ HINAUS: ALTERNATIVEN ZUR
   BESTRAFUNG KLEINER AKTEURE IM DROGENHANDEL                                        26
   1.   Dealen im sozialen Umfeld und „User-Dealer“                                  28
   2.   Drogenkuriere                                                                28
   3.   Drogenbauern und die negativen Folgen der Anbauzerstörungspolitik            29

4. DROGENMÄRKTE REGULIEREN:
   DER LOGISCHE NÄCHSTE SCHRITT                                                      32

5. EMPFEHLUNGEN                                                                      34

6. ERFAHRUNGSBERICHTE                                                                36

REFERENZEN                                                                           44

DANKSAGUNGEN                                                                         50

WEITERE QUELLEN                                                                      51

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21. Juli 2016: Insassen des Gefängnisses Quezon City in Manila schlafen nachts auf den Stufen
6   einer Treppe. Das Gefängnis, das vor sechzig Jahren für 800 Insassen gebaut wurde, beher-
    bergt 3’800 Menschen. © Noel Celis/AFP/Getty Images
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VORWORT DER VORSITZENDEN
Seit der Veröffentlichung des ersten Reports der Weltkom-       erhalten, bräuchten aber eigentlich Behandlung und soziale
mission 2011 hat die Weltdrogenpolitik einen erheblichen        Integration. Ausserdem rechtfertigt die Prohibition die
Wandel durchgemacht, und zwar in Bezug auf den öffent-          Kriminalisierung von Menschen, die keine Gefahr für andere
lichen Diskurs, die wissenschaftlichen Erkenntnisse und         darstellen und bestraft jene, die leiden. Sie schränkt zudem
die politische Umsetzung. Eine steigende Zahl von Lokal-        die wissenschaftliche Erforschung möglicher medizinischer
behörden versucht den Cannabismarkt mit verschiedenen           Verwendungszwecke illegaler Substanzen ein und erschwert
Massnahmen zu regulieren und viele führen Alternativen zur      die Verschreibung von Schmerzmitteln und palliativen Me-
Kriminalisierung von Drogenkonsumierenden ein. Ausser-          dikamenten.
dem werden vermehrt – wenn auch noch nicht genügend
– Opioid-Substitutionstherapien und Schadensminderungs-         Bei einer so grossflächigen Missachtung von unsinnigen
massnahmen wie Nadel- und Spritzenaustauschprogramme,           Drogengesetzen untergräbt ein strafrechtlicher Ansatz in
überwachte Injektionsräume und Anlaufstellen für Drogen-        der Drogenkontrolle die Beziehung zwischen dem Bürger
tests eingeführt. Die Regierungen anerkennen die Notwen-        und dem Staat tiefgreifend. Leider halten die meisten Re-
digkeit für ein gesundheits- und menschenrechtsorientiertes     gierungen nach wie vor am Ziel einer „drogenfreien Welt“
Vorgehen. Dieser Wandel ist höchst willkommen. Es findet        oder einer „Welt ohne Drogenmissbrauch“ fest, wie sie in
offensichtlich eine Drogenpolitikreform statt.                  den internationalen Drogenabkommen festgeschrieben
                                                                sind. Diese Zielsetzungen sind naiv und gefährlich. Naiv,
Nun ist es aber an der Zeit, ganz grundsätzlich zu hinter-      weil die Prohibition bisher nur geringen oder gar keinen
fragen, wie Drogen und Drogenkonsumierende in der               Einfluss auf den Drogenkonsum hatte, mit einem Anstieg
Gesellschaft wahrgenommen werden. Psychoaktive Sub-             der Konsumierenden von 2006 bis 2013 von fast 20 Prozent
stanzen haben die Menschheit in ihrer Geschichte schon          auf 246 Millionen Menschen; gefährlich, weil die Prohibition
immer begleitet. Einige sind vielerorts rechtlich akzeptiert,   völkerrechtswidrigen Masseninhaftierungen und Hinrich-
wie Alkohol und Tabak; andere gelten als Arzneimittel und       tungen Vorschub leistet, die Verbreitung von durch Blut
werden medizinisch verschrieben und wieder andere, im
Zusammenhang mit unerlaubtem Konsum als „Drogen“
bezeichnete, sind unter den internationalen Abkommen
verboten. Die grosse Mehrheit der Menschen konsumiert
diese Substanzen auf verantwortungsvolle Weise. Es gibt
aber auch jene, die Gefahr laufen, ihrer Gesundheit zu
schaden und soziale und berufliche Schwierigkeiten zu
bekommen. Die Illegalität der Drogen setzt die Konsumie-
renden aber viel grösseren Risiken aus: Sie müssen sich
auf einen kriminellen Markt einlassen – der sie abhängig
machen und den grösstmöglichen Profit einfahren will – und
riskieren repressive Massnahmen. Diese Kombination von
rechtswidrigem Angebot und Kriminalisierung ist besonders
grausam und entwürdigend für Menschen, die abhängig
geworden sind, und für jene, die sich Drogen als Selbstme-
dikation für körperliche oder seelische Leiden zuführen. Die
Prohibition macht Gesellschaften und Regierungen blind für
die zahlreichen Gründe, warum Drogen entweder kont-
rolliert oder problematisch konsumiert werden. Dies trägt
dazu bei, dass Drogenkonsumierende verstärkt diskriminiert
                                                                Rowena Camacho, 24, sitzt in einer überfüllten Zelle im Navotas Be-
und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Sie           zirksgefängnis, Manila, Philippinen, wegen eines Drogendeliktes eine
werden als unwürdig betrachtet, Verständnis und Hilfe zu        zweijährige Freiheitsstrafe ab. © Paula Bronstein/Getty Images

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EIN NEUES VERSTÄNDNIS VON ENTKRIMINALISIERUNG - DROGENPOLITIKREFORM: BERICHT 2016
übertragenen Viren begünstigt, Drogenkonsumierende und         Solange die Drogen als ein zu bekämpfendes Übel gese-
Dealer Menschenrechtsverletzungen aussetzt und zu den          hen werden, werden sie in kriminellen Händen sein. Weil
weltweit jährlich 200’000 Drogentoten beiträgt. Landesre-      Drogen schädlich sein können, müssen sie von pflichtbe-
gierungen müssen sich dringend aus den Zwängen dieses          wussten Regierungen, die für das Wohlergehen ihrer Bürger
veralteten und auf Strafe ausgerichteten Rahmens befreien.     verantwortlich sind, reguliert werden. Es müssen Modelle
                                                               mit regulierter Produktion und regulierten Märkten getestet
Wir müssen aber klar definieren, was mit Kriminalisierung      werden. Die Erfahrungen müssen wissenschaftlich begleitet
gemeint ist. Es stimmt, viele Lokalbehörden und Landesre-      und die Resultate öffentlich gemacht werden. Die Staaten
gierungen haben Alternativen zu Bestrafungen eingeführt,       müssen ihre volle Verantwortung wahrnehmen und die Dro-
strafrechtliche Massnahmen gegen Drogenkonsumierende           gen dem organisierten Verbrechen entreissen. Es ist Zeit,
abgeschafft und mit administrativen Sanktionen wie Bussen      die Kontrolle zu übernehmen.
ersetzt, oftmals kombiniert mit medizinischen Behandlun-
gen und sozialen Massnahmen. Und trotzdem gehen diese          Ruth Dreifuss
Alternativen nicht weit genug. In diesem Bericht fordert die   Ehemalige Bundespräsidentin und Vorsteherin des Eidge-
Weltkommission die Aufhebung sämtlicher bestrafenden           nössischen Departements des Innern
Reaktionen auf Drogenbesitz und -konsum. Die gewaltlose
Beteiligung an Drogenproduktion und Drogenhandel muss
ebenfalls überdacht werden, wenn sie aus einer prekären
wirtschaftlichen Lage und sozialen Randständigkeit heraus
geschieht. Alternativen zur Bestrafung und die Unter-
stützung von verwahrlosten Gemeinschaften sind Wege,
Einzelne und ganze Gemeinschaften aus der Gewalt des
organisierten Verbrechens zu befreien, neue wirtschaftliche
Perspektiven zu eröffnen und die Rechte und Würde aller zu
respektieren.

