Einleitung: Schrecken ohne Ende - der NSU und seine Folgen

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Einleitung: Schrecken ohne Ende –
der NSU und seine Folgen

Tanjev Schultz

Vor zehn Jahren landete in den Postkästen mehrerer Redaktionen
und Organisationen in Deutschland ein scheußliches Video. Die
Zeichentrick-Figur »Paulchen Panther«, auch bekannt als rosaroter
Panther, führte als Erzähler durch den Film – und zeigte einen
Mord nach dem anderen: Bilder des Terrors. Die beliebte Zeichen-
trickserie verwandelte sich in einen echten Horrorfilm. Am Ende
ertönte die berühmte, eigentlich harmlose Schlussformel des rosa-
roten Panthers und klang nun wie eine unverhohlene Drohung:
»Heute ist nicht alle Tage, ich komm wieder, keine Frage!«
   Wie sich herausstellte, hatten Neonazis den zynischen Film pro-
duziert und dafür Szenen aus der Zeichentrickszene zusammen-
montiert und mit eigenem Material ergänzt, darunter Fotos von
den Tatorten und Mordopfern sowie Ausschnitte aus Fernsehnach-
richten und Zeitungsartikeln über die Verbrechen. Die NSU-Terro-
ristin Beate Zschäpe will die DVDs verschickt haben, nachdem sich
ihre beiden Freunde und Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhn-
hardt umgebracht hatten. Für den Tag, an dem sie auffliegen wür-
den, war alles vorbereitet: Die Filme waren bereits in Versandta-
schen verpackt und beschriftet. Die Nachwelt sollte endlich
erfahren, wer hinter den vielen Anschlägen steckte, über die das
Land mehr als zehn Jahre lang gerätselt hatte.
   Mit einem Schlag kam die Existenz der Terrorgruppe ans Licht,
die sich selbst als »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) be-
zeichnete – ein Schock für die Öffentlichkeit und für die Familien,
die so lange nicht gewusst hatten, wer ihre Väter, Sohne und Brü-
der ermordet hatte. Und eine Schmach für viele Politiker und Be-
amte, die oft abgewiegelt hatten, wenn sie nach versteckten Neo-

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Einleitung: Schrecken ohne Ende – der NSU und seine Folgen

nazi-Zellen gefragt worden waren. Nun mussten sie feststellen,
dass eine solche Zelle sogar für den Mord an einer Polizistin ver-
antwortlich war.
   Ältere kennen das Kürzel »NSU« noch als Namen für einen tra-
ditionsreichen Automobil- und Motorrad-Hersteller aus Neckar-
sulm. Nun verliehen Rechtsextremisten den drei Buchstaben eine
ganz andere Bedeutung.

Die Entdeckung von 2011

Am 4. November 2011 überfielen Mundlos und Böhnhardt in Eise-
nach eine Filiale der Sparkasse. Mit solchen Überfällen finanzier-
ten die Neonazis ihr Leben im »Untergrund«. Die Beute von Eise-
nach – mehr als 70.000 Euro – und die beiden Fahrräder, mit
denen die Männer zum Tatort gefahren waren, verstauten die Tä-
ter in einem angemieteten Wohnmobil. So hatten sie es früher
auch schon gemacht. Doch diesmal ging der Plan nicht auf. Ein
aufmerksamer Rentner, dem die Männer mit dem Campingwagen
verdächtig vorkamen, alarmierte die Polizei. Als sich Beamte dem
Fahrzeug näherten, feuerten die NSU-Terroristen auf die Polizis-
ten, steckten das Wohnmobil in Brand und erschossen sich
schließlich selbst. So haben es die Ermittler und später die Richter
im NSU-Prozess und die Abgeordneten der Untersuchungsaus-
schüsse rekonstruiert.
   Beate Zschäpe soll in der gemeinsamen Wohnung des Trios in
Zwickau aus dem Radio vom Tod ihrer Freunde erfahren haben.
Nun will sie, getreu einer für diesen Fall getroffenen Vereinba-
rung, Feuer gelegt haben. Anschließend türmte sie und fuhr vier
Tage lang quer durch die Republik, bis sie sich am 8. November
2011 der Polizei stellte. Eineinhalb Jahre später, im Mai 2013, be-
gann die Gerichtsverhandlung in München, an deren Ende – nach
fünf Jahren mühsamer juristischer Wahrheitssuche – Zschäpe zu

