EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - C 21134

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EVANGELISCHE STIMMEN ZEITFRAGEN - C 21134
C 21134                                              Mai 2021 | 5

EVANGELISCHE
  STIMMEN
                                              ZEITFRAGEN
                                              UND KIRCHE IN
                                              NORDDEUTSCHLAND

Ökumenische           Hinein in die Enge –    Vollversammlung des
Partnerschaft unter   neuer Kurs der EKD in   ÖRK: Von Busan nach
einem Kirchendach     Sachen Ökumene          Karlsruhe
EDITORIAL

            Liebe Leserin,
            lieber Leser,
            Der großartige Dr. Ambrosius Backhaus (1923-2005) war Arzt im
            Hafenkrankenhaus St. Pauli und nebenamtlich russisch-orthodoxer
            Priester – gefühlt war es allerdings umgekehrt: hauptamtlich Priester,
            nebenamtlich Internist. Von ihm habe ich die schönste Definition des
            Monotheismus: „Mit dem Glauben ist es wie mit der Liebe zu meiner
            Frau. Sie ist für mich die einzige und die beste, aber ich mag es nicht
            so gerne, wenn andere das auch von ihr sagen.“

            Ambrosius Backhaus hatte ein Gespür dafür, dass die Zugehörigkeit
            zu einer bestimmten Glaubenstradition einer gewissen Kontingenz
            unterliegt und es deswegen vollkommen absurd ist, wenn Glau-
            benskriege, in welcher Schärfe und Form auch immer, entfacht wer-
            den. Damit hatte er einen wegweisenden Blick in die Zukunft eröffnet.
            Denn wer kann heute noch Presbyterianer, Baptisten, Mennoniten,
            Katholiken, Protestanten und Orthodoxe auseinanderhalten? Auch in
FRIEDRICH   der Theologie ist ja inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden:
 BRANDI     „Die Zukunft der Kirche kann nur ökumenisch und dialogisch sein.“
            (Adrée/Wollmann, S. 40) Natürlich gibt es Binnendifferenzierungen,
            die nicht kleingeredet werden sollten. Aber gesamtgesellschaftlich ist
            wesentlich aufschlussreicher, welche sozialen Strukturen die Kirchen
            mit dem Evangelium aufbrechen wollen. Denn das wird immer wich-
            tiger in einer globalisierten Gesellschaft, die sich nur noch dem Gott
            des Kapitals verschrieben hat und ohne Rücksicht auf gelingendes
            Leben alles niederwalzt, was diesem entgegensteht.

            Oft sind es kleine Schritte, die da gegangen werden (Greßmann,
            Steen, Eberle), doch das „Jahr der Ökumene 2021/22“ weist Wege
            in eine Richtung, die nicht allein Konfessionsgrenzen obsolet macht,
            sondern im Geist der Bibel auf den globalen Frieden hinwirkt. (vgl.
            Ebeling, Reimers-Avenarius, Freudenberg, Abuom). Doch lesen Sie
            selbst, rät

            www.evangelische-stimmen.de

                                                     EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021   3
EVANGELISCHE
  STIMMEN

3         Editorial
          Friedrich Brandi
                                                                            47
6         Hinein in die Enge
          Uta Andrée                  53	
                                         Mittendrin und Leben teilen
                                             orstand des Vereins „Brücke –
                                            V
12	
   Mission – Ökumene –                      Ökumensches Forum HafenCity“
          Partnerschaft
          Claudia Ebeling             58	
                                         Eine Kirche –
                                            zwei Gemeinden
16	
   Raum in der Herberge                     Claudia Ebeling
          gesucht
          Annette Reimers-Avenarius   61	
                                         Ökumene im Gefängnis
                                            Friedrich Kleine
21	
   Von Busan nach Karlsruhe
          Anne Freudenberg            64	
                                         Eine Evangelische Stimme
                                            Thomas Schaack
26	
   Zwischen Richtig und Falsch
          Karla Eberle                66	
                                         Neugier und
                                       Gastfreundschaft
31	
   Nairobi – Münsterdorf –            	
                                       Uwe Onnen, Melanie Dango
          Nairobi                      und Martin Haasler
          Ralf Greßmann
                                      69	
                                         Eine hilfreiche
36        Die Sehnsucht sitzt dabei    Gemeindelektüre
          Nora Steen                  	
                                       Matthias Kleiminger

40	
   Sechs Ökumenische Thesen           71	
                                         Ist die Kirche noch
	
 Uta Andrée und                        zu retten?
 Christian Wollmann                   	
                                       Redlef Neubert-Stegemann