Dieser Bericht baut auf den bisher von uns veröffentlichten
auf. Er beleuchtet die Schäden, die die Kriminalisierung von
Drogenkonsumierenden angerichtet hat, und untersucht
die Alternativen. Er begrüsst die Schritte in Richtung einer
vernünftigeren und menschlicheren Politik, die von vielen
Staaten rund um den Globus unternommen werden, und er
zeigt auf, dass die nationalen und internationalen Drogen-
kontrollregimes noch weitergehend reformiert werden müs-
sen. Die Weltkommission für Drogenpolitik ruft nicht nur die
Regierungen und die Vereinten Nationen, sondern auch die
Öffentlichkeit dazu auf, Drogenkonsumierende neu wahr-
zunehmen und sich von Vorurteilen zu befreien. Menschen,
die Drogen konsumieren, müssen als gleichgestellte und
verantwortungsvolle Mitglieder der Gesellschaft anerkannt
werden unter vollständiger Achtung ihrer Menschenrechte
und Würde.

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KURZFASSUNG
Jahr für Jahr konsumieren Hunderte von Millionen Menschen           Die   Weltkommission      glaubt,  dass   für  die
illegale Drogen. Viele zum Vergnügen, andere zur Schmerz-           Aufrechterhaltung     der    Menschenwürde    und
linderung und wieder andere aus traditionellen, kulturellen         Rechtsstaatlichkeit der Besitz von kleinen Mengen
oder religiösen Gründen. Obschon der Drogenkonsum weit-             und/oder der Konsum überhaupt nicht bestraft
verbreitet und friedfertig ist, kriminalisieren die Regierungen     werden darf.2
rund um den Globus oft jene, die illegale Substanzen konsu-
mieren und/oder besitzen. Sie klammern sich an die falsche        Zusätzlich zur Entkriminalisierung des Drogenbesitzes für den
Hoffnung, dass mit dieser Strategie Drogenhandel und -kon-        Eigenbedarf müssen Regierungen alternative Bestrafungen
sum gestoppt werden können, wenn zusätzlich Produktion            einführen für viele kleine Akteure im Drogenhandel, wie jene,
und Handel bekämpft werden.                                       die unter Freunden dealen, Pflanzen illegal anbauen oder
Die Schäden, die durch das strafrechtliche Vorgehen gegen         Drogen transportieren. Viele dieser Menschen sind fried-
Drogen entstehen, sind so gravierend und umfangreich, dass        fertige Mitspieler und handeln, um ihrer schwerwiegenden
sie nicht oft genug betont werden können. Täglich werden          sozioökonomischen Randständigkeit zu entkommen. Diese
im Namen der Drogenkontrolle Menschenrechtsverletzun-             Menschen zu bestrafen ist ungerecht und bewirkt höchstens,
gen begangen – von der Todesstrafe und aussergericht-             dass sich ihre Situation noch weiter verschlimmert.
lichen Hinrichtungen bis hin zu unmenschlichen und er-
zwungenen Behandlungen. Gleichzeitig lösen die strengen           Drogenkonsumierende nicht länger zu kriminalisieren und
Drogengesetze in der Volksgesundheit Krisen wie HIV- und          kleinen Akteuren mit angemessenen Massnahmen zu be-
Hepatitis-C-Epidemien aus. In zahlreichen Ländern haben           gegnen, sind wichtige Schritte, um die illegalen Drogen-
die Drogengesetze zudem zu massiv überfüllten Gefängnis-          märkte durch eine vernünftige Regulierung unter Kontrolle
sen geführt. Diese erheblichen Schäden durch strafrechtliche      zu bringen. Erst dann kann die fortschreitende Zerstörung
Massnahmen gegen Drogen und Drogenkonsum untergra-                der Gesellschaft durch die Drogenprohibition nachhaltig ge-
ben die Menschenwürde und die Rechtsstaatlichkeit auf             mindert werden.
grundlegende Weise und zerstören die Beziehung zwischen
Staat und Bevölkerung.                                            Der Drogenkonsum ist und war schon immer auf der gan-
                                                                  zen Welt ein Teil unserer Gesellschaft. Regierungen führen
Um diese umfassenden Schäden zu lindern, müssen Regie-            bereits zu lange einen unsinnigen Krieg gegen den Drogen-
rungen dringend als Erstes den Besitz von Drogen für den          handel und gegen Menschen, die Drogen konsumieren, und
Eigengebrauch entkriminalisieren. Entkriminalisieren heisst       verhängen unangemessene, ungerechte und vollkommen
im Normalfall, dass Drogendelikte, die den Eigengebrauch          unnötige Sanktionen. Die Beweislast, die aufzeigt, wie enorm
betreffen, aus dem Strafregister gelöscht werden, mit der         schädlich Drogenstrafgesetze sind, ist erdrückend. Regierun-
Option auf zivilrechtliche Massnahmen, wie eine Busse, oder       gen können die Notwendigkeit eines neuen Ansatzes nicht
ganz von einer Ahndung abzusehen.1 Einige Regierungen             länger ignorieren.
haben diesen Ansatz zwar bereits übernommen, aber nur
wenige haben bis heute Massnahmen eingeführt, die für
Drogenkonsumierende und die Gesellschaft positive Ergeb-
nisse gebracht hätten. Zudem verlassen sich diese Regierun-
gen oft auf zivilrechtliche Bestrafungen. Dieser Ansatz geht
nicht weit genug.

                                                                                                                             9
EIN NEUES VERSTÄNDNIS VON ENTKRIMINALISIERUNG - DROGENPOLITIKREFORM: BERICHT 2016
DIE VEREINIGTEN STAATEN UND ÄGYPTEN                                      CHINA, MALAYSIA UND IRAN                                     SCHWEIZ, DEUTSCHLAND, DÄNEMARK,
 Ägypten ist das erste Land der Welt, das eine heute                      1948 führt China als erstes Land die                         SPANIEN UND DIE NIEDERLANDE
 illegale Substanz gesetzlich verbietet, indem es                         Todesstrafe für Drogenverbrechen ein,                        In den 1980er-Jahren führen einige
 Cannabis 1884 für illegal erklärt. Von 1887 an                           gefolgt von Malaysia 1952 und Iran 1959.                     westeuropäische Staaten, mit den negativen
 verbieten viele US-Staaten Kokain.                                                                                                    Konsequenzen der Kriminalisierung
                                                                                                                                       konfrontiert, Schadensminderungsmassnah-
                                                                                                                                       men ein. Diese wirken sich nicht nur positiv
                                                                                                                                       auf die Drogenkonsumierenden aus,
                                                                                                                                       sondern auch auf die Gesellschaft als
                                                                                                                                       Ganzes.
                                                                                VEREINTE NATIONEN
      CHINA, DAS VEREINIGTE KÖNIGREICH UND DIE
                                                                                Das Einheits-Übereinkommen von 1961 über
      VEREINIGTEN STAATEN (USA)
                                                                                Suchtstoffe, in der Fassung des Protokolls von
      China untersagt Opium-Importe durch Handelsab-
                                                                                1972, verankert und operationalisiert die
      kommen mit dem Vereinigten Königreich, Frankreich,
                                                                                Prohibition von Drogen im internationalen Recht.            SAUDI-ARABIEN UND VIETNAM
      Portugal und den USA bis 1903. 1908 verpflichtet sich                                                                                 1987 führt Saudi-Arabien die
      China, jeglichen inländischen Opiumkonsum                                                                                             Todesstrafe für Drogenverbrechen ein.
      innerhalb von zehn Jahren zu stoppen.                                                                                                 Vietnam zieht 1999 nach.

