"Endlich können wir ruhig schlafen" - Stiftung Jesuiten weltweit
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MENSCHENRECHTE
04 Studentinnen und Studenten setzen sich dafür ein, dass die Wasserressourcen in ihrer Heimat geschützt werden. Dieses zivilgesell-
schaftliche Engagement hat seinen Anfang in Motivationstrainings, die das DHRC für Schülerinnen und Schüler durchführt. Foto: DHRC
«Endlich können wir ruhig schlafen»
Die Geschichte einer historischen Intervention und eines langjährigen Engagements
Siruthondamaathevi ist ein kleines ruhig schlafen. Wenn sich Dalits wider- brannt. Jungen und Mädchen war es
Dorf und liegt dreihundert Kilometer setzten, wurden die Dalit-Frauen sogar in nicht erlaubt, neue und anständige Klei-
südlich von Chennai entfernt. Im Anwesenheit ihres Mannes aus ihren Häu- der zu tragen. Dalits durften nicht an öf-
sern gezerrt und von Männern der oberen fentlichen Veranstaltungen teilnehmen
Dorf leben 155 Familien von unbe- Kasten sexuell ausgebeutet. Sie konnten und keine Vereine für ihre Wohltätigkeits-
rührbaren Dalits und 1500 Familien sich nicht bei der Polizei oder anderen aktivitäten gründen. Bei allen lokalen und
höherer Kasten. Die Dalits wurden Behörden beschweren, weil die Beamten nationalen Wahlen mussten Dalits von
bis vor kurzem in jeder Hinsicht auch den oberen Kasten angehörten und den Kastenangehörigen nominierte Kan-
ausgebeutet. die Täter schützten. didaten wählen. Andernfalls wurde ihnen
Wenn ein Dalit-Mädchen heiratete, verboten, ihr Wahlrecht auszuüben. In
F
ast alle Dalits im Dorf waren An- musste sie die erste Nacht mit einem öffentlichen Einrichtungen, wie Geschäf-
alphabeten und arbeiteten in der Mann der oberen Kasten verbringen, ein ten, Postämtern, Schulen, Friedhöfen,
Landwirtschaft für die oberen Kas- erzwungener Brauch. Wenn Dalit-Jugend- wurden Dalits diskriminiert und nicht
ten. Ihr Land wurde ihnen weggenom- liche dagegen Einspruch erhoben, wur- zugelassen. Ein Universitätsstudium zu
men, sie als Zwangsarbeiter gehalten. Die den sie verprügelt und gegen sie falsche absolvieren, wurde nicht erlaubt. So sa-
Überlegenheit der oberen Kasten und Verfahren eingeleitet. In öffentlichen hen die Lebensbedingungen der Dalits
deren Mehrheit ermöglichten ihnen eine Verkehrsmitteln durften Dalits nicht sit- in diesem Dorf aus.