47	
   Das Evangelium
                                      77    Zu guter Letzt
          macht ruhelos
          Agnes Abuom                 78    Vorschau

Titelbild: Logo „Jahr der Ökumene“

                                                  EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021   5
THEMA

Mission – Ökumene – Partnerschaft
Die spannungsreiche Geschichte lebt von Menschen

D
        ie eigenen Perspektiven                                      Gemeinden vor Ort beschäftigt,
        erweitern, das eigene Welt-                                  meistens auch eine globale Dimen-
        bild hinterfragen und das                                    sion hat: Klimawandel, Migration,
im Austausch mit anderen Kultu-                                      Gerechtigkeit – ohne internationa-
ren: Diese Idee ist heute so attrak-                                 le Bündnisse, Verständnis und Wis-
tiv wie bereits vor mehr als 100                                     sen von einander können keine
Jahren. Auch die Kirchen bieten                                      Beiträge für Lösungen entstehen.
heute Freiwilligeneinsätze für Ju-                                      Ökumenische         Mitarbeitende
gendliche in Projekten von Part-                                     heißen heute die Menschen, die
nerkirchen an, ermöglichen es                                        von einer Kirche im Ausland für
                                                Claudia
kirchlichen Mitarbeitenden und                                       einen Einsatz entsendet werden.
                                                Ebeling
Pastoren in Gemeinden oder Aus-                                      Vor mehr als 100 Jahren hießen
                                       ist Referentin für Presse-
bildungsstätten im Ausland mitzu-                                    sie Missionare. Dieser Begriff und
                                       und Öffentlichkeitsarbeit
arbeiten. Seit einigen Jahren gibt                                   das damit verbundene Aufgaben-
                                        im Büro der Ökumene­
es neben diesen Nord-Süd-Einsät-                                     feld sind heute vor allem in den
                                        beauftragten der Nord-
zen auch Süd-Nord-Programme:                                         Ländern des Nordens stark in die
                                                 kirche.
Vorwiegend junge Erwachsene                                          Kritik geraten – und das zu Recht:
aus verbundenen Partnerkirchen                                       Viele Missionarinnen und Missi-
arbeiten für ein Jahr in Kindergär-                                  onare zogen mit ihrem Verständ-
ten, ökumenischen Arbeitsstellen oder Pflege-           nis von Kirchenordnungen und Ritualen in
diensten mit. Pastoren aus Partnerkirchen der           die Fremde, und manche verboten dort sogar
Nordkirche sind seit vielen Jahren regelmäßig           einheimische Musik, Instrumente oder Tradi-
hier im Einsatz, aktuell ist es der Menschen-           tionen. „Die neuzeitliche Missionsbewegung
rechtsaktivist und Bischof Antonio Ablon von            war von einem stark geographisch orientierten
der Iglesia Filipina Independiente, einer Kirche        Verständnis von Mission geprägt, wonach die
auf den Philippinen der alt-katholischen Tradi-         christlichen Länder der westlichen Hemisphä-
tion, der in der Seemannsmission der Nordkir-           re das Evangelium zu den nicht-christlichen
che und im Zentrum für Mission und Ökume-               Ländern tragen sollten. Doch diese Sicht hat
ne mitarbeitet.                                         sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend
   Verbunden mit diesem Engagement ist die              überholt“, erläutert der Direktor des Zentrums
Erkenntnis, dass während der gemeinsamen                für Mission und Ökumene der Nordkirche, Pas-
Zeit, dem gemeinsamen Arbeiten und Leben,               tor Dr. Christian Wollmann.
Lernerfahrungen entstehen, die die Kirchen                 Die zwei Weltkriege haben das Selbstbewusst-
bereichern, ihren Horizont erweitern und die            sein der so genannten christlichen Länder und
weltweite Verbundenheit stärken. Die von ih-            die Reputation dieser Länder in der Welt tief er-
ren Einsätzen zurückgekehrten Mitarbeiten-              schüttert. Durch eine oft brutale, an Ausbeutung
den bringen neue Impulse und Themen in ihre             und Profit orientierte Kolonialherrschaft, an der
Heimatkirchen. Längst ist klar, dass das, was die       man viele Jahrzehnte trotz einheimischer Unab-