                                                                                     DIE VEREINIGTEN STAATEN
                                                                                     US-Präsident Richard Nixon ruft 1971
            DIE INTERNATIONALE OPIUMKONVENTION                                       den „Krieg gegen die Drogen“ aus.
                                                                                                                                                  VEREINTE NATIONEN
            China, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, die                                                                                   1988 legt das Übereinkommen der
            Niederlande, Persien (Iran), Portugal, Russland,                                                                                      Vereinten Nationen gegen den
            Siam (Thailand), das Vereinigte Königreich und die                                                                                    illegalen Handel mit Suchtstoffen
            britischen Überseegebiete (einschliesslich                                                                                            und psychotropen Substanzen die
                                                                                           VEREINTE NATIONEN
            Britisch-Indien) verabschieden 1912 die                                                                                               Bestimmungen und Bestrafungen
                                                                                           1971 wird das Übereinkommen über
            Internationale Opiumkonvention, um die Kontrolle                                                                                      fest, welche die Mitgliedstaaten in
                                                                                           psychotrope Stoffe verabschiedet als
            über den internationalen Handel mit Opium,                                                                                            ihre nationalen Gesetze aufnehmen
                                                                                           Antwort auf die neuen chemischen
            Morphin, Kokain und Heroin zu erlangen.                                                                                               sollen. Die Ratifizierung dieser
                                                                                           Substanzen, was den Handlungsspiel-
                                                                                                                                                  Konvention markiert den
                                                                                           raum des internationalen Prohibitionsre-
                                                                                                                                                  Höhepunkt der Prohibition als
                                                                                           gimes um psychotrope Substanzen
                                                                                                                                                  globale Antwort auf die Drogen.
                                                                                           erweitert.

                  VÖLKERBUND
                  Der Völkerbund ruft den beratenden Ausschuss                                   SINGAPUR
                  zur Bekämpfung des Opiumhandels ins Leben,
                                                                                                 Singapur führt 1975 die Todesstrafe
                  ein Vorläufer der Suchtstoffkommission der
                                                                                                 für Drogenverbrechen ein.
                  Vereinten Nationen (CND).

                                                                                                       DIE NIEDERLANDE
                        GENFER OPIUMKONVENTION                                                         1976 ändern die Niederlande ihre
                        Von 1925 bis 1936 wird der Handel                                              Drogengesetze und führen de facto die
                        mit Cannabis unter die internationale                                          Entkriminalisierung des Cannabisbesitzes und
                        Kontrolle gestellt und der Vorläufer des                                       -handels ein.
                        Internationalen Suchtstoffkontrollamtes
                        (INCB), eines permanenten zentralen
                        Gremiums, wird geschaffen.

 1880              1890             1900               1910        1920         1930             1940             1950             1960            1970            1980s
                                                                                                                                                                  1970
10
EIN NEUES VERSTÄNDNIS VON ENTKRIMINALISIERUNG - DROGENPOLITIKREFORM: BERICHT 2016


VOLLVERSAMMLUNG DER VEREINTEN NATIONEN                       WELTKOMMISSION FÜR DROGENPOLITIK                             URUGUAY
1990 hält die Vollversammlung der Vereinten                  Staatschefs aus der ganzen Welt brechen 2011 das             Uruguay genehmigt 2013 als erstes Land
Nationen ihre erste Sondertagung zum Thema                   Tabu und fordern das Ende des „Kriegs gegen die              der Welt ein Gesetz, das Cannabis für den
Drogen ab. Die zweite findet 1998 statt. Diese               Drogen“. Sie präsentieren 2014 fünf mögliche Wege,           Freizeitkonsum reguliert. Gegen Ende
Sondertagungen dienen dazu, den auf Verboten                 die Drogenpolitik zu reformieren.                            2016 soll der Verkauf anlaufen.
basierenden strafrechtlichen Ansatz zur
Drogenbekämpfung zu untermauern. Sie gipfeln in
dem Versprechen der Mitgliedstaaten, bis 2008 eine
„drogenfreie Welt“ zu schaffen.

                                                                  BOLIVIEN                                                     JAMAIKA
                                                                  Bolivien steigt 2012 nach einem Disput über                  Jamaika entkriminalisiert 2015 den Besitz von
                                                                  den traditionellen Konsum von Kokablättern                   Cannabis für den Eigengebrauch und erlaubt
                                                                  als erstes Land aus dem UN-Einheits-                         den Besitz von Cannabis für religiöse Zwecke.
    VEREINTE NATIONEN                                             abkommen aus. Bolivien ratifiziert das
    Die Vereinten Nationen erstellen ein Programm für             Abkommen später wieder mit einem die
    die internationale Drogenbekämpfung, welches                  Kokablätter betreffenden Vorbehalt.
    1997 das Büro der Vereinten Nationen für
    Drogenkontrolle und Verbrechensverhütung wird.                                                                                   FONDS, PROGRAMME UND EINRICHTUNGEN
                                                                                                                                     DER VEREINTEN NATIONEN
                                                                                                                                     Der UN-Generalsekretär ruft die Staaten auf,
                                                                        KOLUMBIEN                                                    Alternativen zur Kriminalisierung zu finden. Das
                                                                        Kolumbien entkriminalisiert 2012 den                         Amt des Hochkommissars für Menschenrechte,
                                                                        Drogenbesitz für den Eigengebrauch                           UNDP, WHO und UNAIDS veröffentlichen 2015
          PORTUGAL UND DIE                                              erneut, nachdem drei Jahre zuvor die                         und 2016 Dokumente, die die Entkriminalisier-
          TSCHECHISCHE REPUBLIK                                         Gesetzesänderung wieder rückgängig                           ung von Drogenkonsum und -besitz empfehlen.
          2001 entkriminalisiert Portugal den Besitz von                gemacht worden war.
          Drogen für den Eigengebrauch, indem es ihn zu
          einem administrativen Vergehen macht. Acht
          Jahre später überarbeitet die Tschechische
          Republik das Strafgesetzbuch und entfernt daraus                                                                                 VOLLVERSAMMLUNG DER
          die strafrechtlichen Folgen für den Besitz von                                                                                   VEREINTEN NATIONEN
          Drogen für den Eigengebrauch.                                       COLORADO, WASHINGTON, ALASKA,                                2016 führt die Vollversammlung die dritte
                                                                              OREGON UND WASHINGTON D.C.                                   Sondertagung zum Weltdrogenproblem
                                                                              (VEREINIGTE STAATEN)                                         durch und sieht sich einer erheblichen
                                                                              Colorado und Washington führen 2012 als                      Uneinigkeit der Staaten gegenüber, wie
                                                                              erste Jurisdiktionen der Welt rechtlich                      mit dem Drogenhandel und Drogenkon-
                                                                              regulierte Märkte für den Freizeitkonsum                     sum umzugehen ist. Mehrere Länder
                ARGENTINIEN UND MEXIKO                                        von Cannabis ein. In Oregon und Alaska                       fordern eine Entkriminalisierung und
                2009 stuft Argentiniens Oberstes Gericht                      werden 2014 Wählerinitiativen für einen                      Regulierung, was im Abschlussdokument
                die Kriminalisierung des Besitzes für                         rechtlich regulierten Cannabismarkt                          jedoch nicht erwähnt ist.
                den Eigengebrauch als verfassungswid-                         angenommen, während die Wählerschaft
                rig ein. Mexiko entkriminalisiert den                         der US-Hauptstadt Washington D.C. den
                Drogenbesitz noch im gleichen Jahr.                           Cannabisbesitz für legal erklärt.
                                                                                                                                                 KALIFORNIEN UND KANADA
                                                                                                                                                 Im November 2016 stimmen
                                                                                                                                                 Kalifornien und einige weitere
                                                                                                                                                 US-Staaten darüber ab, ob sie einen
                                                                                                                                                 rechtlich regulierten Cannabismarkt
                                                                                                                                                 einrichten wollen. 2017 wird Canada
                                                                                                                                                 als erstes G7-Land eine illegale
                                                                                                                                                 Droge (Cannabis) auf nationaler
                                                                                                                                                 Ebene regulieren.