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Die Entdeckung von 2011

lebenslanger Haft verurteilt wurde. Das Urteil, gegen das Revision
eingelegt wurde und das daher zum Zeitpunkt der Drucklegung
dieses Buches immer noch nicht rechtskräftig war, sieht Zschäpe
als Mittäterin bei allen Verbrechen, die dem NSU zugerechnet
werden und mit denen sich die Neonazis in ihrem Video gebrüstet
haben.
    Der NSU ermordete demnach zehn Menschen, verübte drei
Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle. Von 1998 bis 2011 leb-
ten Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe unter fal-
schen Namen mitten in Deutschland. Ihr »Untergrund« war, recht
besehen, eigentlich sehr »oberirdisch«. Das Trio hatte sich zuletzt
in einer normalen, bürgerlich anmutenden Wohnung in einem ru-
higen Stadtteil von Zwickau einquartiert. Aufgewachsen waren die
drei Neonazis in Jena. Dort flohen sie 1998 vor der Polizei, nach-
dem diese bei einer Durchsuchung einer Garage, die Zschäpe ange-
mietet hatte, Sprengstoff und rechtsradikales Propaganda-Material
gefunden hatte. Zunächst fanden die drei Unterschlupf in Chem-
nitz, um die Jahrtausendwende zogen sie nach Zwickau.
    Die Mordserie begann im Jahr 2000 mit einem Anschlag auf den
Blumenhändler Enver Şimşek in Nürnberg. Im Jahr darauf folgten
die Morde an Abdurrahim Özüdoğru in Nürnberg, an Süleyman
Taşköprü in Hamburg und an Habil Kılıç in München. Im Jahr 2004
erschossen die Rechtsextremisten Mehmet Turgut in Rostock. Ein
Jahr später ermordeten sie İsmail Yaşar in Nürnberg und Theodo-
ros Boulgarides in München. Im Jahr 2006 schlugen sie innerhalb
von zwei Tagen in Dortmund und Kassel zu und töteten Mehmet
Kubaşık und Halit Yozgat. Alle Opfer hatten türkische Wurzeln, bis
auf Boulgarides, der Grieche war. Die Neonazis könnten ihn für ei-
nen Türken gehalten haben. Der Hass der Terroristen auf Türken
ist gut belegt, in Notizen des NSU wurden alle Mordopfer als »Ali«
bezeichnet und nummeriert. Bereits in Zschäpes Garage war 1998
auf einer Diskette eine Art Gedicht mit dem Titel »Ali Drecksau –
Wir hassen dich« gefunden worden. Darin hieß es: »Ein Türke, der
in Deutschland lebt und sagt, er ist auch hier geboren, den sehen
wir schon als verloren.«