12   EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021
THEMA

hängigkeitsbewegungen festzuhalten suchte, dis-      fremde Länder, importierten aber zugleich aus
kreditierte sich die westliche Welt. „Man predigte   diesen kulturelle Entdeckungen nach Deutsch-
zwar von Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand       land. Zweitens blieben die Menschen in Über-
für alle, doch der historische Hintergrund war       see keine Glaubensempfänger, sondern entfal-
geprägt durch die Zweiteilung der Welt in den        teten eine staunenswerte Eigenständigkeit. Sie
West- und Ostblock mit Stellvertreterkriegen in      nahmen den neuen Glauben an, indem sie ihn
ärmeren Regionen der Welt sowie der zuneh-           verwandelten. Deshalb führte die evangelische
mend prekär werdenden Situation der damals           Mission nicht zu einer Europäisierung der
sogenannten Dritten Welt“, so Christian Woll-        missionierten Weltgegenden, sondern zu einer
mann weiter. Die alte „West-Mission“, wie man        Globalisierung und Pluralisierung des Chris-
jetzt intern in selbstkritischen Missionskreisen     tentums. Drittens zeigte diese religiöse Emanzi-
formulierte, kam an ihr Ende.                        pation auch politische Folgen. Wie Nelson Man-
    Missionarinnen und Missionare haben ler-         dela einmal bemerkte, wäre der antikoloniale
nen müssen, dass der christliche Glaube und          Kampf ohne die Missionsschulen nicht möglich
seine Ausdrucksformen – in Musik und Litur-          gewesen. Auch die Anti-Apartheids-Bewegung
gie, in Kirchenstrukturen und Theologie – sich       verdankte den Netzwerken der Missionsgesell-
in unterschiedlichen Kulturen neu und frei           schaften viel“, schreibt Claussen weiter.
entfalten können, formuliert und verantwortet           „Für Kirchen des Südens ist Mission, anders
von den Menschen selbst. „Mission – so wird sie      als oft bei uns, ein Begriff, der das Ganze des
heute verstanden – ist nicht einfach Weiterga-       kirchlichen Handelns in der Welt, die Rolle und
be von etwas bereits fest geprägtem, sondern in      Verantwortung der Kirche in ihren jeweiligen
einem je neuen Kontext und in einer je neuen         Gesellschaften im Blick hat“, beobachtet Chris-
Zeit die Entdeckung der befreienden Botschaft        tian Wollmann vom Zentrum für Mission und
für gerade diesen Kontext“, erläutert Christian      Ökumene. Hier geht es unter dem Leitwort Mis-
Wollmann.                                            sion um das soziale und politische Engagement
    Die evangelische Mission, so schrieb der         von Christinnen und Christen, den Einsatz für
Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche           Menschenrechte und ein politisches Eintreten
in Deutschland, Johann Hinrich Claussen,             für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung. Dies
2019, verstehe man nicht, wenn man sie nur           wird als integraler Bestandteil der missionari-
als kirchliche Parallele zum staatlichen und         schen Agenda von Kirchen gesehen. „Und da-
wirtschaftlichen Kolonialismus betrachtet, son-      mit haben wir ein gemeinsames, zeitgemäßes
dern man müsse sie auch als Vorgängerin der          Verständnis von Ökumene und Partnerschaft,
heutigen       »Nichtregierungsorganisationen«,      auf dem wir unsere Beziehungen aufbauen und
der NGOs, auffassen. Die Missionsgesellschaf-        pflegen“, betont Direktor Wollmann.
ten waren im 18. und 19. Jahrhundert keine              Pastor Uwe Nissen, Senior Expert der Nord-
kirchlichen Einrichtungen. Sie waren „NCOs“          kirche, lebt und arbeitet seit vielen Jahren an
– „Non-Church-Organisations“ – oder in da-           der theologischen Hochschule in Mwika der
maliger Terminologie »freie Werke«, Vereine          Evangelisch-Lutherischen Kirche in Tansania.
christlich engagierter Bürger, die sich dem Ziel     Sie gehört heute mit mehr als vier Millionen
verschrieben hatten, den Glauben in alle Welt        Christinnen und Christen zu einer der größten
zu tragen. Heute müsse diese Geschichte seiner       lutherischen Kirchen der Welt.
Ansicht nach mehrschichtig und als gemeinsa-            „Ökumene ist für mich der Raum, in dem Kir-
me Geschichte bewertet werden: „Erstens in-          che auf Erden Gestalt annimmt. Und zwar über
itiierten die Missionswerke einen vielfältigen       alle Grenzen von Kultur, Sprache und Hautfarbe
Kulturtransfer, der nicht nur eine Richtung          hinweg. Als Christen wissen wir uns verbunden mit
kannte. Sie brachten europäische Zivilisation in     anderen Christen auf Erden, und die ökumenische

                                                                       EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021   13
THEMA

        Kristina Kühnbaum-Schmidt, Landesbischöfin der Nordkirche, mit Antonio Ablon, Bischof der Iglesia
        Filipina Independiente                                                                      Foto:   ZMÖ