   1990             2000                                                                                          2010s
                                                                                                                  2010
                                                                                                                                                                               11
1
DAS SCHEITERN
DER PROHIBITION

         26. Juni 2015. Kiew, Ukraine, am Weltdrogentag. Aktivisten protestieren gegen Polizeischikanen
         gegen Drogenkonsumierende. © E.Kryzhanivskyi / Shutterstock.com
1. MIT STRAFRECHTLICHEN                                          wir müssen einsehen, dass die Menschen immer Drogen kon-
                                                                 sumieren werden. Um die genannten Prinzipien hochhalten
MASSNAHMEN GEGEN                                                 zu können, müssen sämtliche Bestrafungen – strafrechtliche
DROGEN: NACH EIGENEN                                             und zivilrechtliche – für den Drogenbesitz zum Eigenkonsum
                                                                 abgeschafft werden. Während einige Staaten die Entkrimina-
MASSSTÄBEN GESCHEITERT                                           lisierung bereits eingeführt haben, verlassen sich viele noch
Der Konsum von Drogen ist und war schon immer ein Teil           immer auf zivilrechtliche Massnahmen gegen Konsumieren-
unserer Gesellschaft. Jedes Jahr konsumieren weltweit Hun-       de, was im Vergleich zu ihrem Vergehen unverhältnismässig
derte von Millionen Menschen illegale Substanzen3 — vie-         ist. Für kleine, nicht gewalttätige Akteure im Drogenhandel
le von ihnen zum Vergnügen, andere versuchen damit ihre          – vor allem jene, die aus wirtschaftlicher Not heraus handeln
Schmerzen zu lindern und für wieder andere hat der Kon-          – sollten Alternativen zur Bestrafung eingeführt werden. Nur
sum eine traditionelle, kulturelle oder religiöse Bedeutung.     mit diesen kombinierten Reformen können die weitreichen-
Obschon der Drogenkonsum weitverbreitet und friedfertig          den Schäden der Drogenstrafgesetze gemindert werden.
ist, reagieren die meisten Regierungen auf die Thematik mit
strengsten strafrechtlichen Massnahmen. Sie kriminalisieren
Menschen, die Drogen konsumieren und/oder besitzen oder
die auf den unteren Ebenen im Drogenhandel mitwirken.            2. UNTERGRABUNG DES
Diese Politik wurde mit der Unterzeichnung der drei UN-Dro-
genabkommen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
                                                                 RECHTS AUF PRIVATSPHÄRE
untermauert (siehe Kasten 1). Sie wird in der unsinnigen Hoff-   Das Recht auf Privatsphäre ist ein grundlegendes Menschen-
nung betrieben, dass der Drogenkonsum und der Drogen-            recht, das in den meisten internationalen Menschenrechts-
grosshandel ausgemerzt werden können. Die Unmöglichkeit          abkommen verankert ist, einschliesslich der Allgemeinen
dieses Unterfangens gilt heute jedoch als erwiesen.              Erklärung der Menschenrechte (1948) 11 und des Internatio-
                                                                 nalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (1966).12
Im Jahr 2003 hatten geschätzte 185 Millionen Menschen
weltweit zwischen 15 und 64 Jahren (4,7 Prozent der Weltbe-      Die Privatsphäre ist der „Grundstein des Respekts für die
völkerung) in den letzten 12 Monaten illegale Drogen konsu-      persönliche Autonomie und Menschenwürde“.13 Der Staat
miert;4 bis 2014 war diese Zahl um 33 Prozent auf 247 Millio-    darf nur in das Privatleben einer Person eingreifen, wenn die-
nen gestiegen (5,2 Prozent der Weltbevölkerung).5 Die Zahl       ser Eingriff verhältnismässig und notwendig ist oder wenn es
der Menschen, die von Drogen abhängig waren, „stieg un-          einen legitimen Grund gibt, wie beispielsweise den Schutz
verhältnismässig stark“ von 27 Millionen im Jahr 2013 auf 29     anderer Personen. Menschen für den Besitz von Drogen zum
Millionen im Jahr 2014.1 Gleichzeitig wurde 2014 der höchste     Eigengebrauch zu bestrafen, wenn sie damit niemandem
je verzeichnete Anbau von Schlafmohn verzeichnet mit welt-       schaden, ist weder verhältnismässig noch notwendig. Der
weit fast 320’000 Hektaren,7 während die Kokainproduktion        Eingriff in die Privatsphäre ist deshalb nie gerechtfertigt. Ein
von 2013 bis 2014 um 38 Prozent anstieg.8                        solcher Eingriff untergräbt das Recht auf die Privatsphäre,
                                                                 die persönliche Autonomie und die Menschenwürde.14
Natürlich sind verschiedene Faktoren für den Anstieg und
die Abnahme des Konsums und die Produktion von Drogen            Verschiedene Bundesverfassungsgerichte und oberste Ge-
verantwortlich. Offensichtlich sind aber die strafrechtlichen    richte rund um den Globus haben entschieden, dass Geset-
Ansätze in ihrem Vorhaben gescheitert, den Markt zum Ver-        ze, die den Besitz von Drogen verbieten, nicht mit dem Men-
schwinden zu bringen. Schlimmer noch, Die Massnahmen             schenrecht auf ein Leben in Würde vereinbar sind, welches
hatten verheerende gesundheitliche, soziale Konsequenz-          als „Respekt für die Autonomie einer Person“ beschrieben
en für Menschen, die Drogen konsumieren, für andere Ak-          werden kann.15 Als in Mexiko zum Beispiel vier Personen kei-
teure im Drogenhandel und für die Allgemeinheit. Täglich         ne Lizenz zum Anbau von Cannabis für den Eigengebrauch
geschehen im Namen der Drogenkontrolle massive Men-              erhielten, entschied das Oberste Gericht 2015, dass ein Sys-
schenrechtsverletzungen, von der Todesstrafe9 und ausser-        tem, das mit administrativen Hürden den Freizeitkonsum von
gerichtlichen Hinrichtungen10 bis hin zu Folter, polizeilicher   Cannabis unterbindet, verfassungswidrig sei. Es führte an,
Gewalt und unmenschlichen Drogenbehandlungsprogram-              dass es sich dabei um einen unverhältnismässigen Eingriff in
men.                                                             das Prinzip der Menschenwürde und auf die freie Entfaltung
                                                                 der Persönlichkeit im Speziellen handelte. 16
Eine repressive Drogenpolitik verursacht viel grössere Schä-
den als die Drogen an sich. Deshalb sind neue Ansätze ge-        Gerichte in Chile, Spanien, Kolumbien und Argentinien ha-
fragt, die die Grundsätze der Menschenwürde, das Recht auf       ben ebenfalls geurteilt, dass der private Konsum von Drogen
die Privatsphäre und die Rechtsstaatlichkeit hochhalten, und     nicht vom Staat sanktioniert werden sollte.17 Das chilenische

                                                                                                                              13
KASTEN 1: “INTERNATIONALES DROGENKONTROLLSYSTEM UND STRAFRECHTLICHE
     MASSNAHMEN BEI DROGENBESITZ

     Die drei zur Kontrolle der illegalen Drogen ins Leben gerufenen internationalen Abkommen sind:
      • Das Einheits-Übereinkommen der Vereinten Nationen über Suchtstoffe von 1961 (in der Fassung des Protokolls
         von 1972)
      • Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über psychotrope Stoffe von 1971
      • Das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen den illegalen Handel mit Suchtstoffen und psychotropen
         Substanzen von 1988

     Diese Abkommen verbieten Konsum, Handel, Produktion, Anbau sowie Import und Export bestimmter Drogen,
     wenn sie nicht für einen medizinischen oder wissenschaftlichen Zweck verwendet werden.

     Die untenstehende Tabelle führt die wichtigsten Bestimmungen der Abkommen in Bezug auf den Besitz illegaler
     Drogen auf und zeigt, ob und wie weit von den Bestimmungen abgewichen werden kann.