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Wie der NSU seine Opfer aussuchte, ist bis heute nicht wider-
spruchfrei aufgeklärt. Die Ermittler und das Gericht gehen davon
aus, dass die Terroristen es darauf abgesehen hatten, willkürlich
türkische Männer zu treffen und damit Angst und Schrecken bei
Familien mit einer Migrationsgeschichte zu verbreiten. Doch nicht
nur die Angehörigen der Opfer wundern sich darüber, wie die Tä-
ter ausgerechnet auf diese, zum Teil sehr unscheinbaren und ent-
legenen Straßen und Tatorte kommen konnten, die sie für ihre
Anschläge aussuchten. Sie fragen sich, ob es ortskundige Kompli-
zen gab.
   Bei einem Bombenanschlag des NSU in einer Kneipe in Nürn-
berg wurde 1999 ein junger Mann, dessen Eltern aus der Türkei
stammten, verletzt. Drei Jahre später deponierten die Terroristen
einen Sprengsatz, perfide getarnt in einer Christstollen-Dose, in ei-
nem kleinen Laden in Köln, den eine deutsch-iranische Familie
führte. Als die damals 19-jährige Tochter die Dose öffnete, explo-
dierte die Bombe. Die junge Frau lag wochenlang im Koma und
überlebte den Anschlag nur mit großem Glück und intensiver me-
dizinischer Behandlung. Im Jahr 2004 zündeten die Terroristen er-
neut in Köln eine Bombe. Diesmal hatten sie den Sprengsatz auf
einem Fahrrad in die Keupstraße gestellt, in der viele türkische
und kurdische Familien leben und arbeiten. Mehr als zwanzig
Menschen wurden verletzt. Der Sprengsatz war mit langen Zim-
mermannsnägeln befüllt, die durch die Gegend geschleudert wur-
den und sich in die Körper der Menschen bohrten. Wie durch ein
Wunder kam bei diesem Attentat niemand ums Leben.
   Seinen letzten Mordanschlag soll der NSU im Jahr 2007 in Heil-
bronn verübt haben. Dort schossen die Terroristen einer Polizistin
und einem Polizisten in den Kopf, als diese im Streifenwagen sa-
ßen und auf einem großen, freien Festgelände eine Pause einleg-
ten. Die Beamtin Michèle Kiesewetter starb, ihr Kollege Martin A.
überlebte den Anschlag schwer verletzt (vgl. den Beitrag von Bin-
ninger).

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»Schande für unser Land«

»Schande für unser Land«

Unter der Oberfläche der stabilen Demokratie, zu der die Bundes-
republik herangereift war, hatten die rechten Terroristen immer
wieder zugeschlagen. Die Neonazis machten sich, anders als die
linken Terroristen der RAF in den 1970er Jahren, nicht die Mühe,
ausgefeilte Pamphlete zu verfassen. »Taten statt Worte« – diesen
Grundsatz vertrat der NSU in seinem Video. Das Kalkül ging auf.
Der Verfolgungsdruck der Polizei war gering. Anfangs hatten die
Behörden zwar nach den untergetauchten drei Rechtsextremisten
gefahndet, dabei jedoch zahlreiche Fehler gemacht und Skandale
verursacht. Schließlich erlahmte die Suche – und jahrelang zog
niemand eine Verbindung zwischen den Untergetauchten aus Jena
auf der einen Seite und der bundesweiten Mordserie, den Bomben-
anschlägen und der Serie von Banküberfällen auf der anderen Sei-
te. Stattdessen spekulierten die Ermittler hartnäckig über eine kri-
minelle ausländische Bande, die hinter den Taten stecken könnte.
So gerieten von Anfang an auch die Familien der Opfer ins Visier.
In ihnen sah die Polizei den Schlüssel zur Aufklärung. So verloren
die Familien zunächst einen Angehörigen und dann auch noch das
Vertrauen in den deutschen Staat und seine Behörden. Sie wurden
bedrängt und beäugt, ausgefragt und ausgespäht. Sie fühlten sich
kriminalisiert – und dies, obwohl einige von ihnen schon früh
dachten und sagten, was erst Jahre später für alle offensichtlich
wurde: dass Rechtsextremisten hinter den Anschlägen stecken
mussten.
   Doch das wollte lange Zeit niemand hören oder glauben, weder
in der Politik noch bei der Polizei – und auch nicht in den Medien,
die auf den falschen Spuren der Ermittler mitliefen und die Betrof-
fenen durch Begriffe wie »Döner-Morde« stigmatisierten (vgl. den
Beitrag von Schultz, Mediale Aufklärung?). Und die Neonazis? Sie
konnten in Ruhe und unbehelligt mit ansehen, wie die Saat des
Terrors aufging und die Behörden und Medien das Leiden der tür-
kischen Familien noch verstärkten.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Verbrechen des NSU als An-
schlag auf die gesamte Gesellschaft bezeichnet. »Sie sind eine
Schande für unser Land«, sagte Merkel bei einer Gedenkfeier im
Jahr 2012. Die Kanzlerin versprach eine umfassende Aufklärung –
ein Versprechen, das viele Angehörige der Opfer angesichts mau-
ernder Behörden und mauernder Neonazis bis heute für nicht ein-
gelöst halten. Selbst diejenigen, die keine Belege dafür sehen, dass
eine schützende Hand des Staates den NSU gezielt abschirmte, sind
entsetzt über die vielen Fehler und Ungereimtheiten, die bei der
Polizei und den Geheimdiensten ans Licht kamen. Schon deshalb
darf kein Schlussstrich unter den Fall gezogen werden.
    Neun Parlamente – der Bundestag und die Landtage von Baden-
Württemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vor-
pommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Thüringen – richte-
ten in den vergangenen Jahren Untersuchungsausschüsse ein, die
den NSU-Komplex behandelten. Zahlreiche Zeugen wurden be-
fragt, unzählige Dokumente ausgewertet. Als vor dem Oberlandes-
gericht in München die Hauptverhandlung begann, lag eine mehr
als 400 Seiten dicke Anklageschrift vor, die Akten addierten sich
im Laufe der Zeit auf gut eine halbe Million Seiten. Der Aufwand
war beträchtlich, der Fall ungewöhnlich komplex. Das Gericht, die
Ausschüsse und die Medien haben mittlerweile vieles, aber längst
nicht alles erhellen und rekonstruieren können. Wichtige Fragen
bleiben weiterhin unbeantwortet – oder es gibt berechtigte Zwei-
fel, ob die üblichen Erklärungen tatsächlich zutreffen.
    Zu den Fragen gehört die Unsicherheit über die Größe des NSU:
Wer gehörte dazu, wer war eingeweiht oder beteiligt? Im Video,
das Zschäpe verschickte, heißt es gleich zu Beginn, der NSU sei
ein »Netzwerk von Kameraden«. Wäre die Gruppe nur ein Trio ge-
wesen, erschiene der Begriff »Netzwerk« übertrieben. War die For-
mulierung mehr als das Wunschdenken einer im Laufe der Zeit
weitgehend isolierten Dreierbande, die als kleine Zelle agierte,
oder war es der Hinweis auf einen größeren Verbund militanter
Neonazis, der bisher allenfalls in seinen Umrissen erkennbar ge-
worden ist? Eines ist sicher, denn dies hat der NSU-Prozess un-