Bewegung hat diesen Gesichtspunkt immer wieder                    Aber das ist nur die eine Seite: Zum einen ist es
deutlich herausgestellt. Es geht darum, die gemein-           natürlich einfacher, in der Ferne Gemeinschaft zu
samen Überzeugungen zu vertiefen und bei aller Un-            pflegen, die in der Heimatkirche eher mühselig sich
terschiedlichkeit der Konfessionen die Zusammenar-            ergibt. Man ist wagemutiger und hat nicht die üb-
beit zu fördern.                                              lichen Bedenkenträger um sich herum. Andererseits
   Glücklicherweise habe ich in den gut 20 Jah-               gibt es eine zunehmende Tendenz, sich auf den inner-
ren, die ich in Tanzania und Kenya tätig war und              kirchlichen Binnenbereich zurückzuziehen. „Ökume-
bin, immer wieder solche grenzüberschreitenden                ne ist ja gut und richtig, aber viel schöner ist es, wenn
Erfahrungen machen können. Sei es in den 70er                 man unter sich ist.“ So der Tenor vieler Kirchen, auch
Jahren im Süden Tanzanias, wo ich mit hinein-                 in Tanzania und Kenya.
genommen wurde in das Gesamtverständnis der                       Mir kommt dabei der Vergleich mit der EU in
dortigen Christen, dass Mitmenschlichkeit Vorrang             den Sinn. Was einst als europäische Bewegung voller
hat vor Konfessionalität, sei es in den 90er Jahren           Elan und Begeisterung begann und mit dem Wegfall
in Kenya, wo ich mit dem katholischen Pfarrer der             von Grenzen und einer gemeinsamen Währung sich
deutschsprachigen Seelsorgestelle kongenial zu-               manifestierte, ist inzwischen eher zu einem fragilen
sammenarbeitete, weil er nach dem Motto verfuhr:              Bündnis von Einzelstaaten mit vermehrten Partiku-
Der Papst ist weit weg!, oder sei es jetzt im Nor-            larinteressen geworden.
den Tanzanias, wo ich immer wieder die Zuwen-                     Ökumene ist nun mal mühsam. Aber wenn wir
dung und Gastfreundschaft von katholischen oder               uns als Christen weltweit wirklich miteinander ver-
freikirchlichen Gemeinden erfahren darf.                      bunden wissen, dann können wir nur immer wieder