       Verpflichtung durch das Abkommen                      Abweichung von der Verpflichtung

       1961 Konvention – “die Pflicht, den Besitz            Keine Abweichung möglich, ausser mit
       nicht zu erlauben” in Bezug auf die im Ab-            “gesetzlicher Befugnis” (Artikel 33)
       kommen aufgeführten Drogen (Artikel 33)

       1961 Konvention – “sollen Massnahmen                  Abhängig von den „verfassungsrecht-
       einführen, die sicherstellen, dass ... Be-            lichen Beschränkungen“ der Mitglied-
       sitz ... strafbar ist“ (Artikel 36 (1) (a))           staaten (Artikel 36 Paragraph 1. a)

                                                             Wenn die unter Artikel 36 straffällig ge-
                                                             wordenen Personen „Drogenabhängige“ sind,
                                                             kann eine Alternative zu Verurteilung/Bestra-
                                                             fung angewendet werden (Artikel 36 (1)(b))

       1971 Konvention – “wünschenswert, dass                Keine Abweichung möglich, ausser mit
       die Parteien den Besitz von Substanzen                “gesetzlicher Befugnis” (Artikel 5 (3))
       nicht zulassen“ in Bezug auf die im Abkom-
       men definierten Substanzen (Artikel 5 (3))

       1971 Konvention – “jede Partei soll als               Abhängig von den „verfassungsrecht-
       strafbare Handlung bewerten ... was ei-               lichen Beschränkungen“ der Mit-
       nem Gesetz oder einer Regulierung wider-              gliedstaaten (Artikel 22 (1) (a))
       spricht, die zur Erfüllung des Abkommens
       verabschiedet wurden” (Artikel 22 (1) (a))            Wenn die unter Artikel 36 straffällig ge-
                                                             wordenen Personen „Drogenabhängige“ sind,
                                                             kann eine Alternative zu Verurteilung/Bestra-
                                                             fung angewendet werden (Artikel 22 (1) (b))

       1988 Konvention – “jede Partei soll die nöti-         „Abhängig von Verfassungsgrundsätzen
       gen Massnahmen ergreifen, um ... den Besitz,          und Grundprinzip der Rechtsord-
       Kauf oder Anbau von Betäubungsmitteln oder            nung [der Parteien]“ (Artikel 3 (2))
       psychotropen Substanzen für den Eigengebrauch
       ... in der nationalen Gesetzgebung als straf-         Kann eine „Alternative zu Verurteilung oder
       bare Handlungen aufzunehmen” (Artikel 3 (2))          Bestrafung“ vorsehen (Artikel 3 (4)(d))

14
Das Scheitern der Prohibition

Oberste Gericht hat in einem Fall von Cannabisanbau zum          scheinlich keine andere Straftat, die anderen keinen direkten
Beispiel festgehalten, dass der Gesetzgeber zu Recht den Ei-     und sofortigen Schaden zufügt und die so hart geahndet und
gengebrauch von Sanktionen ausgenommen hatte. Das Ge-            gleichzeitig so oft begangen wird.
richt befand dies übereinstimmend mit dem Recht auf Auto-
nomie, welches auch beinhaltet, dass die eigene Gesundheit       Die weitverbreitete und andauernde Missachtung der Dro-
riskiert werden darf.18                                          genstrafgesetze stellt die Legitimation der staatlichen Akteu-
                                                                 re wie der Polizei in Frage. Dies vor allem, wenn Drogenstraf-
                                                                 gesetze bei einer kleinen Untergruppierung der Gesellschaft
                                                                 unverhältnismässig hart durchgesetzt werden und die Be-
                                                                 strafungen dabei Arme22 und Minoritäten23 am stärksten
                                                                 trifft. Eine solch ungerechte Anwendung des Gesetzes un-
     Um die Rechtsstaatlichkeit zu garantieren, muss             tergräbt die Prinzipien des Rechtstaates grundlegend – die
     diese über die blossen Vorschriften hinaus in einem         Rechtsgleichheit aller Personen, und dass seine Anwendung
     grösseren Kontext gesehen werden. Dazu gehört               immer gleich, fair und unparteiisch ist24 – und belastet die
     der breite Zugang zu einer Justiz, welche fair und          Beziehung des Staates zu seiner Bevölkerung.
     die Menschenrechte voll respektierend durch ein
     stabiles System ausgeführt wird. Ein System, das,           Länder, die auf eine Strafandrohung bei Drogenkonsum ver-
     mit den entsprechenden Schutzbestimmungen, den              zichten, verzeichnen erwiesenermassen keinen erheblichen
     zuständigen Einrichtungen Kompetenzen überträgt.            Anstieg des Drogenkonsums.25 Das und die vermehrte Unter-
                                                                 stützung der Entkriminalisierung verschiedener UN-Gremien
                  Büro der Vereinten Nationen für Drogen-        sowie regionaler multilateraler Behörden26 lassen zusätzlich
                    und Verbrechensbekämpfung (2016) 27
                                                                 an den Argumenten für die Durchsetzung der strengen Dro-
                                                                 gengesetze zweifeln.

                                                                 Der schwindende Respekt für die rechtlichen Rahmenbedin-
Diese Urteile sind bezeichnend für eine sich verändernde         gungen und die Rechtsstaatlichkeit im Allgemeinen hat das
Rechtslandschaft, in welcher die Bestrafung von Drogen-          Potenzial, das Korruptionsrisiko zu erhöhen und umgekehrt.
konsum und -besitz nicht länger mit dem Prinzip der Men-         Mit ihrem Entscheid, einen strafrechtlichen Ansatz zu verfol-
schenwürde vereinbar ist. Für das Prinzip der Menschenwür-       gen, zogen sich die Staaten bewusst aus der Verantwortung
de ist es von grundlegender Bedeutung, dass der Staat den        und zahlten dafür einen hohen Preis; es entstand ein illegaler
Konsum von Drogen – letztlich keine Handlung, die anderen        Drogenmarkt mit einem jährlichen Umsatz von 320 Milliarden
Schaden zufügt oder deren Rechte beschneidet – nicht als         US-Dollar. Er wird von Banden und kriminellen Organisatio-
Einmischungsgrund in die Privatsphäre gelten lässt.              nen kontrolliert, die sich einen blutigen Machtkampf liefern.28
                                                                 Die immensen finanziellen Mittel, die der Drogenhandel den
                                                                 kriminellen Organisationen in die Hände spielt, erlaubt es ih-

3. UNTERGRABUNG DER
RECHTSSTAATLICHKEIT                                                 ANTEIL INHAFTIERTER PERSONEN WEGEN
Die Rechtsstaatlichkeit setzt die Bereitschaft der Bürger vor-      DROGENBESITZES OHNE HANDELSABSICHT
aus, „... die allgemeingültigen Gesetze zu respektieren und
nicht gegen sie zu verstossen, auch wenn sie nicht mit ihnen              Georgien                      43%
einverstanden sind.“19 Diese Bereitschaft ist bei den Drogen-           Kirgisistan                               61%
strafgesetzen offensichtlich nicht vorhanden, wie Hunderte                 Lettland                     44%
von Millionen Menschen beweisen, die jedes Jahr Drogen                      Litauen                             43%
konsumieren.20 Drogenkonsum ist geschlechter-, ethnien-,                      Polen                       55%
klassen- und berufsübergreifend, und ein grosser Teil der                 Russland                                      72%
Gesellschaft betreibt ihn als normale Freizeitbeschäftigung.21        Tadschikistan       16%
Das Risiko, dafür ins Gefängnis zu kommen oder einen Straf-                Ukraine                                    67%
registereintrag zu erhalten, scheint nur wenige von dem Ver-            Usbekistan           21%
gehen abzuhalten, einem Vergehen, das im Wesentlichen
niemandem anderen schadet. Man könnte sogar sagen, dass
die Bestrafung des Drogenbesitzes und/oder -konsums der          © Eurasian Harm Reduction Network (EHRN),
                                                                 Sergey Votyagov, 20144
Glaubwürdigkeit des Strafgesetzes schadet. Es gibt wahr-