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»Schande für unser Land«

zweifelhaft zu Tage gefördert: Die Terroristen hatte zahlreiche
Helfer. Ob bei der Suche nach einer Wohnung, dem Sammeln von
Spenden, der Beschaffung von Mobiltelefonen und Ausweispapie-
ren – es gab genügend braune Kameraden, die dem Trio zur Seite
standen – vor allem zu Beginn ihres Lebens im »Untergrund«. Um-
stritten oder weniger offensichtlich ist, wie viel und was genau
diese Helfer jeweils wussten und wie weit die Unterstützung und
die Einbindung in die Terrorpläne ging.
   Noch immer führt der Generalbundesanwalt mehrere Ermitt-
lungsverfahren gegen mutmaßliche Unterstützer des NSU, eines
davon läuft gegen Unbekannt. Allerdings sieht es aktuell nicht da-
nach aus, als könnte es demnächst noch weitere Anklagen geben.
Vielmehr ist damit zu rechnen, dass die Verfahren gegen etliche
Beschuldigte eingestellt werden, weil die Taten entweder schon
verjährt oder aus Sicht der Ermittler vor Gericht nicht schlüssig
nachzuweisen sind. Und wie energisch in Zukunft noch Spuren
verfolgt werden und weiter gegen »Unbekannt« ermittelt wird, ist
fraglich.
   Im NSU-Prozess sind außer Zschäpe vier Männer verurteilt wor-
den, unter anderem zwei Helfer, die dem NSU die Česká-Pistole mit
Schalldämpfer beschafft hatten, mit der neun der zehn Morde be-
gangen wurden. Doch die Urteile gegen die Helfer fielen insgesamt
milde aus, das gilt vor allem für einen engen Vertrauten des Trios,
der ebenfalls in Zwickau gewohnt hatte und der seine rechtsextre-
me Gesinnung mit großflächigen Tätowierungen auf dem Körper
nachhaltig zum Ausdruck brachte. Aus Sicht des Gerichts war ihm
kaum etwas nachzuweisen, obwohl die Ankläger des Generalbun-
desanwalts in ihm sogar ein mögliches viertes Mitglied des NSU zu
erkennen meinten. Bis auf Zschäpe sitzt keiner der anderen Verur-
teilten des NSU-Verfahrens mehr im Gefängnis.
   Im NSU-Prozess traten außer den Angeklagten reihenweise
Neonazis auf, als Zeugen mit teilweise erstaunlicher Gedächtnis-
schwäche. Einige trugen zudem ihre Verachtung für das Gericht
und den Rechtsstaat offen zur Schau. Wie unter einem Brennglas
war im Gerichtssaal das Elend eines Landes zu sehen, das auch