vollständige Herrschaft über die Dalits. zen. Sie sollten stehen, auch bei freien DHRC hat einige Jahre mehrfach in
So herrschte eine einzigartige unterdrü- Plätzen. Sogar schwangere Dalit-Frauen diesem Dorf interveniert. Gegen den
ckerische und entwürdigende Praxis. mussten auf dem Weg ins Krankenhaus Widerstand der oberen Kasten schulte
Dalit-Frauen wurden von Männern der stehen. Wurde gegen eine solche Regel es die Dalits und vermittelte ihnen so-
oberen Kasten jeden Tag sexuell miss- verstossen, so wurde das Haus der betrof- ziales, rechtliches, pädagogisches und
braucht. Dalit-Frauen konnten nachts nie fenen Dalits angegriffen oder sogar ver- kulturelles Wissen. Mit ihrer aktiven Be-
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DALIT HUMAN RIGHTS CENTRE (DHRC)
Das Dalit Human Rights Centre (DHRC) • Rechtsberatung und Vertretung vor
befindet sich in Chengalpattu, 60 Kilo- Gericht (insbesondere der Land-
meter südlich der Hauptstadt Chennai rechte, denn Land für Dalits ist
teiligung fanden Vorsprachen bei der des indischen Bundesstaates Tamil Würde für Dalits)
Menschenrechts- und Frauenkommission Nadu. Pater Yesumarian Lourdunathan • Betrieb der Young Lawyers Acade-
sowie der Regierung statt. Petitionen SJ gründete das DHRC im Jahr 1990, my (Ausbildung sozial engagierter
wurden bei Gerichten eingereicht. In anlässlich des hundertsten Geburts- Anwältinnen und Anwälte und ihre
Zusammenarbeit mit sozialen Bewe- tages von Dr. B. R. Ambedkar, der sich Unterstützung beim Berufseinstieg)
gungen wurden friedliche Manifestatio- für die Rechte der Dalits einsetzte und • Unterstützung von Volksbewegun-
nen organisiert, um die Öffentlichkeit auf die indische Verfassung schrieb. Das gen (Dr. Ambedkar Centenary Mo-
das Problem aufmerksam zu machen. DHRC setzt sich gegen die Diskrimi- vement (IACM), Dalit Christian Rights
Diese Interventionen begannen, Früchte nierung aufgrund des Kastensystems Movement (DCRM), Jyothiba Workers
zu tragen und Veränderungen im Dorf und für die Rechte der Dalits ein. Im Association (JTS))
zu bewirken. Die Rechte der Dalits wur- Wesentlichen ermöglicht es den Da- • Ausbildung von Dalit-Führungsper-
den anerkannt. lits, ihre Menschlichkeit und Würde sonen
Heute sagen die Dalit-Frauen: «Endlich wiederzuerlangen. • Motivationstrainings für Schülerin-
können wir nachts ruhig schlafen, frei auf Das Kastenwesen ist ein soziales nen und Schüler
der Strasse gehen.» Mädchen heiraten System des indischen Subkontinents. • Kulturteam für Aufklärungsarbeit an
würdig. Jugendliche können frei arbeiten, Es diskriminiert Menschen auf der der Basis
ein Universitätsstudium aufnehmen. Ei- Basis ihrer Geburt. Am stärksten von • Betrieb abendlicher Studienzentren
nige von ihnen haben sogar ein Postgra- diesem Kastensystem betroffen sind für Dalit-Kinder
duiertenstudium abgeschlossen. Öffent- die Dalits. Sie werden als Unberühr- • Hilfsaktionen (bei Überschwemmun-
liche Plätze sind nun Dalits zugänglich. bare behandelt, da sie als unrein und gen, Dürren und Tsunami und in der
Sie können ihr Wahlrecht ohne Angst verunreinigt gelten. Die Praxis der Un- Zeit von Covid-19) 05
oder Bedrohung ausüben. Unter ihnen berührbarkeit fügt den Dalits grosses • Publikationen (monatliche Men-
entsteht eine motivierende Führung, die Leid zu, mit den sozialen, wirtschaft- schenrechtszeitschrift, Materialien
für sie spricht. Vor kurzem hat das DHRC lichen, bildungsmässigen, politischen und Literatur)
eine Klage vor Gericht eingereicht, um und religiösen Ausschlüssen. Sie sind • Öffentlich zugängliche Dokumenta-
das Land der Dalits zurückzufordern, das von Gewalt, Grausamkeiten und Dis- tion und Bibliothek
sich die oberen Kasten angeeignet hatten. kriminierungen betroffen. • Zusammenarbeit mit Universitätsfor-
Jetzt gibt es ein Gefühl der Freiheit und Das DHRC verfolgt folgende Aktivi- schenden zu Studien über die Dalits
der Würde unter den Dalits in diesem täten: Yesumarian Lourdunathan SJ
Dorf.
LI N K S: In Siruthon-
damaathevi leben
155 Familien von
unberührbaren
Dalits. Dalit-Frauen
haben sich versam-
melt und hören den
Ausführungen von
P. Yesumarian SJ
zu.
Foto: DHRC
R ECH T S: Rechtsbera-
tung und Ausbil-
dung ist Teil der
Arbeit des DHRC.