                                                                                                                              15
Überfülltes Gefängnis in Kalifornien. © HuffingtonPost

nen, Behörden im grossen Stil zu korrumpieren, von der Po-         4. MENSCHENRECHTS-
lizei bis hoch zu den Gerichten und der Politik.29 Der Einfluss
der kriminellen Organisationen ist gut dokumentiert. Sie in-
                                                                   VERLETZUNGEN UNTER
filtrieren und korrumpieren Staatsorgane und untergraben           DEM INTERNATIONALEN
die Rechtsstaatlichkeit. Sie manipulieren zum Beispiel den
Gesetzesvollzug und schmieren Beamte in Mexiko30 oder              DROGENKONTROLLREGIME
finanzieren Präsidentschaftskampagnen in Guinea-Bissau.31
                                                                   Staaten setzen die Verpflichtungen aus den drei UN-Dro-
Die Staaten untergraben die Rechtsstaatlichkeit aber längst        genabkommen oft menschenrechtswidrig um. Der abscheu-
nicht nur durch die bereits erwähnte ungerechte Anwen-             lichste Verstoss ist wohl die Verhängung der Todesstrafe für
dung der Drogengesetze. Der unverhältnismässige Fokus              kleine Drogendelikte mit Hunderten von Hinrichtungen jähr-
der Strafvollzugsbehörden auf die Kontrolle von Drogenkon-         lich. Dieser Punkt wird in diesem Bericht noch detaillierter
sumierenden hat Opportunitätskosten generiert:32 Es wer-           thematisiert.
den für Drogendelikte auf den unteren Stufen Ressourcen
verbraucht, die dann bei in der Bekämpfung schlimmerer             Tötungen sind jedoch nicht nur auf die Todesstrafe zurück-
Verbrechen fehlen, wie später noch aufgezeigt wird. Schlim-        zuführen, wie die Morde unter Präsident Duterte auf den
mer noch, staatliche Akteure operieren im Namen der Dro-           Philippinen zeigen. Staatlich sanktionierte Ermordungen von
genkontrolle oft ausserhalb der Gesetze, wie das grausame          mutmasslichen Drogenkonsumierenden und in den Handel
Vorgehen des philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte           involvierten Personen, sind keine Seltenheit. Als Thailand
attestiert; sein Aufruf an die Gesellschaft, alle in den Drogen-   2003 seinen „Krieg gegen die Drogen“ ausrief, hatte das die
handel involvierten Personen zu exekutieren, hat während           aussergerichtliche Hinrichtung von fast 2’800 Menschen zur
seiner ersten Monate im Amt 2016 zu Tausenden von Mor-             Folge. Tausende weitere wurden in Gewahrsam genommen
den geführt – darunter mutmasslich zahlreiche aussergericht-       und zur „Behandlung“ ihrer Drogenabhängigkeit gezwun-
liche Hinrichtungen.33 Ähnliche Vorkommnisse, die den Re-          gen.38 Die brasilianische Militärpolizei hat in den Favelas von
spekt vor dem Rechtsstaat schwinden lassen: Polizeigewalt          Rio de Janeiro von 2010 bis 2013 über 1’200 Tötungen zu
gegen Drogenkonsumierende;34 Inhaftierung mutmasslicher            verantworten, viele davon geschahen im Namen des „Kriegs
Drogendelinquenten ohne Gerichtsverhandlung35 und Inhaf-           gegen die Drogen“.39 In einer der Favelas von Rio fand Am-
tierung von Menschen ohne fairen Prozess zum Zweck einer           nesty International deutliche Hinweise darauf, dass neun von
erzwungenen „Drogentherapie“.36 All diese Beispiele weisen         zehn Todesfällen aussergerichtliche Hinrichtungen waren
auf Menschenrechtsverletzungen hin, die im Namen der Dro-          und dass zwischen 2010 und 2013 79 Prozent der Opfer von
genstrafgesetze begangen werden.                                   Polizeimorden in Rio de Janeiro schwarz waren und 75 Pro-
                                                                   zent zwischen 15 und 29 Jahre alt.40

                                                                   Die Verschärfung der Strafverfolgung als Antwort auf die
                                                                   Drogen führt im Normalfall zu noch mehr Gewalt.41 2006 hat
16
Das Scheitern der Prohibition

Mexikos Präsident Felipe Calderon hartes militärisches Vor-
gehen gegen die Drogenkartelle angekündigt, was zwischen            KASTEN 2 – DAS RICHTIGE VERSTÄNDNIS
2006 und 2014 zu geschätzten 160’000 Drogentoten geführt            EINES VOLKSGESUNDHEITLICHEN ANSATZES
hat, viele in Zusammenhang mit Kartellgewalt und der Milita-
risierung der Drogenbekämpfung. Zudem wurden in Mexiko              Der Wandel von einem strafrechtlichen Ansatz in
über 280‘000 Menschen intern vertrieben42 und mindestens            einen volksgesundheitlichen darf nicht bedeuten,
25‘000 sind während des sogenannten Drogenkriegs ver-               dass ein repressives Modell durch ein anderes
schwunden.43                                                        ersetzt wird. Wie in diesem Bericht aufgezeigt wird,
                                                                    haben eine Anzahl Staaten obligatorische und/
Menschenrechtsverstösse werden ausserdem unter dem                  oder nicht-evidenzbasierte Drogenbehandlungen
Vorwand begangen, den Drogenkonsumierenden zu hel-                  eingeführt und führen diese im Namen der
fen. Viele Staaten erzwingen bis heute „Behandlungen“ in            Volksgesundheit durch, obwohl solche Massnahmen
obligatorischen geschlossenen Einrichtungen – in welchen            diese untergraben. Der umfassende Wandel
Drogenkonsumierende ohne fairen Prozess, richterliche               muss auf einer Politik aufbauen, die den Besitz
Aufsicht oder Rechtsgarantien festgehalten werden –, vor            für den Eigengebrauch entkriminalisiert. Ein
allem in Südostasien und China.44 Ein solcher Freiheitsent-         volksgesundheitlicher Ansatz muss die sozialen,
zug verstösst gegen die internationalen Menschenrechtsbe-           ökonomischen und ökologischen Bedingungen,
stimmungen, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Men-           die einem problematischen Drogenkonsum oft
schenrechte (1948) und dem Übereinkommen gegen Folter               zugrunde liegen, berücksichtigen. Er darf zudem nur
und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende               Massnahmen zur Folge haben, die evidenzbasiert
Behandlung oder Strafe (1984) festgehalten sind, und unter-         sind und nicht gegen die internationalen
gräbt das Recht auf Gesundheit.                                     Menschrechtsstandards verstossen64. Nur so
                                                                    kann die Bedrohung der Volksgesundheit durch
                                                                    Infektionskrankheiten tatsächlich entschärft werden.

     Es ist meine grosse Hoffnung, dass die Verbesserungen
     der internationalen Beziehungen mit dem Iran
     auch verbesserte Menschenrechtsbedingungen
     mit sich bringen werden. Wohlwissend, dass                  Drogenkonsumierende werden nicht nur in diesen Zentren
     unter internationalem Recht die Todesstrafe für             gefoltert. Eine Studie, die Polizeipraktiken in Russland unter-
     Drogenverbrechen untersagt ist, schätze ich den             suchte, zeigt, dass die Strafbehörden Gewalt gegen Drogen-
     Vorstoss des iranischen Parlaments, zumindest               konsumierende anwenden, um Geständnisse zu erpressen
     für einige Drogenstraftaten die obligatorische              oder an Informationen über ihre Kontakte zu gelangen. Sie
     Verhängung der Todesstrafe aufzuheben.                      wendeten dabei „aussergerichtliche Polizeipraktiken an, um
                                                                 das Alltagsleben der injizierenden Drogenkonsumierenden
                  Zeid Ra’ad Al Hussein, Hoher Kommissar         mit Angst und Schrecken [zu durchsetzen]“.51
                                    für Menschenrechte37