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nach 1945 den Nationalsozialismus nie ganz abzuschütteln ver-
mochte. Für die Überlebenden des NSU war der Prozess erschre-
ckend und enttäuschend (siehe den Beitrag von Ramm).
   Trotz zahlreicher Morde und Anschläge, die Rechtsextremisten
in der Bundesrepublik verübt hatten, herrschte in den Behörden
lange Zeit die Vorstellung, zu organisiertem Terrorismus und ei-
nem dauerhaften Leben im Untergrund wären Neonazis nicht in
der Lage. Für eine »braune RAF« würden die Konzepte, die Köpfe
und die Strukturen fehlen. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung
war das Bild dumpfer Glatzköpfe verbreitet, die im Suff zuschla-
gen, sonst aber wenig auf die Reihe bekommen. Es war ein Zerr-
bild. Denn stets hatte es auch strategische Köpfe, straff organisier-
te Kameradschaften und militante rechte Zellen gegeben, die
gezielt auf einen Umsturz hinarbeiteten und vorausschauend An-
schläge auf »Ausländer« und Andersdenkende begingen. Als 2011
die Existenz des NSU öffentlich bekannt wurde, wirkte es wie eine
historische Zäsur, weil nun sichtbar wurde, was schon lange ver-
deckt existiert hatte. Doch so geheim und unerkennbar waren die
Umtriebe der Neonazis in Deutschland eigentlich gar nicht gewe-
sen.

1991 bis 2021: »Generation Hoyerswerda«

So gibt es mittlerweile dutzende traurige und beschämende Jah-
restage und vermeintliche Zäsuren, die mit den Taten rechter Ter-
roristen verbunden sind. Es ist zehn Jahre her, dass der NSU ent-
deckt wurde – die Geschichte aus Hass und Gewalt ließe sich aber
auch von anderen Daten her aufrollen. Statt zehn Jahre ließe sich
zum Beispiel 30 Jahre zurückgehen, ins Jahr 1991: In Hoyerswerda
tobte damals ein rassistischer Mob und bedrohte eine Flücht-
lingsunterkunft und ein Wohnheim für sogenannte Vertragsarbei-
ter. Es war der Auftakt zu einer langen Serie rechtsextremer An-

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1991 bis 2021: »Generation Hoyerswerda«