Eine Gruppe von
Dalits sucht
juristischen Rat.
Foto: DHRC
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«Schlimmer als Apartheid»
Pater Yesumarian Lourdunathan SJ, gründete das Dalit Human Rights Centre Leprakranke sind eine weitere Grup-
Sie sind Direktor des DHRC, Jesuit und stellte mich in den Dienst der am pe von Menschen, die völlig vernachläs-
und Anwalt. Was war Ihre Motivation, meisten ausgegrenzten Dalits. sigt und schlecht behandelt wurde.
als sie 1990 das DHRC gründeten? Christliche Organisationen begannen im
Ich stamme aus einer Dalit-Familie – das Die Gesellschaft Jesu ist in Indien ganzen Land mit der Gesundheitsfür-
letzte und achte Kind. Als ich drei Jahre alt tätig. Auch andere christliche Orden sorge für Leprakranke. Das endgültige
war, starb mein Vater, und meine Mutter sind in Indien engagiert. Was ist der Gelübde ist für einen Jesuiten ein wich-
musste als Witwe kämpfen, um uns gross- Beitrag christlicher Organisationen tiges Ereignis. Ich legte mein letztes
zuziehen. Als Junge erlebte ich viele Dis- für die indische Gesellschaft und Gelübde vor 400 Leprakranken ab, um
kriminierungen aufgrund meiner Kasten- Wohlfahrt? meine Solidarität und Identifikation mit
zugehörigkeit in der Schule und im 25 Prozent der indischen Bevölkerung, ihnen zu zeigen. Die Menschen schätzen
öffentlichen Raum, auch unter uns Kin- die als Unberührbare behandelt wer- die christlichen Bildungseinrichtungen
dern. Wenn ich Durst verspürte, konnte den, wird Land, Bildung und sogar die und Gesundheitszentren. Der Beitrag der
ich kein Wasser aus den Brunnen trinken. Wahl des Wohnorts verwehrt. Deshalb christlichen Organisationen ist hier an-
Nur ein Mann oder eine Frau aus einer leben die Dalits auch heute noch am gesehen.
hohen Kaste konnte mir erlauben, Wasser Rande des Dorfes. Ihr Wohnort wird
zu nehmen, um meinen Durst zu stillen. Kolonie genannt, in der lokalen Sprache Das DHRC ist ein Werk der neuen
Ich wurde Zeuge, wie meine Mutter bedeutet das Schuhwerk. Wer den Un- Jesuiten-Provinz Chennai im Bundes-
schlecht behandelt und gedemütigt wur- berührbaren berührt, wird verunreinigt. staat Tamil Nadu. Was würde fehlen,
de, weil sie eine Dalit, eine Frau, eine Wit- Aber die christlichen Missionare betra- gäbe es das DHRC nicht?
06 we und eine Analphabetin war. Es war ten unser Zuhause, berührten uns, assen Die Bürgerrechte der Dalits basieren auf
nicht die Abwesenheit meines Vaters, der mit uns. Sie zeigten sich mit uns solida- dem Protection of Civil Rights Act, ein wich-
Hunger und die Armut, die mich so risch und identifizierten sich mit uns. Sie tiges Gesetz im Land. Den christlichen
schmerzten, sondern die Demütigungen erkannten die Menschlichkeit der Un- Dalits war es aber nicht erlaubt, dieses
und Diskriminierungen durch die Kasten, berührbaren und Randständigen an. Gesetz zu nutzen, weil sie Christinnen
die mir unerträgliche Schmerzen zufüg- Die Missionare gründeten Schulen an und Christen sind. Sie wurden aufgrund
ten. Solche Erfahrungen machten mich den Wohnorten der Unberührbaren. ihrer Religion diskriminiert. Wir haben
nicht rachsüchtig, sondern motivierten Das bedeutete einen echten sozialen diese diskriminierende Praxis beim obers-
mich, mich für die ausgegrenzten Men- Wandel und gab den Dalits eine neue ten Gerichtshof angefochten und ein
schen zu engagieren. Ich wurde Jesuit, Identität. Urteil zugunsten der christlichen Dalits
L I N K S: Ein Team des
DHRC ist zuständig
für die Organisa-
tion von Kulturan-
lässen. Hier proben
sie einen Auftritt,
der sie in viele
Dörfer führt.