14   EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021
THEMA

versuchen, aufeinander zuzugehen, miteinander Got-       alltäglichen Sorgen zuhört und bei Problemen hilft.
tesdienste zu feiern und vereint diakonisch zu han-          Ich bringe hier in meine Arbeit die Perspektive
deln. Dankenswerterweise gelingt das oft recht gut,      eines Philippinos ein: Meine Kollegen und Kollegin-
zumindest auf Gemeindeebene, sprich an der Basis.        nen aus dem Seemannsclub und dem Seemannspfar-
    Gemeinschaft über Grenzen der Kultur, Haut-          ramt blicken anders auf die Situation der Seeleute.
farbe und Sprache hinweg ist und bleibt das Ziel,        Zum Beispiel höre ich, dass neun Monate auf See zu
aber natürlich auch ein Problem. Denn wenn sich          sein ein großes Problem ist. Doch aus der Perspek-
Menschen auf Augenhöhe begegnen, lernt man von-          tive der Philippinos, die aus einem Land mit hoher
einander, aber merkt auch, wie fremd man sich ist.       Arbeitslosigkeit und schlechter Regierungsführung
Begegnungen allein, das wissen wir vom Tourismus,        kommen, ist so eine Arbeit essentiell, um die Familie
können auch Rassismus und Besserwisserei fördern.        zu ernähren und wird nicht hinterfragt. Eine Reise
Da ist es dann gut, wenn man miteinander Leben           nach Hause einmal pro Jahr ist sicher sehr schön,
teilt und für längere Zeit in einer anderen Kirche       doch viel wichtiger ist es, danach auch immer wie-
mitarbeitet.                                             der einen neuen Job auf See zu finden. Auch jetzt
    Das habe ich viele Jahre tun dürfen und bin dank-    in den Quarantäne-Zeiten sorgen sich viele Seeleute
bar für diese Selbstverständlichkeit ökumenischer        um ihre Arbeitsplätze. Das wirkliche Problem der
Gemeinsamkeit vor Ort. Aber es bleibt sicherlich ein     Philippinos im Ausland, ob auf See oder an Land,
langer Weg, bis solch eine Selbstverständlichkeit zum    ist die fehlende Demokratie bei uns, die Regierung,
Selbstverständnis von Kirchen wird. Leider.“             die die Freiheit unterdrückt.
    Antonio Ablon ist Bischof der Iglesia Filipi-            Ich lebe jetzt hier als ökumenischer Mitarbeiter,
na Independiente (Unabhängige Philippinische             zu Hause habe ich eine Kirche mit 8000 Mitgliedern
Kirche) – einer Kirche, die sich traditionell für        geleitet. Ich war der Pilot dieser Kirche, ihr Impuls-
Unterprivilegierte und Minderheiten einsetzt.            geber. Als Bischof bin ich Diener aller Dienenden,
Bischof Ablon kam bereits 2019 auf Einladung             daher lag alle Verantwortung auf meinen Schultern.
des Zentrums für Mission und Ökumene als                 Nun habe ich alles das nicht mehr, ich habe neue
Gast in die Nordkirche. Während seiner Zeit in           Kolleginnen und Kollegen im Zentrum für Mission
Deutschland häuften sich Drohungen und die               und Ökumene und im Seemannspfarramt gefunden,
politische Verfolgung seiner Person. Er verlän-          aber ich kann meine Arbeit ohne Erwartungsdruck
gerte seinen Aufenthalt und wurde schließlich            frei entwickeln. Das ist auch eine bereichernde Er-
für ein Jahr in das Stipendienprogramm der               fahrung, langsam werde ich so zu einer ganz neuen
Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte               Person mit einer neuen Mission. Dies waren ur-
aufgenommen. Seit Oktober 2020 ist er im See-            sprünglich nicht mein Plan und mein Traum. Doch
mannspfarramt der Nordkirche und als ökume-              ich war und bin bereit, diesen neuen Dienst in Got-
nischer Mitarbeiter im Zentrum für Mission               tes Mission anzunehmen.“
und Ökumene tätig.
    „Ich bin ein Mitglied einer unabhängigen Alt-Ka-
tholischen Kirche auf den Philippinen und ich            Claudia.Ebeling@oekumene-gesellschaft.nordkir-
werde hier in der Nordkirche gut aufgenommen,            che.de
respektvoll mit meiner Art zu leben und zu glauben
behandelt. Deswegen erlebe ich die Nordkirche als
eine offene, ökumenische Kirche. Allerdings trete ich
in meiner Arbeit für das Seemannspfarramt nicht
als Vertreter einer Kirche auf, ich denke, die Seeleu-
te nehmen mich auch nicht als das wahr. Ich sehe
meine Aufgabe als eine pastorale Mission, für die
Seeleute bin ich aber einfach einer, der ihnen bei

                                                                             EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021   15
THEMA

Die Sehnsucht sitzt dabei
Tischgemeinschaft als Grundform christlicher Gemeinschaft