Diesen Zentren werden schwerwiegende Misshandlungen ih-          5. DROGENSTRAFGESETZE
rer Insassen vorgeworfen, darunter Freiheitsberaubung und
Zwangsentzug,45 Folter, schwerer sexueller Missbrauch und
                                                                 UND VOLKSGESUNDHEITS-
physische Misshandlungen sowie Zwangsarbeit.46 Zwangs-           KRISEN
interniert wird oft, wer bei Polizeirazzien positiv auf Drogen
getestet wird, unabhängig davon, ob eine Behandlung über-        Die Kriminalisierung von Drogenkonsumierenden hat eine
haupt angezeigt ist.47 In einigen Fällen weisen Familienmit-     globale HIV- und Hepatitis-C-Pandemie52 ausgelöst. Von den
glieder Drogenkonsumierende ein. Es wird geschätzt, dass         16 Millionen Menschen, die weltweit Drogen injizieren, leben
in Südostasien und China 235‘000 Menschen gegen ihren            rund zwei Drittel mit Hepatitis C und mindestens 13 Prozent
Willen festgehalten werden,48 einige von ihnen Kinder.49 Will-   mit HIV, viele mit einem erhöhten Tuberkulose-Risiko.53 In
kürliche Verhaftungen kommen jedoch nicht nur in dieser          einigen Ländern betragen die HIV- und Hepatitis-C-Raten
Region vor: Ähnlich grausame und unmenschliche Behand-           unter den intravenös Drogenkonsumierenden bis zu 50 res-
lungen finden nachweislich auch in Guatemala, Brasilien,         pektive 90 Prozent.54
Mexiko, Peru, Indien, Russland, Serbien, Südafrika und den       Obschon die Hepatitis-C-Infektion und Tuberkulose heilbar
Vereinigten Staaten statt.50                                     sind und HIV behandelt werden kann, tragen repressive Dro-

                                                                                                                             17
gengesetze, aber auch Stigmatisierung und Marginalisie-          te internationale Drogenkontrollregime, begünstigt nicht
rung von Drogenkonsumierenden, dazu bei, dass Behand-            nur die Verbreitung von Infektionskrankheiten, sondern hat
lungsraten in diesen Bevölkerungsgruppen tief bleiben. Die       jährlich Tausende von Todesfällen und das Leiden von Mil-
Kriminalisierung von injizierenden Drogenkonsumierenden          lionen zu verantworten. Die UN-Drogenkontrollabkommen
führt zu risikoreichen Injektionspraktiken, um von Strafver-     und übergreifenden nationalen Gesetze haben zum Beispiel
folgungsbehörden nicht entdeckt zu werden, und stellt eine       mit Verschreibungseinschränkungen für Opiate und andere
Hürde zu Angeboten wie Nadel- und Spritzenaustausch-             Schmerzmittel dazu beigetragen, dass 5,5 Milliarden Men-
programmen (NSP) dar. Zudem verhindern viele Staaten             schen auf der ganzen Welt unter eingeschränktem oder
dringend benötigte Angebote, indem sie die Abgabe von            fehlendem Zugang zu Schmerzmitteln leiden. Der fehlende
sauberem Injektionsmaterial und Opioid-Substitutionsthe-         Zugang zu diesen Medikamenten verletzt das internationale
rapien (OST) gesetzlich unnötig einschränken, obschon            Menschenrecht auf den höchstmöglichen Gesundheitsstan-
beide Massnahmen erwiesenermassen die HIV- und Hepati-           dard.60
tis-C-Verbreitung eindämmen.55 Indem die Regierungen den
Fokus unverhältnismässig stark auf die Strafverfolgung legen     Über 200’000 Drogentote wurden im Jahr 2014 gezählt. Ein
anstatt auf Volksgesundheitsmassnahmen, gefährden sie die        Drittel bis die Hälfte davon sind Todesfälle durch Überdo-
Gesundheit ihrer Bürger.                                         sis.61 In den Vereinigten Staaten haben die drogenbeding-
                                                                 ten Todesfälle seit 2000 um 137 Prozent zugenommen, mit
                                                                 47‘055 dokumentierten Todesfällen im Jahr 2014, 61 Prozent
                                                                 davon im Zusammenhang mit Opioiden.62 Angst vor Verhaf-
                                                                 tung und Verurteilung hält Zeugen von Überdosierungen oft
                                                                 davon ab, die Rettungsdienste zu rufen.63

                                                                 6. DROGENSTRAFGESETZE
                                                                 UND IHRE AUSWIRKUNGEN
                                                                 AUF ÜBERFÜLLTE
                                                                 GEFÄNGNISSE
Ehemalige Drogenszene von Casal Ventoso, einem Stadtteil von     Der Weltdrogenbericht 2016 des Büros für Drogen- und
Lissabon. © Gael Cornier, Archives Associated Press              Verbrechensbekämpfung der Vereinten Nationen (UNODC)
                                                                 beziffert die weltweit wegen Drogenverstössen inhaftierten
Jüngste Entwicklungen in der Verbreitung von HIV in der          Personen mit 18 Prozent.65 Viele von ihnen kommen aus wirt-
Region von Osteuropa und Zentralasien (EECA) bestätigen          schaftlich benachteiligten Familien. Die Massenverhaftun-
die negativen Auswirkungen strenger Drogenstrafgesetze.          gen von Drogendelinquenten hat weltweit zu einer Überfül-
Während von 2004 bis 2014 das Auftreten von HIV-Infek-           lung der Gefängnisse geführt und zu Haftbedingungen, die
tionen weltweit um 35 Prozent gesunken ist, haben in der         hochgradig gesundheitsschädlich sind.
EECA-Region im gleichen Zeitraum die Neuinfektionen um
30 Prozent zugenommen, vor allem durch den intravenösen          Zahlreiche Drogengesetze sind für diese Überfüllung mitver-
Drogenkonsum.56 Russland ist einer der Hauptverursacher          antwortlich. In Brasilien, wo die Auslastung der Gefängnisse
dieses Trends, indem es OST verbietet und NSP nicht unter-       2014 bei 157 Prozent lag,66 hat die Gefängnisbevölkerung
stützt.57 Diese Politik hat in Russland zu einer HIV/Aids-Epi-   seit Beginn des 21. Jahrhunderts exponentiell zugenommen;
demie geführt. Offizielle Zahlen für das Jahr 2014 sprechen      Änderungen der nationalen Drogengesetze sorgten zwi-
von 907‘000 Infizierten. Das entspricht einem Anstieg von 7      schen 2007 und 2010 zu einem Anstieg der Gefängnisaufent-
Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Siebenundfünfzig Prozent       halte wegen Drogenverbrechen um 62 Prozent.67 Angst vor
der neuen HIV-Fälle werden „unsauberen Drogeninjektio-           einer Zunahme des Konsums von Methamphetamin liess die
nen“ zugeschrieben58 und Hochrechnungen sagen voraus,            thailändische Regierung konsequent gegen Konsumieren-
dass bis 2020 in Russland 3 Millionen Menschen mit HIV le-       de vorgehen, mit fast 196‘000 verhafteten Personen 2012.68
ben könnten.59                                                   Thailändische Gefängnisse sind mit einer 144-prozentigen
                                                                 Auslastung massiv überbevölkert,69 70 Prozent aller Insassen
                                                                 wurden wegen Drogenverbrechen verurteilt.70
Die Kriminalisierung von Drogenkonsumierenden, und ganz          Masseninhaftierungen wegen der vorherrschenden Dro-
generell das auf strafrechtliche Massnahmen ausgerichte-         gengesetze – einschliesslich der zwingenden Verurteilung