Foto: DHRC
Eine der vie-
R ECH T S:
len Versammlungen,
die stattfinden, um
auf die doppelte
Diskriminierung der
christlichen Dalits
hinzuweisen. Sie
gelten als unberühr-
bar und sind Chris-
tinnen und Christen.
Foto: DHRC
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erwirkt. Heute kann jeder und jede, un- Beschlag genommen. Wir haben diese les humanitäres Problem. Sie kann nur
abhängig von der Religion, dieses Gesetz Enteignungen identifiziert, fast 2000 Hek- durch weltweite Initiativen gelöst wer-
im ganzen Land nutzen. Es ist eine lan- tar Land zurückerhalten und an Dalits den. Ich bitte die Schweizer Freundinnen
desweite Veränderung, die wir herbeige- verteilt. Wir haben im ganzen Land ein und Freunde, mit den Dalits solidarisch
führt haben. neues Bewusstsein für dieses Landrecht zu sein.
Dalit-Christinnen und -Christen werden geschaffen. Weil ich den Dalits zu ihrem Interview Dana Zumr
selbst innerhalb der Kirche vernachlässigt Landrecht verhelfe, wurde ich einige Male
und diskriminiert, man nennt sie auch die verhaftet, ins Gefängnis gesteckt und ge-
doppelt Diskriminierten. Aufgrund unse- foltert. Mehr als 25 falsche Anklagen wur-
rer Intervention hat die katholische Bi- den gegen mich erhoben. Als Anwalt
schofskonferenz von Tamil Nadu ein Zehn- stelle ich mich freudig den Prozessen vor
Punkte-Entwicklungsprogramm für die Gericht. Für die Rechte und die Würde
Dalit-Christinnen und -Christen in der meines Volkes.
Kirche herausgebracht.
Wir haben eine sehr wichtige Rolle bei Unsere Sammelbitte richtet sich an
der Einführung der Dalit-Option innerhalb unsere Freundinnen und Freunde in
der Kirche und in den Ordensgemein- der Schweiz. Welche Botschaft
schaften, auch in der Gesellschaft Jesu. möchten Sie mit ihnen teilen?
Diese Option hat den Dalits den Zugang Unberührbarkeit ist schlimmer als Apart-
zu kirchlich geführten Einrichtungen er- heid. Ein Unberührbarer mag hellhäuti-
öffnet. Wir beobachten auch, ob diese ger sein als ein Mann aus einer hohen 07
Option richtig umgesetzt wird, und führen Kaste, aber dennoch ist er aufgrund sei-
einen regelmässigen Dialog mit den Lei- ner Geburt ein Unberührbarer. Diese
tern der Einrichtungen. Unberührbarkeit entmenschlicht und
Dalits erhielten während der britischen entwürdigt nicht nur einen Menschen,
Herrschaft Land für ihren Lebensunter- sondern beraubt ihn auch der Chancen-
halt. Diese Ländereien werden Dalit- res- gleichheit. 300 Millionen Dalits werden
pektive Panchami-Ländereien genannt. diskriminiert. Diskriminierung ist überall
Im Laufe der Zeit wurden diese Länderei- eine Bedrohung für die Gleichheit. Des-
en von den Leuten der hohen Kasten in halb ist die Dalit-Frage ein internationa-
L I N K S: Das Haus
e iner Tribal-Familie
wurde verbrannt.
Sie hatten sich ge-
gen ihre Diskrimi-
nierung gewehrt.
Das DHRC setzt
sich für die Rück-
gabe von Dalit-
Ländereien ein.
Foto: DHRC
R ECH T S: Pater Yesu-
marian Lourdu-
nathan SJ, Jesuit,
Anwalt und Direk-
tor des DHRC, hat
in 30 Jahren viele
Gerichtsfälle
gewonnen.
Foto: DHRC
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