G
        emeinsam essen. Reden.                                      sens aus. Die christliche Botschaft
        Nicht erst nach dem ersten                                  entfaltet sich eben nicht im kon-
        Glas Wein ins Philosophie-                                  textfreien Raum, sondern ist von
ren kommen. Im Gespräch Gott                                        Anfang an ein Beziehungsgesche-
und die Welt mit an den Tisch ho-                                   hen, das sich im Alltag ereignet
len. Gemeinschaft ist wichtig. Wir                                  und konkretisiert. Und da wir nicht
Menschen sind grundsätzlich auf                                     von Luft und Liebe leben können,
Beziehung ausgelegt.                                                gehören gemeinsame Mahlzeiten
   Viel ist uns abhandengekom-                                      konstitutiv dazu.
men in den langen Monaten der                                           Luthers Tischreden zeugen da-
                                                Nora
Pandemie. Ja, auch unsere Kir-                                      von in besonders eindrücklicher
                                               Steen
chen wurden im Kern getroffen.                                      Weise. Deftige Speisen, Bier und
                                        Theologische Leiterin
Denn die Ermöglichung von                                           spitze theologische Thesen schlie-
                                        des Christian Jensen
analoger Begegnung war immer                                        ßen sich nicht aus. Dass am Tisch
                                         Kollegs in Breklum,
eine Grundkonstante kirchlicher                                     Luthers allerdings nur Männer re-
                                          KK Nordfriesland.
Arbeit. Eine Kirche, ohne dass                                      den durften, ist heute zum Glück
Menschen mit Leib und Seele zu-                                     nicht mehr denkbar, die Frauen
sammenkommen? Ohne Gottes-                                          haben sich einen angemessenen
dienste mit Gesang, Segnungen und: Abend-             Redeanteil zu Tisch erobert.
mahl? Nach nun über einem Jahr Pandemie                  Aber nicht nur zu Luthers Zeiten, auch
mutet die Vorstellung nahezu grotesk an, dass         heute werden in vielen Familien zentrale An-
wir einmal alle aus einem Kelch getrunken             gelegenheiten während der Mahlzeiten bespro-
und uns zum Abschlussgebet an den Händen              chen. Weil das häufig, wenn überhaupt noch,
gehalten haben. Wie aus lang vergangenen              die einzige gemeinsame Zeit am Tag ist. Tischri-
Zeiten leuchten Bilder von Sommerfesten im            tuale geraten trotzdem in Vergessenheit. Wenn
Pastoratsgarten mit Buffet, zu dem alle etwas         wir bei uns zu Hause mit den Kindern ein
mitgebracht haben, oder dem gemeinsamen               Tischgebet sprechen und uns danach die Hän-
Frühstück am Ostermorgen, in die desinfizierte        de reichen, schauen die meisten Besuchskinder
und isolierte Gegenwart hinein.                       reichlich irritiert.
   Gerade wegen dieser gegenwärtigen Wid-                Die Tischgemeinschaft als besondere christ-
rigkeiten ist es umso wichtiger, die Bedeutung        liche Grundform des miteinander Lebens wert-
von Gemeinschaft, genauer: Die Bedeutung des          zuschätzen und neu in den Fokus zu rücken, ist
gemeinsamen Essens, nicht zu vergessen. Die           deshalb eine der Motivationen für das Projekt
Erinnerung wachhalten, damit ein wertvolles           „Tischgemeinschaft“, das von der Arbeitsge-
Kulturerbe nicht verloren geht.                       meinschaft Christlicher Kirchen und ihren re-
   Schon die neutestamentlichen Geschichten           gionalen Gemeinschaften in Norddeutschland
über das Wirken Jesu kämen nicht ohne diese           für das Jahr der Ökumene geplant worden ist.
elementaren Erfahrungen des miteinander Es-              Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft

36   EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021
THEMA

und unterschiedlicher Konfessionen sollen
dazu eingeladen werden, sich an einen Tisch zu
setzen. Zu essen, zu trinken, Geschichten auszu-
tauschen und drängende gesellschaftliche oder
politische Fragen gemeinsam besprechen.

Die Welt an einem Tisch
Bei internationalen kirchlichen Begegnungen,
bei Partnerschaftsbesuchen oder ökumeni-
schen Konferenzen spielen die gemeinsamen
Essenszeiten immer eine besondere Rolle.
Schnell kommt man auch über sprachliche            Das vierfarbige Logo der Aktion                Foto: CJK
Barrieren hinweg ins Gespräch. Das, was auf
dem Teller liegt, erzählt etwas über Kultur, Ge-
schichte, Ästhetik des jeweiligen Gastlandes.      ein oder zwei Semester zusammen Ökumeni-
Beim Essen treffen wir uns auf Augenhöhe. Als      sche Theologie. Zu den herausragenden Ereig-
Menschen, die Nahrung brauchen, um leben zu        nissen eines solchen Studiensemesters gehörten
können. Das Gastland kommt uns nah – in der        für mich, als ich dort gearbeitet habe, die so ge-
Würze, der Süße, der Schärfe der uns angebo-       nannten kulturellen Abende, an denen sich je-
tenen Gerichte. Manches geht an die eigenen        weils ein Kontinent vorstellt. Und dies nicht nur
Geschmacksgrenzen heran oder auch darüber          mit Darbietungen, Texten, Bildern oder Filmen,
hinaus. Nicht alles ist für mich genießbar, ei-    sondern natürlich auch mit dem Essen. Die Stu-
niges bereitet mir Magenschmerzen. Andere          dierenden des jeweiligen Kontinents stehen den
Geschmacksexplosionen öffnen mir die Tür in        ganzen Tag in der Küche und kochen für den
eine neue und bislang unbekannte Welt. Nie         gesamten Jahrgang. Abends wird gefeiert, ge-
werde ich den Geschmack der ersten Bana-           tanzt und natürlich: Gegessen. Die Geschichte
ne vergessen, die ich als Neunzehnjährige in       und die Rezepte der gekochten Speisen werden
Südindien gegessen habe. Ich konnte es nicht       erläutert. So lernen alle Beteiligten eine neue
fassen, wie köstlich eine Frucht sein kann, von    Dimension eines Kontinents kennen, die mög-
der ich meinte, sie schon längst zu kennen. Sie    licherweise den bekannten Stereotypen so gar
wurde damals, neben grünen Kokosnüssen und         nicht entspricht.
Mangos, zu meinem täglichen Lebens-Mittel.            Tischgemeinschaften, die sich interkulturell
   Ebenfalls werde ich nie den übervoll ge-        öffnen, bieten die riesige Chance einer Begeg-
deckten Tisch einer Familie vergessen, bei der     nung, die nicht beim Kognitiven stehen bleibt.
wir als Jugendliche auf einer Austauschreise       Zugleich nehmen sie unser Menschsein mit un-
in Moskau zu Gast waren. Den sehr reichlich        seren körperlichen Bedürfnissen ernst.
gefüllten Teller nicht leer zu essen, wäre ein
Affront gewesen.                                   Tischgemeinschaft – eins in Christus
   Andere an unseren Tisch einzuladen, mit un-     Gemeinschaft leben, dazu sind wir Christ*in-
seren Bräuchen vertraut zu machen, mit dem,        nen aufgefordert. Wir sind hineingestellt in
was uns schmeckt, gehört zu den Kostbarkeiten      die Gemeinschaft der Glaubenden, in deren
ökumenischer Begegnungen. Wir zeigen uns           Zentrum Jesus Christus steht. In aller Verschie-
mit dem, was unser Leben und unseren Alltag        denheit geeint in dem Glauben daran, dass die
ausmachen.                                         Botschaft von Kreuz und Auferstehung uns mit-
   Im Ökumenischen Institut Bossey bei Genf        einander über alle kulturellen, regionalen und
studieren Pastor*innen aus der ganzen Welt für     ethnischen Grenzen hinweg verbindet.