schläge, von denen die Angriffe in Rostock-Lichtenhagen (1992)
und die Morde in Mölln (1992) und Solingen (1993) zu den be-
kanntesten gehören. Die späteren NSU-Terroristen wurden in die-
ser Zeit des Vereinigungsrassismus nach dem Fall der Mauer poli-
tisch sozialisiert. Sie und ihre Freunde zogen Springerstiefel an,
verschickten Drohschreiben und Briefbomben-Attrappen. Mundlos
und Böhnhardt marschierten 1996 in einer SA-Uniform über die
Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers in Buchenwald.
Schon früh zeigte sich der Fanatismus dieser Neonazis aus Jena,
die sich als Teil einer immer stärker werdenden Bewegung be-
trachten, an deren Spitze sie sich setzen wollten.
   Man kann im Datum auch zwanzig Jahre zurückgehen: Im Jahr
2001, zehn Jahre nach den Ausschreitungen von Hoyerswerda, be-
gingen die NSU-Terroristen gleich drei Morde. Sie fuhren dafür in
den Süden und den Norden des Landes und schlugen in Nürnberg,
Hamburg und München zu. Und sie arbeiteten bereits an einem
Vorläufer des Paulchen-Panther-Videos. In diesem frühen Film, den
Zschäpe nicht verschickte, der aber auf den Überresten der Compu-
ter aus der ausgebrannten Wohnung gefunden wurde, dröhnt har-
ter Rechtsrock zu blutigen Bildern. Es gehe ihnen um den »Erhalt
der deutschen Nation«, verkündeten die Terroristen. Sie verwende-
ten auch den Slogan »Deutschland den Deutschen«.
   Diese Sprache erinnert an die Debatten der Gegenwart, in de-
nen selbsternannte Verteidiger des »Abendlandes« auftreten, vor
einer angeblichen Islamisierung und Umvolkung der Deutschen
warnen und an die Idee anknüpfen, die Nation würde, wenn die
etablierten Parteien und Medien weiter am Ruder blieben, sich
aufgeben und selbst abschaffen. Schon während des NSU-Prozes-
ses, bei dem immer wieder Rechtsextremisten auf der Zuschauer-
tribüne auftauchten, konnten Beobachter den Eindruck gewinnen,
dass der rechte Terror noch lange nicht vorbei ist. Viele Zeugen
aus der rechtsextremen Szene, die dort im Gericht auf der Tribüne
oder auf dem Zeugenstuhl Platz genommen hatten, waren in ei-
nem ähnlichen Alter wie Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt. In der
Wendezeit waren sie Jugendliche, als mittlerweile gesetzte Er-

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Einleitung: Schrecken ohne Ende – der NSU und seine Folgen

wachsene wirkten sie nun abgeklärt, aber deshalb nicht unbedingt
ungefährlich – ganz im Gegenteil.
   Die erbitterten Auseinandersetzungen um die Migrationspolitik
und die Aufnahme geflüchteter Menschen seit dem Jahr 2015 hat
so manchen alternden Rechtsextremisten wieder auf die Straße
gebracht. Manche von ihnen mögen sich noch an die Diskussionen
ums Asylrecht in den frühen 1990er Jahren erinnern, als auch eta-
blierte Medien mit Sprüchen wie »das Boot ist voll« die Stimmung
prägten. Zschäpe und ihre Freunde waren aufgewachsen in einer
Zeit, in der kaum ein Tag verging, an dem sich nicht irgendwo in
Deutschland ein rechter Mob austobte. Wer in diesen Zeiten aufge-
wachsen war, konnte nun am 1. September 2018 bei einer großen
rechten Demonstration in Chemnitz Seite an Seite mit AfD-Politi-
kern und jüngeren Rechtsextremisten laufen – wenige Monate
nach dem NSU-Urteil in München. In Chemnitz war auch Stephan
Ernst mit dabei, der am 2. Juni 2019 in der Nähe von Kassel den
CDU-Politiker Walter Lübcke ermordete (vgl. Steinhagen 2021).
   Dass sich mit Blick auf den sogenannten Trauermarsch von
Chemnitz der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz,
Hans-Georg Maaßen, gegen die Bundesregierung stellte und par-
tout keine rassistischen »Hetzjagden« erkennen wollte, zeigte ein-
mal mehr, dass in den Sicherheitsbehörden – sehr sachte ausge-
drückt – ein Gespür für die Gefahren von rechts weiterhin fehlte.
Dabei hätte die in Chemnitz sichtbare Militanz die Sicherheitsbe-
hörden ebenso alarmieren müssen wie der Schulterschluss von al-
ten und neuen Neonazis sowie den diversen Parteien und Gruppen
aus dem rechtsextremen Spektrum. Maaßen verlor sein Amt – im-
merhin. Dass ausgerechnet er damit betraut war, nach dem Entde-
cken des NSU das Vertrauen der Menschen in den Verfassungs-
schutz zurückzugewinnen, erscheint nicht nur rückblickend wie
ein schlechter Scherz.
   Mittlerweile haben die Behörden, auch der Verfassungsschutz,
ebenso wie die Politik einen etwas schärferen Blick, wenn es um
rechtsradikale Umtriebe geht – so jedenfalls wirkte es zuletzt. Die
AfD wird mittlerweile vielerorts vom Nachrichtendienst beobach-

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