18
Das Scheitern der Prohibition

wegen kleiner Delikte – haben dunkelhäutige Bevölkerungs-
gruppen in den Vereinigten Staaten ausserordentlich hart
getroffen. Dreizehn Prozent der US-Bevölkerung sind Afro-
amerikaner, sie machen aber sowohl auf Bundes- als auch
und Landesebene 40 Prozent der Gefängnisinsassen aus, die             Ich glaube, dass sich viele Staaten darüber Gedanken
wegen Drogenverbrechen einsitzen. Die lateinamerikanische             machen, ob die Ahndung des Freizeitkonsums
Gemeinschaft stellt 17 Prozent der US-Bevölkerung, aber 38            verhältnismässig ist. Wollen wir Menschen für
Prozent der in Bundesgefängnissen wegen Drogenverbre-                 fünf, zehn, fünfzehn Jahre wegsperren, die keine
chen Inhaftierten.71                                                  grossen Drogendealer sind, sondern eine Substanz
                                                                      konsumieren, die vermutlich nicht gerade gesund ist,
Die Kriminalisierung hat ähnlich verheerende Auswirkungen             aber nicht allzu viele andere Menschen schädigt?
für Frauen. Gefängnisstatistiken zeigen, dass mehr Frauen
als Männer wegen Drogenverbrechen inhaftiert sind und                        Barack Obama, US-Präsident, in einem Interview
                                                                                    mit KMBC, Kansas City, 26. Februar 2015
dass in Teilen von Lateinamerika und Südostasien über 70
Prozent der inhaftierten Frauen wegen Drogenverbrechen
einschliesslich des Drogenbesitzes im Gefängnis sind.72 In
einigen US-Staaten müssen schwangere Frauen, die Drogen
konsumieren, eine Verurteilung wegen Schädigung des un-          Unter polizeiliche Massnahmen, die der Drogenfahndung
geborenen Lebens befürchten.73 Die Inhaftierung von Frauen       dienen, fallen die wiederholte Belästigung bestimmter Be-
wegen kleinerer Drogendelikte kann für eine Familie tiefgrei-    völkerungsgruppen, Leibesvisitationen und der gewaltsame
fende Konsequenzen haben, besonders für Kinder, deren El-        Zutritt zu Wohnungen und Häusern von Verdächtigen. Sie
tern im Gefängnis sind. Drogenkonsumierende Mütter und           tragen zudem zur Zerrüttung der Beziehung zwischen dem
schwangere Frauen unterlassen es zudem oft, sich Unterstüt-      Volk und dem Staat bei, weil die Strafverfolgung als nicht le-
zung zu holen, Schadensminderungsangebote zu beanspru-           gitim wahrgenommen wird.
chen oder Behandlungszentren aufzusuchen, aus Angst, man
könnte ihnen die Kinder wegnehmen.

                                                                 8. DIE KONSEQUENZEN EINES
7. DROGENGESETZE                                                 STRAFREGISTEREINTRAGS
                                                                 Die auf Strafverfolgung ausgerichtete Drogenkontrolle hat
ALS INSTRUMENTE                                                  weltweit zahlreiche Opfer gefordert, von den Anbauern ille-
SOZIALER KONTROLLE                                               galer Drogen und kleinen Kurieren bis hin zur Gesellschaft als
                                                                 Ganzes. Es ist aber wichtig, auch die negativen und manch-
Der durch die Drogenüberwachung angerichtete Schaden             mal weniger offensichtlichen Konsequenzen der Kriminali-
trifft nicht nur Drogenkonsumierende und andere am Handel        sierung des Drogenbesitzes zu sehen. Es ist immerhin das
Beteiligte – sie beeinträchtigt die Gesellschaft als Ganzes.     Delikt, das weltweit die Kriminal- und Strafverfolgungsstatis-
Die Drogenüberwachung ist geprägt von Rassendiskrimi-            tiken anführt.
nierung im amerikanischen Strafrechtssystem und von straf-
rechtlichen Massnahmen, die in keinem Verhältnis zu den          Daten der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen
Delikten stehen. Das Anhalten und Durchsuchen von Perso-         und Drogensucht (EBDD) aus dem Jahr 2014 zeigen, dass
nen, wie es in vielen Staaten praktiziert wird, hat zur Folge,   von den fast 1,4 Millionen gemeldeten Drogenverbrechen in
dass Menschen ins Strafrechtssystem verstrickt werden, ob        Europa78, 82 Prozent Besitz- und Konsum-Delikte waren, der
sie Drogen bei sich haben oder nicht.                            Rest betrifft den Drogenhandel.79 Auf globalem Level macht
                                                                 der Besitz 83 Prozent aller Drogenverbrechen aus.80
Im Vereinigten Königreich fahnden 60 Prozent aller polizei-
lichen Durchsuchungen nach Drogen,74 überwiegend nach            Ein Strafregistereintrag kann unzählige negative „kollaterale
„Kleinmengen für das Strassengeschäft“.75 In den meisten         Konsequenzen“ haben, indem er das Anstellungsverhältnis,
Fällen werden keine Drogen gefunden.76 Schlimmer noch,           die Ausbildung, die Wohnsituation und das Familienleben
Schwarze werden sechs mal häufiger kontrolliert und auf          beeinträchtigt.81 In den Vereinigten Staaten kann ein Eintrag
Drogen untersucht als Weisse und Asiaten doppelt so oft,         für ein Drogenvergehen zum Beispiel einen Ausschluss von
obwohl der Drogenkonsum unter Weissen höher ist.77 Die-          der Geschworenenbank bedeuten, in einigen Staaten auch
ses Missverhältnis ist auf der ganzen Welt anzutreffen; Min-     das Entziehen des Wahlrechts, die Zwangsräumung der So-
derheiten und wirtschaftlich benachteiligte Regionen stehen      zialwohnung, die Ablehnung von Finanzhilfe, der Ausschluss
besonders oft im Fokus.                                          aus dem Hochschulsystem, der Widerruf oder das Aussetzen
                                                                                                                              19
des Führerscheins, ein Landesverweis, in bestimmten Fällen
die andauernde Trennung von der Familie bei sogenannten
„Nicht-Bürgern“, der Ausschluss von bestimmten Arbeits-
stellen oder die Verweigerung von Sozialhilfe.82 Im Vereinig-
ten Königreich hat eine Studie errechnet, dass ein Cannabis-
delikt im Strafregister die Lebenseinkünfte um geschätzte 19     Ich wiederhole mich, aber ich sage es heute noch
Prozent schmälern könnte.83 Es gibt zudem Beweise dafür,         einmal: Ich bin der Ansicht, dass Drogen viele Leben
dass ein erster Kontakt mit dem Strafrechtssystem zu Wie-        zerstören, aber falsche Regierungspolitiken haben
derholungstaten führen kann. Wenn man das Ausmass der            noch viele mehr zerstört. Ein Strafregistereintrag für
Polizeiaktionen gegen Drogenbesitzdelikte bedenkt, ist es        ein kleines Drogendelikt kann für junge Menschen
vertretbar, von einem „Einstiegseffekt“ zu sprechen, der die     eine viel grössere Gefährdung ihres Wohlergehens
Rückfälligkeit erhöht.84                                         bedeuten als der gelegentliche Drogenkonsum.

                                                                           Kofi Annan, ehemaliger Generalsekretär der
                                                                         Vereinten Nationen und Vorsitzender der Kofi
                                                                     Annan Foundation, Mitglied der Weltkommission
9. DIE KRIMINALISIERUNG                                                     für Drogenpolitik, in einer Rede an der 68.
                                                                    Weltgesundheitsversammlung in Genf, 19. Mai 2015
VON DROGENBESITZ UND
DROGENKONSUM BEENDEN
Die eben aufgezeigten Schäden einer strafrechtlich ori-
entierten Drogenpolitik dienen als Momentaufnahme der
globalen Situation. Das weitreichende Leiden, das die Kri-
minalisierung von Drogenkonsumierenden und anderen am
Handel Beteiligten verursacht hat, kann gar nicht genug be-
tont werden. Deshalb müssen Staaten als Erstes eine Politik
ansteuern, die gegen Menschen, die Drogen konsumieren,
keine Sanktionen vorsieht – weder strafrechtliche noch zivile.

Mehrere Staaten haben den Drogenbesitz und/oder Dro-
genkonsum entkriminalisiert, aber fast alle greifen auf zivil-
rechtliche Sanktionen zurück. So wird der Drogenkonsum
weiterhin unnötig als eine gesellschaftlich inakzeptable
Handlung eingestuft, die bestraft werden muss. Die Welt-
kommission setzt sich für ein Modell der Entkriminalisierung
ein, das Drogenkonsumierende nicht bestraft. Staaten, die
ihre Drogengesetze erneuern, sollten versuchen, dieses Mo-
dell umzusetzen, in Anerkennung ihrer Menschenrechtsver-
pflichtungen und der Notwendigkeit, die Menschenwürde
und die Rechtsstaatlichkeit hochzuhalten.

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