                                                                        EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021   37
THEMA

   Von der Ur-Erfahrung von Gemeinschaft,          Dass wir hineingenommen sind in ein Versöh-
dem Abendmahl, gehen alle weiteren Formen          nungsgeschehen, das all unsere menschlichen
von Begegnung oder Tischgemeinschaften aus.        Bemühungen übersteigt.
Ohne an dieser Stelle die gesamte Abendmahls-
diskussion theologisch zu entfalten, ist mir an    Tischgemeinschaft – auch digital?
dieser Stelle wichtig: Das Abendmahl transzen-     Als wir anfingen, für das Jahr der Ökumene
diert die Tischgemeinschaft. Das Brot ist mehr     Tischgemeinschaften zu planen, war die Welt
als Brot. Der Wein ist mehr als Wein. Durch das    noch eine andere. Jetzt fühlen wir uns ausge-
gemeinsame Essen und Trinken verleiben wir         bremst. Zur Tischgemeinschaft gehört ein Tisch
uns sozusagen die Zusage ein, dass alle Grenzen    aus Holz, das schöne Geschirr, leckeres Brot und
zwischen Gott und uns zunichte gemacht, dass       guter Wein. So war es bis zum März 2020. So
uns unsere Sünden vergeben sind. Im Abend-         wünschen wir es uns.
mahl ereignet sich somit eine Versöhnung, die         Doch dürfen wir dabei stehen bleiben und
wir nicht selbst herstellen können.                abwarten, bis die Pandemie irgendwann vorü-
   Umso wichtiger ist es, dass wir dieses Ge-      ber ist und wir tatsächlich die Tische wieder vor
schehen normalerweise gemeinschaftlich voll-       die Kirche stellen und gemeinsam essen?
ziehen. Dadurch wird die Wirkkraft der Einset-        Die Erfahrungen mit virtuellen Gemein-
zungsworte und der Sündenvergebung umso            schaftsformen sind nach mehr als einem Jahr
stärker, weil dann nicht nur meine individuelle    Pandemie divergent. Vieles fehlt im digitalen
Gottesbeziehung, sondern auch die Beziehung        Raum. Körperliche Nähe, Raumeindrücke, Ge-
zu meinen Mitmenschen in dieses Versöh-            rüche, Atmosphäre, um nur einiges zu nennen.
nungsgeschehen mit hineingenommen wird.            Dennoch hat spätestens Corona deutlich ge-
Wenn sich, wie in vielen Gemeinden üblich, die     macht, dass wir uns auf Dauer nicht aus dem
Menschen zum Abschlusssegen an den Händen          digitalen Raum zurückziehen können, wollen
fassen, dann wird dies mehr als greifbar.          wir Menschen dort erreichen, wo sie nach kirch-
   Noch mehr ist dies in einem ökumenischen        lichen Sinnangeboten suchen. Denn nicht erst
Kontext spürbar, in dem automatisch auch die       seit Corona ist der digitale Raum für viele Men-
konfessionellen Grenzen als Thema mit in die-      schen der entscheidende Ort, an dem sie nach
ses umfassende Beziehungsgeschehen zwischen        Seelsorge, Trost oder Ansprache suchen. Und es
Christus, mir und meinen Mitmenschen hinein-       gibt ja auch die positiven Erfahrungen mit digi-
genommen wird. Aus meiner Erfahrung als Seel-      talen Gemeinschaftsformen.
sorgerin weiß ich, wie heilsam die Partizipation      Bei uns im Christian Jensen Kolleg, das be-
an der Abendmahlsfeier einer anderen Konfessi-     sonders für seine regionale und nachhaltige Kü-
on für Menschen sein kann, die sehr unter einer    che bekannt ist, hat sich seit einigen Monaten das
konfessionellen Trennung leiden.                   Format digitaler Kochabende etabliert. Die Teil-
   Deshalb ist es dringend angeraten, an dieser    nehmenden bekommen eine Einkaufsliste, stel-
Stelle weniger theologische Richtigkeiten walten   len sich zu Hause in ihre Küche und dann wird
zu lassen als seelsorgerliche Kompetenz: ALLE      gemeinsam via Videokonferenz gekocht. Die
sind eingeladen an den Tisch des Herrn. Wer sind   Fangemeinde dieser monatlichen Abende wird
wir zu entscheiden, wer teilhaben darf an Gottes   immer größer, mittlerweile kennen sich viele
Versöhnungshandeln mit uns Menschen?               und begrüßen sich freudig von Kachel zu Kachel.
   Das Abendmahl ist der Urgrund jeder Tisch-      Zum Schluss wünschen sich alle einen guten Ap-
gemeinschaft. Es lässt uns bei jedem weiterge-     petit und essen dann im Kreis ihrer Familie die
reichten und geteilten Fladenbrot daran den-       gemeinsam gekochte Mahlzeit. Natürlich wird
ken, dass es mehr gibt, was uns miteinander        dadurch die Begegnung, die beim gemeinsamen
verbindet. Dass da jemand mit am Tisch sitzt.      Essen entsteht, nicht kompensiert. Dennoch, so

38   EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021
THEMA

                                                                                   Tischgemeinschaft
                                                                                   in der St. Catha-
                                                                                   rinenkirche zu
                                                                                   Leplow, Gemeinde
                                                                                   Eixen.
                                                                                   Foto: Jens Haverland

stelle ich immer wieder fest, sind solche oder       schen von Mitte Dreißig bis Mitte Achtzig teil.
ähnliche ursprünglich nur aus der Not gebore-        Sie wagen sich alle mit Laptop oder Smartpho-
nen digitalen Gemeinschaftsangebote viel mehr        ne in die digitale Welt und sind dann sowohl
als nur ein Ersatz für eine momentan verlorene       stolz es geschafft zu haben als auch erstaunt, wie
„Normalität“. Nicht wenige Menschen bitten           viel Gemeinschaft digital möglich ist. Häufig
uns, auch „nach Corona“ an den digitalen Ange-       viel mehr, als sie je zu träumen gewagt hätten.
boten festzuhalten, weil sie viel kompatibler sind      Gerade das ist in dieser für alle so kräftezeh-
mit ihrer Alltagswirklichkeit. So haben wir bei-     renden Zeit der Pandemie so elementar: Dass
spielsweise bei Exerzitienwochen oder eben den       wir nicht vergessen, dass auf allen Tischen die-
Kochabenden Gäste aus ganz Deutschland und           ser Welt Teller stehen, die Tag für Tag neu ge-
sogar darüber hinaus bei uns im kleinen nord-        füllt werden müssen. Weil wir Menschen sind.
friesischen Breklum zu Gast.                         Und dass mein eigener Tisch und mein eigener
    Durch die digital eröffneten Räume entste-       Teller nicht das Maß aller Dinge sind.
hen auf einmal ganz neue Formen von Gemein-             Ja, Tischgemeinschaften funktionieren also
schaft. Sie ermöglichen zwar keine physische         auch digital. Nur anders. Auf jeden Fall gäbe es
Nähe, aber Kommunikation. Sie übermitteln            überhaupt nichts dabei zu verlieren, das einfach
nicht den Duft und die Würze des gekochten           mal auszuprobieren.
Essens, aber sie lassen uns über unsere Kameras
einander in die Kochtöpfe schauen. Und das ist
schon viel mehr, als über Monate nur den eige-       n.steen@christianjensenkolleg.de
nen Topf vor der Nase zu haben.
    An meinen eigenen Angeboten für digitale
Gemeinschaftsformen nehmen übrigens Men-

                                                                        EVANGELISCHE STIMMEN 5 | 2021        39
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